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Kapitel 2 – Schmuddelbuddel

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Meine zweite Geschichte, und etwas völlig anderes als „Nachtgesang“. Übrigens trotz der Ich-Form in keiner Weise autobiografisch. Nur eine Art Traum, a fantasy …

Schmuddelbuddel

Vom ersten Tag an, Schmuddelbuddel, haben sie dich alle verachtet.

Lange Zeit ahnten sie nicht mal, dass du hier wohntest. Wenn Mutti in mein Zimmer kam, rief ich: Schnell, Schmuddelbuddel, unters Bett! – und wie ein flinker Ball rolltest du in dein Versteck und gabst keinen Laut von dir, bis sie wieder draußen war. Manchmal blieb sie lange: straffte die Gardinen, enthaarte den Teppich und schrubbte sogar unsere Lieblingsposter, auf denen das Meer und der Himmel immer blasser wurden – alles schweigend, ohne mich anzusehen. Sobald sie wieder draußen war, explodierten wir beide förmlich vor Lachen, kugelten uns am Boden und schlugen Purzelbäume. Sie hatte ja keine Ahnung.

Schlimmer war es, wenn du erkältet warst und immerzu niesen musstest. Bis runter ins Esszimmer konnte man dich hören, und manchmal klapperte ich laut mit meinem Besteck, damit sie nichts mitbekamen. Sie sagten, wenn du nicht sofort aufhörst, nehmen wir dir den Teller weg, und du kriegst gar nichts zu essen.

Leider warst du ziemlich oft erkältet – kein Wunder. In Zuckerwatteland, wo du geboren bist, ist der Sommer länger als hier, und das Meer dort ist warm wie Badewasser. Mir war klar, dass du oft Heimweh hattest. Und wusste, dass du, wenn du unruhig schliefst und dich an mich schmiegtest, von deiner großen Kuschelhöhle träumtest. Wenn der Morgen kam und Mutti dreimal an die Tür klopfte – das Signal zum Aufstehen – schlüpftest du rasch in dein Versteck.

Oh Gott, weißt du noch, wie ich einmal von der Schule kam und nicht wie gewohnt deinen Schatten am Fenster sah? Diesmal ist es passiert, dachte ich. Diesmal haben sie ihn entdeckt. Ich wusste ja nicht, dass du mich überraschen wolltest und gerade unser Bett zur Kuschelhöhle umbautest. Ich dachte wirklich, sie hätten dich aufgespürt und in die Mülltonne gesteckt. Was ist das für ein Scheusal in Tobys Kinderzimmer? Wie schmutzig es ist. Igitt, wirf es raus.

Ich saß am Tisch und brachte keinen Bissen runter. Als ich begann, mit der Gabel herumzuspielen und dein Gesicht in die Soße zu zeichnen, warfen sie mir lange, schweigende Blicke zu und nickten. Ich hatte keine Ahnung, was dieses Nicken zu bedeuten hatte. Vielleicht hieß es ja: Ab heute, mein Junge, bist du wieder allein. Ab heute ist dein Schmuddelbuddel nicht mehr bei dir.

Irgendwann ließ ich meine Portion einfach stehen und rannte die Treppe hinauf in mein Zimmer, um nach dir zu suchen. Dein Versteck war leer, die Vorhänge zugezogen. Ich riss die Schranktüren auf, sah in meiner Aufregung sogar in den Schubladen nach – dann lugtest du auf einmal unter der Bettdecke hervor. Da fiel uns beiden nichts Besseres ein, als vor Freude zu heulen.

„Sollte doch 'ne Überraschung werden“, sagtest du. „Ich hab inzwischen die alten Träume aus deinem Bett gefegt, da verging die Zeit wie im Flug.“

Das freute mich natürlich. Deine Tage waren noch einsamer als meine. Schließlich konnte ich dich nirgendwohin mitnehmen, ob ich nun in der Stadtbücherei schmökerte, Kastanien sammelte oder am Steinbruch schwimmen ging. Dein Fell war oft nass vor Tränen, wenn ich nach Hause kam. Dann lehnte ich mich an dich und sagte:

„Wart’s ab, Schmuddelbuddel. Wenn wir erst groß sind, muss keiner von uns beiden mehr allein sein.“

Wenn sie unterwegs waren, stellten wir oft alles auf den Kopf. Beschossen uns mit Seifenresten und Wasserbomben und telefonierten stundenlang nach Zuckerwatteland. Unter Muttis Nähmaschine bauten wir uns einen Dschungel, mit Lianen aus Nähgarn und Sümpfen aus Schmieröl. Ich war Mogli, und du warst Baghira der Panther. Unseren Feinden, den Kissenmonstern, ließen wir keine Chance: Wir stachen mit Messern auf sie ein, bis ihre Seelen als Bettfedern zur Zimmerdecke schwebten. Einmal streiftest du mit dem Schwanz eine teure chinesische Vase, und sie kippte vom Schrank und zerbrach. Du konntest wirklich nichts dafür. Als Vati und Mutti kamen, gaben sie mir die Schuld. Brüllten herum und brummten mir eine Woche Hausarrest auf. Aber was soll’s, Schmuddel, ich wusste ja, dass ich das alles nur für dich tat.

„Mit dem Jungen muss etwas geschehen“, sagte Vati, und ich sah mich schon in einem Labor liegen, wo fünfzehn Ärzte an meinem Gehirn herumschnippelten. „Er hat wieder einen seiner Tobsuchtsanfälle bekommen. Sieh dir bloß mal sein Zimmer an.“

„Er braucht einen Freund“, sagte Mutti. „Er ist der einzige aus seiner Klasse, der immerzu allein ist.“

Du bekamst es zufällig mit, Schmuddel, und ich hörte dich hinterm Sofa leise kichern.

Aber sie ließen nicht locker. Einen ganzen Sommer lang, beim Frühstück schon, oder wenn ich zu lange auf der Toilette saß oder abends nicht ins Bett wollte, immer hörte ich nur dasselbe: Einen Freund, einen Freund, einen Freund. Irgendwann platzte mir der Kragen, und ich beschloss, ihnen alles zu sagen. Falls sie dich rauswerfen würden, okay, kam ich eben mit.

„Hört endlich auf mit eurem Freund“, sagte ich. „Ich habe einen Freund. Wenn ihr’s nicht glauben wollt, kommt mit auf mein Zimmer, dann stelle ich ihn euch vor.“

Sie tauschten spöttische Blicke, als würden sie so etwas nicht zum ersten Mal erleben. Dann führte ich sie hinauf, wo du dich gerade auf der Fensterbank sonntest und ein altes Lied aus Zuckerwatteland vor dich hinsummtest.

„Hier“, sagte ich. „Das ist mein Freund Schmuddelbuddel.“

Du blicktest hoch, als du deinen Namen hörtest, und nicktest ihnen freundlich zu. Sie aber machten lange Gesichter.

„Will er uns für blöd verkaufen?“ fragte Mutti. „Hier ist doch überhaupt niemand.“

Ich hatte es immer befürchtet, Schmuddelbuddel: Sie wollten dich nicht wahrhaben. Sie taten einfach so, als gäbe es dich nicht.

„Macht doch eure Augen auf“, rief ich ärgerlich. „Und sagt wenigstens Hallo zu Schmuddelbuddel.“

„Mit dem Jungen muss etwas geschehen“, sagte Vati, als sie wieder hinuntergingen.

In der Schule hatte ich oft Sehnsucht nach dir. Vor allem wenn sie mich wieder einmal mit ihren hinterhältigen Fragen quälten: nach dem Äquator, den Primzahlen, der japanischen Hauptstadt. Da wünschte ich mir oft, du wärst mein Banknachbar und hättest geflüstert: Nimm’s nicht so schwer. Am Äquator ist immer Sommer; Primzahlen wissen nicht mal selbst, dass sie welche sind; und Japanerinnen haben bezaubernde Augen. Mehr musst du nicht wissen.

Stattdessen verknotete ich mein Haar und kratzte mir Pickel aus dem Gesicht. Das war verboten, auch wenn es nirgendwo geschrieben stand. Im Zeugnis vermerkten sie, ich sei ein schwieriger Junge. Was mir irgendwie schmeichelte. Nur die zu Hause konnten sich wieder einmal gar nicht dafür erwärmen.

Sie rieten mir, Nachhilfestunden bei einem Schulfreund zu nehmen, und ich antwortete: „Der einzige Freund, den ich habe, war nie auf einer Schule. Trotzdem weiß er viel mehr als ihr alle.“ Sie wussten sofort, von wem die Rede war, und kürzten mir das Taschengeld. Wir werden ihm seinen eingebildeten Freund schon austreiben, sagte mein Vater.

Eigentlich gar nicht so schlecht, Schmuddel, dass du Luft für sie warst. Manchmal tat ich einfach so, als wärst du nicht da und legte das aufgeschlagene Mathebuch vor mich auf den Tisch. In Wirklichkeit hocktest du auf meinem Schoß, und wir spielten Wünschelbrunnen. Jeder warf in Gedanken eine Münze ins Wasser und flüsterte der Fee, die dort unten wohnte, seinen Wunsch zu. Ich wünschte mir immer dasselbe: dass du für immer hier bleiben würdest, und dass sie dich nie hinaus in den Regen jagten, der den Tod für dich bedeutet hätte. Und du wünschtest dir immer, Vati und Mutti würden sterben. Weil wir dann ein Haus für uns allein hätten und alles tun könnten, was uns Spaß macht, erklärtest du, als ich zunächst erschrak. Und ich sah, dass es gar keine so dumme Idee war.

Dann kamen jene Briefe. Von den Lehrern, die darin alles aufzählten, was sie an mir störte. Wirkt zerstreut, hieß es da. Erschafft sich Fantasiewelten, ist unempfänglich für Kritik. So ähnlich jedenfalls. Ab sofort musste ich meine Hausaufgaben unter Vatis Aufsicht machen. Wenn er mich bei einem Fehler ertappte, schlug er mir mit dem Lineal auf die Finger. Keine Angst, Schmuddel, es tat nicht besonders weh. Erst später, wenn ich versuchte, das getrocknete Blut mit heißem Wasser runterzuwaschen, war es wie tausend Nadeln. Er schlug mich fast jeden Tag. Und du fletschtest die Zähne. Einmal, als er wieder auf meinen Handrücken einschlug und nicht aufhören wollte, verlorst du die Nerven und sprangst ihm ins Kreuz.

Er tat, als würde er es gar nicht bemerken.

Irgendwann war Mona da. Sie war die Klassenbeste und nicht mal eine besondere Streberin, weil ihr alles zuflog, wie sie sagten. Jeden Nachmittag kam sie für zwei Stunden, um mir alles über Brüche, Dezimalzahlen und Kommastellen beizubringen. Am Anfang legte sie sich wirklich ins Zeug, und auch ich gab mir Mühe, wenn schon nicht für die Schule, dann doch wenigstens für sie. Sie erklärte und erklärte, und ich nickte und nickte. Doch schon bald wurde alles in meinem Kopf zum Wortsalat: Ich verwechselte Quader und Äquator, Abszisse und Abszess. Und nickte immer zaghafter, zuletzt in die falsche Richtung. Sie durchschaute mich sofort.

„Wenn du keine Lust hast, lassen wir es doch einfach bleiben.“ Sie nahm ihre Stricktasche mit den Heften und stand auf, aber ich hielt sie am Arm fest.

„Wir können doch auch was anderes machen als lernen. Ich weiß, dass du mir helfen willst. Aber das Zeug will einfach nicht in meinen Kopf.“

Selbst wenn sie ganz normal nachdachte, sah sie aus, als würde sie eine Matheaufgabe lösen. „Mir ist es gleich.“

„Mir auch. Wenn die anderen sich nach mir erkundigen, sag einfach, ich sei ein hoffnungsloser Fall.“

Mona war einverstanden. Sie kam auch in den nächsten Tagen, und wir warfen uns jetzt einfach aufs Sofa und quatschten dem Teufel das Ohr weg. Sie war nicht nur in Mathe ein Genie. Wir redeten über Hunde, das Weltall, Superman und ihre Nabelbruchoperation. Sie zeigte mir sogar die Narbe. Im Gegensatz zu meinem Nabel war ihrer ein tiefes, dunkles Loch mit vielen Flusen drin.

„Der sieht ja bescheuert aus“, sagte ich, aber damit sie nicht beleidigt war, beugte ich mich im gleichen Moment zu ihrem Nabel runter und drückte ihr einen Kuss drauf.

„Huch“, sagte sie.

Ich sah zu Boden. „Bist du jetzt sauer auf mich?“

Sie musterte ihren Bauch, auf dem meine Lippen einen mattglänzenden Stempel hinterlassen hatten. „Es hat gekitzelt.“ Sie lachte und schüttelte sich, als würde ihr eine Maus über den Rücken krabbeln. „Hast du schon mal ein Mädchen auf den Mund geküsst?“

Als sie eine Stunde später ging, hatte ich. Und von nun an freute ich mich richtig auf ihre Besuche. Vorsichtshalber lag natürlich immer ein Buch vor uns, oder ein paar vollgeschriebene Blätter aus unseren Mathetagen. Die waren lang vorbei, und es kam der April, und die Bäume rochen nach Mandeln, wenn wir uns heimlich in den Stadtpark schlichen, um Enten zu füttern. Die Omas auf den Bänken lächelten uns zu, als würde unser Anblick – zwei Kinder, die Hand in Hand spazieren gingen – ihnen das Herz gleichzeitig öffnen und zerreißen. Süße Tage waren das.

Meine Noten wurden davon natürlich nicht besser. Nach einem miesen Zwischenzeugnis räumten sie mir noch ein Vierteljahr Bewährungszeit ein, aber es änderte sich nichts. Und im Mai geschah es, dass Mona ihre erste Vier nach Hause brachte. In einer Englisch-Schulaufgabe, die sie von vorn bis hinten vermurkst hatte. Ein paar Tage später war es eine Fünf in Mathe. Als sie an jenem Abend kam, heulte sie.

„Was hast du denn?“

„Ich darf dich nicht mehr besuchen. Sie haben es mir verboten. Wenn ich weiterhin deine Freundin bleibe, sagen sie, komme ich ins Internat.“

Es war ein schwüler Tag, wir waren barfuß und trugen kurze Hosen, aber ich stand auf und schloss das Fenster, damit jene elektrische Kälte nicht eindrang, die nur von der Sonne kommen konnte.

„Müssen wir uns in Zukunft eben heimlich treffen“, sagte ich.

Sie schluchzte noch lauter. „Das wird nicht klappen. Ich hab Hausarrest bekommen. Nach der Schule werde ich sofort abgeholt, und am Nachmittag muss ich zu einem Studienkreis für Nachhilfe, der eine Menge Geld kostet und deren Mitarbeiter sofort die Eltern verständigen, wenn jemand fehlt. Eigentlich bin ich nur gekommen, um meine Sachen zu holen.“

Sie umarmte mich, und ihre Tränen tropften auf meine Schulter wie heißer Regen.

Da drehte ich mich um, Schmuddelbuddel, und du blicktest mich an.

Und mit einem Mal wurde mir klar, dass du uns die ganze lange Zeit nur zugesehen hattest. All jene Tage, Wochen, Monate ...! Ohne auch nur ahnen zu können, wann das alles je ein Ende nehmen sollte. Es musste entsetzlich für dich gewesen sein.

Vielleicht hattest du ja manchmal versucht, mit mir zu reden, und ich hatte dich nicht gehört. Nachts war ich ganz allein gewesen, Schmuddelbuddel, und hatte an Mona gedacht und von Mona geträumt, und du bist vielleicht durch die Straßen geirrt, wo die Ratten und Penner sind, und wo du mit niemandem reden konntest.

Verzeih mir, Schmuddelbuddel, aber ich hatte dich wirklich vergessen.

„Warum sagst du denn nichts?“ fragte Mona. „Ist es dir egal, dass ich nicht mehr kommen darf?“

Armer Schmuddelbuddel, wie oft musstest du geweint haben im Regen. Ich setzte mich zu dir und kraulte dir das Fell. Du lehntest den Kopf an mein Knie und flüstertest, alles vergessen, alles wieder gut. Wirklich, ich konnte nicht begreifen, was ich getan hatte.

„Was machst du da?“ fragte Mona und wich zurück, als wäre ich vom Teufel besessen.

„Das ist mein Freund Schmuddelbuddel“, sagte ich. „Gefällt er dir? Man kann wirklich toll mit ihm spielen.“

Mona rümpfte die Nase und entblößte ihre spitzen Zähne. Hätte sie jetzt noch gepiepst, hätte sie die perfekte Ratte abgegeben.

„Aber ... da ist doch gar niemand.“

Du siehst, es war bei allen immer das gleiche.

„Bist du dir da ganz sicher?“ fragte ich. „Dann musst du blind sein, Mona. Er kann dich nämlich recht gut sehen – stimmt’s, Schmuddelbuddel?“

Du nicktest.

Sie ging einfach hinaus. Sagte kein Wort mehr und machte die Tür so leise zu, als dürfe sie mich nicht erschrecken. Vor dem Haus wartete bereits ihre Mutter. Als sie am Fenster vorbeiliefen, wusste Mona viel zu erzählen.

Am nächsten Morgen wusste es die ganze Klasse. Schon als ich ins Klassenzimmer kam, spürte ich die ersten höhnischen Blicke; dann machte einer von ihnen den Mund auf, dann der nächste, und zuletzt fielen sie alle über mich her. Darf ich deinen Freund Kuddelmuddel auch mal kennen lernen? Ist Schnurzelpurzel ein Männchen oder ein Weibchen? Welche Farbe hat er? Vermehrt sich so was?

Du kannst dir vorstellen, was für eine Hölle das war. Mona selbst mischte sich nicht ein, aber ich wusste, dass sie an allem schuld war. Schließlich hatte sie dich als einzige mit eigenen Augen gesehen. Ich hasste sie.

An jenem Tag wurde ich besonders häufig aufgerufen. Doch die Lehrer waren seltsam freundlich zu mir; sie lächelten nur und nickten, wenn ich mal wieder keine Antwort wusste. Und verdammt, nicht mal die simpelsten Dinge fielen mir heute ein. Die anderen höhnten: Lass dir’s doch von Hottelzottel erzählen, der ist bestimmt nicht so bescheuert wie du. Und dann wieder: Hat er vier Beine? Frisst er gern Bananen? Seid ihr gar zwei warme Brüder?

Als ich heimkam, erzählte ich dir alles, und wir konnten nicht mal darüber weinen. Die ganze Nacht taten wir kein Auge zu, sondern redeten nur und redeten, und am nächsten Tag war es genauso. Ich hatte Angst, bei so wenig Schlaf krank zu werden. In der Schule rieselte vor meinen Augen silberner Staub herab, und obwohl die anderen noch immer über mich herzogen, war ich jetzt zu müde, um mich zu wehren. Denn besser geworden war nichts. Außer vielleicht, dass die Lehrer mich plötzlich nicht mehr aufriefen. Nicht einmal mehr, wenn ich mich meldete. Vielleicht wollten sie mich ja endlich in Frieden lassen.

Einen Tag später, ein Mittwoch war’s, kam ich in die Küche, und Mutti und Vati studierten mit ernstem Gesicht einen Brief. Sie hatten ihn so hingelegt, dass ich ihn sofort sah und sie gleich damit anfangen konnten. Er trug den Stempel der Schule.

„Angst könnte man bekommen vor dir“, sagte Vati.

Mutti nickte. „Du siehst und hörst Dinge, die es gar nicht gibt; du bist unkonzentriert und kannst dich für nichts begeistern. Jedenfalls für nichts, was mit Schule zu tun hat. – Nun sei doch mal ehrlich mit uns: Was hat es mit jenem komischen Freund auf sich, den du dir da ständig einbildest?“

Ich wollte dich auf keinen Fall verleugnen.

„Schmuddelbuddel ist oben“, rief ich. „Ich bilde ihn mir nicht ein. Er sitzt in meinem Zimmer und wartet auf mich.“

Vati sah Mutti an.

„Na schön“, seufzte er kraftlos.

Dann stand er auf und strich mir übers Haar.

Das war seltsam.

Verzeih mir, Schmuddelbuddel, aber ich musste es tun. Sie haben mir keine andere Wahl gelassen. Du ahntest nicht, was für ein Ding ich da in der Hand hielt, als ich auf dich zielte. Im Zuckerwatteland gibt es keine Gewehre. Du gucktest nur neugierig, wie immer, wenn ich dir ein neues Spielzeug zeigte. Dann drückte ich ab, und du zucktest nicht einmal. Deine Augen schlossen sich wie Blütenkelche, dann sankst du in meine Arme, und alles war vorbei.

Du musst mich verstehen. Ich weiß, dass du ohne mich vor Einsamkeit gestorben wärst.

Wie die neue Schule sein wird, weiß ich noch nicht. Sie sagen, dass ich immerhin viermal im Jahr nach Hause darf, zu den großen Ferien sogar für sechs Wochen. Aber jetzt, wo du nicht mehr hier bist, spielt das alles keine Rolle mehr.

Heute Abend, wenn die Sonne tief steht, werde ich dich begraben, auf dem Sumpfland hinter der alten Pferdescheune. Und ein paar Dotterblumen werde ich pflücken und sie dir aufs Grab streuen. Vielleicht schnitze ich dir sogar ein Kreuz. Denn wenn ich das nächste Mal nach Hause komme, wird schon Winter sein, und wie soll ich dein Grab im Schnee sonst wiederfinden?

Ob du mich noch hören kannst, weiß ich nicht. Manchmal, wenn ich jetzt mir dir rede, ist es noch genau wie früher, als du noch lebtest und mit mir herumtolltest. Aber dann ist es auch wieder ganz anders. Vielleicht weil keiner mehr hier ist, der mir antwortet.

Sie sagen, in der neuen Schule werde ich viele Jungs und Mädchen treffen, die auch so sind wie ich. Na, da bin ich ja mal neugierig. Ob sie auch alle einen Freund hatten, den keiner mochte? Ob sie ihn auch töten mussten? Ob sie deshalb auch so traurig sind wie ich?

Ich werde sie auf jeden Fall fragen.

Hitzemond

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