Übungen im Fremdsein
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Olga Tokarczuk. Übungen im Fremdsein
Ognosie. Der Wanderer
Die Welt ist klein
Sesamische Welt
Mein Name ist Million
Viele Welten an einem Ort
Der seltsame Sommer 2020
Kairos
Übungen im Fremdsein
Faszinierende Dekoration
Exotisch, aber in Maßen
Verschiedene Welten
Kilometer um Kilometer
Eine irreale Show
Eine Frage der Freiheit
Die Masken der Tiere
Wie die Gabe der Vernunft uns besser macht
Verstand gegen Verstand – Singer
Können Einsicht und Empathie Instrumente der Erkenntnis sein?
Der Verstand steht kopf oder Die Umkehrung der Perspektive. Michel Faber, Die Weltenwanderin
Masken. Jenseits des Verstandes oder Was wir nicht wissen, aber ahnen
Die Londoner Alchemisten des Films oder Der unheimliche Tiegel der Brothers Quay
Das Unheimliche[11] oder Was Freud sagte
Panoptikum oder Durch das Schlüsselloch
Artificial oder Das Künstliche ist das Schöne
Confusio oder Die ursprüngliche Ordnung der Dinge
Wunderkammer oder Fort mit der Enzyklopädie
Oneiropractica oder Der Goldfisch
Glosse
Wie Übersetzer die Welt retten
Es war einmal eine moderne junge Frau, die ließ sich in ihrer Begeisterung für die schönen chinesischen Schriftzeichen ein paar hübsch anzusehende Wörter auf ihren Nacken tätowieren. Die Bedeutung dieser Wörter musste jeden Kenner der chinesischen Sprache in Erstaunen versetzen, sprachen sie doch folgende Mahnung aus: »Nicht wieder einfrieren!«
Die schöne Geschichte, die ich nun erzählen möchte, sollten alle Übersetzer in ihrem mythologischen Dossier aufbewahren – beweist sie doch, dass sie es waren, die die zivilisierte Welt gerettet haben
Einmal traf ich mich mit einer Bekannten aus Frankreich, die ebenfalls Schriftstellerin ist. Beim Kaffee unterhielten wir uns über unsere Lieblingsbücher, empfahlen einander die Werke, die wir für lesenswert hielten, und tauschten unsere Meinung zu anderen aus, die im Allgemeinen als bemerkenswert gelten. Ich sagte ihr, dass ich sehr gern Montaigne lese, aber nicht in einem Zug von vorne bis hinten, sondern von Zeit zu Zeit, indem ich seine Essais an einer beliebigen Stelle aufschlage und seinen Ausführungen folge, zum reinen Vergnügen und um meine eigenen Gedanken zu klären. Das verwunderte meine Freundin sehr; skeptisch fragte sie mich, ob ich Montaigne auf Französisch läse. Auf Polnisch, erwiderte ich; die vermittelnde Arbeit des Übersetzers schien mir eine weiter nicht erwähnenswerte Selbstverständlichkeit
Hermes ist auch ein Trickster. Keiner lügt und betrügt so geschickt wie er
In letzter Zeit habe ich oft, Hand in Hand mit den jeweiligen Übersetzern, meine Bücher in anderen Ländern vorgestellt
Literatur als Kommunikationsakt beginnt damit, dass wir einen Text mit unserem Vor- und Nachnamen unterschreiben und uns so als Autorin oder Autor hinter ihn stellen. Damit, dass wir unsere tiefste, innerste Erfahrung, das Verletzlichste an uns, in Worte fassen und dabei das Risiko auf uns nehmen, nicht verstanden zu werden, mit unserer Geschichte Wut oder Abfälligkeit auszulösen. Literatur beginnt also in jenem speziellen Moment, in dem unsere individuelle, einzigartige Sprache mit der Sprache anderer Menschen zusammentrifft. Literatur ist der Raum, in dem das Private öffentlich wird
Finger im Salz oder Kurze Geschichte meines Lesens
Über den Daimon und andere schriftstellerische Motivationen
Lodzer Vorlesungen. Zur Psychologie des Erzählers
Bild
Stimme
Der Fremde
Übungen
Stimmproben
Das Geschlecht des Erzählers
Zimzum
Tetraktys
Der dissoziative und der panoptische Erzähler
Zur Psychologie der literarischen Erschaffung der Welt
Inspirationen. Ein Bild
Inspirationen. Das Gefühl des Fremdseins
Inspirationen. Die Juden
Inspirationen. Die Theologie der Frankisten
Inspirationen. Fortsetzung
Das Handwerk
Zur Methode der Konjektur oder Fehler des Auges und des Ohres
Das Supremat des Details
Die Methode der Decollage und der Collage. Einsichten
Exzentrizität – die Suche nach außergewöhnlichen Sichtweisen
Mundus adiumens
Der Fall Duszejko
Personifizierung
Die mythologische Perspektive
Multiple Persönlichkeit
Liebevolle Zugewandtheit
Was Duszejko mich gelehrt hat
Janina Duszejko geht auf die Straße
Die Dimension der Existenzen
Das Land Metaxy
Der liebevolle Erzähler. 1
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3
4
5
6
7
Editorische Notiz
Endnoten
Über Olga Tokarczuk
Impressum
Отрывок из книги
Den Anfang machen möchte ich mit einem Holzstich unbekannter Urheberschaft, den der französische Astronom Camille Flammarion im Jahr 1888 veröffentlichte: Er zeigt einen Wanderer, der an die Grenzen der Welt gelangt ist, der seinen Kopf über die irdische Sphäre hinausstreckt und sich am Anblick eines geordneten und überaus harmonischen Kosmos freut. Seit meiner Kindheit bewundere ich dieses herrlich metaphorische Bild, das mir bei jeder Betrachtung neue Bedeutungen enthüllt. Es definiert das menschliche Wesen vollkommen anders als Leonardo da Vincis weithin bekannte Zeichnung des statischen und triumphalen vitruvianischen Menschen als Maßstab des Universums und seiner selbst.
Bei Flammarion handelt es sich nämlich um einen Menschen in Bewegung, einen Wanderer mit Pilgerstab, Reisemantel und Haube. Und auch wenn wir sein Gesicht nicht sehen, können wir uns doch dessen Ausdruck vorstellen – Faszination wird sich darauf malen, Bewunderung, Staunen über die Harmonie und unfassbare Größe der außerhalb unserer Sichtweite liegenden Welt. Aus unserer Perspektive sind wir lediglich in der Lage, einen Bruchteil der Welt wahrzunehmen, doch jener Wanderer sieht offensichtlich um vieles mehr. Auch haben wir hier deutlich umrissene Sphären, Himmelskörper, Umlaufbahnen, Wolken und Strahlen – die schwer darstellbaren Dimensionen des Universums, die sich gewiss weiter und weiter komplizieren, bis in die Unendlichkeit. Ausdruck des Unbegreiflichen sind auch die ineinandergreifenden Räder; solche Räderwerke begleiteten früher häufig die Engelswesen auf den Illustrationen zur Vision des Ezechiel. Auf der anderen Seite, hinter dem Rücken des Wanderers, befindet sich die Welt mit ihrer Natur, dargestellt durch einen mächtigen Baum und einige andere Pflanzen, und ihrer Kultur, symbolisiert durch die Türme von Städten. Diese Welt erscheint recht konventionell und banal, um nicht zu sagen – langweilig. Der Holzstich beschreibt, wie man sich denken kann, den Endpunkt einer langen Wanderung – dem Wanderer ist gelungen, was nicht vielen vor ihm gelang: Er hat den Rand der Welt erreicht. Und was jetzt?
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Heute passt die Welt in unseren Kalender und in unsere Uhr. Wir können sie uns vorstellen, haben ihr tatsächliches Bild vor Augen. Innerhalb von drei Tagen kann man hingelangen, wohin man nur will (mit wenigen, mäßig interessanten Ausnahmen). Die weißen Flecke auf den Landkarten wurden von Google Maps bis zum Rand ausgefüllt, die Karten bilden mit grausamer Genauigkeit selbst die hintersten Winkel ab. Außerdem gibt es überall nur das Gleiche – die gleichen Dinge, Artefakte, Denkweisen, Währungen, Marken, Logotypen. Das Exotische und das Außergewöhnliche sind Mangelware und lassen sich häufig im Alltag gar nicht mehr finden; sie werden zu reinen Gadgets – wie in jenem Ostseebad, in dem ein direkt aus Thailand importiertes komplettes Thai-Restaurant aufgebaut wurde, oder auf dem flachen Land mitten in Europa, wo sich in einer gigantischen Halle eine imitierte Tropenlandschaft erstreckt.
Mit dem mobilen Endgerät in der Hand oder auf dem Schoß lässt sich immer und überall mit der Familie Kontakt halten, und sei sie Tausende von Kilometern entfernt, befinde sich in einer anderen Klimazone, herrsche bei ihr eine andere Tages- oder gar Jahreszeit. Ein Tourist in Tibet kann sich innerhalb von Sekunden mit seinem Zuhause im polnischen Skaryszewo verbinden. Menschen, die früher nie eine Chance gehabt hätten, einander kennenzulernen, können heute über Medien kommunizieren. Für unsere fünf Sinne ist die Welt – ich sage es noch einmal – klein geworden. Nichtsdestoweniger ist der Anblick der Erdkugel auf einem Foto aus dem All, aufgenommen von Menschenhand, atemberaubend und ergreifend. Eine kleine blaugrüne Kugel schwebt über einem unendlichen Abgrund. Zum ersten Mal in der Geschichte nehmen wir unseren Platz planetarisch wahr – als fest umrissen, zerbrechlich und leicht zu zerstören.
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