Читать книгу Letzte Geschichten - Ольга Токарчук, Olga Tokarczuk - Страница 3

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Sie hört die Tür quietschen, Flüstern, dann eine leise, an den Hund gerichtete Rüge: »Hier darfst du nicht rein, geh nach unten!« Jemand nähert sich behutsam ihrem Bett und setzt sich auf die Kante. Ihr bleibt nichts anderes übrig, sie muss die Augen öffnen.

An der Tür steht ein Mann. Auf seinem Gesicht liegt ein Ausdruck trauriger Besorgtheit. Olga – sie ist es, die sich auf die Bettkante gesetzt hat – lächelt, ihr Gesicht ist klein, braun gebrannt, runzlig, es hat etwas beunruhigend Asymmetrisches an sich.

»Den ganzen Tag hast du geschlafen, Kind, jetzt wird es dunkel, und Adrian muss fort, aber er möchte dich gern untersuchen. Vielleicht hast du etwas gebrochen. Dann müssten wir nämlich einen Arzt rufen, Adrian ist Tierarzt. Aber das ist ja egal … Darf er hereinkommen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, ruft sie: »Komm rein, Ad.«

Ein junger Mann tritt ein, blond, mittelgroß, ein wenig verschwitzt, als hätte er sich beeilt oder wäre die Treppe hinaufgelaufen. Ungefähr in Majas Alter, um die dreißig. Er trägt einen dicken Pullover aus blau-weiß melierter Wolle. Seine hellen Haare sind schon merklich gelichtet, sie kleben ihm an der Stirn. Er lächelt verlegen, niemandem ähnlich, fremd. Jung. Er sieht sie ruhig an, lächelnd, forschend. Dann betrachtet er fachmännisch ihre Augen und Unterlider, bewegt ihre Hände, betastet ihren Bauch. Er bittet sie, sich aufzusetzen und die Beine zu bewegen. Mit den Augen seinem Finger zu folgen. Ida fühlt sich von der Untersuchung eingeschüchtert, wie immer, alle Ärzte sind junge Männer, die fremdestmöglichen Wesen.

»Ihnen scheint nichts zu fehlen«, sagt der Tierarzt schließlich, er hat eine hohe Stimme. »Sie haben einen Schrecken bekommen, nicht wahr? Stehen Sie nicht auf, bleiben Sie liegen.«

»Ich weiß nicht so recht, wie ich mich fühle. Nicht wohl.«

»Sicher, das ist nicht verwunderlich, das kommt von der Anspannung, es geht von selbst wieder vorüber.«

»Ich würde gern die Polizei anrufen, das Auto ist geliehen.«

»Ja, das muss man erledigen. Vielleicht morgen?«

»Heute nicht? Das Auto muss herausgezogen werden.«

»Heute ist es schon zu spät. Außerdem schneit es die ganze Zeit. Es ist doch nicht so dringend, oder? Morgen bin ich auch hier. Und übermorgen auch.«

»Aber ich bin hier nur auf der Durchreise.«

»Selbstverständlich.«

Der Mann sieht sie lächelnd an, wie ein Kind, mit dem man Doktor spielt. Als glaubte er ihr nicht. Er verneigt sich scherzhaft zum Abschied und geht eilig hinaus. Energisch läuft er die Treppe hinunter, noch draußen hört man seine Schritte, dazu das Knirschen von Schnee, dann das Röcheln des Dieselmotors. Beim dritten Anlauf springt das Auto an. Olga gibt ihr einen alten karierten Morgenmantel, und sie gehen in die Küche hinunter.

»Er ist Tierarzt«, sagt Olga, während sie ihr einen Becher heiße Milch vorsetzt und mit offensichtlichem Genuss Honig hineingibt. »In der Stadt hat er eine Praxis. Hast du Kinder, Familie?«

Der Honig rinnt in einem dünnen Faden hinunter und verschwindet in dem weißen Strudel.

»Eine Tochter«, antwortet sie und betrachtet die Mischung. Früher hätte sie so etwas niemals getrunken, aber jetzt hat sie Lust zu probieren, wie es schmeckt. »Ich habe eine Tochter, und sie hat schon einen Sohn.«

»Ach, dann bist du auch schon Großmutter«, freut sich Olga.

Stefan kommt herein, er reibt sich die Hände, offensichtlich war er draußen. Er holt Topfen und gelben Käse aus dem Kühlschrank, legt sie auf ein Brettchen, dazu Tomaten. Mit einem großen Messer schneidet er Brot.

»Ich müsste sehr hungrig sein, ich habe seit gestern nichts gegessen«, sagt Ida, sie sieht, dass die Frau ein künstliches Gebiss hat, das zu locker sitzt, ein unangenehmer Anblick, wenn sie spricht.

Beide schneiden ihr Käsebrot in quadratische Stücke, die sie langsam, andächtig in den Mund schieben. Kauend sehen sie sie an. »Ein menschlicher Tierblick«, denkt Ida und wendet verstohlen die Augen ab. Sie schaut auf das Essen, aber verspürt keinen Hunger. Sie geht zum Wasserhahn und trinkt Wasser direkt aus den zu einer Schale zusammengelegten Händen.

Sie erwartet, dass die beiden sie nach dem Unfall fragen werden, aber sie schweigen, essen den weichen Käse mit Tomate und Brot, werfen ihr nur zufriedene Blicke zu. Sie bricht ein Stück Käse ab und schiebt es in den Mund. Sie schmeckt nichts.

»Ich hatte noch nie einen Unfall«, sagt sie, »noch nicht mal einen Blechschaden. Ich fahre immer sehr vorsichtig. Wahrscheinlich klebte Schnee an dem Straßenschild, ich wusste nicht, dass eine Kurve kam. Ich hatte das Auto von einer Freundin geliehen, um endlich den Ort zu besuchen, wo ich als Kind gewohnt habe, bei Lewin.«

»Lewin? Klar«, sagt Stefan mit vollem Mund. »Weißt du noch?«, wendet er sich an seine Frau, sie runzelt die Stirn, als versuchte sie, sich an etwas zu erinnern.

»Dort sind wir hingefahren, um das Pferd zu holen, weißt du noch? Das ist hinter Polanica.«

Olga nickt zustimmend.

»Dann hast du hier in der Nähe gewohnt«, sagt sie verwundert.

»Wir wohnten in einem kleinen Dorf in den Bergen, aber ich bin ziemlich früh von dort weggegangen.« Ida lächelt, ihre Hand zögert vor dem nächsten Stück Käse.

»Und die Eltern?«, fragt Olga.

Ida erzählt bereitwillig. Ihre Eltern leben nicht mehr. Nach dem Tod der Mutter, die ein paar Monate nach dem Vater starb, hat sie das Haus verkauft und nicht mehr daran gedacht. Es war unbequem, hoch in den Bergen, alt und klein. Sie sagt auch, dass sie sich nie danach gesehnt hatte, aber jetzt, vor ein paar Tagen, als sie hier in der Gegend war, bekam sie plötzlich Lust, dort vorbeizuschauen.

»Ich wollte morgens von Jelenia Góra aus losfahren und abends wiederkommen, aber das klappte nicht. Ich hatte vor, irgendwo auf dem Land in einer Pension zu übernachten und am nächsten Morgen weiterzufahren, in das Dorf. Na ja, aber jetzt ist das passiert, und das Auto ist sicher kaputt.«

»So was kommt vor. Iss etwas und mach dir keine Sorgen«, sagt Olga.

Aber Ida hat keinen Appetit. Der fette gelbe Käse schmeckt wie feuchtes Papier. Olga isst und sieht sie mit ihrem leeren Tierblick an. Sie hat ein Gesicht wie eine Katze oder ein Fuchs – wachsam. Als es plötzlich raschelt, richtet sie den Blick auf die Kiste, wo der Hund liegt. Ihr Mann macht dasselbe, wie auf Kommando. Beide schauen starr auf die Kiste.

»Du willst rausgehen, nicht? Du willst rausgehen und schaffst es nicht allein, nicht wahr?«

Der kleine unansehnliche Mann hebt den ziemlich großen Hund hoch und nimmt ihn auf den Arm. Es sieht nicht so aus, als könnte man dem Tier noch helfen. Der schwarze zottelige Hundekopf hängt kraftlos herab.

»Macht mir die Tür auf«, sagt er.

Ida erhebt sich rasch, hält die Tür auf und folgt den beiden nach draußen. Der Hund steht schwankend im Schnee, ein mitleiderregender Anblick. Unwillkürlich wendet Ida den Blick ab, die Schwäche des Tiers erscheint ihr intim und peinlich. Der Mann ermuntert den Hund sanft, ein paar Schritte zu tun, er schiebt ihn zart voran: »Nun geh, beweg dich etwas.«

Ida schlägt die Schöße des Morgenmantels zusammen, dabei wird ihr bewusst, dass ihre Beine nackt sind. Aber sie spürt keine Kälte. Von Sekunde zu Sekunde wird es dunkler im Hof, als sei der Abend fest entschlossen, hier, vor ihren Augen, anzubrechen. Es schneit, der Schnee hat die Spuren des Autos schon fast zugedeckt. Der Hund macht ein paar Schritte auf schwankenden Beinen, dann lässt er einen Strahl Urin, ohne überhaupt zu versuchen, in die Hocke zu gehen. Ein dunkler Fleck im Schnee. Reglos steht er darüber, hilflos, offenbar haben die paar Schritte seine Kräfte völlig erschöpft, und er senkt den Kopf.

Der Alte nimmt ihn auf den Arm und trägt ihn unter sichtlicher Anstrengung ins Haus.

»Was fehlt ihm?«

»Sie kann nicht mehr«, sagt der Mann. »Sie hat Krebs. Es ist eine Hündin. Ina, so heißt sie.«

»Lässt sich nichts mehr machen? Eine Operation oder Bestrahlungen?«

»Es ist für alles zu spät.«

»Was soll denn dann werden?«, sagt sie mit plötzlicher Sorge, ja Panik.

»Sie wird sterben«, sagt der Mann keuchend unter dem Gewicht des Tieres und verschwindet im dunklen Viereck der Tür.

Ida folgt ihm nicht in die Küche, sondern bleibt im dunklen Flur stehen. Sie greift nach dem Geländer, sie fühlt sich, als wöge sie Tonnen, als wäre sie schwer wie die ganze Welt. Sie versucht, ihr Bein zu bewegen, aber es gelingt ihr nur, den Fuß ein kleines Stück nach vorn zu schieben. Der Körper gehorcht ihr nicht. Sie will nach Olga rufen, doch die Stimme versagt ihr. Kehle und Zunge sind in der richtigen Stellung, aber die Luft fließt einfach durch sie hindurch, berührt sie nicht einmal. Vor Angst wird ihr heiß. Sie meint einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu haben, etwas Plötzliches, das sich wie ein Netz über sie gestülpt hat und sie einengt. Langsam, Wort für Wort, Gedanke für Gedanke, muss sie sich klarmachen, dass dies ihre Beine sind und dass sie ein Recht auf sie hat. Sie konzentriert sich auf ihre Beine, und nach einer Weile gelingt es ihr, einen kleinen Schritt zu tun. Wie eine Schwerkranke beginnt sie, die Treppe hinaufzusteigen. Es geht immer besser, ja, das Schreckliche ist vorüber. Auf der Suche nach dem Lichtschalter tastet sie im Dunkeln, findet ihn und dreht ihn, es ist ein altmodischer brauner Ebonitschalter, die Finger müssen lernen, ihn zu drehen und nicht zu knipsen. Ihr wird übel.

»Entschuldigung«, sagt sie nach unten. »Ich lege mich einen Augenblick hin.«

Sie bemerkt Olga, die unten an der Treppe steht und ihr besorgt nachschaut. Noch ein paar Schritte, und sie hat es geschafft, sich in dem entsetzlichen düsteren Licht der Glühbirne zur Tür ihres Zimmers zu schleppen. Erst jetzt begreift sie, dass es nur Angst ist, die sie quält, keine Krankheit.

Olga kommt in ihr Zimmer, setzt sich auf die Bettkante und nimmt ihre Hand.

»Ich bin bei dir. Es ist ja alles gut.«

Dankbar erwidert Ida den Druck der trockenen, knochigen Hand.

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