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1 FRÜHE BEGEGNUNGEN Von Pionieren bis zu Afrorömern

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Das heutige Äthiopien versammelt diverse Geschichten von Exil oder Migration, die über Jahrhunderte zurückreichen. Allerdings kennt man unter Forschenden und Studierenden heute vor allem jene Geschichten, die entweder mit den Königreichen und der Kolonisation oder mit Äthiopiens Rolle in den Weltkriegen im Zusammenhang stehen. Darunter befinden sich auch Geschichten über die italienisch-äthiopischen Kriege. Das Exil des Kaisers Haile Selassie ist ein Beispiel für eine Kolonialgeschichte, die zu einer europäischen Lokalgeschichte wurde – in diesem Fall bezogen auf die englische Stadt Bath in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Italienische und abessinische Streitkräfte zogen im Oktober 1935 gegeneinander in den Kampf, und 1936 wurde die Hauptstadt Äthiopiens, Addis Abeba, von Italiens faschistischen Truppen besetzt. Der regierende Kaiser Haile Selassie musste das Land im selben Jahr verlassen und blieb bis 1941 im Ausland. Selassie ließ sich in Bath nieder und machte die Stadt für einige Jahre zu seinem Zuhause. Man könnte behaupten, er sei für eine Weile zu einem adoptierten Afroeuropäer geworden. Seine Verbundenheit mit Bath war so groß, dass er anlässlich seiner Rückkehr nach Äthiopien seinen Wohnsitz Fairfield House an die Stadt übergab, damit die lokale Community ihn nutzen konnte. Dieses positive Beispiel eines afroeuropäischen Zusammenwirkens ist in Großbritannien in guter Erinnerung geblieben, insbesondere bei der britischen Rastafari-Community in Bath und dem Rest des Landes.15 Diese Gemeinschaft ist zusammen mit den Menschen, die in der unmittelbaren Nachbarschaft des Hauses leben, maßgeblich daran beteiligt, Haile Selassies Haus, seine Geschichte und die Erinnerung an ihn zu bewahren. Die Verbindungen zwischen dem heutigen Äthiopien und Europa – insbesondere Italien – wurden jedoch schon lange vor den Kolonialkriegen im 19. und 20. Jahrhundert geknüpft. Diese Geschichte begann mit der Beziehung zwischen Meroe und Ägypten, speziell zwischen äthiopischen Königinnen und Ägyptens römischem Statthalter im Jahr 23 vor unserer Zeitrechnung.

Die Geschichtsschreibung über das antike nubische Königreich Kusch und seine Hauptstadt Meroe belegt deutlich, dass viele der Begegnungen, die vor Jahrhunderten zwischen Europa und Afrika stattfanden, alles andere als friedlich verliefen. Der griechische Geograf Strabon von Amaseia (ca. 62 vor unserer Zeitrechnung bis 24 unserer Zeitrechnung), Autor der siebzehnbändigen Geographika, die Geschichte und Topografie Tausender Orte umfasst, ist einer der wenigen Erzähler, deren Werk uns detaillierte Schilderungen der Beziehungen zwischen den Kuschiten und dem Römischen Reich liefert. Einer von Strabons in dieser Hinsicht wichtigsten Beiträgen betrifft die Kandaken (oft bekannt als Königinnen von Äthiopien), die gegen die römische Invasion kämpften. In einem seiner Bände schildert er auf bemerkenswerte Weise, wie der Römer Gaius Petronius zum Angriff auf die Stadt Napata, dem königlichen Sitz der Kandake, schritt, nur um festzustellen, dass sie diesen bereits für einen sichereren Stützpunkt verlassen hatte.16 Begleitet von einer Armee aus Tausenden Männern unternahm die Kandake einen Angriff auf die römische Garnison, aber Petronius konnte die Invasion verhindern, indem er die Festung besetzte und sicherte, ehe die Königin und ihre Armee darüber herfielen. Lokale Inschriften haben gezeigt, dass es sich bei dieser Königin aller Wahrscheinlichkeit nach um Amanirenas (regierte ca. 40 bis 10 vor unserer Zeitrechnung) handelte. Von Strabon erfahren wir, dass die Kuschiten römische Siedlungen in Ägypten bedroht hatten. Vor diesem Angriff war es Amanirenas mit Unterstützung des kuschitischen Prinzen Akinidad gelungen, die römischen Truppen in der Stadt Syene und auf den Inseln Elephantine und Philae zu besiegen. Als Reaktion darauf hatte Petronius die Festungsstadt Premnis besetzt und eine Burg erobert, ehe er auf Amanirenas’ Armee traf.

Es folgte eine bemerkenswerte Reihe von Verhandlungen, in deren Verlauf die Kuschiten Gesandte schickten, um sich mit den Römern auseinanderzusetzen. In diesen forderte Petronius, dass die umgestürzte Caesarenstatue wiedererrichtet würde. Irgendwann kapitulierten die Kuschiten. 21 bis 20 vor unserer Zeitrechnung unterzeichneten sie schließlich ein Friedensabkommen. Diese Begegnungen demonstrieren, dass das Römische Reich in bestimmten Teilen des afrikanischen Kontinents gut etabliert war und man die Bewohner*innen dieser Gebiete als Afroeuropäer bezeichnen könnte. Die Episode mit Amanirenas zeigt auch, dass das Machtverhältnis nicht konstant zugunsten des Römischen Reiches ausfiel.

Was Geschlechterrollen angeht, stellen die Geschichten über die Kandaken bestimmte Annahmen infrage. Die Kandaken hatten die meroitischen Königreiche stets tapfer und genauso erbittert verteidigt wie Könige. Auch wenn der Begriff »Kandake« sich auf die Mutter eines Thronerben oder auf eine königliche Ehefrau bezieht, waren diese Frauen selbst Kriegerinnen. Neben Strabons Bericht über Amanirenas finden sich weitere Geschichten in den Schriften des griechischen Historikers Cassius Dio und im Alexanderroman.17 Amanirenas war bei Weitem nicht die einzige Kandake, die bis zum Letzten für die Integrität ihrer Königreiche kämpfte. Die darauffolgenden Kandaken von Kusch, Amanishakhete und Amanitore, traten in ihre Fußstapfen.

Diese Geschichten liefern uns Erkenntnisse darüber, wie die Beziehung zwischen Europa und Afrika im Laufe der Zeit in Gegenden aufgebaut wurde, in denen keine strikte Abgrenzung zwischen den beiden Kontinenten vorherrschte. Der Begriff »Europa« wurde von Händlern, Soldaten und Wissenschaftlern benutzt, wenn diese auf ihre Reisen in verschiedene Gebiete verwiesen, die unserem modernen Verständnis des Kontinents grob entsprechen. Er kam im 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung auf und umfasste auch die Regionen rund um die Ägäis. Das Wort »Afrika« hat viele mögliche Etymologien, aber eine der frühsten Verwendungen datiert auf 146 vor unserer Zeitrechnung, als es in dem Begriff »Africa Proconsularis« auftauchte. Dieser bezeichnete eine römische Provinz im heutigen Tunesien, Algerien und Libyen. Der Disput um die Etymologie des Wortes ist deshalb von Bedeutung, weil der Begriff auf einen Stamm zurückgehen soll, der im Norden des Kontinents, auf dem Gebiet des heutigen Libyens, lebte. Wenn das zutrifft, erscheint die von mehreren Gelehrten vorgetragene Hypothese über den lateinischen oder griechischen Ursprung des Namens ideologisch zweifelhaft und romano- oder grecozentrisch. Ungeachtet solcher Debatten definierten die wirtschaftlichen, kriegerischen und politischen Kooperationen, durch die die Bevölkerungen dieser Kontinente miteinander in Kontakt traten, allesamt die geografischen Grenzen ihrer Welt. Sie prägten auch die Wege der verschiedenen historischen Figuren in diesem Buch.

Wenn wir die Geschichte dieser Orte und ihrer Bewohner*innen studieren, nimmt die in dieser Forschung stets präsente Frage nach dem Anderssein unterschiedliche Formen an. Dabei spielen Anderssein und othering (»Verandern«) bei der Abgrenzung geografischer Räume eine wichtige Rolle. Die Regionen, die als Lateinischer Westen bekannt waren, worunter Nordwestafrika, Gallien und Italien fielen, umfassten auch mehrere muslimische Gesellschaften. Im 11. Jahrhundert hatte man diese Gesellschaften jedoch zu Einheiten gruppiert, die die Vielfalt ihrer Glaubensrichtungen und gesellschaftlichen Praktiken verschleierten. Geraldine Heng merkt an, dass zwar Namen wie Agarener, Ismaeliten, Mauren und Sarazenen verwendet wurden, um Araber zu bezeichnen, christliche Araber jedoch nicht auf dieselbe Weise definiert wurden. Der Begriff »Sarazenen« erhielt sich über die Jahre und wurde zusehends mit negativen Eigenschaften belegt.18 Heng behauptet, jene, die aufgrund ihrer Religion als Sarazenen kategorisiert wurden, hätten ihrerseits nicht mit der Homogenisierung aller Christen reagiert, sondern stattdessen die Diversität der vom Christentum geprägten Regionen und Gesellschaften anerkannt. »Die islamische Historiografie in arabischer oder in einer anderen Sprache scheint weiterhin territoriale, nationale und ethnische Unterschiede abgegrenzt zu haben, wenn sie die Europäer als ›Römer, Griechen, Franken, Slawen‹ und so weiter bezeichnete.«19

Der nächste Schritt hin zu einer Rassifizierung vollzog sich in der Zuschreibung bestimmter Charakterzüge für Gruppen von Menschen. Dies wurde mit der Behauptung untermauert, die Geburt des Islam basiere auf einer Lüge und der Prophet sei »ein gerissener, hinterlistiger, ehrgeiziger, habgieriger, unbarmherziger und liederlicher Lügner«.20 Diese den Propheten charakterisierenden negativen Attribute wurden dann auf alle Muslime übertragen. Darstellungen dieser Natur waren im gesamten Mittelmeerraum anzutreffen.21 Im 11. Jahrhundert wurden Muslime entweder als schreckliche Tiere dargestellt, wie im französischen Versepos Rolandslied, oder als anfällig für beschämende sexuelle Ausschweifungen.22

Auch jene, die sich selbst zuerst und zuvorderst als Christen verstanden, schrieben ein Narrativ fort, das die Rassifizierung prägte. Die Kreuzritter, bemerkt Heng, trugen ihre Verbindung zu Christus auf dem Banner, wobei sie sich selbst als »christliche race« betrachteten und definierten. Der Schritt von der Rassifizierung durch Religion zum othering aufgrund der Hautfarbe fand auch in der Literatur statt. Heng führt mit dem mittelenglischen Ritterroman The King of Tars ein vielsagendes Beispiel dafür an. In der Geschichte wird eine hellhäutige Prinzessin gezwungen, zum Islam zu konvertieren und einen muslimischen König zu heiraten. Das aus dieser Verbindung entstandene Kind entpuppt sich als ein Monster, das erst durch die Taufe gerettet und körperlich verwandelt wird. Der als Schwarz bezeichnete Vater wird nach der Taufe ebenfalls weiß und beschließt, seine Untertanen ebenso bekehren zu lassen.23 Interkulturelle Heiraten waren keine rein fiktive Praxis. Erst in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts wurden Ehen zwischen weiblichen europäischen christlichen Adligen und muslimischen Königen weniger üblich. Christliche Sklavinnen wurden jedoch noch immer in Harems gehalten, und zwar mit solcher Regelmäßigkeit, dass fünf der Nasridensultane von Granada versklavte Christinnen als Mütter hatten. Die meisten dieser Frauen waren entweder während islamischer Eroberungen versklavt oder durch einen Sklavenhändler verschleppt worden, der speziell nach Frauen mit weißer Haut Ausschau hielt.24 Die Händler kamen aus verschiedensten Regionen: Die Wikinger versklavten und verkauften irische Menschen, die Engländer verkauften Menschen an die Franken, und die Venezianer handelten mit Menschen aus Zentraleuropa. Einige dieser versklavten Menschen landeten in den Regionen entlang des Mittelmeers, und eine große Anzahl von ihnen wurde nach Ägypten gebracht.25 Die Vorstellung von Afroeuropäern erhält also eine andere Bedeutung, wenn wir die Herkunft und die Bewegungslinien aller Personen dieser Gruppe bedenken.

In derselben Periode lieferten die Europäer auch Jungen, die ursprünglich aus Zentraleuropa, Eurasien und dem Kaukasus stammten, an die islamischen Herrscher. Die auf diesem Wege Verschleppten wurden dazu erzogen, sich den Streitkräften anzuschließen, die hauptsächlich aus versklavten Personen bestanden. Die von ihnen gebildete Truppe war bekannt als Mamluken. Im Laufe der Zeit stiegen sie zu Mitgliedern einer elitären Gruppe auf, die ihre eigenen Mamluken kaufen und Sklavinnen heiraten konnten, welche aus ihrem Heimatland kamen oder wiederum Töchter von Mamluken waren, wodurch sie eine »militärische race« erschufen.26 Heng demonstriert, in welchem Umfang das vormoderne Ägypten von muslimischen tscherkessischen Mamluken bestimmt wurde. Innerhalb weniger Jahrhunderte wurden sie zu den Herrschern Ägyptens und setzten eine strenge Trennung durch zwischen ihnen selbst, als eine einzigartige Kategorie von Menschen aus dem Kaukasus, und anderen ethnischen Gruppen, wobei Ehen über diese ethnischen Grenzen hinweg verboten waren. Die Nützlichkeit der Mamluken war unbestreitbar. Sie waren ethnisch unterscheidbare, skrupellose Krieger, deren Präsenz im neuzeitlichen Ägypten gefördert wurde. Reisende aus dem 15. Jahrhundert liefern Berichte über in Kairo lebende Mamluken aus Ungarn, Deutschland und Italien.27 Allerdings verwischten die Mitglieder dieser Gruppe durch ihre bloße Existenz die rassifizierenden Markierungen, die Europäer und Afrikaner größtenteils charakterisieren. Nach heutigen Begriffen waren sie weiße afrikanische Muslime europäischer Abstammung.

Die Mamluken waren nicht die einzigen Soldaten, die Grenzen überschritten und verschiedene Welten beeinflussten. Die Legende des heiligen Mauritius liefert uns eine interessante Linse, durch die wir die menschliche Geografie besser begreifen können. Im 3. Jahrhundert war die römische Präsenz in der Gegend von Theben durch die Eingliederung eroberter Bevölkerungen in die römische Armee gestärkt worden. Ihr Einfluss weitete sich in den Süden aus, und das Erbe jener Ära nimmt verschiedene Formen an. Die Figur des heiligen Mauritius ist in dieser Hinsicht besonders aufschlussreich. Eine der berühmtesten Darstellungen von Mauritius findet sich in Form einer Statue im Dom von Magdeburg. Die Statue stammt aus dem 13. Jahrhundert, lange nach der Lebenszeit des heiligen Mauritius im 3. Jahrhundert.

Zu begreifen, wie Mauritius als Heiliger bekannt wurde, wirft ein Licht auf die Herausbildung der europäischen Hagiografie. Außerdem liefert es uns interessante Informationen über den Platz, den Heilige in der mittelalterlichen Kunst einnahmen. Die Geschichte des heiligen Mauritius wurde von Generation zu Generation weitergegeben. Über die Jahrhunderte erreichte er den Status einer Legende, dennoch kennen Historiker*innen nur sehr wenige Details seines früheren Lebens, ehe er sich den römischen Truppen anschloss. Man geht davon aus, dass Mauritius im Umkreis des heutigen Ägyptens geboren wurde und sich bei der an der heutigen sudanesischen Grenze stationierten Thebaischen Legion meldete. Angeblich wurde er damit beauftragt, als Kommandeur der römischen Truppen einen Aufstand in Gallien niederzuschlagen. Dabei sollte er sichergehen, dass seine Truppen vor der Schlacht ihren Verpflichtungen gegenüber dem Gott Jupiter nachkamen, wie es von allen römischen Soldaten erwartet wurde.28 Zunächst willigte er ein, änderte dann jedoch seine Meinung, weil er sich sträubte, an der Christenverfolgung teilzunehmen. Kaiser Maximian sandte daraufhin Truppen zur Verhaftung von Mauritius und dessen loyalsten Soldaten. Sie alle wurden im Jahr 287 hingerichtet. Die Ursprünge des Heiligen sind Inhalt umfassender Forschungstätigkeiten gewesen. Die meisten Arbeiten betrachten eher die Transformation der Legende im Laufe der Zeit, eine bescheidenere Anzahl von Untersuchungen studiert jedoch auch ihre Grundlage.

Den Ausgangspunkt dieser Geschichte stellt ein um 450 verfasster Brief von Bischof Eucherius von Lyon an einen anderen Bischof namens Salvius dar. Eucherius berichtete von den thebaischen Soldaten, die auf Befehl Maximians in den Alpen ermordet worden seien.29 Die Richtigkeit dieser Darstellung ist jedoch angezweifelt worden. Denis van Berchem weist darauf hin, dass es einen Soldaten namens Mauritius von Apameia gegeben habe, dessen Märtyrertod in Syrien fälschlicherweise mit der Unterdrückung eines Aufstands in Gallien unter Maximians Herrschaft vermischt wurde. Diese Geschichte hätte mit der des Mauritius von Theben verwechselt worden sein können.30 Weitere Erklärungen finden sich in militärhistorischen Werken. Die von Eucherius erwähnte Thebaische Legion könnte in die Irre geführt haben – er schreibt von Thebaei, was der Name einer speziellen italienischen militärischen Einheit im 4. Jahrhundert war.31 Von Eucherius erfahren wir auch, dass die ursprüngliche Geschichte von Theodor stammte, der im späten 4. Jahrhundert Bischof von Octodurum war. Eucherius nahm Theodors Geschichte und machte sie zu seiner eigenen. Historiker*innen vermuten, der Bericht über Mauritius könnte eine von Theodor erschaffene politische Legende gewesen sein, die Menschen dazu ermuntern sollte, gegen Usurpatoren zu rebellieren.32 Eine Verbindung zu Theben (Thebais) wird zumindest durch in Ägypten nahe Syene (dem heutigen Assuan) gefundene Inschriften untermauert, die von thebaischen Soldaten unter dem Kommando eines Mauritius ausgeführte Taten um 367–375 dokumentieren. Es wäre nicht weiter ungewöhnlich, hätte man denselben Mauritius mit seinen Truppen nach Norden in Richtung Osteuropa geschickt. Die Legende von Mauritius verbreitete sich ebenfalls in Richtung Norden und erreichte das Rheintal, wo sie in die dortigen Regionalgeschichten Einzug fand.

Um zu verstehen, wie die Legende nordwärts reiste, müssen wir betrachten, auf welche Weise politische und religiöse Bestrebungen die Geschichte dieses Raums veränderten. Auf die Erosion des Römischen Reiches und die Invasion der römisch regierten Provinzen durch die Goten, die Langobarden und die Franken folgte im Zuge der Thronbesteigung Karls des Großen im Jahr 800 eine Phase relativer Stabilität. Nach Karls Tod wurden seine Territorien in jene Gebiete aufgeteilt, die heute in etwa Frankreich und Deutschland entsprechen. Das Ostreich expandierte in den folgenden dreihundert Jahren bis an die Südspitze Italiens, blieb aber durch Machtkämpfe geprägt, die König Friedrich II. – König von Sizilien, selbsternannter König von Jerusalem und von 1220 an Kaiser des Heiligen Römischen Reiches – durch Verwaltungsreformen teilweise zu befrieden vermochte. Er bleibt aber auch in Erinnerung als ein kosmopolitischer Monarch, der Juden, Türken, Araber und Afrikaner an seinem Hof willkommen geheißen haben soll. Seine Reise durch die germanische Region des Reiches im Jahr 1235 soll aufgrund der beträchtlichen Anzahl an afrikanischen Soldaten in seiner Armee Aufsehen erregt haben.33 Friedrich ernannte gar den Afrikaner Johannes Morus zum Kämmerer des Königreichs Sizilien.34 Schwarze Musiker, Bedienstete und hochrangige Gäste dürften zu dieser Zeit neben der Legende vom heiligen Mauritius den europäischen Blick auf Afrikaner beeinflusst und neu definiert haben. Die afrikanische Präsenz an europäischen Höfen während der Kreuzzüge war vom Umfang her bescheiden, aber beständig und dauerhaft genug, um erinnert und auf verschiedenen Gemälden dargestellt zu werden. Effrosyni Zacharopoulou gibt jedoch zu bedenken, dass dieser eher positive Blick auf den Einfluss von Mauritius und anderen Schwarzen Menschen an den europäischen Höfen nicht eine andere Realität verschleiern sollte: Dass einzelne Gelehrte und angesehene Gäste die Macht der christlichen Kirche akzeptierten und erkannten, änderte nichts daran, dass das christliche Äthiopien, nur weil es sich dem Einfluss Roms entzog, durch den Papst und die Kardinäle mit dem Verdikt der Häresie belegt wurde. Das christliche Nubien gelangte 1323 schließlich unter die Herrschaft eines von den Mamluken unterstützten muslimischen Königs.35

In der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts tauchten Darstellungen von Mauritius dem Afrikaner im von Kaiser Otto I. beherrschten Norden auf. Der Kaiser, auch bekannt als Otto der Große, besiegte 955 die Ungarn in der Schlacht auf dem Lechfeld und begann eine Bekehrungskampagne, die später mit der Gründung des Erzbistums von Magdeburg eine entscheidende Wende nahm. Durch das Aufstellen einer Statue des heiligen Mauritius im 13. Jahrhundert unterstrich der Magdeburger Dom seinen Stellenwert als Knotenpunkt und spirituelles Zentrum für die Expansion und Zelebrierung des christlichen Glaubens sowie als ein machtvolles Symbol für den Status der römischen Kirche. Der heilige Mauritius, mittlerweile ein Schutzpatron des Heiligen Römischen Reiches, stand für das, was noch kommen würde. Abgesehen von solchen religiösen und politischen Erwägungen sollte Magdeburg auch zu einem Mittelpunkt für Landwirtschaft und Handel werden. Die Figur des Mauritius im Kettenhemd mit einer Reproduktion der Heiligen Lanze in der Hand, einem Emblem der Reichsinsignien, sollte die von den europäischen Rittern des Mittelalters verkörperten Traditionen beschützen. Seine afrikanischen Züge stellten für Zeitgenoss*innen kein Problem dar, da er Ausdruck der grenzüberschreitenden gemeinsamen Werte war, die durch das starke Römische Reich verkörpert wurden. Der Schutzheilige war so beliebt, dass der Name Mauritius auch unter den herrschenden Eliten in Mode kam und Erstgeborene häufig nach ihm benannt wurden. Auch Stadtzentren und verschiedene andere Orte nahmen den Namen Mauritius an.36

In allen Darstellungen wird Mauritius als Afrikaner gezeigt, und seine Züge wurden bewahrt. Stefan Lochners Altarbild Dreikönigsaltar (ca. 1440, Köln), Rogier van der Weydens Bladelin-Altar (1452–55) und später Albrecht Dürers Anbetung der Könige (1504) bringen die Geschichte der Heiligen Drei Könige mit der Figur des heiligen Mauritius zusammen. Auf jedem dieser Gemälde ist einer der drei Könige ein Berber, ein Maure oder ein Schwarzer Afrikaner. Die Anbetung der Könige und jene von Mauritius verbinden sich in Lochners Gemälde, auf dem ein Afrikaner zu sehen ist, der eine »Mauritius-Flagge«37 hält. Balthasar erscheint auf mehreren Gemälden im 16. Jahrhundert als Schwarzer König, darunter in den Werken von Bartholomäus Bruyn dem Älteren und anderen Meistern, während der heilige Mauritius in Matthias Grünewalds Erasmus-Mauritius-Tafel (ca. 1520–25) erneut auftaucht. Die Verehrung sowohl Mauritius’ als auch der Heiligen Drei Könige hielt an und führte zu zahlreichen lokalen Darstellungen dieser Figuren in deutschen Regionen. Später schritt Magdeburg erneut voran, als die Stadt in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts auf Weisung Kardinal Albrechts von Brandenburg eine Büste von Fidis, der imaginären Schwester des heiligen Mauritius, anfertigen ließ.

Diese Darstellungen von Herkunft, äußerer Erscheinung und Hautfarbe in den mittelalterlichen und frühmodernen Künsten könnten als Hinweis auf eine Akzeptanz des Anderen interpretiert werden. Parallel zu solchen Darstellungen schien die Gleichsetzung von »schwarz« mit »böse« eher mit moralischen Vorstellungen zusammenzuhängen als mit Schwarzen Afrikanern. Allerdings verschob sich die Wahrnehmung in der nun anbrechenden Ära. Wissenschaftler*innen haben argumentiert, die im 19. Jahrhundert definierte Vorstellung von race sei bereits im Mittelalter hervorgebracht worden. David Theo Goldberg behauptete, am Ende des Mittelalters sei

race eher im Entstehen begriffen [gewesen], ohne bereits voll ausgebildet zu sein, und wurde in den Anfängen der nationalen Entwicklung vermehrt zur Flankierung der Nationenbildung heraufbeschworen. Damals bildete sich ein rassifizierendes Bewusstsein aus einer Mischung – die von diesem später wohl übernommen, wenn nicht gar ersetzt wurde – aus öffentlicher religiöser Verfassung, der Symbolik und Beschaffenheitsvorstellung des Blutes, den naturalisierenden Traditionen – der Metaphysik – von hierarchischen Ketten des Seins und den ontologischen Ordnungen in Bezug auf eine angeblich vererbbare Vernunft.38

Andere Forscher*innen haben bemerkt, dass auch eine Stadt wie Nürnberg, die im 15. und 16. Jahrhundert eine lebendige Entwicklung auf dem Gebiet der Technik, der Mathematik und der Navigation erlebte, paradoxerweise von einer relativ konservativen religiösen Interpretation der Geschichte und der Herangehensweise an sie beherrscht wurde. Man ging davon aus, die Weltbevölkerung sei in mehrere Hauptteile aufgespalten, die ihre Existenz der Abstammungslinie Noahs verdankten. So glaubten beispielsweise viele, Noahs Sohn Ham, der den nackten Körper seines Vaters sah und daraufhin mit einem Fluch belegt wurde, sei der Vorvater aller Nordafrikaner. Allerdings verband man seine Hautfarbe nicht mit einer Vorstellung von Unterlegenheit. Dürers Porträt eines Afrikaners (1508) und Porträt der Afrikanerin Katherina (1521) sind deswegen künstlerische Leistungen, weil der Zeichner in der Lage war, die Nuancen der Gesichtsausdrücke von Afrikanern festzuhalten, die sich zuvor oftmals nur durch die Färbung ihrer Gesichtszüge unterschieden. Der Zusammenhang, der zwischen »böse« und »schwarz« hergestellt wurde, war zwar offensichtlich, aber böse Charaktere wurden im 16. Jahrhundert nicht notwendigerweise mit afrikanischen Gesichtszügen dargestellt.

Dennoch regulierte das mittelalterliche Europa die Leben jener, die es als »anders« und als eine Gefahr für die Mehrheitsgesellschaft ansah, wie nicht zuletzt die gut dokumentierte Verfolgung der jüdischen Gemeinden im Mittelalter demonstriert. In England wurde beispielsweise eine Reihe von Maßnahmen beschlossen, die die jüdische Gemeinde sichtbarer machen sollten. 1215 verlangte die englische Kirche, dass Juden und Muslime Kleidung trugen, die sie von Christen unterschied. Ab 1218 mussten Juden ein Abzeichen tragen. 1222 wurde dann eine überarbeitete Version jenes Abzeichens verpflichtend, das die englische Obrigkeit geschaffen hatte, und 1290 waren sie schließlich gezwungen, England zu verlassen. Man lastete der jüdischen Gemeinde Ritualmorde an christlichen Kindern an, wobei sich Hinweise auf jene Rituale in fiktiven Geschichten fanden, die häufig mit der Realität vermischt wurden und verheerende Auswirkungen für Juden hatten. Beispielsweise wurden 1255 nach dem tödlichen Unfall eines kleinen Jungen 91 Juden gefangen genommen und einer von ihnen auf Befehl von König Heinrich III. hingerichtet. Auch wurde die jüdische Gemeinde durch die Vorstellung physischer Attribute verändert, wie dargestellt in den King’s Remembrancer Memoranda Rolls.39 Die offiziellen Schriftrollen präsentierten die Juden als eine erkennbare Gemeinschaft, die anhand von »jüdischen Gesichtern«, die stark an Karikaturen erinnerten, identifiziert werden könne.

Geraldine Heng betont, dass die Frage der race grundlegend für die Herausbildung einer europäischen Identität war. Sie stellt fest, dass das kulturelle Schaffen in der mittelalterlichen Periode mit dieser Herausbildung im Einklang stand. Zum Beispiel zeigten mappae mundi aus dem 13. Jahrhundert, wie etwa die Hereford-Karte, nicht nur Orte, sondern auch Gegenstände, Tiere und Menschen. Ihre Darstellungen von Europa sind charakterisiert durch städtische Zentren, Kathedralen und Beispiele von Stadtplanung, während diese im Rest der Welt auffällig fehlen. Asien und Afrika sind dagegen bevölkert von Ungeheuern, Menschen mit sichtbaren Gebrechen und Kreaturen, die teils Tier, teils Mensch sind, sowie von »Troglodyten, Kynokephalen, Skiapoden« und anderen Bevölkerungen, die für Europäer als abscheulich galten.40 Die Europäer wurden jedoch auch keineswegs als eine homogene Gruppe angesehen, die die Vorzüge eines höheren Intellekts genoss. Irland und seine Bewohner*innen stellte man als eine niedere race dar, die eine starke Hand benötige, um sich zu bessern. Heng weist darauf hin, dass in der Prämoderne und der Moderne verschiedene Ausgestaltungen von race und auf race basierenden Hierarchien existierten. Das mittelalterliche England hatte spezifische Ansichten über seine Nachbarn.

Karikiert als ein primitives Land – ein unentwickelter Globaler Süden westlich von England –, wurde Irland dementsprechend positioniert als ein Projekt, das evolutionärer Verbesserung und Anleitung bedurfte, um die ›wilden Iren‹ zu zwingen, […] eines Tages aus ihrem barbarischen Kokon herauszutreten in einen Zustand aufgeklärter Zivilisation.41

Die Farbe Schwarz als ein einheitliches Merkmal, das Unterlegenheit sowie die Hässlichkeit der menschlichen Erfahrungen auf der Erde repräsentierte, war ein Bestandteil der christlichen Vorstellungen von Gut, Böse und der rettenden Aussicht auf Erlösung durch die Sühne für die eigenen Sünden. Afrikanische Menschen waren Schwarz oder hatten dunkle Haut. Sie hatten die Farbe des Bösen, konnten jedoch Buße tun, Rettung erfahren und gar zu Schutzheiligen werden. Die Darstellung von Afrikanern variierte stark zwischen verschiedenen Schauplätzen in Europa. Eine der Fassaden der Kathedrale Notre-Dame in der französischen Stadt Rouen zeigt eindeutig die Hinrichtung von Johannes dem Täufer durch einen Afrikaner. Das Bildnis stammt aus dem Jahr 1260. Es bildet einen starken Kontrast zu Die Enthauptung Johannes des Täufers, einem Gemälde Caravaggios aus dem Jahr 1608, auf dem ein weißer Mann zu sehen ist, der nach einem Messer hinter seinem Rücken greift, während er den Kopf des Heiligen auf den Fußboden drückt.

Gleichzeitig tauchten Schwarze Heilige im 12. und 13. Jahrhundert in ganz Europa auf, insbesondere in Form von Skulpturen. Erin Kathleen Rowe hat das Aufkommen und die Bedeutung Schwarzer Heiliger in der mittelalterlichen und frühmodernen Kirche untersucht und sich dabei besonders den Schwarzen Madonnen wie etwa Unseren Lieben Frauen von Montserrat, Guadalupe, Tindari und Le Puy gewidmet.42 Die Entstehung dieser Heiligenbilder ist Thema langer Debatten unter Wissenschaftler*innen gewesen. Während einige behaupten, die Madonnen seien ursprünglich weiß gewesen, im Laufe der Zeit habe Zersetzung aber die Originalfarbe verändert, erklären andere, dass jene Heiligen nach der Veränderung ihrer Farbe auch als Schwarze Jungfrau Maria verehrt wurden. Weitere Forscher*innen gehen davon aus, die Madonnen seien bewusst Schwarz erschaffen worden, während andere Versionen der Maria weiß mit schwarzen Händen seien, um die Verwandlung von der Sünderin zur Heiligen zu symbolisieren, den Kampf aller Gläubigen und die transformative Kraft der katholischen Kirche – oder einfach, dass spirituelle Schönheit auch mit »weniger ästhetisch ansprechender« Schwarzer Haut einhergehen konnte.43 Rowe demonstriert, dass diesen weiblichen Darstellungen tatsächlich bereits in der Spätantike männliche Schwarze Heilige vorausgegangen waren. Im 4. Jahrhundert in Abessinien geboren, wurde Moses, auch bekannt als Moses der Schwarze, der Äthiopier und so weiter, zu einer wichtigen Figur in Westkastilien. Sein früheres Leben als Dieb und Sünder wurde genutzt, um zu zeigen, wie ein Schwarzer Mann weiß und gerettet werden konnte, nachdem er Buße getan hatte. Rowe begutachtet die sorgfältige Bearbeitung von Moses’ Geschichte und legt nahe:

Die Autoren nutzten die Erzählung, um eine bestimmte Sicht auf die Ästhetik des Schwarzseins zu stärken, und ihre Entscheidung, Moses’ Leben zu einem Narrativ über das Schwarzsein, über Demut und Selbstverleugnung zu simplifizieren, unterstrich den geringeren Status – und gar die geringere Menschlichkeit – des Heiligen. Die hier widerhallenden Themen – Vorurteile gegenüber schwarzer Haut, die Verbindung von Schwarzer Heiligkeit mit übermäßiger Demut, das Zusammenspiel von Innerem und Äußerem – fand sich auch in den frühmodernen Hagiografien Schwarzer Heiliger wieder.44

Ein langsamer Wandel trat ein, als viele Europäer öfter mit Afrikanern in Kontakt kamen. Geschichten über die Rolle des äthiopischen Priesters Johannes, ein legendärer König, der über eine östliche christliche Nation geherrscht haben soll, fanden Verbreitung und boten eine hoffnungsvolle Grundlage für die Ausweitung des Christentums. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts nahm die Repräsentation Schwarzer Heiliger eine neue Wendung. Vorstellungen über das Schwarzsein von Sündern, wie es in den Skulpturen von Schwarzen Heiligen dargestellt wurde, oder die Anerkennung der Rolle Schwarzer Figuren wie den Heiligen Drei Königen als Grundlage des Christentums wurden allmählich durch eine weltlichere Schwarze Präsenz ersetzt. Auslöser dafür waren das Knüpfen von Verbindungen zwischen äthiopischen Mönchen und Rom, Konstanz und Florenz und die Möglichkeiten von Allianzen zwischen der katholischen und der orthodoxen Kirche, die von Papst Eugen IV. unterstützt wurden.45 Im 16. Jahrhundert sah Südeuropa das Aufkommen einer ganzen Reihe von Schwarzen Heiligen, darunter die sizilianischen Franziskaner Benedikt von Palermo und Antonio da Noto.

Benedikt von Palermo, auch bekannt als Benedetto da San Fratello oder Benedictus de San Philadelphio, wurde als Kind subsaharischer Eltern in Sizilien geboren. Seine Mutter war eine freie Frau, sein Vater dagegen ein versklavter Afrikaner. Beide waren fromme Christen und erzogen ihre Kinder dazu, sich an christliche Werte zu halten und der Kirche ergeben zu sein. Infolgedessen wurde der junge Benedikt zu einem Eremiten und schloss sich dann einer franziskanischen Bruderschaft an, ehe er in ein Kloster in der Nähe von Palermo eintrat.46 Die Geschichte von Antonio da Noto unterscheidet sich stark von jener Benedikts. Aus Antonio Dazas Chronik der Franziskaner aus dem Jahr 1611 lernen wir, dass Antonio, der in Nordafrika zur Welt kam, »Schwarz wie die Menschen aus Guinea, Xalose und Manikongo war, aber auch ein Maure, geboren und aufgewachsen unter dem Gesetz Mohammeds«.47 Er wurde von sizilianischen Piraten gefangen genommen und in Sizilien in die Sklaverei verkauft, wo er zum Katholizismus konvertierte. Rowe hat diese Quelle gründlich studiert und stellt fest, dass Daza die Frage des Übertritts diskutierte und im Hinblick auf Antonios Konvertierung zum Christentum die daraus resultierenden weltlichen Freiheitsgewinne betonte.48 Sie argumentiert, dass »heiliges Schwarzsein sowohl von der Geistlichkeit als auch von den Afroiberern konstruiert wurde. Die weiße Geistlichkeit verfasste zahlreiche Betrachtungen über die Rolle Schwarzer Katholiken in der Kirche, mit einer Rhetorik, die sich meist um die Überschneidung von Heiligkeit und unterschiedlicher Hautfarbe – also Schwarzsein – drehte.«49 In der Folge spielten gedruckte Werke, die für ein weißes Publikum bestimmt waren, eine wichtige Rolle bei der Bildung rassifizierender Kategorien.

Wie es scheint, war das mittelalterliche Europa gegenüber dem Platz und der Rolle von Schwarzen Heiligen in der Gesellschaft, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Kirche, ambivalent eingestellt. Mehrere Beispiele, wie etwa die Geschichten vom heiligen Mauritius und von der Königin von Saba, beleuchten dies. Die erwähnten Ambivalenzen wiederholen sich in Bezug auf die mittelalterlichen europäischen Sichtweisen auf Schwarze Frauen.50 So entwickelte das Europa des 13. Jahrhunderts ein Interesse an den Körpern Schwarzer Frauen und an ihren angeblichen Fähigkeiten, Milch von besserer Qualität zu produzieren und Vergnügen zu schenken. Sich auf Aristoteles’ Beobachtungen über die Verbindungen zwischen Menstruationsblut und Hitze stützend, behaupteten medizinische Gelehrte des 13. Jahrhunderts, die Milch Schwarzer Frauen enthalte mehr Nährstoffe. Jene Aussagen erzeugten Debatten, in denen einige Gelehrte den Standpunkt vertraten, die qualitativ beste Milch sei für jedes Kind die seiner Mutter, unabhängig von deren Hautfarbe. Die Diskussion hielt in den europäischen Metropolen an, und im Jahr 1300 wurde in Paris, Köln und anderen Städten verbreitet, die Körperwärme von dunkelhäutigen Frauen ließe ihre Milch leichter verdaulich werden und führe daher zu besserer Qualität für das Kind. Dieser Diskurs über Muttermilch fand zur selben Zeit statt wie Diskussionen über Körperwärme und sexuelle Charakteristika. Medizinische Gelehrte stritten über das Verlangen und die sexuellen Fähigkeiten von Schwarzen und weißen Frauen, eine Debatte, die seit Jahrhunderten geführt wurde und ihren Ursprung in den griechischen und arabischen medizinischen Traditionen hatte. Es wurde behauptet, Schwarze Frauen hätten ein stärkeres Verlangen nach Geschlechtsverkehr, da sie aus wärmeren Klimazonen kämen, während weiße Frauen aufgrund ihres angeblich übermäßigen Menstruationsblutes zu mehr Geschlechtsverkehr imstande wären. Der englische Theologe Thomas von Chobham beschäftigte sich im Jahr 1215 intensiv damit, die Institution der Ehe zwischen einem weißen Mann und einer Schwarzen Frau zu regulieren, während sich Albertus Magnus in seiner Kölner Vorlesung aus dem Jahr 1258 an Lust und Begierde abarbeitete und beispielsweise behauptete, die Form der Vulva einer Schwarzen Frau würde Männern ein größeres Vergnügen bereiten.

Diese Debatten waren nicht frei von Scham, Verwirrung und morbider Faszination. Im 13. Jahrhundert verfestigten sich zirkulierende Vorstellungen zu weithin anerkannten Ansichten. Zum Beispiel glaubten die Mediziner in den meisten europäischen Zentren, Schwarzen Menschen kämen im Zusammenhang mit Reproduktion, Kindererziehung und Sexualität bestimmte Eigenschaften zu. Paradoxerweise verwies man Begegnungen zwischen weißen Männern und Schwarzen Frauen dabei jedoch in den privaten Bereich und sicherte sie nicht durch die Institution der Ehe mit Weihen. Es gibt ein paar wenige Beispiele von gläubigen Schwarzen Frauen, die sich der rassifizierten Wahrnehmung entzogen und in Aufzeichnungen als fromme Christinnen beschrieben wurden, darunter Benedetta, die Nichte von Benedikt von Palermo. Aber mehrheitlich wurden sie weiterhin auf negative Weise wahrgenommen – auch die Geschichte der Königin von Saba bildet dabei keine Ausnahme.

Auch wenn es Zweifel am Wahrheitsgehalt dieser biblischen Gestalt gibt, bieten ihre Darstellungen im Laufe der Zeit auch einen Einblick in die sich wandelnden Ansichten über die Rolle der Frauen und das Gewicht der Religion in den verschiedenen Gemeinschaften. Die Königin von Saba erscheint hauptsächlich in äthiopischen Gemälden und Kunstwerken,51 außerdem findet man sie im 1. Buch der Könige 10, 1–13 und im 2. Buch der Chronik 9, 1–12 der hebräischen Bibel und in Sure 27, 23–44 des Koran.52 In der hebräischen Bibel wird sie als wohlhabende Monarchin dargestellt, die von König Salomons Ruf und Reichtum erfuhr und beschloss, seine Weisheit auf die Probe zu stellen. Im Koran ist es Salomon, der einen Bericht über die Königin von Saba bekam und drohte, in ihr Land einzumarschieren, wenn sie und ihre Untertanen nicht aufhörten, ihre mannigfachen Gottheiten anzubeten. In beiden Geschichten geht es um ihren Übertritt zu einer monotheistischen Religion und ihre Unterwerfung unter Gottes Willen. Im Neuen Testament ist ihr Name geändert zur »Königin des Südens« (Lukas 11, 31 und Matthäus 12, 42). Weitere Transformationen der Geschichte finden sich in der aramäischen Version des Buches Ester (Targum Sheni, ca. 500–1000), in dem Salomon einen Wiedehopf zur Königin schickt, der sie auffordert, zu seinem Palast zu reisen. Die Begegnung erhält eine neue Wendung, als Saba beim Überqueren eines Glasfußbodens, den sie für ein Wasserbecken hält, ihre Kleidung rafft und dabei ihre behaarten Beine zeigt. Von jenem Augenblick an wurde Saba mit Dämonen assoziiert, da Körperbehaarung typischerweise Männern oder Teufelswesen zugeschrieben wurde. In diesem Fall ist es auch ein Hinweis darauf, dass fremde Frauen, die andere Gottheiten anbeteten, eine Gefahr für Familienstrukturen und die Gesellschaftsordnung darstellten, da es der Frau oblag, sich um die Erziehung der Kinder und das Wohlergehen der Familie zu kümmern.

Die Darstellungen der Königin von Saba in der europäischen Kunst zeigen auch interessante Interpretationen von Anderssein. Vielen mittelalterlichen Auslegungen des Hohelieds 1, 5 zufolge war es die Königin von Saba, die Salomon gegenüber erklärte: »Ich bin Schwarz und schön.«53 In einer Skulptur der Königin aus dem 13. Jahrhundert am Portail Sainte-Anne der Kathedrale Notre-Dame de Paris jedoch steht sie neben König Salomon und dem heiligen Petrus, und sie haben alle dieselbe Hautfarbe, vermutlich weiß. Später, in Lavinia Fontanas Der Besuch der Königin von Saba (ca. 1600), ist sie erneut weiß. Die Veränderlichkeit der Hautfarbe der Königin verstärkt den Eindruck, Anderssein möge keine Bedeutung gehabt haben, wenn Afrikaner*innen, insbesondere Frauen, an der Spitze der sozialen Rangordnung standen. In den folgenden Jahrhunderten vermischten die Geschichten über die Begegnung zwischen Saba und Salomon jüdische und muslimische Traditionen mit Folklore, die Saba als Verführerin oder als halb Schlange, halb Frau darstellte, die Männer in Versuchung führen und Leben zerstören wollte. Interessanterweise zirkulierten muslimische Geschichten über die Königin als halbe Schlange, die sie mit der hebräischen Dämonin Lilith verglichen, in veränderter Form in der europäischen Dichtung. In der Literatur des 19. Jahrhunderts wurde erneut auf die Figur der Königin von Saba zurückgegriffen, insbesondere in Flauberts Roman Die Versuchung des heiligen Antonius (1874). Der Künstler Odilon Redon schuf eine Illustration der Königin von Saba (1896–1900) als nackte Frau, deren Gesichtszüge auf eine gemischte Herkunft schließen lassen und an Charles Baudelaires laszive und erotische Darstellung seiner Muse Jeanne Duval erinnern. Baudelaires Verweise auf die Bibel in seiner Dichtung konzentrierten sich auf die Idee der »Verführung«. Die Beschreibung Duvals in »Die tanzende Schlange« (in Die Blumen des Bösen, 1857) bringt uns zurück zur Königin von Saba als afroeuropäische Verführerin.

Von Konfrontation bis zu Kollaboration – die Beziehungen zwischen Afrikanern und Europäern erweisen sich seit dem 3. Jahrhundert als turbulent. Auf die verlorenen Schlachten der kuschitischen Königinnen folgte die Eingliederung der Thebaner in die römischen Legionen im 3. Jahrhundert. Die kathartische Legende des heiligen Mauritius und die Geschichte der Königin von Saba haben die europäischen Bestrebungen nach religiöser Expansion fassbar gemacht und sind zu Symbolen der Macht geworden, stellen aber zugleich auch aufschlussreiche Mittel dar, mit denen sich der europäische Blick auf Afrikaner*innen analysieren lässt. Die Art und Weise, wie diese beiden Figuren in Kunst und Literatur dargestellt wurden, liefert einen Einblick in die gesellschaftlichen, kulturellen und wissenschaftlichen Veränderungen in Europa. Auch lässt sich mit ihnen unser Verständnis von Geschlechterkonstruktionen und die Wahrnehmung Schwarzer Körper in der europäischen Imagination seit dem Mittelalter hinterfragen. Diese Geschichten sind wertvolle Ergänzungen zu der Geschichte Schwarzer Heiliger in Europa.

Rowe demonstriert, dass der Einfluss Schwarzer Heiliger weit über die Mauern der weißen christlichen Kirchen hinausging. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts gaben portugiesische Händler mit ihren Expeditionen an die afrikanischen Küsten den Startschuss für den neuzeitlichen europäischen Sklavenhandel. Ein Jahrhundert später wurden versklavte Afrikaner in europäischen Städten aufgefordert, ein christliches Leben zu führen, was ihre Herren allerdings vor ein Problem stellte. Eine Taufe brachte für den Besitzer mehrere Verpflichtungen mit sich, darunter die Wahrung des Rechtes der Versklavten, in einer Bruderschaft Mitglied zu werden. Damit aber hatten die Sklaven die Unterstützung von Organisationen, die sich auch für ihre Befreiung einsetzen konnten.54 Zusätzlich entstand im frühen 17. Jahrhundert nach dem Tod Benedikts von Palermo ein nach diesem benannter Kult, dem sich einige Schwarze Spanier anschlossen. Die Kirche sah diese neuen Entwicklungen positiv, da frisch angekommene versklavte Menschen nun leichter bekehrt und assimiliert werden konnten. Wie Rowe festhält, waren diese Schwarzen Bruderschaften bestens organisiert und verfügten über eigene Satzungen und Verwaltungsapparate. Sie unterstützten ihre Mitglieder auf vielfältige Weise, von seelsorgerischer Betreuung bis zu Beerdigungen und Mitgiften. Und sie stellten ihre Wurzeln und Ursprünge stolz zur Schau, wie sich etwa am Beispiel von Nossa Senhora do Rosário dos Homens Pretos (Unsere Liebe Frau vom Rosenkranz Schwarzer Menschen) zeigt, die erklärte, dass »wir, die Schwarzen Menschen, aus den Regionen von Äthiopien und seiner Gebiete kamen«, und hinzufügte, dass sie nun seit 1470 in Lissabon beteten.55 Mit der Zeit überspannten diese Bruderschaften mehrere Kontinente, da sie sich parallel zum Sklavenhandel in den Regionen entlang des Atlantischen Ozeans ausbreiteten.

Die Geschichten des heiligen Mauritius und der Königin von Saba sowie deren nachträgliche Reformulierungen und Neuinterpretationen beruhen auf der Geschichte von Kolonisation und Eroberung. Die von ihnen zur Sprache gebrachten brutalen Begegnungen werden jedoch kaum mit der kolonialen Sklaverei im mittelalterlichen und modernen Europa in Verbindung gebracht. Eines der am häufigsten untersuchten Zeitalter der Eroberungen bleibt das Römische Reich. Wissenschaftler*innen haben verschiedenste Geschichten aus dieser Zeit ans Licht gebracht, wobei eine Figur dabei herausragt, da sie sowohl Afrikaner als auch Europäer war: Kaiser Septimius Severus. Gleichwohl zeigt seine im British Museum ausgestellte Büste interessanterweise die Gesichtszüge eines Mannes, der europäischer Abstammung zu sein scheint. Allerdings wurde Severus 145 in Leptis Magna geboren, einer karthagischen Stadt, die im heutigen Libyen liegen würde, welches damals als Tripolitanien bekannt war. Er stammte aus einer reichen Familie, deren Mitglieder an der Politik und womöglich auch am Handel beteiligt waren. Sein Vater bekleidete jedoch kein wichtiges Amt. Tripolitanien war ein maritimes Handelsgebiet, das auch nur wenige Hundert Kilometer von den Handelsrouten durch die Sahara entfernt war. Über Severus’ frühes Leben in Leptis Magna ist nur wenig bekannt. Wir wissen allerdings, dass er aus seinem Geburtsort nach Rom zog, wo er in der herrschenden Elite Freunde gewann. Das ermöglichte ihm den Aufstieg zur Macht. Im Jahr 169 wurde er römischer Senator. Er benötigte nur wenige Jahre, um zum Volkstribun ernannt zu werden. Später entsandte man ihn auf verschiedene Posten, und schließlich wurde er Statthalter in der Donauprovinz Pannonien. Severus’ Ehrgeiz ließ ihn nach Rom zurückkehren und im Anschluss an die Ermordung von Kaiser Pertinax durch Soldaten die Macht ergreifen.

Die Historiker Cassius Dio und Herodian liefern uns Informationen über Severus’ Leben.56 Die meisten Details sind ausgeschmückte Schilderungen seines Charakters und seiner Beziehungen zu den Soldaten. Dio erzählt von seinem triumphalen Einmarsch in Rom, nachdem er jene Soldaten bestraft hatte, die an der Tötung von Pertinax beteiligt gewesen waren, und behauptet, er habe sich extra die Zeit genommen, zivile Kleidung anzulegen, um zu Fuß durch die Straßen zu schreiten, während seine Soldaten noch immer ihre Rüstung trugen. Der inszenierte Aspekt dieses Einmarschs lässt Rückschlüsse auf das Denken dieses Mannes zu. Er wusste, dass er als Armeeführer womöglich nicht in der Lage sein würde, eine Bevölkerung für sich zu gewinnen, die gerade erlebt hatte, wie ihr Kaiser durch Soldaten ermordet worden war. Er musste die Zivilbevölkerung und die politische Klasse davon überzeugen, dass er als Mann von Verstand und Intellekt und als ein fürsorglicher Anführer anzusehen war. Dios Bericht zeigt, dass es ihm gelang, Interesse zu wecken: »Die Menge war erpicht darauf, ihn zu sehen und ihn sprechen zu hören, als wäre er durch seinen Glücksfall irgendwie verwandelt worden. Einige hielten sich gegenseitig in die Höhe, um aus dieser Position einen Blick auf ihn zu erhaschen.«57 Entweder aus ehrlicher Bewunderung oder um die Unterstützer des verstorbenen Kaisers um sich zu scharen, ließ er einen Schrein für Pertinax errichten und organisierte eine aufwändige öffentliche Zeremonie für dessen Beerdigung, an der Senatoren, Konsuln, Staatsdiener und ihre Ehefrauen teilnahmen.

Herodian bietet noch mehr Einzelheiten über Severus’ militärische Siege, Reden und familiäre Beziehungen, seine »britische Expedition« und die kurze Regierungszeit seiner beiden Söhne. Die Berichte der Historiker geben uns auch Aufschluss über seinen Regierungsstil. Allem Anschein nach war er ein cleverer Politiker, der nicht zögerte, Allianzen mit jenen zu schmieden, die Roms Position gefährden könnten. Außerdem umgab er sich mit Menschen, denen er vertraute. Um etwa seine Söhne gut im Auge zu behalten, deren Lotterleben voller Laster und ungesunder gegenseitiger Konkurrenz ihm Sorgen machte, verlieh er ihnen mehr Macht und stattete sie mit Ehefrauen aus. Sein Sohn Caracalla sollte die Tochter des Prätorianerpräfekten Plautian heiraten.

Severus tilgte bewusst jegliche Verbindung, die zwischen ihm und Afrika hergestellt werden konnte. Er hatte sich zu einem frühen Zeitpunkt in seiner Karriere von seinem Geburtsort distanziert, und es war ihm gelungen, sich die Unterstützung machtvoller Beschützer in Rom zu sichern. Als Kaiser hielt er jedoch einen bestimmten Mann nah an seiner Seite. Herodian bemerkt, auch Plautian sei in Libyen geboren. Angeblich waren die beiden sogar miteinander verwandt. Böse Zungen verdammten diese Verbindung und behaupteten, Severus und Plautian seien in jüngeren Jahren vermutlich »Liebste« füreinander gewesen.58 In jedem Fall war Plautian ein armer Nordafrikaner, der von Severus große Macht und großen Reichtum verliehen bekam und nicht vor Gewaltanwendung zurückschreckte, um die Aufgaben zu erledigen, die der Kaiser ihm zugewiesen hatte. Severus ging noch einen Schritt weiter, indem er sich und Plautian durch ihre Kinder noch enger miteinander verband. Er hätte jede beliebige politische Allianz schmieden können, indem er seinen Sohn in die Familien von Gegnern oder Anführern benachbarter Territorien einheiraten ließ. Er wählte aus Vertrauensgründen jedoch bewusst Plautians Tochter aus. Außerdem glaubte er, die Ehe würde seinem Sohn helfen, erwachsen zu werden. Er sollte jedoch eines Besseren belehrt werden. Caracalla verabscheute seine Braut und drohte, sie und ihren Vater umzubringen, sobald er als Kaiser an der Macht wäre. Sich Severus’ Krankheit und seiner Schwäche gegenüber seinem Sohn sehr bewusst, fürchtete Plautian um sein Leben. Er wusste auch, dass die Unbeliebtheit des Kaisers unter den Wachen sich nicht zu seinen Gunsten auswirkte. Also heckte er laut Herodian einen Plan aus, um das Reich an sich zu reißen und seinen eigenen Beschützer gemeinsam mit dessen Sohn töten zu lassen. Dabei beging er jedoch den Fehler, seine Befehle schriftlich festzuhalten. Der Plan schlug fehl, mit tragischem Ausgang. Cassius Dio zufolge war es Caracalla, der Plautians Mordkomplott fingierte, in jedem Fall endete die Episode mit dem Hinrichtungstod des Präfekten. Severus’ Söhne setzten ihr genusssüchtiges Leben fort, und dem Kaiser blieb nur noch, jene zu bestrafen, die sie in einem Zustand andauernder Ausschweifungen und Wettkämpfe hielten.

In seiner Regierungszeit führte Severus mehrere Feldzüge durch, mit denen er sich weitere Gebiete sichern wollte, die sich südlich von Tripolitanien, im Osten in Richtung Mesopotamien und im Norden bis nach Britannien erstreckten, wo er im Jahr 208 den Hadrianswall sicherte und einen Eroberungszug gegen das britannische Kaledonien startete. Severus sah Rom als Zentrum des Wissens und der Zivilisation sowie als legitimen Herrschaftssitz. Einmal selbst an der Macht, begriff er auch, dass er das Römische Reich weiter ausdehnen musste, um Rom zu stärken. Der Britannienfeldzug stellte sich jedoch als beschwerlicher heraus als die vorangegangenen Kampagnen. Der schlechte Gesundheitszustand des Kaisers hielt ihn davon ab, sich auf den Feldzug zu konzentrieren, und der nach Macht gierende Caracalla versuchte, die Ärzte davon zu überzeugen, seinen Tod zu beschleunigen. Kaiser Septimius Severus starb schließlich im Jahr 211. Caracalla gab sogleich eine Serie von Morden in Auftrag, um all jene auszuschalten, die seinem Vater treu ergeben gewesen waren, darunter auch die Ärzte, die sich einer Beteiligung an seinem Komplott verweigert hatten, und selbst jene, die ihn großgezogen und dazu gedrängt hatten, mit seinem Bruder Geta Frieden zu schließen. Geleitet durch ihre Mutter, regierten die Brüder das Reich für kurze Zeit gemeinsam, bis Caracalla sich durch einen Mord an seinem Bruder schließlich zum Alleinherrscher machte. Was Severus anbelangte, so wurde der Leichnam des Kaisers verbrannt, parfümiert und in einer Urne in das Mausoleum des Hadrian, der heutigen Engelsburg, verbracht.

Die meisten in Afrika geborenen Römer stellten ihre Herkunft nicht in den Vordergrund. Etwa ein Jahrhundert vor Severus wurde Marcus Cornelius Frontos »Afrikanischsein« bei verschiedenen Gelegenheiten erwähnt, aber er selbst präsentierte sich nur selten als Afrikaner. Als um 100 im numidischen Cirta, dem heutigen Constantine in Algerien, Geborener stammte Fronto aus einer afrikanischen Provinz unter römischer Herrschaft. Er ist bekannt als einer der eloquentesten Redner, die die römische Erziehung je hervorbrachte. Fronto ging in die Politik und wurde 142 zum Konsul ernannt, blieb jedoch nur zwei Monate im Amt als Suffektkonsul. Dann offerierte man ihm die Position eines Lehrers der Adoptivsöhne von Kaiser Antoninus Pius. Die von ihm erhalten gebliebenen Schriften bestehen hauptsächlich aus seiner Korrespondenz mit seinen Schülern und den späteren Kaisern Marc Aurel und Lucius Verus sowie mit anderen Freunden. In keinem der Briefe wird seine Herkunft auf negative Weise erwähnt. Mehrere von ihnen legen nahe, dass Fronto von seinen namhaften Schülern respektiert und geliebt wurde. Auch er mochte sie gern und drückte dies, während sie seine Schüler waren, durch körperlichen Kontakt wie Umarmungen und Küsse aus, aber auch später noch, als sie zu hochrangigen Staatsdienern und Kaisern geworden waren. Daraus ergibt sich das Bild eines Mannes, der seiner Familie nahesteht und vom kaiserlichen Haus hoch geschätzt wird.

Frontos Überzeugungskraft wurde einer römischen Erziehung zugeschrieben, die das Beherrschen der lateinischen Rhethorik voraussetzte. Jo-Marie Claassen hält fest, dass er für seine Stellung zwar nicht bezahlt wurde, es jedoch Hinweise darauf gibt, dass er ein römisches Herrenhaus besaß.59 Zusätzlich musste die komfortable Nähe zum Kaiser zu weiteren Begünstigungen geführt haben. In ihrer Untersuchung der römischen Einstellung gegenüber Afrikanern in elitären Kreisen bemerkt Claassen, Frontos linguistischer »Eifer« kennzeichne die Ansichten jener, die an den Rändern des Imperiums geboren wurden.60 Sie verspürten die Notwendigkeit zur Überkompensation, schlugen sich jedoch hervorragend in einer Umgebung, die Assimilation förderte. Unter einem Verweis auf Edward Champlins Studien fügt Claassen hinzu, dass Familien der Elite, die in Nordafrika geboren wurden, gezielt Lateinisch und Griechisch als ihre Lingua franca übernahmen.61

Fronto strebte nach der Position des Prokonsuls in Afrika, wurde jedoch in das weniger favorisierte Asien gesandt. Schließlich musste er den Posten wegen seines schlechten Gesundheitszustands aufgeben. Seine Verbundenheit mit Afrika zeigte Fronto durch den Wunsch, an seinen Geburtsort zurückzukehren. Mehrere Briefe belegen, dass er eine enge Beziehung zu Familie und Freunden in Cirta aufrechterhalten hatte. In anderer Korrespondenz wird deutlich, dass er Teil eines größeren Netzwerks afrikanischer Eliten war, die in ganz Europa in angesehenen Kreisen lebten und arbeiteten. Unter den Freunden, mit denen Fronto sich Briefe schrieb und die ihn gelegentlich besuchten, waren der Grammatiker Aulus Gellius, der möglicherweise ebenfalls afrikanischer Abstammung war, sein in Numidien geborener Freund Julius Celsius und der Senator Arrius Antoninus, dessen Vater aus Cirta stammte. Außerdem war Fronto der Schutzherr mehrerer junger Menschen, und es gibt Nachweise dafür, dass er versuchte, seinen Schützlingen die Unterstützung hochrangiger Persönlichkeiten in Cirta zu sichern. Er war auch an staatlichen Angelegenheiten interessiert, die Afrika betrafen, wie etwa in einer Rede vor dem Senat deutlich wird, in der er Antoninus für seine Unterstützung Karthagos (heute Region Tunis) dankte, womöglich, nachdem dort ein Feuer ausgebrochen war.

Claassen erklärt, dass im Allgemeinen »Afrikaner zu jener Zeit nur sehr selten als ›von den Römern unterschieden‹ wahrgenommen wurden«.62 Allerdings erwähnt sie auch eine Gelegenheit, bei der der Hintergrund eines afrikanischen Mannes in den Vordergrund rückte. In einem Brief, der von Marc Aurel stammen soll, wird Kaiseraspirant Clodius Albinus beschrieben als »ein afrikanischer Mann, der jedoch nur wenig des Afrikaners in sich trägt«, ein »afrikanischer Held«, den »Marc ernannt hatte, zwei Kohorten zu führen, und der mit einem ›doppelten Gehalt‹ und einer ›vierfachen Besoldung‹ belohnt wurde«.63 Claassen und andere haben jedoch die Echtheit dieser Briefe angezweifelt und darauf hingewiesen, ihre Quelle sei »fragwürdig«.64

Frontos Auffassung von sich selbst als afrikanisch zeigt sich in einem auf Griechisch geschriebenen Brief an Aurels Mutter Domitia Lucilla.65 In seinen Schriften hielt er sich mit Kritik an Afrika oder den Afrikanern konsequent zurück und stellte diese als den Römern weder unter- noch überlegen dar. Allerdings pries er stets die Fähigkeiten und Siege der römischen Armee und sah sich selbst als Römer, der an das imperiale Projekt glaubte. Dazu gehörte, die Armee zwar nur als letztes Mittel einzusetzen, aber auch nicht vor Kämpfen zurückzuschrecken. Frontos Afrikanität scheint also von geringer Bedeutung für seine ansonsten außergewöhnliche Karriere und Lebensgeschichte gewesen zu sein.

»Afrikanität«, wie sie von Jacques Maquet und vielen anderen definiert wurde, ist eine zeitgenössische Bezeichnung, die afrikanische Kulturen durch ihre Einheit und Ähnlichkeiten charakterisiert.66 Diese Definition ist angefochten worden, aber der Begriff eröffnet auch Beschreibungsmöglichkeiten, etwa hinsichtlich der Solidarität unter jenen, die in afrikanischen Provinzen unter römischer Herrschaft geboren wurden. Außerdem bezeichnet er ein Gefühl von Gemeinschaft zwischen denen, die ihren Geburtsort verließen und sich ausgezeichnete Karrieren in Zentren wie Rom, Sevilla und anderen aufbauten. Wenn wir die Leben von Figuren wie Fronto und dem Philosophen und Rhetoriker Apuleius durch diese Linse betrachten, wird ihrer Laufbahn als afrikanische Intellektuelle, die in Europa lebten, eine weitere Facette hinzugefügt.

Apuleius wurde in Madauros in der römisch-afrikanischen Provinz Numidien geboren. Als Sohn eines Magistrats erbte er ein beträchtliches Einkommen, das es ihm erlaubte, in Karthago, Athen und schließlich Rom zu studieren. Die Unterschiede zwischen Fronto und Apuleius werden deutlich in der Art und Weise, wie sie ihre Identitäten präsentieren. Fronto erwähnt seine Fremdheit, indem er sich für einen Mangel an Kultiviertheit seines Griechischs entschuldigt:

Und schließlich wird gesagt, dass auch jener berühmte Skythe, Anacharsis, kein gänzlich attisches Griechisch sprach, jedoch für seine Bedeutungstiefe und seine Gedanken gepriesen wurde. Nicht, dass ich mich in Sachen Weisheit mit Anacharsis vergleichen würde, um Gottes willen, lediglich in der Hinsicht, dass ich ein Barbar bin wie er. Immerhin war er ein Skythe der nomadischen Skythen, und ich bin ein Libyer der libyschen Nomaden.67

Damit wollte er zeigen, wie zutiefst römisch er war, allerdings verwies der Begriff »Barbar« auch auf seine Verbindungen zu Nordafrika. Im Gegensatz dazu hebt Apuleius in seiner Apologia – eine Rede, in der er sich gegen die Anschuldigung der Magie verteidigt – stolz sein meisterliches Griechisch hervor, um zu betonen, dass er ein integraler Bestandteil der römischen Elite war, die sich durch ihre hervorragenden Sprachkenntnisse auszeichnete. In einem rhetorischen Zweikampf verweist Apuleius außerdem auf die Abstammung seines Gegners aus Zarat, einem armen afrikanischen Dorf.68 Wytse Keulen legt nahe, da nordafrikanische Eliten um die Gunst des römischen Prokonsuls in Numidien konkurrierten, hätten einige afrikanische Gelehrte nicht gezögert, ihre nordafrikanischen Gegenspieler zu verunglimpfen und zu diskreditieren.69 Indem er seinen Geburtsort in seine Metamorphosen einbaute, demonstrierte Apuleius allerdings auch, dass man stolz darauf sein konnte, in Nordafrika geboren zu sein. Das Lob der eigenen Herkunft erfüllte verschiedene Zwecke. Einer davon hatte mit Protektion zu tun. Wie Keulen feststellt, waren Männer, die sich an ihrem Geburtsort ausgezeichnet hatten, hoch angesehen und konnten auf die Unterstützung der Herrschenden in Rom hoffen. Afrikanische Römer wie Fronto, Septimius und Apuleius bereiteten den Boden für eine starke Tradition afroeuropäischer Intellektueller.

Afrikanische Europäer

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