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I. Die Maskenbauerin
ОглавлениеCara tippte mir auf die Schulter.
»Ich glaube nicht, dass die Maske das machen sollte. Wäre mir neu, dass sich Agenten solch eine Grimasse wünschen. Von wegen Unauffälligkeit und so.«
Ich schüttelte den Kopf und konzentrierte mich auf die gallertartige Masse in meinen Händen, die ich zu einer Maske zu formen versuchte. Ein fast durchsichtiges Gesicht mit großen Glubschaugen und Hamsterbacken starrte mich an. Ich fluchte und atmete tief durch. Eigentlich beherrschte ich meine Arbeit, das wusste auch Cara. Ich hatte nur manchmal schlechte Träume, die mir den Tag versauten. Erschreckende Träume von zerfallenden Frauen und Stürmen, die ich nicht verstand.
Ich fluchte noch einmal und ignorierte Caras Lachen. Mein Zeigefinger, der den fingernagelgroßen Controller mit einem alten Nanostift programmierte, bewegte sich leicht und verharrte, als der Stift in einem bestimmten Segment einrastete. Der holografische Monitor auf dem Controller erwachte daraufhin und stellte den entsprechenden Code dar.
»Jetzt hab ich dich!«, murmelte ich. Mit sachten Bewegungen korrigierte ich das Programm. Sofort veränderte sich die Masse, die Hamsterbacken glätteten sich, die Augäpfel wurden kleiner und die Farbe der Maske nahm einen dunklen Hautton an.
Cara schnalzte respektvoll mit der Zunge. »Hübsches Kerlchen! So kenne und schätze ich dich, Steam. In einem Moment träumst du wie ein Junkie, im nächsten lieferst du eine Arbeit ab, wie ich sie in hundert Tagen nicht hinbekommen würde. Nicht schlecht, wirklich!«
Sie übertrieb, denn die Maske, die sie geschaffen hatte, war ein Spitzenprodukt. Sie war ein perfektes Abbild eines Schauspielers aus dem zwanzigsten/einundzwanzigsten Jahrhundert, ein Gesicht, das heutzutage kaum jemand erkennen würde, aber gut aussah. Sehr geeignet, um Agenten bei ihren Aufgaben zu unterstützen.
Ich musterte die Maske, die vor ihr auf dem Tisch lag. »Der Typ hieß Brad Pitt, nicht wahr? Super Arbeit. Allerdings viel zu gut aussehend für einen Arsch wie Large. Oder für irgendjemand anderen hier in Berlin.«
Caras Augen wanderten zum dunkleren Bereich des Wellblechverschlags, in dem wir arbeiteten, und sie vergewisserte sich, dass niemand zuhörte. »Vielleicht reißen sich deshalb die Jungs um meine Arbeit – ich stelle mir einfach genau das Gegenteil von ihnen in Sachen Aussehen und Verhalten vor und packe das in meine Masken. Diese Strategie scheint gut zu funktionieren, bislang ist noch niemand aufgeflogen.« Sie stockte, als sie meine unbewegte Miene sah. »Ach Gott, ich meine natürlich nicht, dass sich die Jungs nur um meine Masken reißen, Süße. Sie schätzen deine Arbeit mindestens ebenso. Sieh es so – ich habe Large abbekommen, den primitivsten dieser Hurensöhne. Und du, wen hast du bekommen?«
Ich atmete tief aus. »Du meinst Kern. Aber …«
»Genau, Kern. Der sieht nicht nur gut aus, der hat auch Klasse, Steam, Liebes! Und wenn ich mich nicht ganz täusche, ist der nicht nur an deiner Arbeit interessiert, sondern wäre auch über ein wenig mehr Zuwendung froh.«
»Cara, lass es gut sein, bitte!«, sagte ich und deutete auf die Tür, hinter der schwere Schritte zu hören waren. Ich beugte mich vor und flüsterte: »Was sollte Kern von einer wie mir schon wollen, hm?« Ich klopfte gegen den steifen Mittelfinger meiner linken Hand, ein altes bionisches Teil, das vor langer Zeit seinen Dienst eingestellt hatte. »Nur Blech und Schmerzmittel! Was sollte er damit anfangen?«
Mitleidig fuhr Cara über die tiefen Falten in meinem Gesicht, die Unmengen von AS-X dort gegraben hatten. »Wenn du noch ein paar Masken herstellst, wirst du irgendwann das alte Zeug aus deinem Körper loswerden und brauchst dann auch keine Schmerzmittel mehr.«
Während jemand geräuschvoll das Türschloss entriegelte, lachte ich bitter und schüttelte den Kopf. Nur noch ein paar Masken! Das Einkommen von Maskenbauern war nicht schlecht, aber die Anzahl der bionischen Elemente in meinem Körper so groß, dass ich mindestens vierhundert Jahre arbeiten müsste, um sie entfernen lassen zu können. Ich wusste allerdings auch, dass mein zentrales Nervensystem dem AS-X höchstens noch ein paar Jahre standhalten würde. Danach würde ich, wie die meisten Alt-Bionikjunkies, in den Unterseekompostanlagen landen – verstümmelt und ziemlich tot, nachdem Recycler meine Metalle entfernt hatten.
Ich atmete tief durch und zog die Maske kräftig auseinander, sodass sie aussah wie ein Außerirdischer mit schmerzverzerrtem Mund. Das Implantat in meinem Mittelfinger riss heftig am Fingerknochen. Das graue Metall, vor langer Zeit von Nanobots mit meinem Knochen verschmolzen, war so modifiziert worden, dass es von meinen Zellen nicht abgestoßen wurde. Eine feine Hautschicht zog sich bis zu dem Punkt, an dem der Fingernagel beginnen würde. An seiner Stelle befand sich eine graue, konisch geformte Metallspitze, die aus Abertausenden stillgelegten Nanobots bestand. Sie waren ineinander verschränkt und viel zu klein, als dass einzelne Exemplare erkennbar wären. Diese Bots konnten einst Formen und Farben bilden, ganz nach den Wünschen meines jüngeren Ichs. Heute war von dieser wunderbaren Flexibilität nichts mehr zu spüren. Im Gegenteil, das steife Implantat war immer im Weg und verursachte Schmerzen.
Ich legte die Maske wieder hin.
Jemand hinter mir schnaubte.
»Das hab ich mir doch gedacht. Ihr Weiber sabotiert die Dinger auf eure beschissen hinterlistige Art. Ein kleiner Mikrobruch hier, ein Mikrobruch da … und schon sabbert die Maske mitten im Einsatz, richtig?«
Ich konnte den widerlichen Atem von Large hinter mir spüren. Zu viel Synthohol und billige Protein-Algen. Ich ließ die Maske los und drehte mich um.
Large war der größte und kräftigste Mann, den ich kannte. Über zwei Meter, seine Kleidung martialisch, mit Leder und Metall versehen, die Augen hinter einer breiten Sonnenbrille versteckt. Normalerweise umspielte ein arrogantes Lächeln seine Lippen, heute waren sie schmal wie Striche. Seine Hände waren zu Fäusten geballt. Irgendetwas hatte ihn richtig wütend gemacht, und es war bestimmt nicht das harmlose Dehnen der Maske.
»Wie immer ist Logik nicht deine Stärke, Large«, sagte ich und bemühte mich, meinen Tonfall nicht ganz so ätzend klingen zu lassen. »Warum sollten wir die Einsätze sabotieren, wenn wir doch abhängig von den Coins sind, die ihr Jungs da draußen verdient?«
Cara schien die Wut des Mannes ebenso zu spüren und setzte ihr strahlendstes Lächeln auf. »Apropos Einsatz – Large, Süßer, schau dir mal die Maske an, die ich für den morgigen Einsatz in der Versicherung fertiggestellt habe! Die Tussis im Büro werden dir reihenweise zu Füßen liegen …«
Larges massiger Körper bewegte sich mit einer unglaublichen Geschwindigkeit um den Tisch, seine Hand knallte gegen Caras Mund. »Halt dein Maul!« Larges Stimme zitterte, als er sich über sie beugte. »Deine Freundin hat genau die richtige Frage gestellt. Vielleicht möchtest du sie beantworten, hm?« Er drückte ihren Kopf auf den Tisch, die Maske mit dem Gesicht Brad Pitts fiel herunter. Die Augen starrten mich vorwurfsvoll an.
Cara wimmerte, ihre Lippen waren blutig.
Ich sprang hastig auf, humpelte um den Tisch. Der kaputte Bionikmotor in meinem rechten Knie gab zischende Geräusche von sich, als die Hydraulik Luft ansaugte.
Large drehte sich zur Seite und musterte mich kalt. »Kein Wunder, dass du Steam heißt, bei dem Krach, den du bei jedem Schritt machst. Wie war noch deine Frage, Schrottplatzmädchen? Kannst du sie wiederholen, deine Freundin scheint sie vergessen zu haben.«
Ich starrte ihn wütend an. »Lass sie los. Sofort!«
Er ignorierte mich und presste Caras Kopf noch fester auf den Tisch. Leder knarrte. »Wieso solltet ihr die Einsätze sabotieren, wenn ihr doch davon lebt, dass sie Geld einbringen. Das war deine Frage, nicht wahr?«
Ich ergriff Larges Arm und wollte ihn zur Seite drücken, doch es war, als versuchte ich einen Stahlträger zu bewegen. »Egal was du denkst, Arschloch, wir sabotieren nichts! Lass. Sie. Los.«
Da traf mich ein Tritt gegen das rechte Schienbein, scheppernd fiel ich zu Boden.
»Die Antwort ist vielleicht ganz einfach«, sagte Large ungerührt zu Cara. »Du benötigst unsere Coins nicht, weil du genug aus anderen Quellen bekommst. Vielleicht sogar eine ganze Menge?« Er schleuderte eine Karte mit eingeschweißten Plättchen auf den Tisch. Es waren fingernagelgroße Goldbarren, die verführerisch im Licht der Monitore leuchteten.
Ich kämpfte mich auf die Knie, konnte meine Augen nicht von dem Reichtum abwenden, der vor mir lag. Das Gold musste mehrere Millionen Coins wert sein, mehr als genug, um alle Operationen durchführen zu lassen, die ich benötigen würde. Ich schluckte. Woher hatte Large das?
Wieder knarrte das Leder seiner Ausrüstung.
Cara hatte Schwierigkeiten, etwas zu sagen. »Ich kann es dir erklären, bitte …«
Mit einem Ruck zog Large sie hoch und drückte sie auf ihren Stuhl. Übertrieben fürsorglich streichelte er ihren Kopf. »Dann tu das. Erklär mir, wie so viel Gold in deinen Besitz kommt, Süße!«
Cara atmete stockend und wischte sich mit zitternder Hand über die Lippen. Sie musterte mich, dann sagte sie: »Das ist nicht mein Gold. Ich habe es geklaut. Ich konnte nicht widerstehen.«
»Wo hast du es gestohlen?«
Sie ließ ihre Augen nicht von mir, kurz huschte ein Ausdruck des Bedauerns über ihr Gesicht, dann verhärtete sich ihr Blick. »Aus … Aus Steams Spind, aus der doppelten Rückwand.« Sie brach in Tränen aus und ergriff meine Hand. »Entschuldige bitte, Liebes, aber ich muss ihm die Wahrheit sagen! Verzeih mir!«
Lügen. Alles Lügen.
Ich war sprachlos wegen der schamlosen Schauspielerei der Frau, die ich so lange schon kannte, die ich meine engste Freundin nannte.
Ich riss meine Hand fort und stemmte mich hoch. »Was soll das? Warum lügst du?«
»Liebes, du musst es zugeben. Er wird sowieso alles früher oder später herausbekommen. Wenn er dich erst mal richtig rannimmt, dann wirst du dir wünschen, es erzählt zu haben.«
Ungläubig starrte ich sie an. »Ich kann ja verstehen, dass du Angst vor diesem brutalen Arsch hast, aber dass du mich da mit hineinziehst, hätte ich nicht erwartet!«
Seine Faust bewegte sich so schnell, dass ich sie nur als Schatten wahrnahm, bevor sie gegen meine Schläfe klatschte. Sterne blitzten vor meinen Augen auf, als ich wieder zu Boden ging. Die Prothesen und stillgelegten Implantate, die ich normalerweise durch vorsichtige und gezielte Bewegungen im Griff hatte, stachen in mein Fleisch und zerrten an meinen Sehnen. Die Schmerzen waren so stark, dass ich keinen Ton herausbekam.
»Und schon geht der Schrotthaufen zu Boden. Niedergestreckt vom brutalen Arsch persönlich.« Large trat einen Schritt zurück und betrachtete uns beide. »Was mache ich nur mit euch? Die eine sagt, die andere sei es gewesen. Und eigentlich könnten es auch beide gewesen sein.« Er nahm das Gold und hob es hoch. Es warf einen hellen Schein auf unsere Gesichter. »Dann muss ich wohl das Metall selbst sprechen lassen. Ich gebe es ins Analyselabor und werde bald erfahren, wer die letzten Personen waren, die es in den Händen gehalten haben. Das Verfahren ist teuer, aber es wird die Schuldigen identifizieren.« Er wandte sich um und ging zur Tür. »Bis dahin werdet ihr in diesem Raum bleiben. Wenn ich eine von euch auch nur in der Nähe der Tür sehe, wird sie rangenommen, wie du es so schön ausgedrückt hast, Cara.« Er lachte gehässig. »Du weißt, ich spaße nicht. Und du, Schrottmädchen, solltest deiner Freundin glauben, dass du das wirklich nicht erleben möchtest.« Mit einem lauten Knall schloss er die Tür hinter sich.
Cara schluchzte und verbarg ihr Gesicht mit beiden Händen.
Ich zog mich stöhnend hoch und ließ mich auf einen Stuhl fallen. Meine Muskeln und Sehnen in den Beinen und Armen schmerzten so sehr, dass ich noch immer Sterne vor den Augen sah. Ich atmete tief durch und konzentrierte mich auf das Bild des Hauses, welches ich als kleines Mädchen entdeckt hatte, versteckt in einem Waldstück. Nach dem Sturz von einem Baum hatte ich es minutenlang angestarrt, während ich nach Luft schnappte.
Mit jedem Atemzug schwanden nun meine Schmerzen, bis sie den Punkt erreicht hatten, den ich ohne Medikamente nicht überwinden konnte. Ich brauchte mein AS-X.
Mühsam hievte ich mich hoch und streckte vorsichtig mein Bein mit dem Bionikmotor. Er protestierte und zischte, schien aber weiterhin zu funktionieren.
»Was zum Teufel machst du da?«, rief Cara, als ich mich dem Ausgang näherte.
Ich ignorierte sie und streckte meine Hand aus, um den Türgriff zu betätigen.
Schneller als ich es ihr zugetraut hatte, sprang Cara auf und schob sich zwischen mich und die Tür.
»Tu das nicht, Liebes. Du hast ihn doch gehört. Er wird dir sonst wehtun. Bevor Kern einschreiten kann.«
»Nenn mich nicht Liebes, du falsches Biest«, zischte ich und versuchte sie zur Seite zu drücken. »Ich gehe jetzt da raus und hole mein AS-X. Wage es ja nicht, mich aufzuhalten!«
Plötzlich presste sie sich an mich und drückte ihren Mund an mein Ohr. »Hör mir zu, bitte. Ich weiß, was Large finden wird. Ich weiß, wen er identifizieren wird«, flüsterte sie.
Caras Nähe löste ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit in mir aus. Ich zögerte. »Natürlich tust du das«, schnappte ich dann. »Du bist ja auch die Besitzerin!«
Cara weinte wieder, Tränen benetzten meine Wange. Ihre Stimme klang rau. »Ich musste versuchen, den Verdacht auf dich zu lenken. Du hast doch deinen Beschützer Kern. Dir wäre nichts passiert.« Sie drückte mich fester, ihr Körper zitterte. »Bitte, Liebes, hilf mir, er wird mir sonst wehtun.«
Mein Zorn legte sich langsam, trotzdem war meine Stimme eisig, als ich fragte: »Wieso sollte ich? Du hast mich schließlich …«
In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen. Der Gestank von Synthohol raubte mir den Atem. Larges riesige Hände drückten mich zur Seite und schlossen sich um Caras Kehle.
»Ich wusste doch, dass ich die Kosten für die Analyse sparen kann. Dafür plapperst du einfach zu viel, nicht wahr, Liebes? Und ich glaube sogar, dass du mir gleich noch mehr erzählen wirst.« Er riss sie herum und zerrte sie aus dem Raum, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Die Tür ließ er offen stehen.
Schmerzen hämmerten in meinem Kopf, ich brauchte das AS-X.
Ich stolperte durch den Flur zu meinem durchwühlten Spind und fand die Dose mit der Droge. Als ich sie an mein Kanülen-Interface am Unterarm setzte, hörte ich Caras Schreie und heftige Schläge gegen die dünnen Wellblechwände. Ich wischte mir die Tränen fort, die meine Wangen herabflossen, und atmete tief durch.
Die Nanobots seiner Augen zogen sich zusammen, als die Strahlen der Sonne durch die Wolkenlücken drangen. Sie bildeten eine enge, schlitzartige Pupille – ähnlich einer Katze oder einer Kontaktlinse, die wie ein Katzenauge geformt war. Slang wusste, dass das bei den Menschen der allerletzte Schrei war, zumindest in dieser Gegend. Er seufzte, als er die Wärme der Sonne auf seiner Haut spürte, die eine Ansammlung von Milliarden Nanobots war, deren Kollektoren ausfuhren. Hastig speicherten sie die Energie, die die Sonne lieferte, bevor die nächsten Wolken diese wieder verdeckten. Slang genoss den Energiefluss und schloss die Augen. Seine Gedanken schweiften ab und träumten von einer sonnigen Welt, die er bald genießen würde. Es war eine Welt voller Freude und Lebenslust, eine Welt ohne Sorgen. Eine Welt, in der er niemanden töten musste.
Eine Bewegung, die sich von dem alltäglichen Treiben des Straßenverkehrs unterschied, alarmierte einen seiner Sensoren. Er schlug die Augen auf und sah die verborgene Klappe in der kaputten Leuchtreklame, die sich so langsam öffnete, dass es keinem Menschen aufgefallen wäre.
Allerdings war er kein Mensch.
Rasch wich er zurück in die Schatten der hohen Gebäude, in denen die Menschen lebten. Hier konnte ihn das Tageslicht nicht erreichen, hier war er unsichtbar für die Person, die die verborgene Kamera benutzte. Seine Augen beobachteten die feinen Kamerabewegungen genau, die jedem vorüberrauschenden Flix-Flugtaxi und jedem Fußgänger folgten. Slang konnte die Gedanken der Person fast schon spüren, als die Kamerabewegung bei einem offensichtlich drogenkranken Mann verharrte, der an einem Verteilerkasten lehnte. Da in dieser Gegend Drogensüchtige häufig anzutreffen waren, konnte der Mann durchaus ein Undercoveragent sein. Dann aber wankte er davon, eine Speichelspur hinter sich herziehend, und die Kamera fokussierte andere Ziele.
Als sie sich endlich abschaltete, spannte Slang seine nanoverstärkten Muskeln an und fuhr seine interne Reserveenergie hoch. Die Person würde sich nun sicher genug fühlen, um aus ihrem Versteck zu kommen.
Er war bereit.
Die Leuchtreklame, die noch aus der Zeit vor dem Nano-Schock stammte, bewegte sich langsam zur Seite und gab eine schmale Öffnung preis. Irgendetwas bewegte sich in ihr.
Slangs interne Sensoren gaben plötzlich Alarm. Aktive Nanotechnologie!
Er hatte ihn gefunden. Sein hoffentlich letztes Ziel, bevor er nach Hause zurückkehren durfte.
Während der Mensch aus der Öffnung stieg, vergewisserte er sich, dass niemand in der Nähe war. Dann schnellte er hervor und aktivierte Hunderttausende kleine Bots, die aus seinen Poren drangen und wie graue Nebelschleier auf sein Opfer herabsanken.
Diese taten ihre Arbeit sofort und vernichteten die Stromzufuhr aller feindlichen Nanobots. In einem Strudel aus blauen Blitzen erkannte Slang einen Mann, der einen Arm schützend vor sein Gesicht erhoben hatte. Seiner Nanohelfer beraubt war er wie betäubt, körperlich und geistig.
Wie immer in solchen Situationen gestattete Slang sich ein wenig Mitleid. Menschen waren zwar primitiv, dennoch konnte er sich vorstellen, wie dieser sich fühlte. Eben noch Herr über funktionierende Bots, die seinen Körper optimierten und lenkten, waren nun die meisten seiner Gliedmaßen tot.
Der Mann starrte ihn an, Panik verzerrte sein Gesicht.
»Es tut mir leid!«, flüsterte Slang. Dann übernahm er die Kontrolle über die stillgelegten Bots des Mannes und reaktivierte sie. Er legte eine Hand auf dessen Kopf, eine Geste, die befehlend und beruhigend zugleich war. »Ausführen!«, murmelte er.
Die Augen des Mannes wurden größer, sein Mund öffnete sich, als Schmerzen aus allen Bereichen seines Körpers auf ihn einströmten. Noch bevor er einen Laut von sich geben konnte, brachen seine Augen. Er war tot, hingerichtet von seinen eigenen Bots, deren Programme Slang modifiziert hatte.
Plötzlich zuckten die Mundwinkel des Toten, die Lippen formten Wörter und wiederholten sie immer wieder. Kein Laut war zu hören, aber Slang verstand sie.
Kein Input, keine externe Energie.
Er bückte sich und tastete an den Seiten des Kopfes, bis seine Finger harte Stellen fanden, die er drückte.
Die Maske löste sich und mit ihr mehrere Bereiche am Körper des Mannes, die ihm ein muskulöseres Aussehen verliehen hatten.
Obwohl er so etwas schon häufig gesehen hatte, war Slang fasziniert von dieser simplen Technologie. Das Bedürfnis, sich zu verstecken und zu verkleiden, war bei den Menschen sehr ausgeprägt. Daher nutzten sie diese gummiartigen Oberflächen, die mithilfe mikroskopisch kleiner Motoren das Verhalten von echter Haut simulierten. Der Körper des Mannes, der früher mal ein Agent der Europäischen Union gewesen war, sah dürr und ausgemergelt aus. Wahrscheinlich hatte er an einer Strahlenkrankheit gelitten, die seine verbliebenen Nanobots nicht heilen konnte.
Slang betrachtete die Maske nachdenklich. Sie war eine perfekte Kopie des Gesichtes des Mannes, verbarg ihn also keinesfalls. Was also war ihr Zweck?
Plötzlich verzogen sich ihre Züge zu einer aggressiven Miene, ihr Mund formte ein Wort: Ausschaltung!
Slangs Sensoren schrillten, als sie einen rasanten Energieanstieg registrierten. Bevor er reagieren konnte, explodierten die Maske und die Muskelattrappen.
In dem Moment, in dem sich die grellen Flammen mit Wucht in sein Nanogewebe gruben, wurde Slang klar, dass er eine Materialanalyse hätte durchführen müssen. Eine Standardprozedur, die er vernachlässigt hatte, weil er von seinen Emotionen abgelenkt gewesen war.
Sein Körper wurde gegen den Beton des Gebäudes geschleudert, ein Teil der Wand brach über ihm zusammen. Für einen Augenblick versagte sein Bewusstsein, dann formierten sich Nanobots und sammelten sich um die zerstörten Bereiche seines Körpers. Während zertrümmerte Bots entsorgt und neue geschaffen wurden, lief die Analyse der Maskenfetzen, die im Betonstaub herumlagen.
Slang runzelte die Stirn. Sprenggelatine der neuesten Generation. Das gab es fast ausschließlich nur in den reichen südeuropäischen Staaten und dort auch nur beim Militär. Wie kam es in eine Maske, die unverkennbar in einer der zahlreichen lokalen Werkstätten hergestellt wurde?
Slangs Körper war vollständig wiederhergestellt, als sein Analysealgorithmus ein weiteres Detail in den Resten der Maske identifizierte: Adaptive DNS.
Verblüfft wiederholte Slang die Analyse und schüttelte dann den Kopf. Es gab nur eine Erklärung. Ein Top-Agent musste die Maske vor Kurzem angefasst haben. Vielleicht hatte er sie sogar gebaut.
Die Top-Agenten waren eigentlich als Erstes ausgeschaltet worden, die primären Ziele. Laut den Aufzeichnungen wurden viele innerhalb der ersten Stunden nach dem Nano-Schock eliminiert.
Slang befreite sich aus den Trümmern und betrat die Reste des kleinen Raums, in dem sich der Agent versteckt hatte. Gierig saugten seine Sensoren alle Informationen auf. Er ließ sich noch nicht einmal stören, als vor dem Gebäude Polizeiautos stoppten und blau-rotes Licht durch die Trümmerspalten auf ihn fiel.
In einem Hohlraum fand er eine Datenkarte. Er knackte die primitive Entschlüsselung mit Leichtigkeit und saugte die Informationen auf, die enthalten waren. Er lächelte, als er die Liste der Kontakte des Agenten durchging.
Lichtkegel stachen jäh durch Staubschwaden und näherten sich seinem Schatten. Vorsichtig schlich er sich an den Polizisten vorbei. Dann befand sich Slang wieder auf der Straße und bahnte sich einen Weg durch die gaffende Menschenmenge.
Er seufzte leise. Auch wenn er die ganze Liste abarbeiten musste, er würde den Top-Agenten finden.
Der Mann starrte mein Gesicht an. Ich wusste, dass meine tiefen Falten mich als schmerzmittelabhängig kennzeichneten, als Person, mit der man nur Geschäfte machte, wenn man sich vorsah.
»Hast du genug Coins?«, knurrte er und spuckte auf den regenfeuchten Asphalt vor mir.
Obwohl ich sein Misstrauen verstand, spürte ich Ärger in mir aufsteigen. Ich zückte eine Karte mit dem Logo von Insomnias Organisation – eine Welle hinter dem Konterfei eines Mannes – und sagte: »Ich habe mehr als genug. Oder soll ich dir diese hier in den Hintern reinschieben, wo dein Gehirn sitzt?«
Er zog die Mundwinkel hoch und entblößte schwarze, von Drogenkonsum gekennzeichnete Zähne. »Ist schon gut, Schätzchen. Wir kommen ins Geschäft.« Er bedeutete mir, zu folgen, und führte mich zu einer Nebengasse. Dort, fernab von dem grellen Reklameleuchten des Rotlichtviertels, blieb er vor einer Stahltür stehen, die er mit einem Zahlencode entriegelte.
Ich konnte seine Finger nicht sehen, aber die dilettantische Art, in der er den Arm bewegte, verriet mir die Zahlenkombination. Eine Jahreszahl, die wahrscheinlich seinem Geburtsjahr entsprach.
Der Raum hatte nur eine Notbeleuchtung, Reihen von alten Transportkisten ragten bis an die Decke. Der Mann öffnete eine Kiste und schob Kartons mit Computerspielen beiseite. Graue Kunststoffblöcke stapelten sich darunter.
»’ne Runde Tetris gefällig?«, fragte er mit verschmitztem Lächeln, während er die Spielboxen auf den Boden legte.
Tetris, Manic Miner, Ant Attack. Alles neu aufgelegte Klassiker, die wieder in Mode gekommen waren, seit die auf Nanotechnologie basierenden Computer nicht mehr funktionierten und Rechner genutzt werden mussten, die vor hundert Jahren aktuell waren.
Er deutete auf die grauen Blöcke. »Der beste Kunststoff, den man außerhalb des Netzes kaufen kann. Feinste Südware. Genauso gut wie das zertifizierte Zeug.«
Ich trat an die Kiste, wischte den Dreck fort. Wir beide wussten, dass das gelogen war. Zertifizierter Kunststoff war besser, weil er gegen Mikroabrieb geschützt war, er war auch robuster und witterungsbeständiger als Schwarzmarktware. Allerdings auch teurer und die Regierungen konnten seine Herkunft ermitteln.
Ich kramte mein Analysewerkzeug hervor, ein Blechkasten mit Monochrom-Display.
Ich lachte, als ich die fluoreszierenden Symbole entzifferte. »Made in PorIugal. Da hat sich ein Meisterfälscher aber wirklich ins Zeug gelegt. Tolle Arbeit!«
Er runzelte die Stirn und starrte auf das kleine Display. Verärgert schüttelte er den Kopf. »Kann gar nicht sein. Dein Gerät ist Müll. Meines zeigt da Portugal an.« Er fing an in den Taschen zu wühlen.
»Ist schon gut, Schätzchen«, sagte ich und äffte seinen Tonfall nach. »Da wir beide wissen, dass du keine echte Portugalware anbietest, können wir uns das ganze Geplänkel sparen und sofort über den Preis sprechen, oder?« Der Mann schnaubte wütend und wollte widersprechen, doch ich hob das Analysegerät hoch. »Ich kenne Insomnia. Er traut diesen Geräten mehr als solch einem Schlitzohr wie dir! Also, ich würde sagen … fünfundzwanzigtausend für dreißig Kilo?«
Der Mann hatte eine schlechte Ausgangsposition, das wusste er, doch anstatt eine neue Strategie zu finden, versuchte er weiter, die Qualität seiner Ware hervorzuheben, indem er sagte: »Das Zeug ist besser als alles, was du in den Nordstaaten legal bekommst. Und dafür läppische achthundert Coins pro Kilo? Da könnte ich es auch gleich auf die Straße kippen.«
»Achthundertdreiunddreißig Coins pro Kilo habe ich geboten. Mir scheint, du hast ein Problem mit Details. Oder kannst du einfach nicht rechnen?« Ich nahm einen Karton mit Manic Miner und fuhr mit dem Zeigefinger über die Schriftzüge. »Aber ich will mal nicht so sein. Achthundertfünfzig Coins pro Kilo und eines dieser Spiele hier. Letztes Angebot.«
Wütend riss er mir den Karton aus der Hand und warf ihn zurück in die Kiste.
»Vergiss es! Erst mich mit gefälschten Analyseausgaben verarschen und jetzt auch noch Dumpingpreise verlangen! Du weißt genau, dass das Ganze mehr als doppelt so viel wert ist!«
Ich starrte ihn an, dann zuckte ich mit den Schultern. »In Ordnung, wenn du keine Geschäfte machen möchtest, dann gehe ich eben wieder.«
Aufgebracht schob er mich zur Tür. »Das ist komplette Zeitverschwendung, geh zu Insomnia zurück und erzähl ihm, dass er ab heute einen Lieferanten weniger hat. Und dass er nur dir das zu verdanken hat.«
Ich tat so, als würde mich diese Aussicht bestürzen. Tatsächlich hatte der Mann genau so reagiert, wie ich es erwartet hatte. Ich folgte ihm eine Weile, dann blieb ich stehen, während er fluchend und murrend zurück zur Hauptstraße lief, dorthin, wo Kern ihn eine Weile mit unsinnigen Fragen beschäftigen würde.
Ich atmete tief durch und konzentrierte mich auf meine zitternden Hände. Wenn ich aufgeregt war, kroch mein alter Begleiter, der pochende Schmerz, die Wirbelsäule hoch und versuchte meinen Verstand zu betäuben. Heute galoppierte er nur so auf den Kopf zu.
Ich vergewisserte mich, dass die kleine Blechkapsel in meiner Seitentasche steckte. Etwa eine Viertelstunde noch, dann würde mein Zittern zu einem unkontrollierten Zucken und das Pochen zu einem vernichtenden Hämmern werden. Ich kannte den Ablauf mittlerweile, sodass ich genau abschätzen konnte, wann ich die nächste Dosis AS-X benötigen würde. Zeit genug, meinen Auftrag zu erledigen. Ich vermied die hellen Bereiche der Straße und lief zurück in Richtung Tür. Das Zischen meiner kaputten rechten Beinprothese wurde vom Plätschern des Regens und dem Rauschen des Verkehrs auf der nahen Hauptstraße überdeckt. Es war niemand da, der es hätte bemerken können.
Ich tippte die Zahlen ein, das Schloss entriegelte. Als ich an der schweren Tür zog, merkte ich jäh, wie mir schwindelig wurde. Schnell öffnete ich meine Seitentasche und entfaltete einen zusammengelegten Rucksack. Meine Hände zitterten dabei so sehr, dass ich ihn fast fallen ließ.
Ich musste mich beeilen. Ich warf die Spielekartons achtlos aus der Kiste, sie klapperten auf den Boden.
Meine Finger zogen an einem der Kunststoffblöcke. Er war schwerer als erwartet. Wütend auf die eigene Schwäche zerrte und riss ich an ihm, bis plötzlich ein Widerstand nachgab und ich ihn herausheben konnte.
Da entdeckte ich das Kabel, das mit dem Block verbunden gewesen war und das ich herausgerissen hatte.
Ich fluchte und ließ die Beute los. Solch ein Kabel konnte alles Mögliche bedeuten, daher sprang ich zur Seite, so weit, wie meine Beine dies zuließen. Ich prallte gegen einen Betonpfeiler und stürzte zu Boden. Gebannt hielt ich den Atem an, doch es passierte nichts.
Während ich noch ein wenig wartete, wanderte der Schmerz ein Stück hoch und lauerte drohend in meinem Nacken. Es war, als sei er bereit, auszubrechen und mein Gehirn anzugreifen. Ich spürte, dass der Sturz die Viertelstunde reduziert hatte, dass ich ihn sofort behandeln musste. Meine Hand tastete nach dem AS-X und griff ins Leere. Die Blechkapsel war fort! Ich musste sie beim Sturz verloren haben.
Verzweifelt tastete ich den schmutzigen Boden ab, schob Kartons beiseite und versuchte das Zwielicht mit meinen Augen zu durchdringen. Erinnerungsfragmente von Hochleistungslinsen und Augenimplantaten blitzten auf. Entsprachen sie der Wahrheit oder waren sie Wunschträume, die ich in meinem Leben vor dem Nano-Schock hatte?
Ich schüttelte den Kopf und kroch hinter einen der Kistenstapel. War die Kapsel hierhin gerollt?
Ich hielt inne, als sich hastige Schritte näherten. Irgendjemand fluchte ununterbrochen, während er auf die Tür zusteuerte und diese aufriss. Es war der Händler.
»Arschlöcher! Junkie-Huren! Piss-Diebe! Was habt ihr mit meiner Ware gemacht?«
Das Geräusch klappernder Spielekartons verriet mir, dass er auf die offene Kiste zuhielt. Schnell zog ich die Beine an, damit er mich nicht sehen konnte. Meine Prothese zischte dabei so laut, als wollte sie dem Mann unbedingt mitteilen, wo ich zu finden war. Doch der übertönte jedes Geräusch mit seinem Monolog.
Wütend überprüfte er die Kunststoffblöcke und lachte hart. »Verfluchte Drogentussi! Hast wohl kalte Füße bekommen, als du das Kabel gesehen hast, wie? Könnte ja eine Scheißbombe, ein Giftspray oder eine Selbstschussanlage sein! Dabei ist es nur eine Alarmanlage, die beste, die ich bislang hatte.«
Er schaufelte Spielekartons in die Kiste. Jeder Ton dröhnte so laut, dass ich meine Hände gegen die Ohren presste. Schweiß floss mir in die Augen. Wenn ich nur nicht so schwach wäre! Hätte ich das AS-X, könnte ich es mit ihm aufnehmen.
Plötzlich stockte er. Blech klimperte. Er kicherte. »Na, das ist mal ein Einbruch, den ich mir lobe. Nichts geklaut, aber teure Schmerzmittel dagelassen.«
Mein AS-X!
Ich wollte aufspringen, es ihm entreißen, es an das Interface setzen, spüren, wie es den Schmerz fortspülte. Doch mein Kopf schwamm, und meine Beine reagierten nicht. Ich bemerkte, dass der Schwächeanfall mich fest im Griff hatte, dass ich sogar halluzinierte.
Durch einen Spalt zwischen den Kistenstapeln sah ich, wie hinter dem Händler ein Schatten erschien, unförmig und nur entfernt menschenähnlich. Und der Schemen wurde immer seltsamer und absurder, während ich versuchte den Schweiß aus meinen Augen zu blinzeln.
Jetzt verschmolz er mit dem Händler, ich hörte einen Schrei, dann einen Schlag. Blech klimperte, der hohe Klang durchdrang den Schmerz in meinem Kopf, füllte ihn mit Hoffnung auf Linderung. Meine Gedanken rasten hin und her, chaotisch und wirr. Irgendwann wurden sie ein wenig klarer, und ich fühlte mich wieder stark genug, die Augen aufzumachen.
Ich hatte nicht halluziniert. Ein Körper lag auf dem Boden vor der Kiste. Durch den Spalt konnte ich den Hals des Mannes sehen. Blut floss aus seiner Kehle. Er bewegte sich nicht.
Da schwebte die Kapsel in mein Sichtfeld. Sie war teilweise verdeckt von einem grauen Schleier, der das Aussehen der Umgebung widerspiegelte.
Ein Tarnfeld!
Eine Erkenntnis, die meinem Gehirn entsprang, obwohl ich mich nicht daran erinnern konnte, so etwas je gesehen zu haben. Schon vor dem Nano-Schock waren Tarnfelder extrem selten gewesen, danach konnten sie nicht mehr existieren, weil sie auf Nano-Technologie basierten.
Ich hielt den Atem an. Wer war das? Wer hatte Zugriff auf diese Technik? Und was hatte er mit dem Händler gemacht?
In diesem Moment waberte das Feld, Grautöne wandelten sich in scharfe Konturen und nahmen die Form eines Mannes an, der meine Kapsel in der Hand hielt. Er war in eine Art goldene Panzerung gekleidet, einen Schutzanzug aus Metall, der auch sein Gesicht bedeckte. Seine Augen oder Fotosensoren fixierten die Kapsel, ein Scanstrahl tastete den kleinen Blechbehälter ab. Plötzlich verzog sich seine Maske, Lippen kräuselten sich, Gesichtszüge nahmen Form an.
Ich riss die Augen auf, erstarrte. Das war kein Schutzanzug! Was ich dort sah, schimmerte zwar wie ein goldener Titanpanzer, war aber beweglich und flexibel wie Haut. Die Panzerung war der Mann!
Erinnerungen an den Nano-Schock kochten hoch. Das Gerücht einer außerirdischen Infektion. Ein Virus, der Nanotechnologie zerstörte. Später lösten sich diese Gerüchte genauso auf wie Schmerzen nach einer ordentlichen Dosis AS-X. Ein außer Kontrolle geratener Nanocomputervirus klang glaubwürdiger als eine außerirdische Bedrohung. Bis jetzt.
War er etwa ein Außerirdischer? Er war größer als die meisten Menschen, bewegte sich so fließend, als würde er aus flüssigem Metall bestehen. Seine Mimik wiederum war menschenähnlich. Er blickte triumphierend drein und irgendwie gierig. Seine glühenden Augen fixierten das AS-X, als sei es ein Schatz. Dann drehte er sich um, wollte wohl zur Tür gehen.
Trotz meiner Angst war ich fasziniert von seinen fremdartigen Bewegungen, die in ihrer Leichtigkeit bedrohlich wirkten. So ähnlich wie eine Katze, die aus einer eleganten Schleichbewegung heraus einen tödlichen Angriff starten konnte. Zitternd beugte ich mich näher an den Sichtschlitz.
Da öffnete sich ein Hydraulikventil in meinem kaputten Knie und entließ ein zischendes Geräusch.
Er reagierte sofort, wirbelte so schnell herum, dass ich seine Konturen nur erahnen konnte.
Panik stieg in mir auf, als er auf den Kistenstapel, hinter dem ich versteckt war, zuzufließen begann. Irgendetwas in mir wusste, dass er mich wie den Händler töten würde. Ich starrte nach oben zum Rand des Stapels, wo seine Metallfinger jeden Augenblick auftauchen würden, und wagte nicht zu atmen. Ich schloss die Augen. Hitze wallte in mir auf, und für einen kleinen Moment hatte ich das Gefühl, über mir zu schweben.
Millionen feindlicher Militärbots schwärmten aus und erfassten meine Signatur. Niemand konnte mich jetzt mehr retten, daher initiierte ich mein brandneues Zero-Programm. Ich wartete, bis meine Bots bestätigten, und aktivierte sie dann.
Die Erinnerung durchzuckte mich so klar und deutlich, als hätte ich in diesem Moment einen Schritt in die Vergangenheit getan. Ich erkannte plötzlich, dass ich viele Dinge erlebt haben musste, die ich verdrängt hatte.
Verwirrende Bilder flackerten vor meinen geschlossenen Lidern, chaotisch und bunt. Verzweifelt versuchte ich sie zu ordnen, mit aller Kraft festzuhalten, denn ich wollte mehr erfahren, bevor der Außerirdische mich tötete. Ich spürte, dass er über mir war, dass er mich mit diesen glühenden Augen betrachtete.
Plötzlich stoppte das Chaos in meinem Kopf, blieb bei dem Bild eines weiß getünchten Hauses stehen, das in mir das ungewohnte Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit hervorrief. Es war umgeben von einem Garten mit Fruchtbäumen, an einer grünen Tür blitzte eine Messingklinke in der Sonne.
Wo ist das?
Plötzlich hörte ich seltsame gutturale Geräusche. Sie kamen unregelmäßig und stoßartig, fast wie von einem Spürhund, der Witterung aufnahm.
Vergessen waren das Haus und meine aufgekommene Neugierde. Ich war in Panik, wollte fort und wagte es doch nicht, mich zu bewegen.
Ich wartete darauf, dass ein fürchterlicher Schmerz meinem Leben ein Ende bereitete. Ein Schnitt in der Kehle vielleicht oder in einer lebenswichtigen Arterie. Doch er kam nicht, und die Geräusche verklangen.
Als ich die Augen öffnete, erkannte ich, dass über mir niemand war. Doch alles war seltsam unscharf, als wäre ich unter Wasser.
Ich schüttelte den Kopf und rieb mir die Augen, bis sich der Schleier hob. Dann registrierte ich im Augenwinkel eine Bewegung. Durch den Spalt sah ich, wie sich die große Gestalt lautlos entfernte. Von einem Augenblick zum nächsten verschwand sie.
Erst jetzt bemerkte ich, dass ich kaum atmete. Keuchend sog ich die stickige Luft des Lagers ein. In diesem Moment kam sie mir köstlicher vor als eine Prise AS-X. Ich hatte überlebt.
Als ich mich bewegte, protestierte mein Knie und entließ ein zischendes Geräusch. Wider Willen musste ich lachen, ein krächzender, humorloser Ton.
»Scheißteil. Fast hättest du es diesmal geschafft!« Nur, warum hatte das Wesen mich nicht getötet? Warum hatte es gezögert? Ich mühte mich auf meine Beine und hangelte mich an dem Kistenstapel entlang.
Die Leiche des Verkäufers lag vor mir, sein Blut bedeckte den Großteil des Bodens. Das Wesen hatte darin keine Fußspuren hinterlassen.
Ich suchte mir den Weg zur Tür, der am wenigsten besudelt war, und kämpfte gegen Schwindel und zitternde Glieder.
Plötzlich verdunkelte ein breiter Schatten den Eingang. Ein muskulöser Mann starrte mich an, eine Handfeuerwaffe im Anschlag.
»Wow! Der Kerl hat dich wohl ziemlich angepisst, was? Wie hast du ihn erledigt?«
Erleichtert stolperte ich auf Kern zu, wollte ihm erklären, dass ich den Mann nicht umgebracht hatte, wollte mich von ihm trösten lassen. Stattdessen flüsterte ich: »Hast du AS-X?«
Er musterte mich mit dem leichten Ausdruck von Bedauern in den dunklen Augen, den ich mittlerweile kannte. Dann verzog er sein Gesicht spielerisch zu einer Grimasse voller Angst und reichte mir eine Kapsel.
»Hier, bevor du mir auch noch die Kehle aufreißt, oder was auch immer du da gemacht hast! Was …« Er schüttelte den Kopf. »Hast du ihn etwa mit deinem Kniedampf zu Tode gedünstet?«
Ich setzte die Kapsel an das Interface und spürte, wie das AS-X in meine Venen schoss. Seufzend hielt ich mich an Kerns Arm fest. »Ich hab ihn nicht getötet. Das Ding, das ihn erledigt hat, ist gerade eben raus.«
»Das Ding?«, murmelte Kern, spannte aber sofort die Muskeln an und aktivierte den Bewegungsdetektor an seinem Armgelenk.
»Ich glaube nicht, dass diese Geräte bei ihm funktionieren.«
Kern ignorierte mich, scannte die Umgebung. »Wenn sich das Ding bewegt und wenigstens ein bisschen Wärme ausstrahlt, wird es funktionieren, keine Sorge.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, du verstehst nicht. Es ist nicht so wie deine normale Beute, es ist …«
»Zielobjekt. Nicht Beute. Ich bin Agent, nicht Jäger.«
Ich verdrängte das warme Gefühl, das ich in seiner Nähe verspürte, und schüttelte seinen Arm. »Kern, verstehst du nicht? Wir müssen hier weg. Sofort! Wenn schon nicht wegen des Zielobjektes, dann auf jeden Fall wegen der Leiche. Wenn die Polizei kommt und uns hier erwischt …«
Kern zögerte, dann nickte er und drückte mir seine Waffe in die Hand. »Na schön. Halt mal!«
Aus seinen tiefen Taschen holte er eine Granate hervor, die er mit dem Daumen aktivierte.
»In einer Minute. Feuer. Gezielte Vernichtung DNA von Insomnias Organisationsmitgliedern«, murmelte er. Dann warf er das Gerät neben die Leiche.
Bevor er mich zur Tür hinausschob, holte er einen Kunststoffblock aus der Kiste und steckte ihn in seinen Rucksack. Er trieb mich zur Eile an, schloss zu mir auf.
Als die Granate hochging, spürte ich die Hitzewelle und prallte gegen ihn. Beiläufig ergriff er meinen Kragen und richtete mich wieder auf. Vorsichtig fischte er seine Waffe aus meiner Hand.
Da piepte plötzlich sein Bewegungsmelder. Obwohl ich das Gerät nicht gut kannte, erfasste ich sofort, dass sich jemand in den Räumlichkeiten oberhalb der Halle befand, vermutlich im Büro des Gebäudes.
Ich drehte mich um, blickte hoch und sah ein eingeschlagenes Fenster. Mir wurde klar, was passiert war. Das Wesen hatte etwas oder irgendwen im Lager gesucht. Als es nicht fündig geworden war, hatte es die Wand erklommen, das Fenster eingeschlagen und im Büro weitergesucht.
Ich schluckte, als ich an den Ausdruck des Wesens dachte, während es das AS-X scannte. Hatte es meine DNA gefunden? Suchte es mich? Aber warum lebte ich dann noch? Es war genau über mir gewesen, so nah, dass es mich unmöglich übersehen haben konnte.
In diesem Moment ertönte ein dumpfer Schlag. Das gesplitterte Glas auf dem Boden knirschte, und etwas Schweres kam schnell näher. Niemand war zu sehen, doch ich wusste, dass das täuschte.
»Schnell!«, rief ich und presste Kern mit all meiner Kraft in den Schatten der Gasse.
Plötzlich waberte die Luft genau neben uns, etwas Unförmiges manifestierte sich dort. Kern reagierte sofort, riss die Pistole hoch und drückte ab. Der Knall direkt neben meinem Ohr ließ mich gegen seine Brust taumeln. Sterne flackerten vor meinen Augen, mein Knie gab nach. Ich sah die Dinge wie durch ein dickes Glas, mein eigener Körper erschien nur noch schemenhaft. Während ich mit Kern zu Boden stürzte, hörte ich etwas mit großer Geschwindigkeit vorbeirauschen.
Kern schrie auf und versuchte mich fortzustoßen, ich klammerte mich an ihn, fast taub und trotz des AS-X voller Schmerzen. Etwas Warmes und Feuchtes lief über meinen Rücken.
Plötzlich bäumte sich Kern auf, ich verlor den Halt und stieß mit dem Kopf gegen eine harte Kante. Bevor ich das Bewusstsein verlor, hörte ich das Zischen meines Knies, das seltsam triumphierend klang.
Slang leitete seine Reserve-Energie in die Sensoren und scannte den Bereich, in dem sich die beiden Menschen irgendwie versteckt hielten. An den Rändern der Gasse war Müll gestapelt, Kartons, verrostete Blechdosen und Palettenholz. Nichts, was groß genug war, um zwei Menschen zu verbergen. Und doch waren diese weg. Einen hatte er sogar verletzt, ihm zwei tiefe Schnitte verpasst.
Seine Nanobots, die die Klinge geformt hatten, transportierten Blutreste zum Analysebereich und verglichen sie mit den Fragmenten auf der Blechkapsel. Die Analyse dauerte länger als gewöhnlich, doch dann kam das Ergebnis: Normale DNS.
Der Mensch, den er verletzt hatte, war nicht derjenige, den er suchte. Trotzdem – wo versteckte er sich? Die Wahrscheinlichkeit, dass Slangs Sensoren beschädigt waren, war gering, dennoch schloss er diese Möglichkeit nicht aus. Er würde später eine Diagnose seiner Systeme initiieren, jetzt war es erst einmal wichtig, diese beiden zu finden.
Wieder formte sich seine Linke zu einem Dolch. Mit Kraft schnellte er vor und stieß die Waffe mehrmals in die Richtung, in der er die Menschen vermutete. Er spießte nur eine Dose auf, die er zur Seite schleuderte.
Die Fragmente auf der Blechkapsel, die er in der Halle gefunden hatte, stammten vom Top-Agenten. Zumindest hatte der sie in den Händen gehalten. War der zweite Mensch derjenige, den er suchte?
Einige der Bots, die seine Klinge bildeten, verloren Kontakt zu ihm. So etwas geschah immer wieder, vor allem wenn er Kraft in seine Angriffe steckte. Diesmal jedoch versagten zu viele Einheiten.
Verwirrt hob er die Klinge vor seine optischen Sensoren. Wie in Zeitraffer bröckelten einige Stellen entlang der scharfen Schneide ab, entstanden rostähnliche Markierungen.
Feindliche Nanobots!
In dieser Sekunde hörte er das zischende Geräusch, das er in der Lagerhalle schon gehört hatte. Sofort stieß er mit der Klinge zu.
Seine Bewegung stockte, ging zur Seite, weit weg von dem Punkt, den er treffen wollte. Wieder zerbarst nur Müll, der gegen die Wand geschleudert wurde.
Seine Systeme erfassten immer mehr interne Fehlfunktionen, und er erkannte, dass er die Suche bald abbrechen musste.
In dem Moment beleuchtete das blau-rote Licht der menschlichen Gesetzeshüter die Umgebung. Ein Wagen zwängte sich in die Gasse. Sie hatten schneller reagiert als erwartet. Er seufzte. Den zeitgleichen Kampf gegen Bots und Polizei konnte er nicht gewinnen.
»Ich werde euch finden. Bald.« Dann drehte er sich um, wankte fort. Er ignorierte seine internen Warnsignale, die mittlerweile ohne Unterbrechung aufleuchteten. Er wusste, er würde mit den fremden Bots fertigwerden. Später.
Bevor er sein Tarnfeld aktivierte, glaubte er eine weibliche Stimme zu hören. Er blickte zurück, doch da flackerte die interne Verbindung zu seinen optischen Sensoren und sein Tarnfeld drohte zu versagen.
Schnell begab er sich in einen verlassenen Hinterhof. Seine Systeme hatten inzwischen eine Schwachstelle in der Kampftechnik der Eindringlinge entdeckt und begannen mit der Säuberung.
Meine Hand umschloss die kühle Messingklinke und drückte sie hinunter. Ich versetzte der Tür einen Stoß, sie ging langsam auf und gab ein knarrendes Geräusch von sich.
Plötzlich änderte sich das Knarren und verwandelte sich in eine tiefe Stimme. Irgendjemand schüttelte mich grob.
»Ela está a acordar. Pergunta a gaja! Rápido!«
Verzweifelt kämpfte ich gegen diese unangenehme Stimme an. Ich wollte nicht fortgezogen werden von dem Haus mit der Messingklinke.
Da küssten mich weiche Lippen.
»Liebes! Du musst aufwachen! Jetzt!«
Zarte Gefühle ließen meinen Widerstand bröckeln. Ich öffnete die Augen. Es war dunkel und feucht, die Dämmerung war hereingebrochen, es nieselte.
Cara beugte sich über mich und strich mir die Haare aus den Augen.
»Wusste ich doch, dass du nicht so sehr auf Grobheit reagierst«, sagte sie. »Was ist mit dir passiert, Liebes? Und vor allem – wo ist Kern?«
Der Mann neben ihr, ein Dunkelhaariger mit Dreitagebart und grauen Augen, bewegte seinen Kopf hin und her, als erwartete er jeden Moment einen Angriff. In seinen Händen hielt er ein riesiges Gewehr.
»Anda, responde!«, zischte er in meine Richtung. »Wo ist Kern? Wir müssen weg hier!«
Die Erinnerungen an den Angriff des Wesens kehrten mit einem Schlag zurück. Ich schrie und wollte aufstehen, doch meine Beine bewegten sich keinen Zentimeter. Frustriert schlug ich auf das Knie. »Verfluchtes Teil, verdammtes Scheißding!«
Da bemerkte ich, dass mein Unterkörper mit Blut beschmiert war, und ich erstarrte. Meine Schmerzen aber waren so wie immer, es konnte also nicht meines sein.
»Kern!«, rief ich und blickte mich um. Der Boden um mich herum war bedeckt mit frischem Blut, Betonwand und Abfall waren mit Flecken besudelt.
Ein paar Meter weiter flutete Blaulicht aus dem Inneren eines zerbeulten Lieferwagens, wahrscheinlich der von Caras Begleiter.
Ich ignorierte diese schlechte Nachahmung eines Polizeiwagens und konzentrierte mich auf die Blutspur.
Cara schüttelte den Kopf. »Das Blut führt nirgendwohin. Hast du gesehen, ob Kern von diesem Ding in dem hässlichen Anzug fortgetragen wurde?« Cara zeigte in Richtung Sackgasse. Dort drang dichter Qualm aus dem Lager und dem darüberliegenden Büro.
Caras Begleiter musterte mich mit einem Gesichtsausdruck voller Ungeduld und Abscheu.
»Ich … Ich weiß nicht. Möglich ist es schon.«
»Bem. Vamos! Wir müssen ihnen folgen, bevor Kern stirbt.«
Der Mann zerrte an Cara, doch die schüttelte seine Hand ab.
»Espera um momento, José!«, herrschte sie ihn an. Dann musterte sie mich mit einem traurigen Ausdruck und streichelte mir über die Wange. »Liebes, ich muss los. Wie du bemerkt hast, bin ich jetzt bei den Portugiesen. Du wirst mich nicht mehr bei diesen Drecksäcken Insomnia und Large sehen. Ich komme nicht wieder.«
Ich war erstarrt, schluckte schwer. Trotz allem war Cara für mich eine Freundin. Die einzige, die ich noch hatte. Ich ergriff ihre Hand und drückte sie.
»Vamos!«, rief der Mann – diesmal mit Nachdruck.
Cara zog ihre Hand zurück. »Mach es gut, Liebes. Pass auf dich auf!« Dann drehte sie sich um und eilte hinter dem Mann her, der ihr einen Schwall Wörter an den Kopf warf, die sich nicht freundlich anhörten.
In diesem Moment ertönte in der Nähe das Signal von Polizeisirenen. Ich musste hier weg. Und zwar schnell! Die Polizei würde sich keinen Deut um die Rechte einer Süchtigen scheren, die sich direkt an einem Tatort aufhielt.
Benommen richtete ich mich auf und humpelte am Lieferwagen vorbei. Das Blaulicht warf verwirrende Lichter an die Wände und auf die Menschen, die sich schemenhaft aus der Dunkelheit schälten. Die Explosion hatte Neugierige angelockt. Ich verbarg mein Gesicht, indem ich meinen Kopf zur Seite drehte. Trotzdem sahen mich Dutzende Menschen, einige von ihnen schossen Fotos von mir. Fluchend schmierte ich mir mehr Blut ins Gesicht, um mich für Fahndungsaufnahmen unkenntlich zu machen, und beeilte mich fortzukommen.
Als ich um die Ecke bog, rauschte plötzlich ein Gleiter vorbei, so nah, dass ich den Wind spürte, den seine Hover-Triebwerke erzeugten. Ich stolperte und prallte gegen jemanden, der neben mir stand.
In dem Moment eröffnete der Gleiter das Feuer. Die Menschen um mich schrien auf und warfen sich zu Boden. Ich stolperte vorwärts, wagte es nur kurz, zurückzublicken.
Die Geschosse schlugen weit hinter mir ein. Etwas explodierte, die Blaulichter des Lieferwagens in der Gasse erloschen. Ich zögerte, als Gegenfeuer aufbrandete und dann abrupt stoppte.
Es trafen jetzt immer mehr Polizeigleiter ein, und ich wusste, dass der Bereich jeden Moment gesperrt werden würde.
Mein Knie ächzte und schnaufte, während ich forteilte, fort von diesem Ort, fort von Cara, die wahrscheinlich schon nicht mehr lebte.
Der Verkehr an Gleitern, Bodenfahrzeugen und Fußgängern war auf der Hauptstraße hoch, deshalb bog ich ein paar Kreuzungen weiter in eine ruhige Seitenstraße.
Hier herrschte die typische Berliner Trostlosigkeit, an die ich mich mittlerweile gewöhnt hatte. Nur jede vierte Straßenlaterne funktionierte, ein paar Neonleuchten warben für Synth-Bier mit niedrigem Mikroplastikanteil. Andere Reklamen versprachen schnelle Befriedigung. Ausgebrannte Fenster starrten mich an, Graffiti-Zeichnungen markierten die Reviere mehrerer Banden.
Ich blickte zurück, vergewisserte mich, dass mir niemand gefolgt war. Dann eilte ich zu einem ehemaligen Virtual-Reality-Studio, das nach dem Nano-Schock aufgegeben worden war, und zwängte mich durch eine halb eingeschlagene Tür.
Der Raum war voller Kabelstücke und Elektroschrott. Die lokalen Banden hatten hier gewütet und vor langer Zeit schon alles Wertvolle entfernt.
Ich lehnte mich an die Wand und verbarg mein Gesicht in den Händen.
Mein Leben, wie ich es kannte, war vorbei. Ich hatte nicht nur meinen Auftrag nicht erfüllt, ich war auch Zeugin von Caras Verrat geworden. Sie war bei den Portugiesen, den ärgsten Feinden Insomnias! Und der würde mir, Caras bester Freundin, niemals glauben, dass ich nichts damit zu tun hatte. Ich wäre ein Sicherheitsrisiko. Insomnia würde mich Large zum Fraß vorwerfen.
Ich schüttelte den Kopf und verdrängte die Gedanken an Larges gierigen Blick. Ich konnte nicht mehr zurück. Das Schlimmste aber war, dass ich kein AS-X mehr besaß und ich merkte, wie mein Körper danach lechzte. Wie konnte ich schnell Geld für AS-X auftreiben?
Ich wischte mir Tränen aus den Augen. Rotes Neonlicht reflektierte in der Pfütze vor der Tür. Verbittert las ich die Erotikreklame: Geile Schlampen mit garantiert echten Bodies.
Als würde es mich verspotten, entließ mein Knie ein lautes Zischen. Ich lachte hart. »Hast ja recht. Nicht mal als Nutte nehmen sie einen Schrotthaufen wie mich.«
Die roten Reflexionen zerstreuten sich, als jemand in die Pfütze trat. Die Überreste der Tür knarrten, dann stand ein Schatten vor mir.
Ich schrie auf, presste mich enger an die Wand. Das Wesen hatte mich gefunden!
Da brach der Schemen zusammen und sackte auf den Boden. Irgendetwas tropfte auf meine Schuhe.
Jemand räusperte sich und flüsterte: »Wenn du fertig bist, mit dir selbst zu sprechen, würde es dir was ausmachen, mir zu helfen?«
Ich atmete scharf ein. »Kern? Bist du das?«
Der Schatten ächzte und bewegte sich ein wenig. Ich trat näher heran und erkannte ein Tarnfeld, das ähnlich dem des Wesens war, das uns angegriffen hatte. Die Konturen von Kern waren nur verschwommen erkennbar, sobald er sich bewegte. Vorsichtig streckte ich meine Hand vor und berührte ihn.
»Ein Tarnfeld! Wie … Woher hast du das?«
Kern lachte. Er hustete heiser. »Das fragst du mich? Ausgerechnet du?«
»Was meinst du damit?« Meine Hand lag auf seinem Arm, ich spürte, wie sie feucht wurde. Vorsichtig zog ich sie zurück und beobachtete, wie Blutspuren erschienen. Die Tarnung schien nur direkt an seinem Körper zu funktionieren.
»Als der goldene Bastard uns angegriffen hat, warst du diejenige, die zuerst getarnt war. Du bist von einem Moment zum nächsten unsichtbar geworden, obwohl ich deinen Körper genau spürte. Das war, bevor du mich umgestoßen hast.«
Getarnt? Ich?
Ich erstarrte und erinnerte ich mich an mein Versteck im Lager. Hatte das Wesen mich deshalb nicht getötet, weil es mich zu dem Zeitpunkt einfach nicht sehen konnte? Aber wie war das möglich?
Kern sprach mit heiserer Stimme weiter. »Leider hat meine Kugel ihn verfehlt, und er konnte seine Klinge einsetzen, bevor du mich zu Boden stoßen und mich auch unsichtbar hast werden lassen.«
»Wo hat er dich erwischt?«
»An meinem Oberarm und am Rücken. Aber wenn du mir wirklich helfen willst, heb die Tarnung auf. Ich sehe die Wunde am Arm ja selbst nicht. Verdammt, ich sehe gar nichts von meinem eigenen Körper!«
»Kern, das ist unmöglich.« Mir wurde schwindlig. Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin nur eine Maskenbauerin mit einem Haufen Schrott im Körper. Die Tarnung muss irgendwie von dem Wesen auf dich übergegangen sein!«
»Nein. Das Ding wollte uns töten, nur die Tarnung hat das verhindert. Ich weiß nicht, was du gemacht hast, nur, dass du uns dadurch gerettet hast. Das Problem ist, dass du es rückgängig machen musst. Und zwar bald, meine Wunden müssen schleunigst genäht werden.«
Blut tropfte auf den Boden, vermischte sich mit dem Regen, der über die Türschwelle nieselte.
Plötzlich fuhr ein Windstoß durch den Raum. Scheinwerfer erhellten den Boden. Ein Gleiter setzte direkt neben der Tür zur Landung an.
»Verdammt. Sie haben trotz des Regens meine Blutspur gefunden! Versteck dich!«
Kern war kaum aufgestanden, da sprang ein Mann in Polizistenkampfrüstung aus dem Fluggerät und warf sich gegen die Überreste der Tür.
Als die zersplitterten, wurde mir klar, dass ich nicht mehr fortlaufen konnte.
Die Tarnung funktioniert nur direkt am Körper.
Ich klammerte mich an Kern, ignorierte das Zucken, als ich seine Wunde am Rücken berührte. Ich spürte, wie er zitterte, wie er darum kämpfte, nicht zusammenzubrechen. Ich gab ihm Halt und fiel selbst fast hin.
Vorsichtig schielte ich nach unten. Ich sah den Boden nur mehr unscharf wie durch ein Wasserglas. Unsere umschlungenen Körper waren unsichtbar.
Der Polizist kam näher, die Lampe oberhalb seines Gewehres blendete mich, und eine krächzende Stimme tönte unter dem Helm hervor.
»Blutspuren des Verdächtigen gesichtet in Sektor Fünf-G-Sechs, im VR-Cullinary. Frisch. Der ist vor Kurzem hier gewesen.«
Der Mann kam näher, ich spürte, wie Kern immer stärker zitterte. Ich wusste, dass Bewegungen uns verrieten, daher presste ich meine Hand gegen seine Brust.
Ich ignorierte die wohligen Gefühle, die die festen Muskeln in mir auslösten, und versuchte ihm Stärke und Ruhe zu vermitteln.
»Ich sehe etwas, das aussieht wie ein Gasleck oder Verwirbelungen in der Luft oberhalb der …«
In diesem Moment ergriff Kern meine Unterarme und schubste mich beiseite.
Ich wurde sofort sichtbar.
»Was zum …«
Die Lampe des Polizisten zuckte in meine Richtung, und ich riss die Arme nach oben.
Da hörte ich das Durchladegeräusch seiner Waffe und rief: »Nicht schießen!«
Kurz bevor sich der Schuss löste, schrie der Mann auf. Aus seinem Hals, an der Verbindungsstelle von Helm und Anzug, ragte das spitze Bruchstück einer Elektroplatine. Die Kugel fuhr oberhalb meines Kopfes in die Wand, Steinputz rieselte auf mich herab. Der Polizist brach zusammen, machte gurgelnde Geräusche, verstummte. Das Tarnfeld von Kern waberte neben ihm.
»Kern!« Ich stürzte zu ihm.
Er atmete schwer. »Hat einen Vorteil, unsichtbar zu sein. Es gibt keine Beweisfotos, wenn man jemanden ausschaltet. Dieser nervöse Idiot!«
Seine Stimme wurde leiser, ich merkte, wie Kerns Kräfte endgültig nachließen. Er musste unbedingt behandelt werden.
In dieser Sekunde knackte der Funk im Helm des Polizisten. Die Einsatzleitung forderte Informationen an, wie ich hören konnte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Verstärkung eintraf.
Wütend ballte ich erst die Fäuste und riss dann am Helm. Ein blasses Gesicht und blonde Haare kamen zum Vorschein.
Da jeder Polizeihelm einen Identifikationschip besaß, wusste ich plötzlich, was ich tun musste.
»Los Kern, einmal hoch noch!« Als er sich nicht bewegte, tastete ich nach ihm und seiner Armwunde und drückte darauf.
Er brüllte, kam schwankend hoch. Zusammen stolperten wir zum Gleiter.
Ich hielt den Helm hoch und betätigte den Griff der Tür, die vom Chip entriegelt wurde. Sie schwang auf.
»Schlaues Mädchen«, flüsterte Kern, als er in den Gleiter kletterte. Zuvor murmelte er ein paar Wörter und ließ etwas Metallisches fallen.
Ich folgte ihm ins Innere und sank in den Pilotensitz. Vor mir befanden sich Steuerknüppel, ein Schirm und mehrere Fluginstrumente.
Rote Flecken erschienen auf der Tastatur des Bordcomputers in der Mittelkonsole, als Kern Koordinaten eintippte.
Die Triebwerke starteten, der Gleiter setzte sich in Bewegung und hob ab. Ein virtueller Pfad auf der Windschutzscheibe zeigte, dass wir auf dem Weg zur südlichen Hauptverkehrsader waren.
Kern schnaufte schwer neben mir. Der Beifahrersitz färbte sich rot.
Unter uns blitzte etwas kurz auf.
»Ein Beweismittel weniger, wenn die Granate alle Spuren vernichtet hat.« Seine Stimme war nur ein Flüstern. »Wie gut sind deine Flugfähigkeiten? Schon mal so ein Ding gesteuert?«
Ich zögerte. All das kam mir sehr bekannt vor, ich wusste sogar, wie die Technik des Gleiters funktionierte, dass vier Rotoren für Vorder- und Auftrieb zuständig waren. Woher? Daran erinnerte ich mich nicht. »Nun ja, ich … weiß nicht mehr, aber …«
»So ein Ding manuell zu fliegen, ist schwierig, daran würdest du dich erinnern. Aber das ist es, was wir tun müssen. Verdammt, die Polizei vermutet tatsächlich, dass wir die Mörder von diesem Typen sind. Die jagen uns!«
»Manuell fliegen?«
Er schnaubte. »Ja, wenn sie draufkommen, dass wir die Kiste geklaut haben, wird dieser Flugcomputer ihnen zeigen, wo wir sind. Deshalb musst du jetzt händisch fliegen. Ich … Ich bin zu schwach. Aber ich sage dir, was du tun musst, okay?«
Ich zögerte erneut, dann sagte ich leise: »Viel schlimmer als der tote Händler ist der Polizist. Finden sie auch nur die geringsten Überreste, werden sie uns eine ganze Armee hinterherschicken. Lass uns loslegen!«
Kern hustete, Blutspritzer tropften auf die Steuerkonsole. Ich ignorierte sie und umfasste die Steuerknüppel.
»Braves Mädchen«, keuchte Kern. »Ich hoffe nur, du machst mir deshalb keinen Vorwurf. Der Kerl hätte dich, nein, uns beide abgeknallt, ohne Skrupel.« Er räusperte sich. »Pass auf, der Gleiter hat vier Rotoren, die …«
»Die für Auftrieb und Vortrieb zuständig sind. Ich kenne die Spezifikationen, Kern. Erzähl mir etwas über das manuelle Fliegen!«
Er zögerte, dann fuhr er fort: »Wenn ich den Computer deaktiviere, werden wir ausschließlich mit den analogen Instrumenten fliegen. Das sind die runden Anzeigen dort – Geschwindigkeit, Höhe, Libelle, Kompass. Ganz wichtig ist die Libelle, die zeigt an, ob der Gleiter in der Kurve schiebt oder …«
»Oder ob wir eine saubere Kurve fliegen«, murmelte ich. Es war seltsam, aber ich verstand das Prinzip des Fluges und die Funktionen der Geräte, sobald Kern sie erwähnte. Es war, als würden Vorhänge in meinem Geist geöffnet bei der bloßen Erwähnung der darunterliegenden Themen.
»Genau. Und du bist dir sicher, dass du noch nie geflogen bist?«
»Nicht wirklich, nein. Ich bin mir nicht sicher. Was ist mit den Steuerknüppeln? Welcher Knüppel tut was?«
»Der linke stellt den Anstellwinkel der Rotoren ein. Wird er nach vorn gedrückt, fliegt der Gleiter auch nach vorn. Mit dem rechten Stick bewegst du den Gleiter zur Seite, vorn und hinten sind hier für die Rotation zuständig. Der Schiebeschalter an der Seite ist die Geschwindigkeitsregelung und …«
Das Funkgerät im Helm des Polizisten knarzte und gab einen seltsamen Ton von sich. Sofort reagierte der Computer und stoppte die Beschleunigung.
Kern fluchte. »Die Granate hat wohl nicht alles zerstört. Es geht los!«
Eine unscheinbare Klappe in der Mittelkonsole flog auf. Drähte sprühten Funken, als Kern sie – wahrscheinlich mit seinem Messer – durchtrennte.
Der Computerbildschirm erlosch, der virtuelle Pfad verschwand von der Scheibe. Sofort bockte der Gleiter und drehte sich um seine Achse.
»Rotation! Rechter Knüppel nach vorn!«
Ich reagierte sofort, der Gleiter drehte sich langsamer.
Dann sank er nach unten, Stockwerke rasten vorbei. Mein Magen rebellierte.
»Linker Knüppel, Geschwindigkeit auf Maximum!«, rief Kern.
Wieder reagierte ich, der Gleiter verlangsamte und stoppte knapp über dem Straßenasphalt.
Kerns Stimme war in ein angestrengtes Husten übergegangen, aber ich hatte das Gefühl, dass ich den Dreh heraushatte.
Ich stellte die Knüppel so, dass wir langsam stiegen, und gab ein wenig Schub. Neonleuchten und gedämpfte Lichter aus den Etagenwohnungen glitten wieder vorbei. Trotz meiner Konzentration auf das Fliegen bemerkte ich ein Paar an einem der oberen Fenster, das sich küsste. Dahinter kniete eine Gestalt mit einem Aufnahmegerät. Die drei schreckten auf, als der Gleiter nur wenige Meter entfernt vorbeizog.
»Kern? Alles in Ordnung?«
Seine Stimme war so leise und undeutlich, dass ich mich zur Seite lehnen musste, um ihn zu verstehen.
»Flieg nach Südwesten. Tempelhof. Lande da.«
Tempelhof.
Der Name sagte mir etwas, ich konnte ihn aber nicht zuordnen. Und wie sollte ich den Zielort ohne Navigationsunterstützung finden?
»In Ordnung! Südwesten.«
Mein Herz raste, als der Regen stärker wurde und die Scheiben beschlugen. Ich flog vorsichtig in die Richtung, die der Kompass mir anzeigte. Häuser versperrten mir den Weg, ich stieg höher. Bevor ich die Dachebenen erreichte, griff eine Bö unter die rechte Seite des Gleiters und drohte ihn aus dem Gleichgewicht zu hebeln. Schnell kompensierte ich das, doch der Magnetkompass zeigte plötzlich eine andere Richtung an.
»Das ist normal. Sorge dafür, dass der Gleiter gerade fliegt, dann stimmt der Kompasskurs!«
Schweiß tropfte von meiner Stirn. Neonleuchten auf den Dächern warfen bunte Muster in die Dunkelheit. Einige Meter über mir strahlten unzählige Scheinwerfer. Das war die offizielle Flugroute, die der Navigationscomputer genommen hätte. Blaulichter leuchteten hier und da auf. Sie suchten uns.
Ich folgte der Silhouette unzähliger Hochhäuser, wich Funkmasten und Werbeleuchten aus.
Plötzlich flog ich an einer grellgrünen Reklame mit blinkendem Pfeil vorbei, auf der stand: Lagerdepot Tempelhof. Ich korrigierte den Kurs und folgte der angegebenen Richtung bis zu einem großen Feld mit Dutzenden Hallen.
»Kern? Wo genau soll ich landen?«
Er antwortete nicht.
Fieberhaft hielt ich Ausschau nach dem möglichen Ziel. Da erkannte ich das Zeichen Insomnias an einer Lagerhalle.
»Ich gehe jetzt hier runter, ja?«
Es war eine harte Landung. Rote Warnleuchten gingen an, die Rotoren stotterten und schalteten sich ab.
Ich tastete nach Kern, er bewegte sich nicht mehr. Verdammt! Ich musste ihm helfen, alles andere war nicht mehr wichtig.
Sofort riss ich die Tür auf, Regen strömte herein. Ich stieg aus und humpelte, so schnell ich konnte, zur Hallentür neben dem Tor mit dem Zeichen Insomnias. Sie war verschlossen.
Fieberhaft nestelte ich an dem Sicherungskasten daneben herum, bis er endlich aufsprang. Zum Glück kannte ich die Elektrik. Sie basierte auf den gleichen Platinen, die Insomnia für alle Geräte in seiner Organisation benutzte, manchmal sogar in den Masken, die ich für ihn herstellte. Die Dinger waren von seinen Agenten gestohlen, wie alles, was er verkaufte.
Ich zog den Programmierstift hervor, der in der Innenseite des Deckels klebte, und aktivierte den holographischen Monitor. Ich atmete erleichtert auf. Das Programm kam mir bekannt vor. Nach wenigen Sekunden hatte ich die Sicherheitsroutine gehackt, etwas klickte. Dann entriegelte das Tor und schwang nach oben.
Ein monströser Gleiter füllte die Halle. Er war um ein Vielfaches größer als der Polizeigleiter, schwarz glänzend, an vielen Stellen waren Aufbauten angeschweißt.
Ich humpelte hinein und jubelte erleichtert. Das Gerät besaß eine Notfallbucht im Rumpf! Ich drückte auf die Steuerung, sie erwachte zum Leben. Eine automatische Liege schwebte aus der Bucht, eine Drohne, die mittels Rotoren in der Lage war, Verletzte überall zu erreichen.
»Dann komm mal mit«, rief ich und stapfte hinaus zum Gleiter. »Beifahrersitz, eine Person. Aufladen!«
Die Drohne befolgte meinen Befehl, doch dann verharrte sie, schaltete Scheinwerfer ein, suchte ihr Ziel.
»Versuch es mit Infrarot!«
Es klickte und surrte, die Drohne bewegte sich nicht. Fluchend befahl ich ihr, Position zu halten, und kletterte in den Gleiter. Mir war schwindelig und übel, und doch musste ich Kern jetzt hinausheben auf die Liege.
Ich tastete nach ihm, ergriff ihn und versuchte ihn hochzuhieven. Es war, als wollte ich einen Felsbrocken anheben.
»Bitte, Kern, beweg dich!«
Er reagierte nicht, ich konnte ihn nicht einmal atmen hören. Schnell änderte ich meine Position und versuchte seinen Oberkörper mit beiden Armen Stück für Stück zu bewegen.
Weit über uns ertönte eine Polizeisirene.
Ich schrie meine Verzweiflung hinaus, verfluchte meine Hilflosigkeit, meine Schwäche, meine Schmerzen.
»Verfickte Tarnung, verficktes Arschgesicht, beweg dich!«
Plötzlich ließen meine Schmerzen nach und Gefühle strömten auf mich ein, die ich nicht zuordnen konnte. Ein Hitzeball entstand in meiner Magengegend, durchflutete mich.
Kerns Körper ließ sich auf einmal so leicht anheben wie eine Puppe. Ich zögerte nicht und hievte ihn auf die Liege.
Bevor ich mir Gedanken darüber machen konnte, was gerade passiert war, kehrten meine Schmerzen wieder, das Gewicht des unsichtbaren Mannes riss mich nach vorn, begrub meine Arme unter sich.
Die Sirene wurde lauter.
Schnaufend befreite ich mich. Was immer hier passierte, Kern brauchte dringend eine Behandlung, und die Polizei war fast da.
»Drohne. Zurück zur Notfallbucht, Röntgen und Infrarotbehandlung, medizinische Versorgung vorbereiten!«
Als die Liege fort war, stapfte ich zurück zum Gleiter und kletterte auf den Fahrersitz. Dann nahm ich den Programmierstift und klemmte ihn so hinter den Beschleunigungsschalter, dass er Vollschub anzeigte. Ich schaute mich um, entdeckte den Anlasser. Schnell stieg ich aus, atmete tief durch und beugte mich vor. »Bitte, spring jetzt an«, rief ich und drückte auf den Knopf.
Die Rotoren bewegten sich stotternd, dann brüllten sie auf. Ich konnte mich gerade noch zurückwerfen, da raste der Gleiter mit hoher Geschwindigkeit davon. Er wankte und taumelte hin und her, dann verschwand er in einer dichten Wand aus Regen.
Ich beeilte mich zur Halle zu kommen, mein Knie zischte bei jeder Bewegung. Und ich hoffte, dass die Polizei vom Gleiter abgelenkt wurde, wenigstens so lange, bis ich einen Weg gefunden hatte, Kern zu stabilisieren. Allerdings würde die Polizei früher oder später der Spur zu diesem Ort folgen und uns dann finden. Uns Polizistenmörder.