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2.4.2 Ökonomische Gesetze
ОглавлениеDen merkwürdigen Status der Wirtschaftswissenschaften überhaupt und der Neoklassik im besonderen kann man sich gut am Begriff des Gesetzes verdeutlichen. Ob es überhaupt andere als Naturgesetze geben kann, nämlich historische und soziale Gesetze, ist eine eigene, kontroverse Frage, auf die wir uns erst am Schluss dieses Buches einlassen werden (↓ 6.3.2, S. 178). Die Wirtschaftswissenschaften unterstellen zumindest Regelmäßigkeiten, über welche sich in verallgemeinernden Aussagen sprechen lässt. Akzeptieren wir dies für den Augenblick und untersuchen den Status dieser Gesetze. Es ist dabei hilfreich, sich den historischen Ursprung der Naturgesetze, die hier Pate stehen, zu vergegenwärtigen.51 Die Rede von Gesetzen der Natur haben wir heute zwar vollkommen verinnerlicht und betrachten sie als selbstverständlich, aber es genügt eine kleine Anstrengung, um zu sehen, dass diese Rede metaphorischen Ursprungs ist. Der Begriff des Gesetzes entstammt ja offenkundig dem Rechtswesen. Ein Gesetz im ursprünglichen Sinne ist eine staatlich erlassene Regel, deren Bruch sanktioniert wird. Ein wesentlicher Unterschied zum Naturgesetz springt in die Augen: gegen Naturgesetze kann man nicht verstoßen. Im historischen Entstehenskontext der Rede von Naturgesetzen, dem 17. Jahrhundert, stellte dieser Unterschied aber keine Fehlstelle dar. Die Vorstellung von Naturgesetzen entsprang der Identifizierung der Natur mit einem idealen Staatswesen mit Gott an der Spitze. Naturgesetze waren ursprünglich also göttlich erlassene Gesetze, sie zu übertreten lässt Gottes Allmacht nicht zu. Die theologische Einfassung geriet mit der Zeit in Vergessenheit, aber die Vorstellung der Notwendigkeit und Unverletzlichkeit blieb im Begriff des Naturgesetzes enthalten.
Wie verhält es sich nun mit den Gesetzen des Wirtschaftens? Zumindest lässt sich sofort festhalten, dass sich die Art, wie die Menschen ihren materiellen Lebensprozess bewältigen, in der Menschheitsgeschichte mehrfach tiefgreifend verändert hat. Allein die europäische Geschichte hat zahlreiche Wirtschaftssysteme gesehen. Und auch der jüngere Kapitalismus hat nicht nur in seiner Geschichte etliche verschiedene Erscheinungsformen gesehen (›Manchesterkapitalismus‹, Kriegsökonomie, soziale Marktwirtschaft, Neoliberalismus …), sondern stellt sich auch in der Gegenwart als ein heterogenes System dar, dessen Brüche und innere Spannungen zu übersehen ziemlich naiv wäre. Am Phänomen der Monopolbildung beispielsweise zeigt sich ja deutlich, dass ausgerechnet die erfolgreichsten kapitalistischen Akteure die Tendenz haben, sich den kapitalistischen Marktgesetzen zu entziehen und gesellschaftliche Institutionen dem entgegenwirken müssen.
Kann man nun aus dem historischen Wandel schließen, dass es uns im Prinzip freisteht, die Gesetze des Wirtschaftens frei zu wählen? Eine solche Frage führt schnell auf metaphysisches Glatteis. Aber wir müssen sie auch nicht beantworten. Es reicht, zwei Dinge festzuhalten, die für die Sozialwissenschaften wesentlich sind: Erstens gibt es einen historischen Wandel in den Wirtschaftsystemen und ihren charakteristischen Gesetzmäßigkeiten, welcher einen Unterschied zu den Naturgesetzen markiert. Die Geltung von Gesetzen des Wirtschaftens muss offenbar auf historisch bestehende Systeme eingegrenzt werden. Und zweitens nimmt der Mensch im Studium dieser Systeme eine andere Stellung ein, als in der Beschäftigung mit der Natur. Zwar ist er in beiden Fällen Teil des Systems, welches er von Innen heraus untersuchen muss. Aber die gesellschaftlichen Systeme scheint er doch in einem ganz anderen Sinne zugleich mitzutragen. Sein Untersuchungsobjekt hängt in einem ganz anderen Sinne von ihm ab. Dies nannten wir eingangs den ›schmutzigen‹ Charakter der Sozialwissenschaften (↑ S. 8).
Betrachten wir nun noch einmal die Neoklassik, wie wir sie in diesem Kapitel kennengelernt haben, so können wir ihren merkwürdigen Charakter besser erfassen. Sie untersucht fraglos einen sozialen Prozess, aber sie stellt ihn sich als einen Naturprozess vor. Sie kann daher insbesondere nicht die Geltung ihrer Gesetze auf lokale Systeme beschränken. Man kann sich die Konsequenzen dieser Tatsache leicht vor Augen führen, wenn man sich ausmalt, was aus streng neoklassischer Perspektive beispielsweise zu einer Subsistenzwirtschaft in lokalen Kollektiven mit einem bestimmten internen, ›kulturellen‹ Verteilungsmechanismus zu sagen ist. Das erste Urteil wird lauten, dass der lokale Mechanismus im Allgemeinen keine Pareto-Effizienz garantieren kann. Was uns aber mehr interessiert, ist die darin implizit enthaltene Weigerung, die lokalen Regelmäßigkeiten überhaupt als ökonomisches Phänomen zu akzeptieren. Aus der Perspektive der Neoklassik gelten ihre ökonomischen Gesetze immer und überall, nur dass sie im vorliegenden Fall von kulturellen Faktoren vollständig überformt sind. Wie an jenem Ort Menschen im Umgang mit begrenzten Ressourcen und gegebenen Technologien planmäßig ihre Bedürfnisse erfüllen – so ja die Definition des Wirtschaftens – ist für die Neoklassik überhaupt kein ökonomisches, sondern ein kulturelles Phänomen, dessen Studium sie an eine Nachbardisziplin weiterreichen möchte. Wirtschaft wird für sie erst zu Wirtschaft, wenn sie marktförmig, also gemäß den Marktgesetzen geschieht.