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ES WAR EINMAL EIN JUNGE, DER TRÄUMTE
Träume sind ewig Realität stirbt
1. Buch der Wyld Rose, 148
Aus meinen Fingerspitzen leuchtet rotes Licht in den Rosenbusch hinein. Wie in einem Fantasy- oder Science-Fiction-Film strahlt es aus meiner Hand bis es die zarten Blätter der Pflanze in Fabios Garten berührt. Ich habe so etwas noch nie gesehen, und mit offenem Mund starre ich die Verbindung zwischen Gringo und Rose an.
Mama Rose, so werde ich sie ab dieser Nacht nennen dürfen, erwidert den Gruß, und wir verbinden uns. Auf unaussprechliche Art und Weise, in einer Dimension, für die ich keine Worte habe.
Dann setzt mein Herz einen Schlag lang aus. Denn das Königreich der Rose öffnet sich, und ich erkenne die zauberhafte Geisterwelt, die in dem Rosenbusch schlummert. Ungesehen, unsichtbar, bis man sein Herz für diese Wahrheit öffnet.
Seltsame kleine, insektenähnliche Wesen umkreisen die aufgefächerten Blüten von Mama Rose. Tauchen ab in die dunkelroten Schirme der Rosen, schießen wieder daraus hervor.
Eines funkelt mich an, dann ist es weg. Miniaturbauten, Pyramiden gleich, wachsen aus dem Schoß des Rosenbusches, in Sekunden entsteht eine ganze Stadt, die dem legendären Inkareich Machu Picchu in nichts nachsteht. Ein ganzes Universum fächert sich vor mir auf, die Rose stellt sich mir in ihrer ganzen Schönheit und Pracht vor.
Mit einem Mal steht alles still, die kolibriähnlichen, geflügelten Wesen halten mitten im Flug inne, das Königreich der Rosen erstarrt in Zeit und Raum. Dann zeigt mir Mama Rose einen kleinen Kokon, den sie aus einer ihrer Blüten zaubert. Reicht ihn mir dar, und ich verstehe: es ist ein Geschenk. Doch was bedeutet es?
„Schau in deine Hände“, wispert Mama Rose sanft und geduldig. Ich schaue und ich sehe in meiner Handfläche, wie auf einem Fleisch gewordenen iPad:
Ein Arzt mit Mundschutz in einem hell erleuchteten Raum, ein Operationssaal: Angst wabert irgendwo tief unten in mir drin, dringt langsam und zäh in mein Bewusstsein vor. In der Hand trägt der Arzt einen langen, sehr langen, spitzen Gegenstand. Eine Szene wie aus dem Vorspann eines düsteren Horrorfilms. Die Angst erfüllt mich jetzt überall, mein Herz pocht von innen gegen meinen Brustkorb. Ich kenne die Szene und kenne sie nicht. Ich erinnere mich. Aber an was?
Dann schwebt das Gesicht eines Neugeborenen vor mir in der kühlen Nachtluft. Es schaut mich an, und instinktiv presse ich es an mein Herz. Ohne nachzudenken, einfach weil ich nicht anders kann.
„Du bist nicht allein“, raune ich der kleinen Gestalt in Gedanken zu. „Du wirst geliebt. Alles ist gut, wir sind da.“
Dass dieses Neugeborene ich selbst bin, begreife ich erst Monate später.
(Lektionen der Pflanzen. Bogotá, Kolumbien. August 2018)
Blumen mochte ich nicht als Kind.
Meine Mutter nahm mich und meine Schwester auf Spaziergänge durch blühende Wiesen mit, hinein in Wälder, zu denen mit „Wurzeln“.
„Schau: die Blüten. Die prächtigen Farben. Hör mal, der Wind in den Bäumen. Und hier, eine Schafsgarbe…“
Ich trottete hinterher und dachte nur an die tollen Fernsehserien, die ich gerade verpasste:
„Fünf Freunde“, „Western von gestern“, „Tom & Jerry“. Alle würden sie gesehen haben und morgen in der Schule darüber berichten. „Hast du gesehen, wie Fuzzy Jones mit dem Colt…?“
Ich würde es nicht gesehen haben, ich war ja draußen in der Natur.
Da standen sie, ja. Allgegenwärtige Stängel, Stämme, Ast und Blatt bewehrt. Die Pflanzen bevölkerten meine Welt als Hintergrund, als Staffage. Ihre Schönheit konnte ich nicht sehen, von ihrer Weisheit hatte ich nicht die geringste Ahnung. Wie schön, dass unsere Mutter uns mit hinaus genommen hatte. Uns die Welt der Wunder bestaunen lassen anstatt uns vorm heimischen Fernseher verwaisen zu lassen. Einzig: ich verstand es nicht.
Man pflückt einen Blumenstrauß aus Wildblumen am Muttertag: Klee, Butterblumen, Schafsgarbe vielleicht. Ein paar Gräser dazu, schön dick muss er sein. Viel freut viel… Ab in die Vase, Mama freut sich, Belohnungskuss.
Dafür waren sie schon bestens geeignet, diese bunten Dinger, die aus der Erde wuchsen.
Aber dass diese stillen Wesen in sattem Gelb und strahlendem Weiß und tiefem Violett unsere Brüder und Schwestern wären? Und man womöglich mit ihnen Kontakt aufnehmen könne?
Also bitte…
Ich lebte in Geschichten, schon als ganz Kleiner.
Erdachte sie in meinem kleinen Indianerzelt, das in unserem Garten in Süddeutschland stand. Saß stundenlang im schattigen Schutz des Kinder-Wigwams und erfand eifrig Scharen von Wesen. Litt mit ihnen, kämpfte mit ihnen gegen „das Böse“, ringte sie um mich als beste Freunde.
Die kleinen Figürchen aus Plastik waren aufgeteilt in Cowboys (die Guten, so sahen sie auch aus) und Indianer (mit gezücktem Tomahawk oder reitend mit gespanntem Bogen, immer mit wilden Grimassen auf dem kleinen Plastikgesicht).
Erst Winnetou und Old Shatterhand rüttelten an der Schwarz-Weiß-Sicht, und endlich kam der Tag, als ich mich an Fasching selbst als Indianer verkleidete - mit Federschmuck, dicken Farbstrichen auf den Wangen und natürlich Pfeil und Bogen.
Was mag Taita Kuna, der große Geist der uns alle träumt, was mag er an diesem Tag liebevoll gelacht haben:
„Wenn er nur wüsste, der kleine Geschichtenerzähler. Wenn er nur wüsste, was das Leben mit ihm vorhat.“
Heuschnupfen hatte ich.
Wenn die Blumen stolz ihre Blüten auffächerten, die Birken sich sprühend dem Leben zeigten und sich das blühende Gras tief violett und strahlend weiß im Wind neigte; ja dann saß ich drinnen, die Nase juckend, die Augen brennend und verwünschte die da draußen, die mich plagten.
Erst in Bogotá, der Hauptstadt Kolumbiens, beinahe vierzig Jahre später, sollte ich endlich verstehen, was die Natur mir zu sagen hatte und wo sie mich hinführen würde.
Ich war zwei Wochen zu spät auf die Welt gekommen, im frühen September 1970. Eine astrologische Jungfrau, die von den Sternen als Löwe geplant gewesen war. Aber diese Feinheiten waren für mich natürlich nicht von Belang.
Ich wollte drin bleiben, drin im Warmen, in der Geborgenheit, in Sicherheit, zu Hause. Als wäre ich misstrauisch gewesen ob der Welt da draußen und hätte es vorgezogen, „daheim in Mama“ zu bleiben. Viele Jahre später durfte ich dieses Gefühl noch einmal durchleben und verstehen, mit wie viel Angst ich der neuen Welt entgegensah.
Zurückhaltend gegenüber anderen gab ich mich in meinen Kinderjahren. Saß neben den Gruppen der spielenden Kinder und spielte nicht mit. Blieb am Rand, trennte mich sichtbar von der Gruppe. Freute mich, wenn Mama oder Papa mich im Kindergarten abholten. Und ab und an traf ich mich sogar mit einzelnen Freunden, wenn ich dann Vertrauen in sie gefasst hatte.
Nicht dass ich traurig gewesen wäre, es war Eigenbrödlertum. Ich zog es einfach vor, am Rand zu sein. Alleine. Ohne das laute Hin und Her und Gekreisch und bunte Treiben, das ich argwöhnisch beäugte.
Als ich neun war kaufte mir meine Mutter kleine, linierte Heftchen, in die ich dann meine ersten Geschichten schrieb. Von John Lemon, dem Weltraumhelden und seinem treuen Roboter-Begleiter Eszella. Es ging um Raumschiffe und Laserwaffen, böse, hinterlistige Aliens und den stets mutigen und nichts fürchtenden John Lemon. Ich versank in diesen Geschichten, durchlebte sie selbst, baute mir eine eigene Parallelwelt. Wie leicht mir diese Geschichten aus dem Geist flossen, wie meine Finger langsam aber konzentriert die Linien und Halbbögen der Buchstaben aufs weiße Papier zogen. Wie fernab ich in diesen Momenten „unserer Realität“ war.
Nie werde ich das Geburtstagsgeschenk meiner Großmutter vergessen. Wir wohnten in Bayern, in einem kleinen Dorf. Es war heiß an diesem Tag, und wir warten drinnen in der Kühle der Schatten auf meine Großeltern. Draußen auf der Hauswand prangte das riesige Mosaik eines Engels, den der Besitzer vor Jahren angebracht hatte. Wir aßen kalten Hund – Zwieback und Schokoladenschichten aus dem Eisschrank – und freuten uns auf Oma und Opa.
Als langjährige Sekretärin für eine Versicherungsgesellschaft konnte meine Oma Schreibmaschine tippen. Schnell, sehr schnell. Nach dem Mittagessen eröffnete sie mir ihr diesjähriges Geburtstagsgeschenk: Sie würde eine meiner Geschichten tippen!
Aufgeregt und mit klopfendem Herzen setzte ich mich neben sie. Wartete ungeduldig, bis sie das neue Farbband eingesetzt und einen Bogen Papier eingespannt hatte. Dann begann ich zu erzählen, und ihre Finger huschten über die Tastatur. Als John Lemon endlich den Sieg über die Bösen davongetragen hatte, legte meine Oma das Blatt auf die anderen und reichte mir feierlich mein erstes „Buch“.
Erst dreißig Jahre später verstand ich dieses Geschenk und welch Schatz tief in ihm verborgen war. Und auch John Lemon sollte mir, Dekaden später im Dschungel Südkolumbiens, noch einmal zuzwinkern. Versteckt natürlich, um die Ecke gedacht. Aber da verstecken sie sich ja nun einmal, unsere Engel und spirits.
Foto: Botanischer Garten in San Salvador (El Salvador)
Meine eigene Tochter, sie wird im kommenden Monat sechs, spricht mit „denen mit den Wurzeln“. Fragt um Erlaubnis, bevor sie auf knorrige, magische Bäume in Nicaragua oder Costa Rica klettert. Legt vorsichtig ihre kleine Kinderhand auf die raue Rinde, schließt die Augen und versucht sich zu verbinden. Dann, wenn der Baum „ja“ sagt, klettert sie los. Das wäre mir als Kind nie in den Sinn gekommen. Sie waren eben da, die Bäume. Und wuchsen vor sich hin, die Blumen und Sträucher und Gräser. Weil sie das eben so machten, und das hatte mit Oliver und seinem Leben nicht das Geringste zu tun. Mein eigener Vorname entstand aus dem Altgriechischen, hatte mir jemand erzählt:
Der, der die Olivenbäume pflanzt.
Damit konnte ich damals so richtig gar nichts anfangen - es ließ mich kalt. Hätte ich geahnt…
Liebe Pflanzen, liebe Brüder und Schwestern, die ihr Wurzeln habt: Habt ihr es damals schon gewusst? Habt ihr den schwarzen Mercedes und den Chevrolet-Leichenwagen mit dem blubbernden V8 vorhergesehen? Die drei Herzinfarkte, den Tanz mit dem Tod? Habt ihr Berlin, Korinth und Mexiko geahnt? Die stürmischen Nächte mit Schamanen, die Gesänge aus alter Zeit?
Ich glaube schon.