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1. Einführungen in die Lyrik-Analyse

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Dass es wissenschaftliche Einführungen gibt, ist nicht selbstverständlich. Bis in die 1960er Jahre hinein erfüllten vornehmlich theoretische Studien zugleich die Funktion, in den wissenschaftlichen Umgang mit literarischen Texten einzuführen. Die Entwicklung neuer Methoden und der merkliche Bedarf an deren transparenter Darstellung bewirkten dann eine Ausdifferenzierung der literaturwissenschaftlichen Genres. Schule gemacht haben zunächst drei erzähltheoretische Arbeiten aus den 1950er und 1960er Jahren, Eberhard Lämmerts Bauformen des Erzählens, Franz K. Stanzels Typische Erzählsituationen im Roman und Käte Hamburgers Logik der Dichtung. Sie stehen in der Mitte zwischen Theorieentwurf, Methodenhandbuch und genuiner Einführung. Seit den siebziger Jahren entstanden dann zahlreiche Arbeiten, die dezidiert als themenorientierte Einführungen auftraten, darunter nun auch solche zur Lyrik. Ihre nun folgende Besprechung soll die Eigenheiten und Unterschiede der verschiedenen Arbeiten bewusst machen, in denen sich verschiedene mögliche Fragehaltungen gegenüber Gedichten spiegeln.

Gerhard Müller-Schwefe Bernhard Asmuth

Hans-Werner Ludwig

Nachdem der Anglist Gerhard Müller-Schwefe 1969 mit seiner Einführung in die Gedichtinterpretation den Anfang gemacht hatte, legte 1972 Bernhard Asmuth mit Aspekte der Lyrik die erste germanistische, seitdem oft neu aufgelegte Einführung in die Gedichtanalyse vor. Die erste Hälfte des Buches entwickelt eine Verslehre, wobei viel Wert auf die genaue Typisierung der herausgearbeiteten Merkmale gelegt wird. Interpretiert wird hingegen nur wenig. Der zweite Teil des Buchs skizziert zunächst die Geschichte der Lyriktheorie und mündet schließlich in der Formulierung eines eigenen Ansatzes. Asmuths Identifikation der Lyrik mit dem geselligen Lied führt, was er selbst nicht leugnet, zu einer negativen Bewertung der ungeselligen modernen Poesie. Obwohl diese Definition wegen ihres Wertungsaspekts kaum konsensfähig ist, kann sie für Interpretationen insofern aufschlussreich sein, als sie einen Extrempol markiert, an dem sich Lyriker und Lyriktheoretiker, auch der Moderne, abarbeiten. Das von Hans-Werner Ludwig verfasste Arbeitsbuch Lyrikanalyse (1979) teilt den Interpretationsskeptizismus der Einführung Asmuths. Es setzt zwei Schwerpunkte. Zum einen diskutiert Ludwig verständlich und kritisch bedeutende Theorien von Quintilian bis Harald Weinrich und Theodor W. Adorno, zum anderen führt er eine große Zahl analytischer Begriffe unter ihrem traditionellen wie auch modernen Namen ein. Für hohe Anschaulichkeit sorgen viele Textbeispiele aus der deutschen, englischen und französischen Literatur und Originalzitate aus theoretischen Schriften. Recht kurz gerät dagegen die Anleitung zum eigenständigen Umgang mit lyrischen Gedichten. Was zu tun ist, findet man auch im letzten Kapitel, das die Praxis der Interpretation kritisch unter die Lupe nimmt, nicht erläutert. Ein Kapitel zur Geschichte der Lyrik gibt es nicht.

Horst Joachim Frank

Binder/Richartz

Christoph Bode

Hans-Dieter Gelfert

Stefan Elit

Bernhard Sorg

Einen anderen Weg als Asmuth und Ludwig schlägt Horst Joachim Frank in Wie interpretiere ich ein Gedicht? ein. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist der interpretationswillige Gedichtleser, nicht der Text. In elf Kapiteln werden zahlreiche Leitfragen formuliert, deren Beantwortung ein Gedicht erschließen soll. Dass die Fragen zwar nützlich, aber kaum memorierbar sind, begrenzt die Effizienz der Frankschen Methode. Um zu vermeiden, dass die Einzelbeobachtungen ohne Zusammenhang bleiben, stellt Frank abschließend Synthesegrundsätze auf, die allerdings recht abstrakt bleiben und für Leser einer Einführung an wenigstens einer Musterinterpretation hätten veranschaulicht werden müssen. Alwin Binder und Heinrich Richartz setzen sich in Lyrikanalyse (1984) ein ähnliches Ziel wie Frank. Um zu zeigen, wie man eine Gedichtinterpretation anfertigt, stellen die Autoren nicht nur die dafür erforderlichen Begriffe bereit, sondern erläutern auch die erforderlichen Arbeitsschritte. Der erste Teil des Buches hat Einleitungscharakter; in drei weiteren Teilen werden je ein Gedicht von Benjamin Schmolck, Frank Wedekind und Günter Eich nach dem Schema der Anleitung ausführlich untersucht. Der Geschichte der Lyrik ist kein eigenes Kapitel reserviert, dafür aber wird historisches Kontextwissen in die Untersuchungen einbezogen. Das kleinschrittige und transparente Vorgehen dieser Einführung vermittelt Anfängern einen hohen Grad an Orientierung. Zu weit geht allerdings die Suggestion der Verfasser, nur ihre Art und Weise des Umgangs mit Gedichten könne Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben. Die ‚Standpunktgebundenheit‘ des Ansatzes und damit auch der Interpretationen wird dagegen in Christoph Bodes Einführung in die Lyrikanalyse (2001) betont. Bode wählt als Anglist seine Beispiele aus der englischsprachigen Literatur, was aber Germanisten nicht davon abhalten sollte, sein locker geschriebenes und anregendes Buch zur Hand zu nehmen. Wie Bode, so geht auch Hans-Dieter Gelfert vom Problem der besonderen Sperrigkeit lyrischer Texte aus. Er stellt fast die gleiche Titelfrage wie Frank, Wie interpretiert man ein Gedicht? (1990), wählt dann aber ein deutlich anderes Verfahren. Sein Ausgangspunkt ist die Frage nach dem Sinn von Interpretationen, die er weniger skeptisch beantwortet als Ludwig. Der Verlust der unbefangenen Freude, die man bei der ersten Begegnung mit einem Gedicht erlebe, werde, so Gelfert, mehr als wettgemacht durch das Vergnügen, das ein differenzierter Umgang mit dem Text bereite. In einem allgemeinen Teil werden die Kategorien der Lyrik-Analyse vorgestellt, in einem praktischen Teil Textinterpretationen entwickelt, die von wissenschaftlich anschlussfähigen Fragestellungen ausgehen. Gelfert berücksichtigt neben deutscher auch fremdsprachige Literatur, was, wie schon bei Ludwig, den Vorteil hat, dass Lyrik als ein übernationales Kulturphänomen wahrnehmbar wird. Stefan Elits Band Lyrik. Formen – Analysetechniken – Gattungsgeschichte (2008) diskutiert in drei einleitenden Kapiteln die Grundlagen der Gattung, der Metrik und der Analyse, und stellt dann in weiteren sechs Kapiteln die Geschichte der deutschsprachigen Lyrik dar. Viele Analysebegriffe werden en passent eingeführt. Zusammenhänge zwischen Interpretation und Formanalyse werden selten aufgezeigt; Letztere stellt die Grundlage für die Stilgeschichte dar, die das Buch nachzeichnet. Alle Epochenkapitel schließen mit einer sorgfältigen Gedichtanalyse, Literaturangaben und einem Übungsteil. Ähnlich wie Elits Einführung ist auch Bernhard Sorgs Lyrik interpretieren (1999) aufgebaut; einer knappen Einführung in die Grundbegriffe folgt eine umfangreiche Lyrikgeschichte. Anders als bei Elit wird diese Geschichte jedoch nicht erzählt, sondern anhand von Einzelinterpretationen entwickelt, denen in jedem Kapitel eine kurze Epochencharakteristik vorangestellt ist. Übungsaufgaben gibt es nicht, doch die Interpretationen sind lehrreich, solange man nicht vergisst, dass formale Aspekte auch stärker hätten einbezogen werden können.

Dieter Burdorf

Felsner/Helbig/Manz

Dieter Burdorfs Einführung in die Gedichtanalyse ist als Kompendium und „Werkzeugkoffer“ angelegt (Burdorf 1997, IX). Während Bodes einleitende Beschäftigung mit der Theorie der Lyrik eher flapsig-knapp ausfällt, widmet ihr Burdorf eingehendere Überlegungen. Anschließend behandelt er das Gedicht hinsichtlich seines Ortes in der Sprache, seiner Form, seiner Textstrukturen, seines Wirklichkeitsbezugs und seiner Perspektive sowie seiner Beziehungen zur Geschichte. Von größtem Nutzen sind Burdorfs knapp kommentierte Zusammenstellungen der wichtigsten Titel zum jeweiligen Themenfeld. Sein Ansatz ist bewusst offen für diverse Techniken, Methoden und Theorien, die differenziert und nachvollziehbar dargestellt werden. Gedicht und Lyrik werden minimalistisch definiert, der Vers und seine semantischen Effekte eingehend beschrieben. Zugunsten der umfangreichen Darstellung nahezu sämtlicher Vers- und Strophenformen fällt leider die Erörterung der lyrischen Bildsprache etwas knapp aus. Die Geschichte der Lyrik wird in den einzelnen Kapiteln mitgeliefert; umfangreiche exemplarische Einzelinterpretationen finden sich nicht. – Von Kristin Felsner, Holger Helbig und Therese Manz stammt das Arbeitsbuch Lyrik, das wie Burdorfs Einführung Kompendienqualitäten besitzt, aber noch umfassender analytische, rhetorische und gattungstypologische Begriffe definiert. Das Arbeitsbuch lässt sich wie ein Nachschlagewerk nutzen; seine Definitionen sind verständlich formuliert und durch Textbeispiele konkretisiert. Auf die Verbindung von Analyse und Interpretation wurde allenthalben geachtet; zudem schließt jedes Kapitel mit einer exemplarischen Untersuchung, die ein Gedicht unter dem jeweils erörterten Aspekt interpretiert. Eine gesonderte Geschichte der Lyrik ist nicht enthalten, dafür aber eine Fülle historischer Hintergrundinformationen, wo sie am Platze sind.

Günter Waldmann

Während einige Einführungen gar keine Übungsaufgaben enthalten, andere sie zur Überprüfung des ‚Lernerfolgs‘ mitlaufen lassen, erhebt Günter Waldmanns Produktiver Umgang mit Lyrik die Übung zum zentralen Anliegen. Ihm geht es um die Entwicklung kreativ-verstehender Ansätze zur Lyrikvermittlung vornehmlich in der Schule, weshalb sein Buch für Lehrer eine unersetzliche Ergänzung jeder wissenschaftlich ausgerichteten Lyrikeinführung ist. Die von Waldmann vertretene handlungs- und produktions-orientierte Lyrikdidaktik will die Kluft zwischen analytischer Beobachtung und Textverständnis schließen, indem sie Schülerinnen und Schüler selbst Texte produzieren und dabei Erfahrungen mit lyrischen Strukturen machen lässt. Deren Effekte sollen nicht auswendig gelernt, sondern zunächst ‚erlebt‘, dann analytisch nachvollzogen und das so erworbene Wissen besser als durch ‚sture‘ Analyse gesichert werden. Waldmann liefert viele anregende Vorschläge für Arbeitsaufträge, die zu Unterrichtsentwürfen ausgebaut werden können. Das dargebotene Fachwissen entspricht akademischen Ansprüchen; störend wirkt die zuweilen mäandernde Gedankenführung.

Fazit

Der Abriss vorliegender Lyrikeinführungen lässt keinen Zweifel an deren Vielfalt bzw. Heterogenität zu. Offenbar gibt es den einen richtigen Weg, aus Lernern ‚Könner‘ zu machen, so wenig wie die eine richtige Interpretation eines Gedichts. Doch bei aller methodischen Konzilianz sollten wir uns über Eines nicht täuschen: Obwohl alle Einführungen die wissenschaftliche Lesekompetenz zum Ziel haben, ist doch das, was sich als Kompetenz abzeichnet, nicht immer dasselbe. Das Wissen, das vermittelt wird, stellt Gedichte und Autoren, deren Werk und seine Kontexte in jeweils andere Verhältnisse zur Aufgabe, daraus Fragestellungen für die eigene Arbeit zu entwickeln. Auch die Rolle des Analytikers und Interpreten wird unterschiedlich aufgefasst. Während z.B. Binder und Richartz eifrig bemüht sind, die Subjektivität des Lesers so weit wie möglich zu eliminieren, geht Gelfert gerade vom subjektiven Lesevergnügen aus, das er erhalten möchte – ohne aber deshalb ein ‚anything goes‘ zu proklamieren. Daher empfiehlt es sich, mehr als eine Einführung zu konsultieren und zu prüfen, welche Ansätze überzeugen können und welche nicht. Die vergleichende Lektüre präzisiert zugleich die Vorstellungen, die man sich vom Methoden- und Theorienpluralismus macht, den Literaturwissenschaftler sonst oft eher vage beschwören.

Einführung in die Lyrik-Analyse

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