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KAPITEL 2: GENTLEMAN PAIN

Ich war nie ein geduldiger Mensch. Ich glaube, als ich geboren wurde, habe ich die Gabe der Geduld wieder zurückgegeben, weil mir die Aushändigung zu lange gedauert hätte. Die Jahre gingen nur langsam ins Land und so kam mein Ziel, Razor zu töten, auch jeden Tag nur stückchenweise näher. Immer, wenn dieser ekelhafte Mann vor unserer Tür stand und Mom ihn und seine Heldenfreunde mit allen möglichen Leckereien empfing, hätte ich am liebsten unser größtes und schärfstes Küchenmesser geschnappt und ihm damit die Kehle aufgeschnitten. So wie ich ihn kannte, wäre kein Blut aus seiner Wunde herausgeströmt, sondern der blaue Dunst der dutzenden Zigaretten, die er tagtäglich qualmte.

Wie ein König thronte er über uns. Blickte auf Mom, Daisy und mich herab. Einzig Dad schien er zu akzeptieren und gewährte ihm sogar einen Platz an der Sonne. Für mich war dieser Mann nicht mehr mein Vater, sondern ein Schoßhündchen in Menschengestalt. Jedes Mal, wenn Razor einen Witz schmetterte und dabei unzählige Zauberer oder Menschen, von denen ich noch nie etwas gehört hatte, beleidigte, lachte er so laut, dass wahrscheinlich jeder Brüllaffe auf der Welt vor Neid erblasst wäre. Dad und seine Heldenfreunde kicherten mit, wie eine Clique von Teenagern, die versuchten die Aufmerksamkeit des tollsten Sportlers der Schule auf sich zu lenken, indem sie das taten, was sie am besten konnten: Speichellecken!

Jeden Abend nach dem Treffen wirkte Mom weniger wie sie selbst. Es war fast so, als wäre ihr nach jeder dieser Nächte ein Stück Lebensenergie gestohlen und Razor in seine dicken Adern injiziert worden. Je mächtiger er wurde, desto schwächer wurde sie. Ich weiß noch genau, dass ich ihr eines Tages nach einem weiteren desaströsen Treffen der Allianz, beim Abwaschen sämtlicher Teller und Gläser zur Hand ging. Daisy war währenddessen im ganzen Haus unterwegs und reinigte unsere Teppiche und den Parkettboden von all den vielen Zigaretten, die Razor verteilt hatte. Ich erzählte ihr von einer witzigen Begegnung, die ich vor wenigen Tagen beobachtet hatte. Natürlich war sie, als es passiert war, nicht so witzig und ich habe die Geschichte ein wenig ausgeschmückt, um sie interessanter zu machen, aber selbst Daisy lachte über das Ereignis und sie lachte über alles, nur nicht über meine Witze. Also erzählte ich meine Mutter, wie Cheryl Graham, eine junge Frau ungefähr in meinem Alter, die mit mir gemeinsam die Junior-High besucht hatte, in der Mall mit einem Tablett vollbeladen mit Schoko-, Erdbeer- und Pistazienshakes gestürzt wäre, und sich alles über ihre teuren Designerklamotten gekippt hatte. Sie wurde zum Gelächter des gesamten Geschäftes und selbst ihre treuen Freunde, die nichts weiter waren als hinterhältige Schlangen, krümmten sich vor Lachen und konnten kaum mit dem Finger auf sie zeigen. Normalerweise hatte ich mit jedem Mitleid, der so eine öffentliche Demütigung hinnehmen musste, aber da Cheryl eine der arrogantesten und eingebildetsten Menschen war, die mir je über den Weg gelaufen sind, verzichtete ich auf meine Moralvorsätze und lachte mit. Dad und Daisy konnten Cheryl ebenso wenig leiden wie ich. Selbst Mom, die immer bemüht war, das Beste in einem Menschen zu sehen und sogar den schäbigsten Lebewesen unter dieser Sonne eine zweite Chance geben würde, sagte, dass sie die einzige Person in ganz Cherryhome wäre, die sie niemals zum Abendessen einladen würde. Ich erzählte ihr von meiner Begegnung mit Miss Graham und als ich ihr die Pointe erzählte, wartete ich auf ein schallendes Gelächter wie von Daisy, oder zumindest ein kleines Kichern. Mom hatte die Angewohnheit, immer leise zu kichern, wenn jemand einen Witz erzählte, dessen Zielscheibe eine andere Person war. Aber es geschah nichts. Es herrschte Stille. Sie strich mir über die Wange, lächelte mich kühl an und wandte sich wieder dem Geschirr zu. Ich erkannte meine eigene Mutter nicht mehr und das brach mir jedes Mal das Herz, wenn ich ihr in ihre müden Augen blickte.

Auch wenn dies die wahrhaftige Hölle war, in der wir uns befanden, war ich dennoch froh, dass wir gemeinsam in dieser Misere steckten. Denn trotz Daisys Versprechen uns früher oder später zu verlassen und zu einem mysteriösen Ort zu pilgern, war sie selbst nach all diesen Jahren immer noch bei uns. Ich hasste es, dass sie gezwungen war, gemeinsam mit mir diesen Albtraum zu durchleben, aber wenigsten waren Mom und ich nicht alleine.

Während all der Jahre habe ich allerdings nicht nur herumgesessen und mir wilde Pläne ausgemalt, wie ich Razor am besten töten konnte. Der Drang sein Leben mit meinen bloßen Händen zu beenden war zwar da, doch ich wusste, dass ich mit meinen ungeschickten Händen und tollpatschigen Kampftechniken, ihm nicht einmal seine Zigarette aus dem Mund schlagen konnte. So sehr ich es auch hasste, diesen Bodybuildern und Möchtegernsportlern hinterher zu eifern, irgendwann erkannte ich, dass ich nicht nur eine Tatwaffe brauchte, um dieses Verbrechen zu begehen. Um einen Feind wie Razor zu erledigen, brauchte ich vor allem die richtige Technik.

Ich beschloss zu trainieren. Jeden Tag. Ohne Ausnahme. Nicht etwa in Fitnesszentren, wo ich tonnenschwere Gewichte stemmen würde, bis mir der Schweiß wie die Niagarafälle von der Stirn fließen würde. Auch sah ich mich nicht in einem Jogginganzug, mit Stirnband und einem Musikplayer voll mit motivierender Musik durch die Straßen unseres Vorortes, oder durch die belebten Straßen unserer Großstadt laufen. Jeden Tag, wenn die Sonne sich langsam wieder senkte und eine milde Abendluft sich über Cherryhome legte, begab ich mich zu einem Teil der Stadt, der nur wenige Meilen von unserem Haus entfernt war. Einst standen dort aufblühende Fabriken, die Stoffe, Holz und Metalle produzierten. Aber irgendwann in den siebziger Jahren, wurde eine Produktionsstätte nach der anderen geschlossen. Die riesigen Gebäude und mächtigen Schornsteine, die einst dicken, weißen Rauch in die Luft aufsteigen ließen, der nach heller Zuckerwatte aussah, standen still. Man erhielt jede Fabrik im besten Zustand. Menschen, Helden und Zauberer, die sich aufs Gelände schlichen, wurden streng bestraft. Mom hatte mir erzählt, dass es einst sogar einen eigenen Wachdienst und eine eigene Heldenallianz gab, die das Gelände vor Eindringlingen beschützen sollten.

»Wir wussten nicht, wie lange die Fabriken geschlossen bleiben würden«, sagte sie immer. »Jeder, wirklich jede einzelne Person in dieser Stadt, hat gedacht, dass im nächsten Monat die Fabriken wieder öffnen oder dass sie an einen neuen, reicheren Besitzer verkauft werden würden. Du kannst dir vorstellen, wie schockiert jeder Einzelne von uns war, als diese einst prachtvollen Gebäude langsam baufällig wurden und sich nie wieder ein Fließband bewegte, ein Ofen erhitzte oder ein Schornstein qualmte. Und jetzt iss dein Gemüse auf, Marcus, Schätzchen. Und du Daisy, versuch es nicht, wieder unterm Tisch zu verstecken, inzwischen kenne ich all deine Gemüseverstecke.«

Doch als die Jahre ins Land gingen, sorgten sich immer weniger Leute um die einst prächtigen Fabriken und auch die Stadt selbst, schien sie vergessen zu haben. Als ob diese mächtigen Gebäude nie existiert hätten. Die Heldenallianzen und die Wachposten wurden abgezogen und die Fabriken wurden ihrem Schicksal überlassen.

Als ich ein Kind war, wimmelte es dort nur so von draufgängerischen Teenagern, die im Geheimen rauchten oder Alkohol tranken, jungen Helden, die ihre Superkräfte an den schäbigen, alten Mauern ausprobierten, bis diese einstürzten und jugendlichen Zauberern, die ihre geheimen Zirkeltreffen abhielten. Kinder und Teenager, die keinen Ärger suchten, machten einen großen Bogen um dieses Gelände. Selbst Daisy, für die nichts zu groß, zu weit oder zu gefährlich war und die wirklich jeden Blödsinn mindestens einmal im Leben ausprobierte, waren diese Fabriken eine Tabuzone. Aber als ich zwanzig wurde, wagte ich mich endlich wieder zu jenem Ort, der mir in meinen jungen Jahren so viel Angst bereitet hatte. Ich hätte mich als Kind sogar viel lieber in unseren dunklen Keller gewagt, um mir dort einen Kampf mit den riesigen Spinnenkolonien, die unter einem von Großmutters alten, miefenden Schränken lauerten, zu liefern, bevor ich mich an einem sonnigen Tag in die Nähe dieses Geländes gewagt hätte. Doch ich hatte alle Orte in der gesamten Stadt genauestens unter die Lupe genommen und keines war so sehr für meinen Plan geeignet, wie das alte Fabrikgelände. Ich war mir sicher, dass dort nie jemand nach mir suchen würde, nicht einmal Mom, Dad, Razor oder gar Daisy. Der sicherste Ort, um mich auf meinen Plan vorzubereiten.

Die Zeit hatte ihre Narben hinterlassen. Die meisten Fabriken waren eingestürzt oder zu baufälligen Ruinen mutiert. Es gab nur mehr ein Gebäude, was halbwegs in Takt war und wo ich mir sicher war, dass mich kein Stahlträger erschlagen würde, wenn ich mich mit meinem Körpergewicht gegen eine Wand werfen würde. Ich weiß bis heute nicht, was dort produziert wurde. Sämtliche Schilder waren verblasst, verrostet oder gestohlen worden. Das Einzige, was mir auffiel, war ein starker chemischer Geruch, der immer stärker wurde, je näher ich dem Keller kam. Ich wusste nicht, was sich dort unten verbarg, aber ich hatte auch nicht das Verlangen, es herauszufinden. Ich hatte ein Ziel und ich ging jeden Abend in diese Fabrik, um ihm näher zu kommen.

Ich rannte oftmals nie enden wollende Runden durch die Fabrik, sprang Wände empor und stieß mich von ihnen mit aller Kraft ab. Ich schlängelte mich durch ein Labyrinth aus Fließbändern, balancierte auf befüllten und leeren Fässern, sprang in allen möglichen Formen und Stilen von schwindelerregenden Höhen und versuchte zu landen, ohne dass ich mir etwas brach. Ich zwängte mich durch die engsten Öffnungen und Fenster und stemmte hin und wieder ein paar schwere Kisten hoch. Mein Training änderte sich jeden Tag. Ich fand immer eine neue Herausforderung, der ich mich stellen konnte, immer mit dem Gedanken, mit was für einer unfairen Technik mich wohl Razor versuchen würde aufzuhalten.

Ein Erdbeben, indem er seine Fäuste auf den Boden hämmerte? Ich würde einfach auf etwas springen, das in meiner Umgebung war und mich so lange es geht in der Luft halten.

Ein strenger Griff, der sich wie eine riesige Anakonda um meinen Hals wickelte und mir die Luft abschnitt? Ich würde gegen seine Brust treten, meinen anderen Fuß darauf legen und mich mit aller Kraft wegstoßen.

Wenn er ein Auto nach mir werfen würde? Ich würde einfach mit meiner Waffe minimal die Flugrichtung des Objekts ändern und zeitgleich ausweichen, entweder ein gekonnter Sprung auf die Seite, eine Rolle nach vorne oder ein Rückwärtssalto.

Es dauerte Jahre, bis ich alle Techniken sicher beherrschte. Ich war über mich verwundert wie schnell und agil ich wurde. Jeden Tag wurde ich ein Stück mehr zu dem Helden, der den Bösewicht dieser Geschichte umbringen würde. An manchen Abenden, als ich sein kantiges Gesicht erblickte, wie ein Herrscher in dem Lehnsessel meiner Mutter saß und darauf seine dreckigen Zigaretten ausdrückte, dachte ich nach, ob ich es schon mit ihm aufnehmen könnte.

Würde ich einen Kampf mich ihm überleben?, dachte ich.

Doch ich wollte diese Trumpfkarte noch nicht ausspielen. Es sollte eine Überraschung sein. Es war meine Absicht und gehörte zu meinem Plan, dass Razor mich nach wie vor, für einen Menschen halten sollte, ohne Talent zum Kämpfen oder gar der Fähigkeit sich selbst zu verteidigen. Wenn er grinsend und unvorbereitet mir dann gegenüberstehen würde, könnte ich ihn mit Leichtigkeit einen Stich in die Rippen verpassen und er würde nicht wissen, was ihn getroffen hätte. Das Element der Überraschung war meine bislang größte Waffe und ich wusste, dass ich sie geheim halten musste.

Mit zweiundzwanzig war ich dann so weit. Ich war bereit, den nächsten Schritt in meinem Plan umzusetzen, der zu Razors Vernichtung führen sollte. Wie eine Spinne begann ich das Netz zu weben, in das sich diese widerliche Schabe verfangen sollte. Für den nächsten Schritt tat ich etwas, was ich nie gedacht hätte, dass ich es eines Tages einmal tun werde. Etwas, das für mich so drastisch erschien, aber dennoch notwendig. Wenn ich heute daran zurückdenke, bin ich von mir selbst überrascht, wie blind mich der wilde Zorn gemacht und wie weit mich die Rache getrieben hatte. Ich beschloss, ein Held zu werden und Cherryhome und dessen Einwohner gegen das Böse zu verteidigen. Doch so einfach, wie es oft in den Filmen oder den Comics dargestellt wurde, war es in der Realität nicht.

Am schwersten war es eine geeignete Waffe zu finden. Das Kostüm zu besorgen, war einfacher als gedacht. Ich ging zu einer Schneiderei, am nördlichsten Stadtrand. Levwoods und Schwestern. Das kleine, quadratische Gebäude, befand sich zwischen einem kleinen Pfandhaus und einer Wäscherei. Ich kannte die Straße sehr gut. Mom hatte mich und Daisy öfters in diese Straße mitgenommen, als unsere Waschmaschine den Geist aufgegeben hatte und wir kein Geld für eine Neue hatten. Ich war damals erst drei Jahre alt und doch erkannte ich jeden einzelnen Mitarbeiter, jede Waschmaschine und jeden Verkaufsautomaten, als ich mit einer Mütze und einer großen Sonnenbrille bestückt, zur Schneiderei schlich. Panisch blickte ich bei jeder Bewegung und bei jedem Geräusch um mich, aus Angst Dad oder schlimmer noch Razor hinter mir zu finden.

Als ich endlich den kleinen Laden betrat, umgab mich ein Gefühl der Sicherheit. Denn Dad, Razor und seine willenlosen Schergen der Heldenallianz würden sich nie um diese Tageszeit in ausgerechnet diese Schneiderei wagen. Es gab keine Verbrechen zu bekämpfen und keine Bürger zu beschützen, also konnten sie auch keinen Cent verdienen, denn Razor und seine Allianz hätten selbst ein hilfeschreiendes Kind seinem Schicksal überlassen, wenn sie nicht für ihre Heldentat entlohnt wurden. Immer wenn mich der Gedanke überkam, dass diese Menschen sich Helden nannten und mit Superkräften gesegnet waren, zog ein kalter Schauer über meinen Rücken, welcher jeden einzelnen meiner Wirbel in einem Eiswürfel einschloss. Denn, als sie vor dem Bürgermeister und dem Stadtrat ihren Eid ableisteten, um anerkannte Helden der Vereinigten Staaten zu werden, schworen sie, jeden Menschen zu beschützen und das Gute stets über das Böse zu halten. Doch, elegant wie giftige Schlangen, die durch das Geäst am Boden schleichen, wanden sie sich um diesen Eid. Sie nahmen öffentlich und vor den Augen der gesamten Stadt die Rolle der Bösewichte ein, stets im Schutz ihrer Taten und Anerkennung.

Wer würde denn schon einen Helden als böse bezeichnen? Niemand. Sie mussten verehrt werden, egal wie widerlich oder abstoßend ihr Verhalten auch war. Wenn sie lachten, mussten die Menschen auch lassen. So lautete das ungeschriebene Gesetz.

Außerdem würde Razors Allianz ihre teuren Kostüme nie bei einem unbekannten Schneider anfertigen lassen, der sich zwischen einem Pfandhaus und einer Wäscherei befand.

Diese arroganten Mistkerle.

Mein Kostüm war schneller fertig, als gedacht. Als ich den Laden betrat und von den erdrückenden Gerüchen alter Teppiche und Reinigungssprays beinahe erschlagen wurde, stiegen zunächst noch Zweifel in mir auf, ob ich meine Identität und körperliche Sicherheit in die Hände unbekannter Schneidermeister legen sollte. Bis auf die Wäscherei nebenan kannte ich weder sie noch irgendein anderes Geschäft in der Straße.

Die Schneiderei wurde von Mr. Theodore Levwoods und seinen beiden Schwestern, Stella und Virginia, geleitet. Bereits als ich durch die gläserne Tür in ihr Geschäft trat und mich eine kleine Glocke mit ihrem schrillen Klingeln ankündigte, schwirrten sie wie Mücken an einem heißen Sommertag beim See, um mich herum. Ich brachte kaum die Worte heraus, dass ich nur gekommen war, um ein Kostüm anfertigen zu lassen, da zogen und schubsten mich die drei Geschwister, die kaum größer waren als ich oder sogar Daisy, in ihr Nähzimmer.

Ich wurde gepikst. Drehte mich hunderte Male um meine eigene Achse, wie eine Ballerina. Wurde von den Geschwistern unterschiedlich beurteilt und wurde Zeuge, wie sie sich wegen ihrer ausgefallenen Ideen beinahe vor meinen Augen zerfleischten. Theodore und Stella erwürgten mich beinahe mit dem Maßband oder trennten eines meiner Glieder ab. Virginia hatte mich mit so vielen Stoffen und Tüchern eingedeckt, dass ich das Gefühl hatte, von der Hitze verbrüht und von dem Gewicht erdrückt zu werden. Ständig wurde ich von Fragen durchbohrt, wie ich mir das Kostüm vorstelle, welche Farbe es haben sollte und welche besonderen Eigenschaften. Kaum, dass ich den Satz beendet hatte, schoss die nächste Person des Trios eine Frage heraus. Am Ende wusste ich selbst nicht mehr, wie mein Heldenoutfit nun aussehen sollte. Ich posierte wie eine lebendige Statue aus Fleisch und hielt meinen Atem länger zurück, wie damals als Daisy und ich unsere sinnlosen Tauchwettbewerbe veranstaltet hatten. Am Ende des Tages, als die moderne Uhr an ihrer Wand, welche große, breite Striche anstatt Ziffern hatte, elf Uhr anzeigte, waren wir endlich fertig. Nicht gerade das, was ich mir vorgestellt hatte. Aber, als ich mich in dem großen Spiegel in ihrem Nähzimmer betrachtete, blickte ich erstarrt in die künstlichen Augen jener Maske, die einem Helden gehörte, den ich noch nie im Leben gesehen hatte. Es war einer dieser Momente, in denen man sich wie ein kleines Kind fühlte, dass dem größten und unheimlichsten Mann, den es kannte, eine Frage stellen musste. Ich weiß nicht wie viel Zeit verging, als ich mich in dem Spiegel bewunderte, aber als ich mich umdrehte, hatten sich Theodore und Stella auf einen kleinen Tisch im hintersten Teil des Ateliers gesetzt und rauchten eine Zigarette. Sie rochen deutlich angenehmer, als Razors Stängel und Stella Levwood rauchte sogar welche, die in entfernter weise nach Himbeeren rochen.

Ich war komplett in Schwarz gekleidet. Einzelne dunkelgraue Elemente aus kugelsicherem Stoff legten sich um Torso, Gliedmaßen und Nacken. Sie hatten mir Stiefel gegeben, die weich gepolstert waren und aus denen lange, strumpfähnliche Bänder ragten, die sie an meinen Beinen und meinem Becken befestigten.

»Solltest du jemals aus einem gewissen Stockwerk springen müssen, um einem Feuer oder deinen Verfolgern zu entkommen, dann verteilen diese Bänder die Kraft des Aufpralls auf deinen ganzen Körper und bewahren dich so vor größerem Schaden«, zwitscherte Virginia Levwood, während ihre Geschwister am Tisch saßen und ihre Zigaretten qualmten.

Meine Maske ähnelte einer schwarzen Ballmaske, die ebenfalls kugelsicher war und einen kleinen Filter um meinen Mund hatte. Virginia erklärte mir, dass so nicht nur meine Lunge, sondern auch mein gesamter Organismus vor giftigen Dämpfen und Gasen geschützt werden sollte.

»Du weißt ja wie raffiniert manche Schurken sein können, wenn es um den Gebrauch von unterschiedlichen Gasen geht, egal ob einschläfernd, betäubend, lähmend oder giftig«, sang sie, während ich meine Maske abtastete. »Du musst einfach nur hier auf diesen Knopf an der linken Seite drücken und du aktivierst den Filter«, sie zeigte dabei auf einen kleinen Kreis, der mit bloßen Augen nur schwer zu sehen war. »Drücke ihn erneut und du deaktivierst ihn wieder.«

Abgerundet wurde es von einer pechschwarzen Melone, welche ich auf den Kopf trug. Sie wurde mit Schnallen um meinen Kopf herum befestigt und sollte als Schutzhelm dienen. Laut Virginia konnte ich kopfüber aus dem zehnten Stock eines Hochhauses fallen, ohne dass mein Kopf bluten oder mein Schädel wie ein rohes Ei zerbrechen würde. Trotz ihrer beruhigenden Worte hatte ich jedoch nicht das Bedürfnis, dies auszuprobieren. Aber ich war froh, etwas auf meinem Kopf zu tragen, dass Schläge, Stürze und sogar Kugeln aushalten konnte.

»Das mit den Kugeln haben wir noch nicht getestet«, rief Stella vom anderen Ende des Nähzimmers. »Aber, wir sind zuversichtlich, dass es klappt!«

»Wenn unsere Theorie mit dem Sturz aus dem zehnten Stock stimmen sollte, dann sollte dieser Melonenhut auch einer Kugel standhalten«, warf Theodore ein.

»Das heißt also, Sie haben dieses Gadget nie getestet?«, erste Zweifel kamen in mir auf.

»Mach dir keine Sorgen, Schätzchen«, Virginia hatte meine Sorgen bemerkt und versuchte, mich so gut es ging zu beruhigen. »Die beiden reden immer solchen Blödsinn, vor allem dann, wenn uns ein so großartiges Meisterwerk gelungen ist, wie deines.«

Nun sah ich mich nicht mehr als großartigen Helden und neue Hoffnung für die Menschheit. Wenn ich mich im Spiegel betrachtete, erblickte ich nun einen jungen Mann, der auf einem hauchdünnen Seil über seinen eigenen Untergang balancierte, während Razor rauchend von unten zusah und nur darauf wartete, dass mein Körper in seinem lächerlichen Kostüm darauf aufprallen und in tausend Stücke zerbrechen würde. Das Feuer der Leidenschaft, welches tief in mir gebrannt hatte, als ich die Schneiderei betreten hatte, flimmerte nur noch ganz leicht und war drauf und dran zu erlöschen. Lieber würde ich Razor splitternackt entgegentreten, als mit einem Hut, der meinen Kopf nicht schützen und einem Kostüm, dass keine Kugeln abhalten konnte. Doch eine andere Wahl hatte ich nicht.

»Ich nehme es«, sagte ich unsicher.

Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, sprangen Theodore und Stella von ihren Stühlen auf und halfen ihrer Schwester, den zukünftigen Helden von Cherryhome zu entkleiden. Im Nu war das Kostüm in eine übergroße Stofftasche eingepackt, auf der mit eleganten, verschnörkelten Buchstaben Levwoods und Schwestern geschrieben stand. Während Stella den Betrag in ihre Registrierkasse eintippte und die kurzen Klickgeräusche den menschenleeren Laden erfüllten, gingen Virginia und Theodore zurück in ihr Atelier und räumten sämtliche Nadeln, Nähmaschinen, Maßbänder, Leitern und Stoffe weg. Das sanfte Klicken der Kasse wirkte beinahe zu hypnotisch. Um eine unangenehme Konversation zu vermeiden, blickte ich gedankenverloren durch den Laden. Erst als Stella den Beleg ausdruckte und mich mit ihrer hohen Stimme aus meiner Trance riss, kehrte mein Blick und meine Aufmerksamkeit wieder in die harte Realität zurück.

»Das macht dann achthundert Dollar bitte«, sagte sie und lächelte so breit, dass ich sogar ihre hintersten Backenzähne sehen konnte.

Weitaus weniger spektakulär war der Tag, an dem ich meine Waffe kaufte. Ich wusste auch schon genau, was für eine ich haben wollte. Ich hatte die Entscheidung bereits getroffen, noch bevor ich überhaupt in die Schneiderei gegangen war, um mir mein Kostüm anfertigen zu lassen. Es war die gleiche Waffe, wie sie damals der größte Held meiner Kindheit besessen hatte. Balthazar und seine Schlangenlanze. Jedes Mal, wenn ich mir einen Helden vorstellen musste, von dem ich zwar gehört aber ihn noch nie gesehen hatte, tauchte vor meinen Augen Balthazars Bild auf. Wie er mit seiner pechschwarzen Rüstung auf einem Berg aus besiegten Bösewichten stand, die sich vor Schmerzen krümmten. Aber immer, wenn sich mir der Held aus Fleisch und Blut dann offenbarte, ließ ich ein enttäuschtes »Oh« aus meinem Mund entweichen.

Ich war mir durchaus bewusst, dass ich in keinem Geschäft in ganz Cherryhome, nicht einmal in den teuersten und nobelsten Waffenläden, die es gab, die gleiche Lanze finden würde, wie sie Balthazar einst besaß. Aber wie ein naives Kind schlenderte ich durch jeden einzelnen Laden dieser Stadt und stöberte in der Auswahl der scharfen und tödlichen Stichwaffen. Die Palette an Tötungsutensilien war geradezu erschreckend: eine gewaltige Auswahl an Messern, Schwertern, Macheten, Pfeilen und Bögen, Wurfmessern und Dolchen. Doch wie ein kleines Kind wäre ich fast enttäuscht und vor Wut schreiend zu Boden gefallen und hätte geschrien und gestrampelt, als mir jeder einzelne Verkäufer erklärte, dass sie so etwas wie Lanzen nicht besaßen.

Ein Schlag folgte auf den Nächsten und ich beobachtete, wie die Zahlen auf der Uhr meines Telefons sich rasend schnell veränderten. Ich konnte die Vision meines Helden nicht wahr werden lassen, wenn ich keine Lanze besaß. Ich hätte mein achthundert Dollar Kostüm sofort gegen eine solche Waffe eingetauscht, ohne auch nur einen einzigen weiteren Gedanken an das viele Geld zu verschwenden, das dieser zusammengenähte und wohlgeformte Stoffsack gekostet hatte.

Du musst dich aber entscheiden. Wenn du schon nicht der Held sein kannst, der du sein willst, dann sei zumindest der Held, den deine Familie braucht. Du darfst sie nicht im Stich lassen. Wenn Razor nicht verschwindet, dann wirst du deinen Vater an ihn verlieren, Mom wird unter der Herrschaft dieses Tyrannen leiden, Daisy wird verschwinden und wir werden sie wahrscheinlich nie wieder sehen. Jeder Held hat klein angefangen, mit einem miesen Kostüm und einer miserablen Waffe. Dies war der Preis, den alle Wächter des Guten und Beschützer der Unschuldigen zahlen mussten.

Ich ging zurück zu dem Waffenladen, der zwar nicht die größte Auswahl hatte, aber die überzeugendsten Verkäufer. Vor allem ein Mann war mir besonders in Erinnerung geblieben, Sam Bolls. Er war ein Mann Mitte dreißig mit unzähligen Tätowierungen und so vielen Piercings in seinem Mund, dass er dauernd nuschelte. Aber er zeigte mir mit einer Begeisterung alle Waffen, die sie im Sortiment hatten, und ließ mich die eine oder andere auch halten.

»Sie müssen ja wissen, wie Sie sich in Ihren Händen anfühlt, Sir«, zischte er und ich gab mir alle Mühe, die winzigen Tropfen Spucke zu ignorieren, die mein Shirt bedeckten. »Wie können Sie sich mit einer Waffe verteidigen, zu der Sie kein Vertrauen haben?«

Als ich am Abend zu ihm zurückkehrte, blickte er mich lächelnd an und führte mich erneut in die Abteilung für Schwerter, Dolche und Messer.

»Ich glaube, ich möchte … diese hier nehmen«, ich deutete dabei auf eine Machete mit einem pechschwarzen Griff.

»Ah! Eine sehr gute Wahl, Sir«, nuschelte Sam, nahm sie aus dem Regal und hielt sie sorgfältig mit beiden Händen fest. »Das hier ist zwar ein älteres Modell, aber dennoch noch ausgezeichnet, um sich gegen jeden Feind zu verteidigen. Die Klinge ist aus einem rostfreien Edelstahl gefertigt und sie wird alle drei Monate getestet, um sicherzustellen, dass sie noch immer das gewünschte Resultat erzielt.«

»Und tut diese Klinge es auch?«, fragte ich ihn.

»Nun, solange Sie nicht vorhaben damit eine Stahltür aufzuschneiden oder einen Panzer zu durchtrennen, sollte sie ihren Zweck erfüllen«, antwortete er und gab sich alle Mühe, seinen Speichel bei sich zu behalten.

Hatte er bemerkt, dass ich jedes Mal meine Zähne zusammenbiss und meinen Atem anhielt, wenn er mit mir sprach?

»Doch wenn Sie richtig viel Schaden anrichten wollen«, setzte er fort und stellte die Machete wieder zurück ins Regal. Er ging rückwärts weiter, während er mit mir sprach und mit seinen Händen in der Luft herumfuchtelte. »Dann empfehle ich Ihnen, dieses Modell hier zu kaufen«, wir standen vor einem Glasschrank und er öffnete ihn mit einem kleinen Schlüssel, der um seinen Hals hing. Sam griff hinein und zog eine Machete mit einem Griff aus Mahagoni heraus. Auf der Klinge war ein Muster zu erkennen, welches ich jedoch nicht zuordnen konnte.

Das ist entweder ein Oktopus, der versucht einen Regenwurm zu erwürgen, oder eine Liane und ein Efeu, die ein Wettwachsen um einen Baum veranstalten.

»Das ist unser neuestes Modell. Der Griff ist aus Mahagoni und diese Klinge wurde handgeschmiedet von einem der besten Männer auf diesem Gebiet.«

»Ach wirklich?«, fragte ich ihn naiv wie ein kleines Kind. »Von welchem? Wie heißt er?«

Für einen kurzen Moment trat Stille ein und Sam blickte weiterhin auf die Waffe in seiner Hand. Dann sprach er weiter, als hätte ich die Frage nie gestellt.

»Auf alle Fälle kann dieses Baby sogar Gitterstäbe zerschneiden, ohne dabei stumpf zu werden und bei einem Test konnte dieses Teil sogar ein Auto zur Hälfte durchschneiden. Beeindruckend nicht wahr?«

Am liebsten hätte ich einen weiteren sarkastischen Satz von mir gelassen wie zum Beispiel »Was? Nur zur Hälfte? Dann ist diese Waffe ja nutzlos«. Doch ich wollte diesen Kauf so bald als möglich hinter mich bringen. Es fühlte sich nicht richtig an. Ich kam mir nicht vor, wie ein zukünftiger Held, der sich sein Equipment anfertigen lässt, um dann mit seinen Freunden die Mächte des Bösen zu bekämpfen. Ich fühlte mich eher wie ein Mörder, der seine Verkleidung und seine Waffe gefühls- und emotionslos aussucht, nur um so bald als möglich endlich das Leben seines Opfers beenden zu können. Ich hatte mir die Transformation vom gewöhnlichen Menschen zum Helden ein bisschen aufregender vorgestellt, ähnlich wie in all den Comics oder Filmen. Dies erinnerte mich jedoch eher an eine perverse Shoppingtour.

»Wie viel kostet diese Machete?«, fragte ich Sam schließlich,

»Dieses Baby?«, fragte er mich erneut. »Nun, Sie müssen wissen, Sir, dass es sich hierbei um eines der besten Modelle in der ganzen Stadt, was rede ich denn da, im ganzen Bundesstaat oder sogar Land handelt. Das ist keine gewöhnliche Klinge, das ist die Waffe, mit der man in die Schlacht zieht, um seinen größten Widersacher in die Flucht zu schlagen. Mit der man, all die Bewunderung und die Verehrung dieser Welt, auf sich zieht. Dies ist nicht nur irgendeine Waffe, Mister, sondern ein Instrument. Ein Instrument, das, wenn man es richtig spielt, einem zum mächtigsten Geschöpf unter der Sonne macht. Das jeden erzittern lässt, wenn man nur Ihren Namen hört.«

»Wie viel?«, meine Geduld wurde mit jedem weiteren Wort, das er von sich gab, weniger.

»Zweitausend Dollar«, nuschelte Sam und hielt die Machete wie ein rohes Ei in der Hand.

»Und wie viel kostet die andere? Die, die Sie mir vor dieser großen Ansprache von Ruhm und Ehre gezeigt haben? Sie wissen schon, das ältere Modell?«, ich deutete dabei hinter meinen Rücken.

»Normalerweise kostet es hundertfünfzig Dollar, aber wenn Sie es sofort kaufen erhalten Sie zwanzig Prozent Rabatt und dazu noch …«, kaum gefragt, kam Sam wieder in Fahrt.

»Ich gebe Ihnen die hundertfünfzig Dollar, wenn Sie endlich den Mund halten und mit mir zur Kasse gehen, ohne ein weiteres Wort zu sagen.«

Die Machete wurde von Sam aus dem Regal genommen und während sein Kollege alle Zahlen in die Registrierkasse eintippte, hüllte Sam Bolls meine Waffe in dunkles Kunstleder ein und versiegelte es, indem er eine kupferfarbene Schnalle zuzog. Ich gab ihm das Geld, bedankte mich lächelnd, so wie Mom es mich gelehrt hatte, und ging.

Der letzte Schritt, der noch fehlte, war die Registrierung als Held. Gemäß einer Regelung, die Anfang 1900 eingeführt worden war, musste sich jeder Held, der Unschuldige beschützen und das Böse bekämpfen wollte, bei der Stadt registrieren. Im Grunde genommen ist das ein schnelles bürokratisches Verfahren, in welchen man ein Formular ausfüllen und vor dem Bürgermeister und dem Stadtrat einen Eid ablegen muss. Dabei hält man seine rechte Hand an sein Herz, erhebt die linke Hand und antwortet auf jede Frage, die einem vom Bürgermeister und jedem einzelnen Ratsmitglied gestellt wird, mit »Ich schwöre«, ähnlich wie in den zahlreichen Gerichtsshows im Fernsehen.

Bei Dad hatte dieses Verfahren nicht einmal zwanzig Minuten gedauert. Doch, als ich das Rathaus betrat, standen mindestens ein Dutzend aufstrebende Helden vor mir, die ebenfalls ihren Eid ablegen und gefeiert werden wollten.

»Füllen Sie das Formular hier aus. Hier das Datum einfügen, hier ihren Namen. Unterschreiben Sie hier ..., hier ... und hier. Bringen Sie das Formular wieder zurück und warten Sie, bis Sie von der Assistentin des Bürgermeisters aufgerufen werden. DER NÄCHSTE!«, sagte mir Miss Aulbry, eine der ältesten Mitarbeiterinnen des Rathauses in ihrer monotonen, rauen Stimme, die klang, als hätte sie vor jedem Gespräch Glasscherben gegessen.

Ich weiß nicht, was schlimmer war, das Formular mit ihren dämlichen Fragen ausfüllen, das endlose Warten oder die Schmach vor einem motivationslosen Bürgermeister und einem ebenso lustlosen Stadtrat zu stehen, um einen Eid aufzusagen. Obwohl es ihnen egal war, ob man tatsächlich mit Leib und Seele schwor, die Unschuldigen zu beschützen und alles zu tun, damit die Welt ein friedlicherer und sicherer Ort wurde, oder man diesen Weg nur wählte, um sich von der Stadt als neue Kurzzeitberühmtheit feiern zu lassen, ehe man bei seinem ersten richtigen Einsatz verletzt oder getötet wurde. Ich nahm all diese Folter auf mich und erwartete zumindest einen Applaus oder eine kleine Brosche, die mir vom Bürgermeister mit den Worten »Wir danken für Ihre Bemühungen und möge Sie Gott schützen. Die Stadt steht auf ewig in ihrer Schuld« angesteckt werden würde. Doch stattdessen unterschrieb jede anwesende Person ein Zertifikat. Ein Stempel mit dem Siegel der Stadt wurde von einem anwesenden Juristen so laut darauf geknallt, dass ein Unwissender sich denken konnte, dass in diesem Moment jemand kaltblütig ermordet wurde. Der Bürgermeister drückte es mir in meine Hände, ohne mir dabei auch nur in die Augen zu sehen. Seine Assistentin flitzte von einem Ende des Raumes zum anderen und doch besaß zumindest sie die Höflichkeit, mich zur Tür zu geleiten und mit den Worten »Wir danken Ihnen für Ihre Bemühungen. Und vergessen Sie nicht, bei der nächsten Wahl ihre Stimme wieder Mr. Crawhall zu geben« zu verabschieden. Dann führte sie mich zu einer Tür. Als ich hinaustrat, rief sie schon die nächste Person auf. Ein junger Mann in einem blauen Rabenkostüm, der über das gesamte Gesicht strahlte, als die piepsige Stimme der Assistentin seinen Heldennamen aufrief.

»Viel Glück, Kumpel«, flüsterte ich ihm zu, als er an mir vorbeiging.

Seit dem Tag war ich offiziell ein Held.

Ich gab mir den Namen Gentleman Pain.

Die Nacht für meine erste Mission kam schneller als erwartet. Ich wusste nicht, wie der Tag eines Helden ablief oder was zu beachten war, und ich konnte inzwischen auch Dad nicht mehr um seinen Rat fragen. Ein Moment der Unachtsamkeit oder eine verdächtige Frage und mein ganzer Plan, all meine Vorbereitungen wären zunichte. Vernichtet, noch bevor ich den nächsten Schritt machen konnte.

Als am Tag vor meiner ersten Nacht ein Brief für mich im Briefkasten lag und ich das Siegel der Stadt drauf abgebildet sah, versteckte ich ihn unter meinem Shirt. Ich blickte wie ein Krimineller um mich, der gerade eine Leiche versteckt hatte. Jedes Kind, das draußen im Vorgarten spielte und jeder Rentner, der vor der Tür saß und die sanfte Brise genoss, die ihm durch die Haare oder über die Halbglatze wehte, konnte ein potenzieller Spion von Razor sein. Ich schlich mich nach oben in mein Zimmer. Selbst als Mom mir einen fragenden Blick hinterherwarf und jeden meiner Schritte beobachtete, während ich in mein Gemach hinaufschlich, drehte ich mich nicht um. Erst als ich die Zimmertür hinter mir schloss und sie mit meinem Schlüssel verschloss, atmete ich entspannt auf und wagte es, den Brief zu öffnen. Es befand sich ein Glückwunschschreiben vom Bürgermeister persönlich und ein Monatsplan im Umschlag. Ich machte mir keine Mühe, den Brief zu lesen. Das Einzige, was wahrscheinlich vom Bürgermeister stammte, war seine Unterschrift auf dem Papier. Ich war mir sicher, dass der restliche Teil des Schreibens, einfach nur eine Vorlage war, die sie an jeden verschickt hatten, der das Zertifikat erhielt, um als Held in Cherryhome gegen das Böse zu kämpfen. Der Plan erweckte schon eher mein Interesse. Da ich ein Neuling war und mit der schweren Arbeit eines wahren Helden noch nicht viel Erfahrung hatte (genauso stand es in dem Brief. Als ob Razor und seine Allianz jemals die Arbeit eines wahren Helden verrichtet hätten), musste ich mich zunächst genau an einen Monatsplan halten, der bestimmte, zu welcher Zeit ich, wo die Bürger dieser Stadt beschützen, oder die Behörden unterstützen sollte. Erst wenn ich mich bewiesen hätte und genug positive Einträge über mich im »Stadtregister der Helden von Cherryhome« vorhanden waren, stieg ich einen Rang auf. Auf dem Plan stand etwas von einem Rangsystem, das mit Schulnoten von A, bis F bewertet wurde. Je höher man stieg, desto mehr Freiheiten erhielt man als Held, seine Arbeit und sein Gebiet selbst zu bestimmen (Und natürlich, je näher man der dem Rang A kam, desto mehr Geld erhielt man auch für jede erfüllte Mission).

Nachdem ich all den bürokratischen Unsinn auf dem Plan ausgiebig studiert hatte und dabei beinahe in einen tausendjährigen Schlaf gefallen wäre, widmete ich meinem erstellten Monatsplan. Ich war im Monat Mai für ein Gebiet südlich von Cherryhome eingeteilt. Acht Nächte, fünf Tage und sieben Patrouillen. Zum Glück stand es mir frei, zu wählen, ob ich an diesen Tagen ein Held sein wollte oder nicht. Denn der letzte Satz von einem der unzähligen Absätze, die auf dem Plan geschrieben standen, besagte:

»… Und es ist kein Problem, falls Sie sich entscheiden sollten, eine ihrer Missionen nicht anzutreten. Sie werden nicht entehrt und fallen auch nicht in Ungnade. Die örtlichen Behörden und Helden der Ränge B und A sind durch ein Kommunikationsnetzwerk miteinander verbunden. Sie werden sofort kontaktiert, falls nicht binnen einer Stunde ihre Anwesenheit in ihrem zugeteilten Gebiet bemerkt wird.«

In meiner Familie wusste nur eine einzige Person von meinem geheimen Doppelleben als Held und das war Daisy. Insgesamt waren zwei Personen in mein Geheimnis eingeweiht: meine Schwester und meine beste Freundin, Truma Seymour.

In der Nacht, bevor ich meine erste Mission antrat, trafen sich Daisy und ich wieder am Dachboden. Wir saßen jedoch nicht auf unserer weichen Decke und knabberten Kartoffelchips oder Kekse, sondern ich sah nur, wie Daisy mit verschränkten Armen auf mich wartete und auf und ab ging. Sie wirkte nervös, wenn nicht sogar aufgebracht.

»Hast du komplett den Verstand verloren?«, fragte sie mich, während sie versuchte mit all ihrer Kraft ihre laute Stimme so leise als möglich zu halten. »Nicht genug, dass unser eigener Vater sich diesen Helden anschließen musste, jetzt bist du ihnen auch noch beigetreten?«

»Daisy, ich…«, begann ich, wurde jedoch sofort wieder unterbrochen.

»Jetzt komm mir bloß nicht damit, dass du die Menschen dieser Stadt beschützen willst oder Mom und mich. Das ist gefährlich. Das ist Selbstmord. Dass du so unverantwortlich bist, hätte ich nie gedacht.«

»Ich will doch nur …«, ich startete einen erneuten Versuch.

»Und was ist, wenn Dad oder Razor davon Wind bekommen? Schließt du dich ihnen an? Wirst du der Nächste sein, der tatenlos zusieht, wenn Mom gewürgt oder durchs Haus geworfen wird? Oder wirst du sie als Nächstes erwürgen?«, sie war rasend vor Wut.

Nach all den vielen Dingen, die passiert waren, den zahllosen Stichen in ihr Herz, verstand ich ihren Zorn. Damals als Daisy mir gebeichtet hatte, dass sie eines Tages fortgehen würde, um sich an einen unbekannten, aber sicheren Ort zu begeben, fühlte ich mich auch wie vom Blitz getroffen. Der Unterschied zwischen uns war jedoch, dass Daisy mehr Temperament als ich hatte. Während ich ein zurückhaltender, kleiner Junge gewesen war, der sich nie beschwert hatte, wenn ich den falschen Burger bei Fry Town bekommen hatte, hatte Daisy bereits im Kindergarten drei Kinder nur mit ihren Worten zum Weinen gebracht. (Und ich muss erwähnen, dass diese Kinder die größten Rowdys waren, die dieser Kindergarten je erlebt hatte.)

»Daisy versteh doch!«, ich erhob meine Stimme, um Daisy zu unterbrechen, auch wenn ich dadurch das Risiko einging, dass Mom oder Dad uns hörten. »Ich muss ein Held werden, damit ich Razor töten kann.«

Plötzlich wurde sie still. Sie blickte mich mit einem starren Blick und geöffneten Mund an. Meine lebhafte Schwester hatte sich mit nur einem Satz in eine fleischliche Statue verwandelt. Ich nahm Daisy bei der Hand, führte sie zu einer der vielen Kisten auf unserem Dachboden und setzte sie drauf. Ich stellte mich wie ein Schauspieler, der vor einem gewaltigen Publikum seinen ersten Monolog halten sollte, vor sie hin und erzählte ihr von meinem Plan. Jedes Detail und jeden Schritt, den ich gemacht hatte, den ich machte und den ich machen wollte, erzählte ich ihr. Es fühlte sich wie eine Beichte an, wie ich vor Daisy stand und ihr mein Herz ausschüttete.

Nach ungefähr zwanzig Minuten, in denen nur ich gesprochen hatte, verwandelte sich Daisys Gesicht und ihre verkrampften, wütenden Züge wurden glatt und entspannt. Gedankenverloren blickte sie zu Boden. Ihre Augen hüpften auf und ab, hin und her, als beobachtete sie einen wildgewordenen, springenden Ball beim Herumwirbeln. Dann blickte sie erneut in meine Augen.

»Und du bist dir ganz sicher, dass du das willst?«, fragte sie mich. »Dies ist der Weg, den du bereit bist, zu gehen? Dies ist der Feind, den du bereit bist, dir zu machen? Aus Rache? Aus Angst? Bist du dir wirklich sicher? Du könntest sterben. Du könntest gefoltert werden. Du könntest alleine bleiben.«

»Ich bin bereit, all das auf mich zunehmen, nur um endlich unsere Familie wieder zu vereinen«, sagte ich. »Seit dieses Monster in unser Leben getreten ist, und seit diesem Abend wurde unsere Familie mit einem Fluch belegt. Ich werde nicht tatenlos zusehen, wie er Mom, Dad, dich und mich weiter zerfrisst. Du hast dich entschlossen gezeigt, unsere Familie für einen unbekannten, aber sicheren Ort zu verlassen, um endlich etwas zu verändern. Dann lass auch mich meinen Weg gehen. Lass mich auch ein Teil dieser Veränderung sein.«

Daisy wusste, dass sie meine Entscheidung nicht mehr ändern konnte. In diesem Punkt ähnelten wir uns beide bis aufs Haar. Obwohl wir komplett unterschiedliche Persönlichkeiten waren, teilten wir doch eine gemeinsame Eigenschaft: Sturheit.

Daisy stand von der Kiste auf, nickte und lächelte mich an. Nach all diesen Jahren hatte ich sie das erste Mal wieder lächeln gesehen. Ein rares Geschenk. Dann packte sie mich plötzlich bei der Hand und zerrte mich hinunter in ihr Zimmer. Es hatte sich in all den Jahren sehr verändert. Als wir noch Kinder waren, waren die Wände in einem zarten Rosa angestrichen und die weißen Silhouetten von unterschiedlichen Tieren wie von Elefanten, Katzen, Hasen, Hunden und Affen verzierten die Wand, an der ihr Bett stand. Jenes Möbelstück wurde im Laufe seines Daseins unzählige Male von einem Ende des Zimmers zum anderen Ende und wieder zurückgeschoben. Je älter Daisy wurde, desto dunkler wurden die Farben auf ihren Wänden. Was einst ein zartes Rosa war, verwandelte sich langsam in einen kräftigen Lavendelton, dann in ein dunkles Violett und schließlich wurden zwei Wände in einem hellen Hellblau und die anderen beiden in einem kalten Dunkelblau bemalt. Als sie mich in ihr Zimmer zerrte, hatten sich die Farben erneut verändert. Ich befand mich in einem Raum, in dem die Wände von einem knalligen Rot bedeckt waren.

Daisy öffnete ihren Kleiderschrank und eine geheime Schublade nach der anderen. (Wenn ich gewusst hätte, dass es so einfach war, von Mom und Dad eine so detaillierte Anrichte zu bekommen, dann hätte ich mich in den letzten Jahren mehr angestrengt. Vielleicht hätte ich dann meine Kleider nicht in eine Sperrholzkiste hängen müssen) Daisy lachte auf und kam mit einem länglichen Objekt auf mich zu. Es war pechschwarz und glänzte, als sie an ihrem Fenster vorbeiging und das Licht der Straßenlaterne sich darauf spiegelte.

»Was ist das?«, fragte ich sie.

»Ich will, dass du das mitnimmst, wenn du dich auf deine erste Mission begibst«, sagte Daisy strahlend.

»Das ist wirklich nett Daisy, aber was ist das?«, ich nahm es in die Hand und fühlte wie kühl und schwer es war.

»Mom hat sie mir zum sechszehnten Geburtstag gekauft«, flüsterte sie. »Das ist so eine Art Metallstange, die zur Selbstverteidigung dienen soll. Aber, ich glaube, dass du sie in nächster Zeit mehr brauchen wirst als ich.«

»Daisy«, seufzte ich. »Du bist wirklich zu gütig, aber ich habe doch schon eine Waffe. Meine Machete, weißt du noch?«

»Natürlich weiß ich es noch«, keifte sie. »Ich bin nicht so vergesslich wie du, Marcus. Aber, vielleicht begegnest du einem Widersacher oder Gegner, der es nicht verdient hat, zu sterben. Es ist bereits so viel Leid verursacht und so viel Blut vergossen worden. Wir sollten diese Tradition nicht fortsetzten, nur weil du jetzt äußerlich auch einer von Razors und Dads Spielkameraden bist. Versprich mir nur eins …«

»Du meinst außer, dass ich auf mich aufpassen soll?«, fragte ich sie und versuchte, die angespannte Situation etwas zu lockern.

»Marcus!«, schoss es aus Daisy heraus. »Das ist ernst«, ihre Stimme wurde plötzlich wieder flüsterleise. »Versprich mir bitte, dass, wenn sich jemand ergeben sollte oder es nicht zwingen notwendig ist, du diese Bösewichte und Widersacher nicht mit der Machete schwer verletzen oder gar töten wirst. Ich verstehe, du musst dich verteidigen. Aber wenn du es kannst, dann nimmt bitte auch meine Stange. Versprichst du es mir?«

Ich dachte kurz über ihre Worte nach. Hatte sich unsere Stadt tatsächlich so sehr verändert? Unser Leben war nicht so freudig und farbenfroh, wie es oftmals in den Comics dargestellt wurde. Oftmals blieb einem Helden keine andere Wahl, als dass er seinen Widersacher töten musste, um etwas viel Schlimmeres zu verhindern. Aber blieb uns tatsächlich nur diese eine Ausweg? Der Tod des anderen?

Ich war nicht gewillt, jemanden zu verschonen, der Mom, Daisy oder gar mich zu töten versuchen würde, aber als mich meine Schwester mit ihren Augen anstarrte, konnte ich ihr diesen einen Wunsch nicht abschlagen. Immerhin hatte sie mir eine Möglichkeit gegeben, ein Leben zu verschonen. Wieso sollte ich dieses Geschenk also ausschlagen?

»Ich verspreche es«, antwortete ich. »Wenn es sich vermeiden lässt und weder mein Leben, noch das eines anderen auf dem Spiel steht, dann werde ich deine Waffe verwenden und nicht meine.«

Dad erzählte jeden Tag, nachdem er von einer seiner Missionen zurückgekehrt war, mit großer Begeisterung von seinen Errungenschaften und seinen Heldentaten. Ich dachte, dass es bei mir ebenso sein würde. Tatsächlich war ich allerdings froh, als die Sonne am Horizont aufging und sich meine Nacht dem Ende zuneigte, dass ich noch am Leben war.

Meine erste Mission fand in einem südlichen Gebiet von Cherryhome statt. Um genauer zu sein, umfasste sie zwei Straßen und einen kleinen Wohnblock.

Die perfekte Möglichkeit für einen Anfänger wie mich, seinen inneren Helden zu erwecken, dachte ich mir.

Das Gebiet war klein und überschaubar. Ich sollte dort einfach von zehn Uhr nachts bis acht Uhr morgens die Unschuldigen und Hilfsbedürftigen beschützen. Zumindest schwor ich darauf meinen Eid.

Bis um Mitternacht geschah nichts. Ich ging die Straßen auf und ab, einige Runden um den Wohnblock und starrte durch die Fenster, die teils von einem hellen Licht erfüllt waren und teils im Dunkeln lagen, weil keiner dort wohnte. Dieser Teil der Stadt wurde auch die »Sterbenden Straßen« genannt. Viele Familien waren aus diesen Gebieten weggezogen und Firmen hatten ihre Fabriken und Kaufhäuser ins Zentrum von Cherryhome oder in einer der anderen, belebteren Teile der Stadt verfrachtet. Diese südlichen Gebiete der Stadt waren überflutet von leerstehenden Gebäuden, Häusern, verlassen Restaurants und Lagerhallen. Bürgermeister Crawhall hatte versprochen, dass in den kommenden Jahren den »Sterbenden Straßen« wieder Leben eingehaucht werden würde. Doch bis auf ein paar Baustellen und Renovierungsarbeiten geschah nur wenig. Während der Rest von Cherryhome über Nacht zu wachsen und gedeihen schien, entwickelte sich dieser Teil nur schrittweise fast wie in Zeitlupe.

Als die Uhr jedoch zwölf schlug, begann meine Mission. Ich hörte Stimmen und als ich um die Ecke eines der Gebäude spähte, sah ich vier Männer beisammenstehen und miteinander flüstern. Sie waren ganz in Schwarz gekleidet wie ich und trugen vor ihren Gesichtern schneeweiße Masken, die zu glühen schienen, als sie sich im Licht der Straßenlaternen zeigten.

»Hast du auch alle Waffen überprüft?«, fragte der Eine mit einer lächelnden Maske.

»Ja, mehrmals sogar«, antwortete sein Gegenüber, der eine weinende Maske trug.

»Und sind sie auch vollständig?«, fragte der Lächelnde erneut. »Wir können uns keine Fehler leisten. Wenn er seine Waffen nicht bekommt, dann wird er schon einen Weg finden, um sie aus uns herauszuquetschen.«

»Beruhige dich«, versuchte, die dritte Person zu beruhigen, die eine zornige Maske trug. »Ich war dabei, als er sie gezählt hat. Sieh es dir an, wenn du uns nicht glaubst.«

Sie gingen zusammen zu einem der äußeren Wohnblöcke. Sie öffneten die Tür und gingen hinunter in den großen Keller. Die zahllosen dunklen Räume wirkten wie ein Labyrinth. Nur einzelne Lichter, die über den ganzen Raum verteilt waren, spendeten ein wenig Licht, um sich orientieren zu können. Ich folgte ihnen, blieb dennoch versteckt. Die vierte Person, die eine emotionslose, beinahe schon gelangweilte Maske trug, blickte ständig in alle Richtungen, um sich zu vergewissern, dass sie nicht verfolgt wurden.

Dort standen sie also vor mindestens acht willkürlich verteilten Holzkisten. Alle gefüllt mit Waffen. Sie öffneten eine Kiste, die noch nicht mit Nägeln zu gehämmert war.

»Siehst du«, sagte der Zornige. »Alle da.«

Die lachende Maske begann zu zählen. Ich schlich mich derweil immer näher an sie heran.

»… achtundfünfzig ..., neunundfünfzig ..., sechzig ..., einundsechzig ..., zweiundsechzig ...«, zählte er. »Und in den anderen Kisten sind genauso viele?«

»Ja«, antwortete der Weinende. »Willst du sie auch aufbrechen und nachzählen?«

Während sie alle miteinander stritten, ob sie die übrigen Kisten auch aufbrechen und durchzählen sollten, schlich ich weiter. Sie waren zum Greifen nahe. Ich umklammerte meine Machete, doch dann erinnerte ich mich an das Versprechen, dass ich Daisy gegeben hatte, und hielt mich an ihrer Metallstange fest. Sie bewegten sich alle um die Kisten herum, während der Mann mit der lachenden Maske weiter auf seine Verbündeten einhackte.

»Ich hoffe, dass das Holz nicht beschädigt ist«, setzte er fort und strich mit seiner Hand über jede Kiste, an der er vorbeiging. »Wenn dieser Typ auch nur einen Fehler an seiner kostbaren Ware bemerkt, dann sind wir erledigt. Und wenn er … HALT! Wer ist da?!«

Sie hatten mich bemerkt.

Jetzt ganz ruhig bleiben, Marcus! Atme tief ein und dann aus und dann mach einem nach den anderen unschädlich.

Ich sprang aus meiner Deckung hervor und warf die Eisenstange wie einen Speer auf den Lachenden. Er wurde an der Stirn getroffen und fiel schreiend zu Boden. Noch bevor die anderen Maskierten reagieren konnten, schnappte ich mir meine Waffe aus der Luft und schlug auf den Wütenden und auf den Weinenden ein. Der Emotionslose zog ein Messer hervor und rannte schreiend auf mich zu. Ich kämpfte gegen drei Maskierte auf einmal und während ich ihren Schlägen und Stichen auswich, stand der getroffene Mann mit der lachenden Maske stöhnend auf.

»Verdammter Neuling!«, schrie er und zog einen Revolver hervor. »Misch dich nicht in Angelegenheiten ein, die dich nichts angehen!«

Er eröffnete das Feuer. Ich sprang auf die Kisten, um den Kugeln zu entkommen. Erneut warf ich meine Metallstange und traf den Emotionslosen am Kopf. Ich rollte mich hinter den Kisten ab und zog meine Machete hervor.

Entschuldige bitte, Daisy. Aber, ich kann nicht anders.

Ich hörte Schritte, die immer näherkamen. Sie wollten mich einkreisen. Doch als der Lachende triumphierend über mir stand und mit dem Lauf seiner Pistole auf meinen Kopf zielte, schwang ich meine Machete und schnitt ihm seine Waffe in zwei Teile. Ich sprang über ihn, ergriff seinen Kopf und knallte ihn gegen die Kiste, hinter der ich mich versteckt hatte.

Der Weinende und Wütende fuchtelten mit ihren Messern in der Luft herum.

»Nimm das!«, schrie der Mann mit der trauernden Maske.

»Was glaubst du eigentlich, wer du bist?!«, protzte der andere Fremde.

Ich drehte mich im Kreis und schnitt mit meiner Machete die Klingen ihrer Messer ab. Hastig rollte ich mich zurück zu meiner Metallstange, die gleich neben dem bewusstlosen vierten Mann lag. Ich schwang meine Waffe dreimal und die anderen beiden Verbrecher lagen auch am Boden. Ich verpasste dem Wütenden noch einen letzten Schlag auf den Kopf, nur um ganz sicherzugehen.

Ich rief die Polizei. Sie waren in wenigen Minuten anwesend. Währenddessen gab ich mir große Mühe, die Verbrecher nicht entkommen zu lassen. Deshalb brach ich vier der Holzkisten auf, entleerte ihren Inhalt, Handfeuerwaffen aller Art, und sperrte die Maskierten hinein. Als die Polizisten ankamen und sie in Handschellen abführten, wehrten sie sich schreiend und verfluchten meinen Namen.

»Wie lautet Ihr Name?«, fragte mich einer der Beamten.

»Mein Name?«, fragte ich erstaunt.

»Ihr Heldenname«, antwortete er in einem monotonen, müden Tonfall. »Damit wir Sie für das Heldenregister vormerken können.«

»Gentleman Pain«, antwortete ich.

Als die Sonne sich am Horizont zeigte, ging ich zu einem verlassenen Restaurant, welches sich um die Ecke befand. Ich zog mir mein Kostüm aus, verstaute meine Waffen in einer großen Sporttasche, die ich mithatte und ging nach Hause. Als ich durch die Tür trat, schliefen noch alle.

Obwohl ich in meinem Bett lag, erschöpft war und jeder Muskel in meinem Körper angespannt war und weiter zuckte, konnte ich nicht einschlafen. Ich war erfüllt von Freude und Angst. Freude über die Tatsache, dass ich meine erste Nacht als wahrer Held überstanden hatte und Angst darüber, dass ich nur haarscharf dem Tod entkommen war. Als ich Schritte auf dem Flur hörte, wusste ich, dass es Mom war. Sie war kaum zu hören, wenn sie durch die Gänge unseres Hauses ging, nur der Klang ihrer Morgenpantoffeln drang an mein Ohr, als sie unsere Treppe Stufe um Stufe hinunterschlich.

Auch die kommenden Nächte waren alles andere als ein Zuckerschlecken. Ich bevorzugte es in der Nacht als Held zu arbeiten, da ich so nicht Gefahr lief von Dad oder Razor entdeckt zu werden.

In meiner zweiten Nacht hatte ich einen bewaffneten Mann in einem schuppigen Kostüm daran gehindert, eine Frau auf offener Straße zu überfallen. Ich sprang von einer Wand zur anderen und wich seinen Schüssen aus, die er mit seiner Flinte abfeuerte. Ich stand vor ihm, stach auf ihn ein, doch plötzlich sprang er zur Seite und stieß mir den Lauf seines Gewehrs in die Magengrube. Ich ging auf die Knie und er richtete seine Flinte auf mich.

»Ihr Neulinge solltet erst lernen, wie man gegen einen echten Mann kämpft, bevor ihr euch in den Dienst wagt«, spottete er.

Ich zog meine Machete und riss den Lauf nach oben in den Nachthimmel. Eine Kugel schoss haarscharf an meinem Hut vorbei. Ich sprang auf, stieß meine Melone in seinen Magen und er knallte gegen die Wand. Der schuppige Verbrecher war außer sich. Er schrie und verfeuerte sein gesamtes Magazin. Ich wagte einen gewagten Angriff. Ich sprang an der Wand hoch, stieß mich ab und zerschnitt mit einem starken Hieb meiner Machete seine Flinte in zwei Hälften. Erstarrt blickte er mich an. Schnell griff ich nach der Metallstange und zog ihm eine über seinen großen Kopf. Wie eine Puppe ließ er sich bewusstlos zu Boden fallen und bewegte sich erst wieder, als die Polizei ihn in Handschellen legte.

In einer anderen Nacht traf ich auf zwei maskierte Schurken, die Totenschädelmasken trugen und mit Kreis- und Kettensägen bewaffnet waren.

»Komm her, Gentleman! Lass uns Baum fällt spielen!«, schrie der Eine mit der Kettensäge.

Wir befanden uns innerhalb eines Wohnblocks und ich hörte Schreie. Eine Frau und ihre Kinder flehten mich an, ihnen zu helfen.

»Bitte! Bitte!«, schrien sie im Chor. »Helft uns! Sie wollen uns töten! Die beiden wollen uns töten! Bitte! Helft uns!«

Bei den beiden maskierten Wahnsinnigen beschloss ich, auf Daisys Metallstange vollständig zu verzichten. Ich konnte eine Kreis- und eine Kettensäge nicht mit einer stumpfen Stange aus Metall bekämpfen. Außerdem hätten sie mich bestimmt ausgelacht. Selbst als ich meine Machete zog, wirkten sie wenig beeindruckt und starteten ihre Waffen, die sich bedrohlich drehten und laut knatterten. Sie wirkten wie hungrige, stählerne Piranhas, die darauf warteten sich durch mein Fleisch zu bohren und meine Knochen zu zernagen.

Doch zum allerersten Mal in meiner Karriere stieß ich auf Gegner, die tatsächliche Helden waren. Der Schurke mit der Kettensäge hatte die Superkraft, die Farbe seinen Körper wie ein Chamäleon seiner Umgebung anzupassen.

»Brich du die Tür auf«, sagte er und sein Körper begann mit der Umgebung zu verschwimmen. Die verändernden Farben griffen auch auf die Kettensäge in seiner Hand über und Schritt für Schritt verschwand er vor meinen Augen. »Ich kümmere mich um diesen Neuling.«

Während die Kreissäge an der Tür sägte, hörte ich laute Schreie aus der Wohnung kommen.

»Verbarrikadiert die Tür«, rief ich ihnen zu, während ich mich umdrehte, um den Kettensägenhelden von ihnen wegzulocken. »Ich komme gleich und erledige den anderen. Haltet durch!«

Während ich rannte, folgte mir das Geräusch der knatternden Kettensäge. Ein lautes Rattern drang an meine Ohren und der Belag hinter mir zersplitterte. Ein weiteres lautes Aufschreien der Kettensäge war zu hören und als ich um die Ecke bog, um im Treppenhaus eine Etage nach der anderen emporzulaufen, regnete es Funken, als die Zähne der Säge das Treppengeländer trafen. Ich rannte höher und höher. Die Kettensäge folgte mir auf Schritt und Tritt. Plötzlich sägte er die Stufe unter mir durch und ich fiel zu Boden. Meine Machete rutschte weiter, als würde sie nicht nur vor mir, sondern auch vor dem Helden davonlaufen. Ich drehte mich auf den Rücken. Im Staub sah ich Fußspuren, die zu mir gingen. Dann zeigte sich der Kopf des Helden.

»Misch dich nicht in fremde Angelegenheiten ein, du verdammter Neuling!«, schrie er und ließ die schreiende Kettensäge auf mich herabstürzen.

Ich zog Daisys Metallstange hervor und hielt sie gegen seine Waffe. Funken flogen durch die Luft und blendeten mich, sodass ich meine Augen schloss. Ich hoffte und betete zur Stange, dass sie nicht brechen würde.

Gute Stange, feine Stange. Bitte brich nicht. Bitte, bitte, bitte bleib heil!

Ich spürte, wie das Metall nachließ. In jedem Augenblick, würde sie brechen. Ich riss die Stange und gleichzeitig die Kettensäge auf die Seite und die Zähne der Säge nagten an dem steinernen Treppengeländer. Der Held wich zurück, verdeckte seine Maske mit seinen Armen. Ich stand auf, sprang gegen die Wand, stieß mich mit aller Kraft ab und rammte ihm meine Faust mitten in sein Gesicht. Er taumelte, stolperte zurück und fiel plötzlich über das Treppengeländer.

»Aaaaaaaargh!«, seine Stimme wurde immer leiser, je näher er dem Boden kam.

Ein dumpfer Schlag war zu hören, gefolgt von einem lauten Knall. Ich blickte vorsichtig über den Rand der Treppe und sah, wie der Held regungslos am Boden lag. Neben ihm, seine zerbrochene Kettensäge.

Ich schnappte mir meine Machete und rannte zurück zu der schreienden Frau. Sie hatte inzwischen ihren Kleiderschrank, all ihre Stühle und sogar den Esstisch vor die Tür geschoben. Der Schurke mit der Kreissäge riss ein großes Loch in die hölzerne Tür.

»Genug!«, schrie ich, als ich ihm im langen Flur gegenüberstand.

»Was?«, fragte er erschrocken und blickte sich um. »Wie? Wo ist ...? Das kann nicht sein. Das wirst du mir büßen!«

Wie von der Tarantel gestochen, rannte er schreiend und mit schwingender Kreissäge auf mich zu. Ich wehrte seine Hiebe mit meiner Machete ab. Er war schnell. Fehler konnte ich mir keine leisten. Eine einzige verzögerte Reaktion und ich konnte vor meinem geistigen Auge sehen, wie mein Bein durch den Flur flog und ich zu Boden ging. Ich blickte um mich.

(Irgendetwas musste mir doch in dieser Situation helfen können?)

Plötzlich sah ich einen Feuerlöscher zu meiner rechten Seite hängen. Mir kam eine Idee. Der Schurke mit der Kreissäge griff mich an und ich lenkte seinen Angriff mit meiner Machete auf den Feuerlöscher. Das Innere des Feuerlöschers strömte nach Außen und ich bückte mich und schloss meine Augen. Alles um uns herum war weiß, als hätte ein morgendlicher Tau die Gänge bedeckt. Ich zielte mit der Klinge meiner Waffe und traf die Kreissäge. Sie fiel ihm aus der Hand, landete quietschend auf dem Boden. Wie ein verhungerndes Krokodil kroch sie langsam davon und war dabei auf der Suche nach etwas, worin sie ihre Zähne vergraben konnte. Plötzlich zog der Schurke ein Messer hervor. Erstarrt blickte ich ihn an. Die Tatsache, dass er eine zweite Waffe bei sich trug, jagte mir einen kalten Schauer über meinen Rücken.

»Ich habe dich gewarnt, Neuling«, drohte er mir und schnaufte dabei.

Er warf das Messer von einer Hand in die andere. Dann rannte er auf mich los. Flink wie ein Wiesel hüpfte er von einer Seite auf die andere. Ich versuchte, jeden seiner Angriffe zu parieren, doch plötzlich spürte ich, wie der Stoff meines Kostüms durchtrennt wurde. Dieser Schurke hatte es geschafft, mich zu treffen.

Levwoods und Schwestern, ich danke euch. Immerhin hat er nur euer Kostüm erwischt und nicht mein Fleisch mit einem Hieb aufgeschnitten.

»Was zum …?«, sagte er erstaunt.

Ich nutzte die Chance und bat Daisy in meinen Gedanken erneut um Verzeihung. Ich schloss meine Augen und stieß einen Schrei aus. Ich drehte mich um und stach mit meiner Machete blind zu. Es wurde ganz still. Ich wagte es nicht, mich zu bewegen oder gar meine Augen zu öffnen. Plötzlich hörte ich etwas klirrend zu Boden fallen. Es war das Messer des Schurken. Als ich ihm in die Augen blickte, wirkte er ebenso überrascht wie ich. Meine Machete steckte in seiner Brust. Er sagte kein Wort, sondern blickte mich durch die Öffnungen in seiner Maske an. Er ging langsam zu Boden und legte sich hin. Vor meinen Augen glitt ihm das Leben davon.

»Es tut mir leid«, flüsterte ich ihm zu.

Es hatte mir tatsächlich einen Stich ins Herz versetzt. Mit hoher Wahrscheinlichkeit war es nicht so schmerzhaft, wie ein Stich mit meiner Machete, doch ich hatte soeben das Leben eines Schurken beendet. Obwohl ich mich gut fühlen sollte, da ich eine unschuldige Familie vor einem grausamen Schicksal bewahrt hatte, kam keine Freude in mir auf. Nur Schuld. Waren es vielleicht Momente wie diese, vor denen Daisy mich gewarnt hatte? Hatte sie eher Angst um mich und meine Persönlichkeit als davor, dass ich mich tatsächlich einem Monster wie Razor anschließen könnte?

Während ich langsam zur Familie ging, die sich wimmernd hinter ihrer Barrikade versteckt hatte, rief ich die Polizei an.

»… genau Officer, Gentleman Pain«, meldete ich ihm. »Und bringen sie einen Leichenwagen mit. Die beiden Schurken haben es nicht überlebt.«

Während ich langsam nach Hause ging, erhob sich die Sonne hinter mir aus ihrem Schlaf. Ihre warmen Strahlen bedeckten meinen Hinterkopf und eine angenehme Wärme überkam mich.

Ich bekam die beiden Schurken nicht aus meinem Kopf. Ihre Körper verfolgten mich, wie zwei üble Geister, die mir einen Streich spielen wollten. Die Polizei hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass die beiden Gesetzesbrecher verstorben waren. Für sie waren es nur zwei weitere Schurken weniger, die Unschuldige bedrohen oder gar töten konnten.

Doch vielleicht musste es so geschehen. Immerhin hatte ich all diese Tortur auf mich genommen, um mein Ziel zu verfolgen und das war, Razor zu töten. Aber wie könnte ich ihn töten, wenn ich zuvor noch nie ein Leben beendet hatte? Hätte ich es überhaupt geschafft, wenn ich all diese Heldentaten nicht begangen hätte? Ich fühlte mich nicht wie ein Held. Eher wie die Gangaufsicht in einer Schule. Oder wie ein Mörder.

Als ich zu Hause meinen erschöpften Kopf auf mein Kissen legte, fielen mir die Augen zu. Obwohl ich diese Nacht nie vergessen würde, überkam mich dennoch eine große Müdigkeit, die jede Faser meines Körpers umfasste. Doch bevor ich einschlafen konnte, riss mich das Vibrieren meines Mobiltelefons aus meiner Ruhe. Es war meine beste Freundin, Truma.

»Hallo?«, hob ich ab und meine Stimme war kaum zu hören.

»Marcus«, zwitscherte Truma in den Hörer. »Ich muss unbedingt mit dir sprechen, aber es muss von Angesicht zu Angesicht sein. Mom hat Ophelia für zwei Stunden mit in den Park genommen und anschließend gehen sie in den Supermarkt, um fürs Abendessen einzukaufen. Jetzt oder nie.«

Heroes vs. Wizards

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