Читать книгу Afrikanische Europäer - Olivette Otele - Страница 3

EINLEITUNG

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Über Schwarze Lebensgeschichten und Erfahrungen in ganz unterschiedlichen geografischen Kontexten sind bereits unzählige wertvolle Bücher geschrieben worden.1 Allerdings behandelt nur ein relativ geringer Teil von ihnen speziell die Erfahrungen von Menschen afrikanischer Abstammung im Europa vor den Weltkriegen. Zwar sind eine Handvoll individueller Lebensschilderungen am Rande in die europäische Geschichtsschreibung integriert worden, diese stehen aber zumeist in Verbindung mit der Geschichte der Versklavung oder mit kolonialen Begegnungen ab dem 15. Jahrhundert. Die bisher veröffentlichten Arbeiten kombinieren den Begriff »Schwarze Präsenz« oftmals mit einem spezifischen geografischen Gebiet. Von der »Schwarzen Präsenz in Europa« bis zur »Schwarzen Präsenz in Wales« skizzieren diese Werke das Leben von Menschen afrikanischer Abstammung an den jeweils genannten Orten.2 Außerdem handeln die verfügbaren Bücher häufig von bekannten Männern und Frauen. Selbstverständlich verdienen solche Individuen Forschung, und die Biografien liefern interessante Interpretationen und werfen ein neues Licht auf ihre Lebensgeschichten. Beispielsweise widmeten sich in den letzten Jahrzehnten mehrere Werke ehemals versklavten Personen. Von Olaudah Equiano bis Mary Prince, die beide in Großbritannien lebten, scheint der Fokus dabei auf Abolitionist*innen des 18. Jahrhunderts und ihren Verbindungen zu verschiedenen anderen gesellschaftlichen Gruppen zu liegen.

Schwarze Abolitionist*innen und andere Schwarze Männer und Frauen wurden betrachtet in Bezug auf ihre Rollen als Modelle für berühmte Gemälde oder als Bedienstete, die in der Reiseliteratur und anderen künstlerischen Werken auftauchen. Werden diese Männer und Frauen individuell untersucht, dann erscheinen sie generell als Ausnahmefiguren, deren Leben durch komplexe Begegnungen mit europäischen Menschen transformiert wurden. In solchen Berichten wird ihre »Einzigartigkeit« als plausible Erklärung für ihren Ruhm angegeben. Einige dieser Geschichten sollen aufgrund ihres außergewöhnlichen Beitrags zu den europäischen Gesellschaften überlebt haben. Über weitere Aspekte ihres Lebens, wie etwa die enge Verbindung, die sie zu anderen Menschen afrikanischer Abstammung gehabt haben mochten, wurde dagegen nur wenig bekannt gemacht. Manche Geschichten sind dem Vergessen anheimgefallen oder in ihrer Bedeutung unterschätzt worden. So werden etwa der afrikanische Widerstand gegen die Versklavung an den afrikanischen Küsten oder der Kampf gegen den transatlantischen Sklavenhandel in Afrika in Werken über die Versklavung in der europäischen Kolonialgeschichte kaum erwähnt. Dabei war Widerstand nichts Ungewöhnliches, die Beispiele umfassen etwa die beeindruckende Geschichte der Königin Nzinga im 17. Jahrhundert, die zahlreichen Sklavenrevolten auf den Schiffen entlang der afrikanischen Küsten und die Sabotage des Plantagenlebens durch Maroons und versklavte Menschen, die in der Nähe ihrer Herren lebten. In der Geschichte des Schwarzen Widerstands gegen die Versklavung gibt es ein Kontinuum, das einen Bestandteil dessen darstellt, was Cedric J. Robinson als die »Wurzeln des Schwarzen Radikalismus«3 begreift. Laut Robinson brachte der Westen Schwarze Körper durch Gewalt unter seine Kontrolle, um Reichtum zu schaffen, zugleich kündigte sich damit jedoch auch das Ende der kapitalistischen Staaten an. Tatsächlich sei in die Mittel zur Anhäufung von Reichtum die Saat der Zerstörung bereits eingebettet gewesen.

Jene Schwarzen Figuren, an die erinnert wird, sind ihm zufolge immer nur ein Teil der größeren Geschichte des Kampfes gegen die Ausbeutung. Die Verbindungen zwischen diesen verschiedenen Geschichten sind in Vergessenheit geraten, da die physische Unterwerfung nicht nur von einem Umschreiben der Geschichte der Unterdrücker begleitet wurde, sondern auch die Geschichte der Unterdrückten prägte. Robinson untersucht, auf welche Weise bestimmte Geschichten übersehen worden sind – selbst solche, die bereits lange vor der transatlantischen Sklaverei von wichtigen Denkern enthüllt wurden. So erinnerte sich etwa der klassische Historiker Herodot an Begegnungen mit Äthiopiern und Kolchern, von denen er glaubte, sie stammten von den Ägyptern ab.4 In Robinsons Analyse stellen jene Begegnungen fehlende Puzzleteile dar, die zwar von Historiker*innen aufgezeichnet wurden, jedoch im Globalen Norden der Moderne und Gegenwart größtenteils unerzählt blieben. Am Beispiel der amerikanischen Sklaverei demonstriert Robinson ebenfalls, wie frühe europäische Reisende die gesellschaftlichen, kulturellen und agrarwirtschaftlichen Systeme protokollierten, die sie in Gegenden von Westafrika sahen. Dennoch prägte im 18. Jahrhundert das Narrativ von den unkultivierten »Negroes« die Ideologie der Kolonialisten. Robinson bemerkt, »die Zerstörung der afrikanischen Vergangenheit« sei ein Prozess gewesen, der mehrere Stadien durchlief.5 Beispielsweise spielte die Namensgebung eine wichtige Rolle im Prozess der Auslöschung. »Das Konstrukt des Negro verwies, anders als die Begriffe ›Afrikaner‹, ›Maure‹ oder ›Äthiopier‹, auf keine Situiertheit in der Zeit, also der Geschichte, oder im Raum, also der Ethno- oder politischen Geografie. Der Negro verfügte über keine Zivilisation, keine Kultur, keine Religion, keine Geschichte, keinen Raum und schließlich keine Menschlichkeit, die hätte berücksichtigt werden müssen.«6 Robinson weist darauf hin, dass »die Erschaffung des Negro, die Fiktion eines unintelligenten Lasttiers, geeignet ausschließlich zur Versklavung, in einem engen Zusammenhang stand mit den ökonomischen, technischen und finanziellen Erfordernissen der westlichen Entwicklung vom 16. Jahrhundert an«.7 Afrikaner*innen, die wertvoll genug waren, um erinnert zu werden, waren jene, die demgegenüber als Ausnahmen galten.

Die Vorstellung des Exzeptionalismus ist allerdings dennoch ein interessantes Werkzeug, um Geschichte zu verstehen. Mit ihm lässt sich in der Historiografie Aufschluss über Entwicklungen geben, in denen sich Klasse, Gender, Religion, race und so weiter überschneiden. Ein Fallstrick dieses Begriffs liegt gleichwohl in der ihm impliziten Behauptung, eine Geschichte, ein Umstand oder eine Figur stünde über einer anderen. Allerdings können diese Vergleiche, wie Philippa Levine argumentiert, Platz schaffen für transnationale, interkulturelle Analysen, die dazu beitragen mögen, zwischen verschiedenen Geschichten und Ländern Brücken zu bauen, um gegensätzliche Ideen zu vereinen.8 Das Problem liege stattdessen vielmehr in den verallgemeinernden Aspekten, die viele vergleichende Studien begleiten und die implizieren, wir zögen unsere Lehren aus den Geschichten aufgrund von Leitprinzipien, die wir angeblich alle teilten. Nach Levine versucht der Exzeptionalismus an mancher Stelle, eine Geschichte, einen Kontext oder eine Figur zu »humanisieren«, wie man beispielsweise an Niall Fergusons Darstellungen des British Empire sehen kann. Ebenso kann er eine Geschichte »dämonisieren«, wie Studien zu Diktatoren wie Hitler zeigen.9 Gleichwohl ist die Anziehungskraft der Einzigartigkeit unbestreitbar, wenn man der großen Anzahl von Büchern Glauben schenken darf, die ihre Schilderungen als einzigartige Darstellungen spezifischer regionaler, nationaler oder globaler Aspekte von Geschichte präsentieren.

Die Vorstellung von Einzigartigkeit spielt auch eine wichtige Rolle in Untersuchungen von race, Rassismus und race-Beziehungen. Laut Dienke Hondius stellt der Exzeptionalismus das letzte von fünf Mustern dar, die die europäische Geschichte von race und race-Beziehungen prägten. Ihr zufolge entwickelte sich Europa von »Infantilisierung, Exotismus, Bestialisierung, Distanzierung und Ausgrenzung zu Exzeptionalismus«.10 Indem die Infantilisierung postulierte, Afrikaner und Asiaten seien im Grunde Kinder, brachte sie die stark diskutierte Vorstellung des »Paternalismus« hervor, der zufolge Afrikaner betreut oder gar vor sich selbst und ihresgleichen beschützt werden müssten – und die etwa in Rechtfertigungen der Sklaverei im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts Anwendung findet.11 Exotismus wiederum stand im Zusammenhang mit der europäischen Faszination für Unterschiede und für Schwarze und Braune Körper, Gedanken und Kulturen. Ebenso wichtig war in der Geschichte der europäischen Hierarchisierung außereuropäischer Gesellschaften die Vorstellung von Bestialität, die im Zusammenspiel mit den beiden vorherigen angeblichen Eigenschaften wirkte. Sowohl die Anziehungskraft des als exotisch wahrgenommenen Körpers als auch die Angst, die er auslöste, waren mit dieser Idee von Rohheit verwoben. Afrikaner wurden gleichgesetzt mit wilden Tieren, ungezähmt und gewalttätig. Assoziiert mit dem Bösen, müssten Afrikaner »domestiziert« werden, damit die Europäer, die mit ihnen in Kontakt kämen, sich sicher fühlen und auch sicher sein könnten. Undomestiziert gelte es, sie auf sicherer Distanz zu halten, möglichst fern von Europa.

In diesem Kontext muss der Exzeptionalismus gemeinsam mit anderen Aspekten betrachtet werden, wie etwa mit der Beziehung zwischen Afrikaner*innen und Europäer*innen und mit dem Afrikaner*innen aufgezwungenen europäischen Blick. Der Exzeptionalismus wirft mehrere Fragen dazu auf, wessen Ansichten den Entwicklungsverlauf einer Gruppe prägten und wessen Position zu race und Rassismus den gesellschaftlichen Status bestimmter Afroeuropäer*innen festlegte. Mit einem Verweis auf den afroamerikanischen Schriftsteller Richard Wright stellt Hondius fest: »Rassismus ist hauptsächlich ein weißes Problem, da Weiße die Bedingungen schufen, durch die der Diskurs über race erst aufkam und weiter fortbesteht«.12

Das Leben bestimmter Bevölkerungsgruppen in einem sorgfältig verpackten und wiedererkennbaren Wort wie »Empire« zusammenzufassen oder die eigene Fallstudie auf das Leben eines Individuums zu stützen, hilft uns zu verstehen, dass Exzeptionalismus so spezifische wie komplexe Kontexte umfasst. Das Erkennen dieser Kontexte ermöglicht in den historischen Darstellungen eine umfassende Analyse all der Scheidewege und Unterbrechungen und schafft außerdem Platz für die Untersuchung lokaler und internationaler Entwicklungen. Exzeptionalismus ermöglicht eine ausführliche Auswertung der Spannungen zwischen dem Vergessenen, das am Rande des Diskurses lauert (jene verdrängten oder unerzählten Geschichten), und der Art der Präsentation und Vermittlung von Geschichte aus unterschiedlichen gesellschaftlichen, kulturellen und selbstverständlich politischen Gründen.

Ausnahmegeschichten erfüllen einen Zweck in der Konstruktion von Identitäten. Im Fall der in diesem Band vorgestellten Geschichten von Afroeuropäer*innen sind sie die Ausnahme, weil sie dem Vergessen getrotzt haben und in europäische Berichte aufgenommen wurden. Allerdings existierten viele dieser Geschichten bereits außerhalb der europäischen Hagiografien. Einige bildeten das Herzstück von Schilderungen aus hebräischen, arabischen und aramäischen Zivilisationen. Eine Unmenge jener Geschichten informiert uns über die Natur und das Erbe von Begegnungen zwischen unterschiedlichen Welten. Die folgenden Kapitel reichen von wohlbekannten Individuen, die häufig als einzigartig aufgefasst werden, bis hin zu jenen Kontexten, die Gelegenheit für die Anerkennung und gar das Feiern dieser Individuen boten. Teilweise folgen diese Geschichten einer chronologischen Ordnung, in anderen Fällen erkundet die Erzählung moderne und gegenwärtige Erfahrungen an einem bestimmten Ort, ehe sie frühere Geschichten von Menschen afrikanischer Abstammung in demselben Land oder in derselben Stadt betrachtet. Der chronologische Ansatz hilft uns, historische Veränderungen in ganz Europa und ihre Auswirkungen auf Afroeuropäer jener Zeit zu verstehen, oder auch, wie diese Gruppen von Menschen dazu beigetragen haben könnten, spätere Mentalitäten zu prägen. Die Entscheidung, sich auf bestimmte Orte, Individuen oder Gruppen zu konzentrieren, wurde diktiert von der Zugänglichkeit von Quellen und von der Relevanz dieser Geschichten für heutige Fragen interkulturellen Zusammenwirkens, von Identität und so weiter. Die Episoden reichen vom 3. bis zum 21. Jahrhundert. Dieses Buch basiert auf dem Wissen jener, die zu verschiedenen Aspekten der Lebensgeschichten von Menschen afrikanischer und europäischer Abstammung geforscht haben, und fügt diese Studien auf eine umfassende und neuartige Weise zusammen, die darüber hinausgeht, die Schwarze Präsenz in Europa zu kartografieren, um so in Themen wie Identität, Staatsbürgerschaft, Resilienz und Menschenrechte einzutauchen. Afroeuropäer*innen werden als Reisende definiert und wahrgenommen. Sie sind Weltbürger*innen, was manche Menschen dazu veranlasst hat, sie zu beschuldigen, »Bürger von Nirgendwo«13 zu sein.

Menschenrechte und Staatsbürgerschaft scheinen auf den ersten Blick moderne Konzepte zu sein. Die Rechte von Männern und später die von Frauen sind jedoch von jeher an bestimmte Bedingungen geknüpft gewesen. In Europa ist die Geschichte der Rechte eng verbunden mit politischen, ökonomischen und philosophischen Entwicklungen. Vom antiken Griechenland bis zur Reconquista übte die Frage nach Rechten immer wieder Einfluss auf die europäische Geschichte aus. Doch vom 15. Jahrhundert an, als Europa sich langsam vom Feudalismus entfernte, erwuchs aus ihr ein drängendes Problem. Mit der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 musste Frankreich die stattgefundene Veränderung und die Forderung der Bevölkerung nach mehr Rechten und Freiheiten anerkennen, worauf auch der Rest Europas rasch folgte. Besonders relevant in dieser Geschichte der Menschenrechte und der Staatsbürgerschaft ist die Frage nach den Rechten außereuropäischer Menschen, deren Körpern lediglich als Werkzeugen zur Erschaffung von Wohlstand Relevanz zugesprochen wurde. Versklavte und afrikanische Körper, die in europäischen Städten kaum geduldet wurden, warfen die Frage nach Zugehörigkeit, Identität und Freiheit auf, wie wir in den nächsten Kapiteln sehen werden. Bei Afrikanern, die in Europa ein gewisses Maß an Freiheit genossen, ging man davon aus, dass sie ihre Rechte und Privilegien verdient oder gewährt bekommen hatten, was sie zu Ausnahmeerscheinungen machte, die sich exklusiver Rechte erfreuen konnten. In einigen Fällen führte diese Exklusivität dazu, in die Mehrheitsgesellschaft aufgenommen zu werden, in anderen sicherte die Anerkennung ihrer Existenz jenen Afroeuropäern jedoch keine allseitige Akzeptanz. Akzeptanz wurde wiederum manchmal durch einen Prozess erreicht, der von ihnen verlangte, ihr Erbe oder eines ihrer Elternteile zu verleugnen. Doch auch dies führte nicht immer zur Inklusion, wie die Erfahrungen zahlreicher Afroeuropäer in Frankreich demonstrieren.

Fragen von Inklusion und Akzeptanz stehen auch in Verbindung mit Themen der Staatsbürgerschaft und mit Integrationsmodellen für Minderheiten in Europa. Frankreichs Assimilationsmodell etwa unterbindet institutionalisierten Rassismus nicht und ändert auch keine rassistischen Mentalitäten auf individueller Ebene. Tatsächlich basiert das französische Assimilationsmodell auf Ansichten, die anti-rassialistisch sind, wie David Theo Goldberg betont:

Antirassismus erfordert ein historisches Gedächtnis, eine Erinnerung an die Bedingungen der rassifizierten Erniedrigung und eine Verknüpfung heutiger mit historischen und lokaler mit globalen Umständen. Wenn ein antirassistisches Engagement Gedenken und Erinnern erfordert, dann legt Antirassialismus Vergessen nahe, ein Darüberhinwegkommen und Weitermachen, ein Wegwischen der Bezeichnungen, bestenfalls (oder schlimmstenfalls) das kommerzialisierte Gedenken anstelle einer Aufarbeitung und Wiedergutmachung der Bedingungen von Erniedrigung und Entwertung.14

Die Erfahrungen von Afroeuropäern in Bezug auf Staatsbürgerschaft und Menschenrechte variieren stark und werden von verschiedenen historischen, gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Umständen beeinflusst. Verbunden mit diesen Ideen ist eine Vorstellung von Identität, die von Schwankungen anderer Vorstellungen, wie etwa race, Erbe und Kultur, über Zeit und Raum hinweg abhängt. Demzufolge variiert auch die in diesem Buch verwendete Terminologie. Ich werde Begriffe benutzen und zitieren wie etwa Afrikaner, Negroes, Afroamerikaner, Afroeuropäer, mixed race, dual heritage und so weiter; nicht als austauschbare und zeitlose Kategorien, sondern als Wörter, die an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten in der Geschichte Bedeutung tragen.

Der Begriff »Afroeuropäer« ist daher eine Provokation für all jene, die leugnen, dass ein Mensch mehrere Identitäten und sogar Staatsbürgerschaften haben kann, sowie für jene, die behaupten, »farbenblind« zu sein. Er ist auch eine herausfordernde Einladung, neu zu denken, wie wir europäische und afrikanische Geschichten nutzen und lesen und wie wir Begriffe wie Staatsbürgerschaft, gesellschaftlicher Zusammenhalt und Brüderlichkeit definieren, die die Grundlage der heutigen gesellschaftlichen Werte in Europa bilden. Außerdem hinterfragt er die Verwendung solcher Begriffe als Werkzeuge zur Ausgrenzung verschiedener Gruppen. In Europa lebende Afroeuropäer*innen stehen am Scheidepunkt verschiedener sich kreuzender Identitäten. Ebenso angemessen wäre es gewesen, den Begriff »Euroafrikaner*innen« zu verwenden, um auf Menschen afrikanischer Abstammung zu verweisen, die in Europa geboren wurden, aber die meisten von ihnen werden von anderen oder auch von sich selbst als Erstes über ihre Verbindung mit dem afrikanischen Kontinent definiert. Diese Verknüpfung und Identifikation wird in den folgenden Kapiteln näher untersucht. Dieses Buch hat sich zum Ziel gesetzt, über die Zeit und den Raum gespannte Verbindungen zu verstehen, hartnäckige Mythen zu widerlegen und das Leben von Afroeuropäer*innen wiederzuerwecken und zu feiern.

Kapitel eins stellt Verbindungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart her, indem es die Geschichte der Begegnungen zwischen Römern und Meroiten, Ägyptern und Äthiopiern in den mediterranen Regionen untersucht. Damit wird ein Licht auf die Vorstellungen des Christentums über arabisch-muslimische Welten und die in den religiösen und ethnischen Identitätskonstruktionen zum Tragen kommenden Dynamiken zwischen dem Jahr 20 vor unserer Zeitrechnung und dem 17. Jahrhundert geworfen. Diese Dynamiken erlaubten es Afroeuropäern wie dem heiligen Mauritius, der Königin von Saba, Kaiser Septimius Severus und anderen, weniger bekannten Individuen, in unterschiedlichen Welten zu existieren.

In Kapitel zwei reisen wir weiter in der Zeit entlang der Mittelmeerküste und entdecken, dass das südliche Europa im 16. Jahrhundert eine beträchtliche Schwarze Bevölkerung aufzuweisen hatte. Einige von ihnen, wie der erste Herzog von Florenz, Alessandro de’ Medici, kamen zu Ruhm, während andere ihr Dasein in Unterwerfung fristeten. Auch wenn einzelne Individuen in Freiheit lebten, war die große Mehrheit versklavt und arbeitete in den ländlichen Gegenden von Italien oder Spanien oder als Hausdiener in wohlhabenden Haushalten. Indem wir anhand des Lebens von Juan Latino und anderen, oftmals namenlosen versklavten Männern und Frauen analysieren, wie verschiedene Gruppen im Europa der Renaissance miteinander interagierten, lässt sich zeigen, wie Konzepte wie Rassismus und Rassialismus konstruiert wurden.

Kapitel drei untersucht das Leben von Afroeuropäern in West- und Mitteleuropa. Europa florierte im 16. und 17. Jahrhundert durch den Handel, und die Beteiligung Westeuropas am transatlantischen Sklavenhandel und an der Plantagensklaverei prägte die Beziehungen zwischen Afrika, Europa und Amerika. Bis zum 18. Jahrhundert hatte der europäische Wettbewerb um Waren und Sklavenmärkte die Beziehung zwischen Europa und Afrika transformiert, wie das Leben des afroniederländischen Geistlichen Jacobus Capitein beispielhaft verdeutlicht. Das 18. Jahrhundert war eine Zeit, in der die Schwarze Präsenz streng kontrolliert und eine wissenschaftliche Klassifizierung verschiedener Spezies herangezogen wurde, um eine rassifizierte Hierarchie zu begründen. Darüber hinaus war es die Ära, in der Schlüsselfiguren wie Joseph Bologne, Chevalier de Saint-Georges, auftraten und solche Klassifizierungen infrage stellten.

In Kapitel vier richten wir unsere Aufmerksamkeit auf jene, die in Afrika mit afrikanischem und europäischem Elternteil geboren wurden, und auf die Rolle Schwarzer Frauen bei der Herausbildung von Identitäten. Dieses Kapitel behandelt Geschlechterrollen und Handelsinteressen in afrikanischen Küstenstädten. Es untersucht, wie verschiedene europäische Händler sich niederließen, ein Vermögen anhäuften und Kinder von doppelter, afroeuropäischer Abstammung hinterließen. Außerdem analysiert es das Verwischen rassifizierter Hierarchien und Grenzen an Orten, an denen eine europäische Abstammung große ökonomische und gesellschaftliche Vorteile bot, exemplarisch dargestellt am Leben der Signaren in Gorée und Saint Louis in Senegal und der Ga-Frauen in Ghana. Zusätzlich erkundet das Kapitel die Vermächtnisse dieser Geschichten in der heutigen dänischen Gesellschaft.

Kapitel fünf widmet sich den Territorien Brandenburgs als Beispiel für eine historische Amnesie und betrachtet die Prozesse, die zum Erinnern und dann Vergessen der Vergangenheit dieser Region führten und die Deutschland damit gestatteten, sich selbst als »unbefleckt« vom Sklavenhandel darzustellen. Die deutsche Kolonisation Afrikas und insbesondere Kameruns ist allerdings gut dokumentiert, und diese Aufzeichnungen geben uns die Möglichkeit, die Geschichten von Afroeuropäern wie Manga Bell auszuwerten. Afroeuropäische Geschichten sind transkontinental, und es ist wichtig zu sehen, wie sie mit den Geschichten von bedeutenden afroamerikanischen und in der Karibik, in Senegal oder Deutschland geborenen Individuen verwoben sind.

Kapitel sechs befasst sich mit den Wegen von Afroeuropäer*innen im 20. und 21. Jahrhundert und vergleicht die Erfahrungen von Afroitaliener*innen und Afroschwed*innen, insbesondere in Bezug auf die Frage der Staatsbürgerschaft. Das Kapitel setzt seine Erkundung afroeuropäischer Geschichten fort, indem es bekannte Persönlichkeiten wie Abraham Petrowitsch Hannibal und Alexander Puschkin in Russland betrachtet und darlegt, dass Verbindungen zu Afrika keinen positiven gesellschaftlichen Blick auf die Fragen von race und interethnischem Zusammenwirken mit sich bringen mussten. Das Kapitel endet mit einem Beispiel für Widerstand und Resilienz von Afroeuropäer*innen im 20. und 21. Jahrhundert: dem afroniederländischen Wissenschafts- und Graswurzelaktivismus.

Kapitel sieben reflektiert, wie Identitäten und Identitätsmarker im heutigen Europa funktionieren. Das Kapitel führt verschiedene Konzepte zusammen, wie etwa race, Rassismus, Rassialismus, Staatsbürgerschaft, Schwarze radikale Befreiung und Aktivismus. Es betrachtet, inwiefern Gender und insbesondere der Afrofeminismus eine wichtige Rolle bei der Herausbildung afroeuropäischer Identitäten spielen. Außerdem beleuchtet es, wie organisierte Räume geschaffen werden, um zu heilen und Strategien für den Kampf gegen soziale Ungleichheiten zu entwerfen. Dieses Kapitel wirft ein Licht auf die Diskrepanzen innerhalb der Europäischen Union im Umgang mit Diskriminierung, dargestellt am Beispiel von Polizeikontrollen in Spanien oder den Erfahrungen von Afrogriech*innen. Daraufhin würdigt es die umfassende Arbeit, die in Großbritannien zum Thema Afroeuropäer*innen geleistet wurde, und die verschiedenen Wege Schwarzer Briten*innen im 21. Jahrhundert, gegen rassistische Diskriminierung, Ungleichheit und Marginalisierung anzukämpfen. Das Kapitel endet mit der Betrachtung von Gemeinsamkeiten in den Geschichten von Afroeuropäer*innen und zeigt, auf welch unterschiedliche Weise diese in transnationale, europäische, afrikanische und amerikanische Geschichten eingebettet sind.

Während sie Erzählungen von Begegnungen, Erfahrungen und Identitätsbildung aus der Vergangenheit aufdecken, berichten diese Episoden uns auch von den kreativen und rasch hervorgebrachten Antworten der verschiedenen Communitys auf negative Auffassungen gegenüber Menschen afrikanischer Abstammung im Globalen Norden des 21. Jahrhunderts. Heute bauen Afroeuropäer*innen unentwegt transnationale und transkontinentale Allianzen auf, die auf kraftvolle Weise inklusiv sind. Afroeuropäer*innen der Generation Z brennen darauf, die ermächtigenden Geschichten ihrer Vorfahr*innen wiederzubeleben. Sie suchen aktiv nach diesem Wissensschatz, indem sie in virtuellen Lernräumen, Onlinedebatten, Social Media und so weiter aktiv sind. Darüber hinaus erzeugen sie neue Narrative der Resilienz und stürzen sich in einen Aktivismus, der zum Handeln drängt gegen den Klimawandel, für die Gleichstellung der Geschlechter und LGBTQ-Rechte sowie für den Abbau von Rassismus, Islamophobie, Antisemitismus und anderen Formen der Diskriminierung.

Diese Energie und aktive Beteiligung am Kampf für soziale Gerechtigkeit erreichten mit der überwältigenden weltweiten Reaktion auf die Ermordung des Afroamerikaners George Floyd im Mai 2020 einen neuen Höhepunkt. Die von Black Lives Matter angeführten Massendemonstrationen und die darauffolgenden Debatten über Rassismus haben sowohl die Notwendigkeit, das Wissen über die Geschichten von Menschen afrikanischer Abstammung auszuweiten, als auch die Dringlichkeit betont, mit der wir den Unterricht über Kolonialgeschichte im Globalen Norden überarbeiten müssen.

Afrikanische Europäer versteht sich als eine Antwort auf diese Bedürfnisse. Es möchte zahlreiche Geschichten als Ausgangspunkte liefern, um mehr über die Vergangenheit zu erfahren und rassistische Unterdrückung in der Gegenwart abzubauen. Das Buch demonstriert, welch machtvolle, vorwärtsweisende Praxis das interkulturelle Engagement für den Kampf gegen Diskriminierung darstellt. Vor allen Dingen zelebriert es lange zurückreichende Geschichten – afrikanische, europäische und globale – von Zusammenarbeit, Migration, Resilienz und Kreativität, die jahrhundertelang unerzählt geblieben sind.

Afrikanische Europäer

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