Читать книгу Die Waldhütte - Olga Kelm - Страница 4
Kapitel 1
ОглавлениеMonika lag in dem gemieteten Zimmer und beobachtete durch die Fensterscheibe, wie die Morgenröte langsam den dunklen Himmel mit ihrer Farbe aufzuweichen begann. Diese Nacht hatte sie kaum Schlaf gefunden. Stille Ungewissheit trat in ihr Leben ein. Sie wusste nicht, warum alles zerbrach.
Gestern auf dem Heimweg hatte sie Georg gesehen. Mit einem Lächeln ging sie ihm entgegen. Dann fiel ihr seine Begleitung auf und sie geriet ins Stocken. Er hielt die Hand einer unbekannten Frau. Georg flüsterte seiner Begleitung etwas ins Ohr, verabschiedete sich von ihr und kam Monika entgegen.
«Ich wollte es dir schon längst sagen, Monika. Ich liebe dich nicht mehr. Ich habe mich neu verliebt. Ich denke, du wirst es verstehen.»
«Ich …», flüsterte Monika und fügte hinzu: «Ich bin schwanger, Georg.»
«Oh, jetzt fang doch nicht damit an. Ich hatte bisher eine bessere Meinung über dich. Ich dachte nicht, dass du solche Tricks anwenden würdest, um mich zurückzugewinnen.«
Monika wurde bei seinen Worten kreidebleich.
»Bleib nicht in der Kälte stehen, sonst wirst du noch krank.« Dann drehte er sich um und ging weg, ohne sich ein einziges Mal umzudrehen.
Monika stand noch lange allein in der Kälte. Der Frost stach an ihren Wangen, während die Schneeflocken sachte von ihr abfielen. Die Bäume um sie herum waren weiß gepudert.
»Wenn ich hier noch länger stehen bleibe, werde ich mich von den Bäumen nicht mehr groß unterscheiden«, dachte Monika. Im Vorbeigehen musterten sie die Menschen fragend.
Langsam ging sie nach Hause. Heiße Tränen liefen über ihr Gesicht. Sie verspürte nur den Schmerz und es gab nichts mehr jenseits dieses Schmerzes.
Zu Hause traf sie auf ihre Vermieterin.
»Geht es dir gut, Schätzchen?«, fragte sie. Monika setzte sich. Tränen rannen ihr über die Wangen.
»Erzähl mir, was los ist.«
Monika berichtete ihr, dass sie von Georg verlassen wurde. Und dass sie ein Kind erwartete.
Ihre Vermieterin tröstete sie zunächst, offenbarte ihr dann aber, dass sie so nicht mehr lange bleiben könne. Spätestens, wenn das Kind da sei, müsse Monika sich eine andere Bleibe suchen.
»Du weißt, dass ich Ruhe mag. Das Weinen eines Kindes würde ich nicht aushalten. Ich brauche meinen Schlaf«, sagte die Vermieterin.
Monika nickte. Ein Schock ging nahtlos in den anderen über. Sie wusste nicht, wie sie diese Schicksalsschläge verkraften sollte. Zuerst die Nachricht über ihre Schwangerschaft, danach Georgs Offenbarung und jetzt wurde sie vor die Tür gesetzt.
Monika war neunzehn. Sie hatte ihr Biologiestudium gerade erst begonnen. Wie sie mit dem Kind und dem Studium allein und ohne Unterstützung klarkommen sollte, wusste sie nicht.
Bei der nächsten Untersuchung vermutete der Arzt, dass es nicht ein, sondern zwei Kinder sein könnten.
»Zwei Kinder?«, flüsterte Monika und ihre Lippen wurden bleich. Nachdenklich ging sie nach Hause. Wie sollte sie es mit zwei Kindern schaffen?
Monatelang suchte sie nach einer Wohnung, vergeblich. Niemand wollte einer alleinstehenden, schwangeren Frau eine Wohnung vermieten.
Als sie sich eines Morgens anziehen wollte, stellte sie fest, dass ihre Kleidung ihr viel zu eng geworden war. Zum Glück konnte sie nähen. Sie lieh sich die Nähmaschine ihrer Vermieterin und schneiderte sich ein Kleid. Wenn sie vom Drehen des Rads an der Maschine müde wurde, legte sie eine kurze Pause ein. Manchmal hielt sie bei der Arbeit inne und spürte die Bewegungen der Kinder, die von Mal zu Mal deutlicher wurden. Aus Baumwollstoffresten, die geblieben waren, nähte sie zwei gleiche Wickelbodys. Sie legte sie auf den Tisch, betrachtete sie und stellte sich vor, wie ihre beiden Kinder in diesen Wickelbodys aussehen würden. Sie war den ganzen Tag damit beschäftigt, zu nähen, und erst um 11 Uhr abends erhob sie sich, um ins Bett zu gehen.
Der Auszugstermin nahte und die Vermieterin empfing sie jeden Tag mit der Frage: »Und, hast du schon eine neue Bleibe gefunden?«
Monika schüttelte den Kopf und ging an ihr vorbei. Vorsorglich packte sie ihren Koffer. Sie wusste, nach dem Krankenhausaufenthalt konnte sie nicht zurück in ihr Zimmer, aber sie hatte eine Alternative gefunden: Sie würde zu der Waldhütte fahren, in der sie aufgewachsen war. Die Waldhütte war nicht weit entfernt von einem Bauernhof, deren Besitzer sie kannte. Sie würde dorthin fahren und versuchen, ihr Leben zu meistern. Zudem würde es Sommer sein und im Sommer war es leichter zu überleben und einen Neuanfang zu wagen.
Ins Krankenhaus kam sie noch vor dem Geburtstermin. Hier lernte sie Ingrid kennen. Ingrid war über dreißig und lag wegen gesundheitlicher Probleme im Krankenhaus. Sie und ihr Mann wünschten sich ein Kind, aber Ingrid wurde nicht schwanger.
Die beiden Frauen erzählten sich gegenseitig ihre Geschichten. Als die Wehen bei Monika einsetzten, donnerte es. Die Kinder kamen per Kaiserschnitt zur Welt.
Als Monika im Aufwachzimmer ihre Augen aufschlug und nach ihren Kindern fragte, wurde ihr mitgeteilt, dass es zwei Mädchen waren.
»Lynn und Lea«, flüsterte Monika. Das eine Mädchen war wohlauf, das andere aber war sehr geschwächt und wurde auf die Intensivstation gebracht.
Lynn wurde zu ihr gebracht. Das Baby war noch nicht angezogen, nur in eine lavendelblaue Decke gewickelt. Die Krankenschwester machte sie frei und legte sie auf das Wickelbrett. Das Baby strampelte mit seinen Händen und Füssen und Monika schien es, als wären es die Flügel eines Schmetterlings. Dieser Moment hielt sie gefangen und Tränen der Freude und Sorge liefen über ihr Gesicht. Nach dem Anziehen gab man das Mädchen in Monikas Hände. Sie zog es in die warme Rundung ihres Körpers und begann ihre Tochter zu stillen. Sie drückte das Kind so eng an sich, dass sie seine warmen Atemzüge auf ihrer Haut spürte. Sie gab sich dieser neuen Erfahrung mit Leichtigkeit und Hingabe hin und genoss das Gefühl. Die frisch gebackene Mutter streichelte das weiche, dunkle Haar des Babys. Ob das andere Mädchen genauso aussah? Ob es auch solch weiche Haare hatte?
Auch am nächsten Tag brachte man ihr Lea nicht.
»Leider hatte das andere Mädchen einen Anfall«, teilte der Arzt Monika mit. »Wir müssen erst klären, was mit ihr los ist. Ihr Kind muss auf der Intensivstation bleiben.«
Auch ihre Zimmernachbarin war nicht da. Sie war woanders untergebracht worden, damit die verzweifelte Frau das Zimmer nicht mit einer glücklichen Mutter von Zwillingen teilen musste.
»Warum ist die Welt so ungerecht?«, fragte Ingrid ihren Mann bei seinem nächsten Besuch. »Wir haben so viel, was wir einem kleinen Wesen bieten könnten, aber wir bekommen kein Kind. Monika hat kaum etwas und bekommt gleich zwei.«
»Könntest du dir vorstellen, ein Kind bei uns aufzunehmen, Ingrid?«, fragte ihr Mann. »Vielleicht will Monika ein Kind zur Adoption freigeben.«
Ein kurzer Hoffnungsschimmer erhellte ihr Gesicht, ehe sie antwortete: »Das wird sie sicher nicht wollen«.
Am nächsten Tag besuchte Ingrid Monika.
»Ich werde wohl nie Mutter sein. Gestern haben sie mir gesagt, dass es aussichtslos ist.« Ingrid sah auf Lynn, während Monika sich überlegte, was sie ihr zum Trost sagen könnte.
»Darf ich sie nehmen?«, fragte Ingrid und zeigte auf Lynn.
»Natürlich.«
Ingrid nahm Lynn in die Arme und schaukelte sie eine Weile.
»Ich habe auch dein zweites Mädchen gesehen, Monika. Ich war auf der Intensivstation. Durch die Fensterscheibe habe ich sie gesehen. Sie ist auch wundervoll, genau wie Lynn. Als ich dastand, hatte sie einen epileptischen Anfall.«
Sie sah, wie Monika blass wurde. »Entschuldigung, ich dachte, das hatte man dir schon gesagt.«
»Nein, ich wusste nichts davon«, konnte Monika nur leise von sich geben.
»Wir haben uns – also, ich und mein Mann – überlegt … Wir würden gerne eins von deinen Kindern adoptieren. Rege dich nicht auf, es ist nur ein Vorschlag von uns. Denk bitte drüber nach. Wir können dem Mädchen alles bieten. Wir werden sie zu den besten Ärzten fahren, mit ihr reisen und ihr eine gute Bildung ermöglichen. Wenn du dich bereit erklärst, Lea zu uns zu geben, können wir sofort einen Notar herbestellen und alle Formalitäten noch hier im Krankenhaus klären.«
»Mein Kind wird deine Träume nicht aufwiegen können, Ingrid.«
»Ja, das weiß ich, ich bin mir darüber im Klaren. Aber wenn du mir Lea gibst, wird sie ein glückliches Leben haben. Ich will nicht, dass du sofort eine Entscheidung triffst. Es ist eine Entscheidung fürs Leben – für uns alle. Denk drüber nach. Ich komme in ein paar Tagen wieder zu dir und spreche dich noch einmal darauf an.«
Ingrid verließ den Raum. Monika stillte für Lea ab, aber sie war zu schwach, um sie zu besuchen.
Die ganze Zeit dachte Monika über Ingrids Worte nach. Zuerst klangen sie absurd für sie, doch dann … Sie hatte kein Dach über dem Kopf. Im Winter wurde es in der Waldhütte kalt, der Wald verschneit und sie würde keine Möglichkeit haben, ausreichend Nahrung für die Mädchen zu besorgen. Lea brauchte intensive medizinische Betreuung. Sie hatte nicht die Mittel, um von ihrer Hütte in die Stadt zu fahren.
Die ganze Nacht schwebte Monika träge zwischen Schlafen und Wachen. In ihrem Herz bildete sich aus Schmerz, Liebe, Hoffnungslosigkeit und Angst ein Gefühlsknäuel, das sie nicht entwirren konnte. Ingrids Worte klangen in ihren Ohren. Vielleicht hatte Ingrid Recht? Vielleicht wäre Lea in einer wohlhabenden Familie besser aufgehoben?
Als Ingrid sie zwei Tage später erneut besuchte, konnte Monika sich schon langsam wieder bewegen.
»Und, hast du über meinen Vorschlag nachgedacht?«, fragte Ingrid.
»Ja, ich kann dir meine Tochter geben«, flüsterte Monika. Sie begann zu frösteln und gleichzeitig war ihr warm, als sei sie in Watte gepackt.
»Ich will sie nur einmal sehen. Nur ein einziges Mal.«
Mit Ingrids Hilfe konnte sie Lea auf der Intensivstation besuchen.
»Das Mädchen ist stabil, aber sie braucht gute medizinische Versorgung und Beobachtung rund um die Uhr«, erklärte der behandelnde Arzt. Monika beobachtete Lea. Durch die Öffnungen des Inkubators strich sie über das Haar ihrer Tochter. Sie verspürte das überwältigende Bedürfnis, dieses kleine Wesen zu sich zu holen und an ihre Brust zu drücken. Noch gehörte Lea ihr, noch war sie ihre Mutter.
»Sie ist krank, sie braucht intensive medizinische Betreuung.« Wie im Nebel hörte Monika die Worte erneut. Sie sah auf Lea und flüsterte dann: »Verzeih mir, dass ich dich an eine andere Mama gebe. Ich kann nicht anders. Du wirst es in der anderen Familie besser haben.«
Tränen stiegen in ihre Augen, rannen heiß ihre Wangen herab. Bevor die Emotionen sie zu überwältigen drohten, kehrte sie auf ihr Zimmer zurück.
In Anwesenheit eines Notars und der Ärzte unterschrieb Monika am Folgetag die Unterlagen. Ingrid und Monika verabschiedeten sich voneinander. Monika lag auf den Lippen, dass sie ihre Tochter gern besuchen würde. Als ob Ingrid ihre Gedanken lesen konnte, sagte sie: »Wir wollen nicht, dass du Kontakt zu Lea suchst, Monika. Unser Mädchen soll ein unbeschwertes Leben haben.«
Am nächsten Tag durfte Monika gehen. Als sie zögernd in die heiße Nachmittagssonne trat, drang der Schmerz erneut zu ihr durch. Liebe und Geburt hielten sich die Waage mit Trennung und Schmerz. Ab diesem Zeitpunkt würde sich ihr Leben in ein Davor und ein Danach spalten. Die kleine Lynn hielt sie auf dem Arm und ihren Koffer trug sie in der anderen Hand.
»Auf Wiedersehen, Lea«, sagte sie zu dem grauen Gebäude, in dem ihr Kind lag. »Du wirst ein gutes Leben haben. Gott segne dich.«
Sie musste stark sein. Sie musste diese Trennung mit Lea durchstehen.
Von jetzt an träumte sie jede Nacht davon, zurückzukehren und ihre zweite Tochter zu sich zu holen.
Mit der kleinen Lynn setzte sie sich in den Zug und fuhr in ihre Heimat. Da sie den Bahnhof mitten in der Nacht erreichte, konnte sie ihren Weg erst am nächsten Morgen fortsetzen. Sie füllte ihre Flasche mit Wasser und verbrachte eine unbequeme Nacht auf der einzigen Bank.
Als es dämmerte, machte sie sich auf den Weg zur Waldhütte. Ab und zu setzte sie sich und stillte Lynn. Der Wald duftete nach würzigem Harz, die Eichhörnchen sprangen von Ast zu Ast und fast fühlte sie sich wie in einem Märchen, wäre da nicht der Schmerz über den Verlust ihrer Tochter.
Endlich kam sie an dem Haus an, in dem sie ihre Kindheit verbracht hatte. Früher war das Haus voller Gelächter gewesen, jetzt war sie in den hölzernen Wänden allein mit Lynn. Sie betrat das Haus. In der Hütte gab es keinen Strom und kein fließendes Wasser. Zuletzt hatte sie es im letzten Sommer besucht und gereinigt. Jetzt waren überall Spinnweben, der Staub lag in einer dicken Schicht auf den Möbeln und auf dem Boden. In einer Ecke standen ein Besen und ein Wischeimer und während Lynn ruhig schlief, konnte Monika die Hütte in Ordnung bringen. Sie holte noch einen frischen Lappen und putzte die Fenster, die inzwischen vom Staub grau geworden waren.
Mittlerweile wurde Lynn wieder wach. Monika zog ein frisches Bettlaken aus der Kommode, legte sie darauf und zog ihr die nassen Sachen aus. Nun musste sie noch Wasser holen und Lynn und sich selbst frisch machen. Sie dachte an Lea. Sie sehnte sich danach, ihre zweite Tochter in den Arm zu nehmen, sie zu streicheln, sie zu stillen. Danach, wenigstens einige Minuten für sie Mutter sein zu können. Ihr war klar, dass sie einen schrecklichen Fehler begangen hatte. Sie wünschte sich verzweifelt, die Zeit zurückdrehen zu können. Aber sie beschwichtigte sich damit, dass das Mädchen es gut in der anderen Familie haben würde. Sicherlich würde Lea ein schönes Zimmer mit rosa Tapete und eine Menge Spielsachen haben.
Monikas Magen zog sich vor Hunger zusammen. Zwar hatte sie Lebensmittel gekauft, aber keine Streichhölzer. Sie musste zu dem Bauernhof von Familie Schmidt ganz in der Nähe gehen. Die Familie Schmidt kannte sie seit ihrer Kindheit. Sie band sich ein Tuch um und legte Lynn hinein.
Jonas Schmidt war sehr überrascht, als er Monika sah. Über das kleine Bündel in Monikas Arm freute sich die ganze Familie.
»Natürlich helfen wir dir alle, Monika. Was brauchst du? Sag es uns ruhig, wir werden die Einkäufe für dich erledigen.« Frau Schmidt gab Monika jede Menge Lebensmittel und Streichhölzer mit, damit Monika das Essen vorbereiten konnte.
Nach ihrer Rückkehr bereitete sie ein Abendessen aus gebratenen Kartoffeln an der Feuerstelle draußen zu. Zum ersten Mal seit der Geburt der Mädchen schlief sie ruhig ein.
Am nächsten Tag wachte sie früh auf und öffnete das Fenster, um die saubere Waldluft hereinzulassen. Sie hielt ihr Gesicht in die warme Brise und genoss die Berührung der Sonnenstrahlen. Die prachtvollen Baumkronen bewegten sich langsam im Wind.
Familie Schmidt kam nach einigen Tagen zu Besuch und brachte einen Weidenkorb mit liebevoll verpackten Geschenken mit: Windeln, Kleidungsstücke und Packungen mit Haferbrei.
Für gewöhnlich wurden ihr die Tage viel zu lang. Monika kümmerte sich um Lynn und erledigte den Haushalt. Sie improvisierte aus einem Baumwolltuch eine Art Trage, in der sie das Kind beständig überall hintrug, und ging in den Wald. Der Wald bot reichlich Beeren, Pilze, Nüsse und andere essbare Pflanzen. Zuhause legte sie die gefundenen Schätze ein. Lynn gedieh prächtig und bekam rosige Wangen. Zuerst wurde sie gestillt, danach bekam sie einen Brei aus Wasser und Gerste oder Hafer.
Die Monate vergingen und der Winter kam, begleitet von Schnee und Frost. Das trockene Holz war ein Überbleibsel aus alten Zeiten, sodass den Bewohnerinnen der Waldhütte nicht kalt wurde. Der erste Winter, den die beiden dort verbrachten, war hart und kalt. Die Schneestürme legten sich bis zu den Fensterrahmen und sie waren von den anderen abgeschnitten. Nur manchmal gelang es Herrn Schmidt, vorbeizukommen und Proviant abzuliefern. Dennoch bereute Monika nicht, dass sie die Hütte der Stadt vorgezogen hatte, immerhin hatte sie hier eine feste Bleibe.
Lynn wurde ein echtes Kind des Waldes. Sie lernte von früh auf, die Vorgänge der Natur zu interpretieren und hatte bestimmte Vorahnungen, was kommen würde. Als sie klein war, legte Monika sie vor dem Haus auf eine Decke. Während sie selbst die Wäsche wusch, lauschte das Kind dem Rauschen der Blätter und dem Gesang der Vögel. Zwischen zwei Bäumen spannte Monika eine dünne Decke, wo sie Lynn schaukelte.
In den Wintermonaten saß Lynn gern am Ofen, beobachtete die Feuerzungen, die das Zimmer hell erstrahlten und hörte dem Knistern des Holzes zu.
Monika gab sich Mühe, den Alltag des Kindes so normal wie möglich zu gestalten und den Tagen eine gewisse Struktur zu geben. Lynn wuchs als fröhliches Kind auf. Ihre Welt war klein und überschaubar, und doch war sie reich an Erlebnissen. Zählen lernte sie, indem sie Nüsse zählte. Die sich im Wind wiegenden Blumen flüsterten ihr Märchen und Geschichten zu. Nur in Anwesenheit von fremden Menschen zog sich das Mädchen manchmal zurück: Sie war es einfach gewohnt, allein mit ihrer Mutter zu sein.
Bevor Lynn sechs wurde, machte Monika sich Gedanken über ihre Schulbildung. Schule. Sie schien bisher noch so weit weg zu sein, aber die Zeit lief immer schneller. Auch Jonas Schmidt fragte Monika:
»Wann willst du sie zur Schule schicken? Es gibt ein ausgezeichnetes Internat keine fünf Kilometer entfernt von hier, dort könnte sie fünf Tage in der Woche wohnen und sich mit Gleichaltrigen anfreunden.«
»Das hätte einen Sinn«, antwortete Monika. Sie hatte Bedenken, ob Lynn überhaupt in einer großen Gemeinschaft zurechtkommen würde. Bis jetzt war sie gewohnt, sich nur in kleinen Gesellschaften zu befinden. Es war ihr nicht leichtgefallen, auch die zweite Tochter wegzuschicken, aber sie wusste, Lynn würde immer ihr gehören und sie ließ sie los. Widerstrebend zwar, doch in dem Bewusstsein, das Beste für sie zu tun.
Das Lernen im Internat fiel Lynn leicht. Auch befand sie sich gern in der Gesellschaft der anderen Kinder. Aber sie war immer froh, zurück zu ihrer Waldhütte zu kehren. Die Wochenenden und Ferien verbrachte sie bei ihrer Mutter.
Mittlerweile war Monika klar, dass sie nicht in die Stadt zurückgehen würde. Wenn sie dort aber ihre Einkäufe erledigte, betrachtete sie die Passanten aufmerksam, in der Hoffnung, dass jemand in ihr Leas Mutter erkennen und ihr sagen würde, wo ihre Tochter war. Aber außer fragenden Blicken, wenn sich jemand beobachtet fühlte, erreichte sie nichts. Es gab keine Spur von Lea.
Als das Mädchen einmal in den alten Koffer sah und zwei Wickelbodys fand, der eine Body von unzähligen Wäschen ausgeblichen, der andere unbenutzt, fragte sie neugierig: »Warum hast du mir einen Body angezogen und den anderen nicht?«, fragte Lynn.
Monika hatte ihrer Tochter nicht die Wahrheit erzählt.
»Weißt du …«, antwortete Monika, »wahrscheinlich hatte ich den zweiten Body im Koffer vergessen und so ist er liegen geblieben.«
Lynn war mit dieser Erklärung zufrieden.
»Es wäre schön, wenn ich eine Schwester gehabt hätte«, sagte sie. »Manchmal habe ich das Gefühl, dass mir etwas Wichtiges im Leben fehlt. Ich sehne mich nach etwas, weiß aber nicht, was es ist.«
Monikas Herz zog sich zusammen. Wann war der richtige Zeitpunkt, um Lynn die Wahrheit zu sagen? Sie war sich unschlüssig, traurig.
Sie neigte dazu, zufrieden zu sein mit dem, was sie hatte, und sich nicht danach zu sehnen, was sie nicht haben konnte. Wäre da nur nicht der Verlust ihres Kindes. Aber der Gedanke, dass Lea es in einer anderen Familie guthatte, wärmte sie. In ihrem Inneren spürte sie immer drei Herzen schlagen.