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Vorspiel

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Das Haus ist eines dieser typischen Mietshäuser mit Wohnungen so klein wie Schuhschachteln. Lediglich im obersten Stock gibt es eine größere Wohnung, ein geräumiges Penthouse.

Lange Zeit lebten wir hier in Ruhe. Es gab die üblichen Streitereien zwischen Nachbarn. Dürfen Schuhe in der gemeinsamen Waschmaschine gewaschen werden? Darf eine wöchentlich gekochte Fischsuppe im gesamten Treppenhaus den Geruch bestimmen? Ab wann ist Musik Lärm? Was ist mit Türenschlagen in der Nacht? Wieviel Hundegebell ist erlaubt? Und so weiter. Der eine hält den anderen für unverschämt, rücksichtslos oder verrückt. Die Mehrzahl versteht sich allerdings einigermaßen. Man duldet einander. Und manchmal entstehen sogar Freundschaften.

Diese verhältnismäßige Ruhe war nach der letzten Party bei Zimmermann für immer dahin. Es passierte etwas Entsetzliches. Und obwohl man sich kaum etwas Schlimmeres vorstellen kann, war das erst der Anfang.

Einmal im Monat lädt Leonardo Zimmermann alle Einwohner zum Aperitif auf seine Dachterrasse ein. Er bewohnt das große Penthouse. Es ist nicht nur ein Aperitif, Zimmermann bietet uns mit Kanapees, Schinken, Käse, Lachs, Scampi, Salaten, Süßspeisen überhäufte Platten an und fachmännisch gekühlten, besonders feinperligen Champagner. Erstaunlicherweise kommen alle, und wir bleiben meist bis tief in die Nacht, tratschen, scherzen, lachen.

Mit mir unterhält sich Zimmermann meistens über meine paranormalen Forschungen. Er fragt, an was ich gerade arbeite. Ich erzähle ihm dann, wie weit ich mit einem Manuskript über das Gedächtnis von Dingen und Orten bin, auch wenn ich das Gefühl habe, dass ihn das Thema nicht sonderlich interessiert.

Die Feldner-Schwestern, zwei junge Mädchen, die eine Banklehrling, die andere auf Stellensuche, zieht Zimmermann nur allzu gerne mit Witzen auf. Sie kichern spontan los, und ihr Gekicher steckt alle anderen an. Alle nennen sie die Feldner-Schwestern, als seien sie keine Individuen. Dabei gleichen sie sich gar nicht. Die eine ist eine stämmige Rothaarige, die andere eine zierliche Blondine.

Frau Mooskop, pensionierte Kurzwarenverkäuferin, und Frau Rauhaar, pensionierte Schneiderin, bedient Zimmermann höflich, lässt sie aber während des Abends eher links liegen. Frau Mooskop verkaufte Damenunterwäsche. Damals sagte man noch Damenunterbekleidung. Die Zeit der allgegenwärtigen Dessous hat sie wohl nicht mehr mitgemacht. Frau Rauhaar ist etwas jünger. Ihren Beruf üben hierzulande nicht mehr viele aus. Es gibt kaum noch Scheiderinnen außerhalb der Haute Couture. Sie werden einfach nicht mehr gebraucht. Frau Rauhaar ist ledig. Sie war als junges Mädchen vollauf mit ihrer Schneiderlehre beschäftigt gewesen und hatte angeblich schlicht keine Zeit für Männer gehabt. Im Gegensatz zur Mooskop kleidet sich die Rauhaar modern, sie hat Geschmack und scheut sich nicht vor Farben.

Es ist seltsam, dass Zimmermann die Mooskop und die Rauhaar bedient, aber nicht Ramona Valdes. Ramona ist ebenfalls älter. Wobei ihr Alter schwer einzuschätzen ist. Sie könnte um die siebzig sein. Zimmermann schenkt Ramona kein Glas ein, er zwinkert ihr nur zu. Ramona trägt meistens ein viel zu kurzes Oberteil und eine zu eng anliegende Hose, die den Schritt einschneidet. Sie kleidet sich wie ein Teenager. Vielleicht ist es die Macht der Gewohnheit. Als Bardame war sie Jahrzehnte knapp gekleidet, so hat man es von ihr verlangt, und jetzt stellt sie sich nicht mehr um. Dass Zimmermann Ramona quasi wissend zuzwinkert, stört mich. Ich finde es respektlos.

Während Zimmermann die Frauen eher links liegen lässt, seine Unterhaltung mit uns beschränkt sich meistens auf ein paar wenige Witze, unterhält er sich hauptsächlich und auch ernsthaft mit den Männern, etwa über das politische Tagesgeschehen, über Anlagen oder Sport.

Besonders gut versteht er sich mit Jean Colomb, den böse Zungen im Haus trotz seiner vierzig Jahre als Muttersöhnchen bezeichnen. Ebenso mag er offensichtlich Marco Bentivoglio, eine graue Büromaus, und den Balletttänzer Matt Reynolds, den Oscar Wilde zum Vorbild für Dorian Gray hätte nehmen müssen, wenn er ihn denn kennengelernt hätte.

Die einzige Frau, die sich manchmal zu der Männergruppe gesellt, und von den Männern auch einbezogen wird, ist Marina Dunst. Die Dunst ist groß, dick und launisch. Du musst bei ihr jedes Wort auf die Goldwaage legen. Marina Dunst fühlt sich angegriffen, auch wenn man das nicht im Mindestens beabsichtigt hat, und putzt einen aus heiterem Himmel herunter. Mehr und mehr habe ich den Verdacht, es macht ihr Spaß, sie braucht es.

Priscilla Klein und ich bilden ein Gesprächspaar für sich. Wir sind beide in den Fünfzigern, fühlen uns aber eher wie in den Dreißigern. Wahrscheinlich, weil wir nie verheiratet waren, keine Familien gegründet haben; man altert dann langsamer und bleibt irgendwie unreif, habe ich den Verdacht. Priscilla leitet den Onlineverkauf eines Fitnessgeräteherstellers. Ich fühle mich mit ihr wohl, ohne dass ich wüsste, weshalb. Manche Menschen sind wohltuend entspannend, tolle Kumpel.

Priscilla und Marina sind schon öfters aneinandergeraten. Grund sind Priscillas zwei Chihuahuas. Marina Dunst wohnt im ersten Stock direkt über Priscilla und hört die Chihuahuas bellen. Sie bellen regelmäßig, wenn Priscilla nicht da ist und jemand die Haustüre zuschlägt. Vor einer Woche kam es zwischen Priscilla und Marina beinahe zu Handgreiflichkeiten. Marina bezichtigte Priscilla im Treppenhaus der Tierquälerei. Zwei Hunde dürfe man nicht in so einer kleinen Wohnung halten. Sie drohte Priscilla sogar, sie beim Tierschutz anzuzeigen. Bislang hatte sich Marina nur bei der Verwaltung über das Hundegebell beschwert, mit geringem Erfolg, jetzt wollte sie anscheinend eine Eskalation. Ich hatte Priscilla im Treppenhaus schreien gehört. Sie schreit sonst nie, ist immer beherrscht. Aber da schrie sie aus vollen Lungen, dass Marina sich gefälligst um ihren eigenen Dreck scheren solle.

Fehlen noch die Wistlers. Die Wistlers kommen immer später als alle anderen. Frau Wistler ist eine hübsche Brünette in den Vierzigern und schreibt anscheinend Romane. So ganz genau weiß das niemand. Herr Wistler ist zwanzig Jahre älter, sieht aber aus, als wäre er vierzig Jahre älter. Ich wundere mich, wie die beiden auf so engem Raum zusammenleben können. Bei den Wistlers haben wir nicht den klassischen Fall, bei dem der alte Mann die jüngere Frau aushält. Hier ist es umgekehrt. Er muss den Haushalt machen und einkaufen, sie schreibt und scheint das gemeinsame Leben zu finanzieren. Da noch niemand von uns einen ihrer Romane gefunden oder irgendetwas über sie gelesen hat, frage ich mich, wie sie ihr Geld verdient. Vielleicht hat sie geerbt. Herr Wistler muss schon bessere Tage erlebt haben. Er ist wohlerzogen und umfassend gebildet. Einmal hat er mir erzählt, er sei in seiner Heimat, Kanada, lange beim Militär gewesen und hätte dort später eine Tierfutterfirma mit zweihundert Angestellten geleitet. Schwer zu sagen, ob es stimmt. Ich habe nicht nach dem Namen der Firma gefragt. Manchmal will man eine Lüge nicht herausfinden; Wistler ist mir aufgrund seiner soliden Bildung zu sympathisch.

Bis auf das Schriftstellerpaar, so nennen wir die Wistlers, und die Feldner-Schwestern lebten in allen Wohnungen nur Einzelpersonen. Und bis auf das Schriftstellerpaar waren alle Singles. Ein Singledasein ist für viele unbefriedigend, egal, wie alt man ist. Vielleicht herrschte auch deshalb im Haus eine Stimmung, die leicht ins Ungute kippen konnte, musste ich später denken.

Im Juli lud uns Zimmermann das letzte Mal zum Aperitif ein. An dem Abend war der Himmel sternenklar, und es war warm bis spät in die Nacht. Den Champagner hatte Zimmermann von einem kleinen Gut bei Chamery kommen lassen. Und wie immer war er perfekt gekühlt. Zimmermann hatte Lager- und Weinkühlschränke, wie man sie nur aus einem Restaurant kennt. Und dieser Champagner war etwas ganz Besonderes. Er leuchtete goldgelb. Nach dem zweiten Glas musste ich ständig lachen. Auch die Feldner-Schwestern kicherten unablässig beim kleinsten Anlass. In so einer Laune konnte es nicht ausbleiben, dass bald alle über den einzig nicht Anwesenden, Enis El Agha, zu tratschen und zu lachen begannen.

Enis war vor wenigen Monaten ins Haus gezogen. Er hatte das Mini-Penthouse gegenüber von Leonardo Zimmermann gemietet und bislang jede Einladung zum Aperitif ausgeschlagen. Dass Zimmermann uns ständig mit einer Grimasse einschärfte, doch nicht so laut über seinen Nachbarn zu reden, machte das Ganze noch komischer und ließ uns noch mehr lachen. Ich gebe zu, wir waren gemein. Besonders, weil wir Enis kaum kannten und hauptsächlich böse Mutmaßungen anstellten. Aber gemein über andere zu reden ist einfach ein Riesenvergnügen. Tratsch gehört zum gesellschaftlichen Leben, wenn man das hier überhaupt Gesellschaft nennen konnte. Aber selbst ein Mikrokosmos wie unser Haus, und sei er auch von lauter Außenseitern bewohnt, bildet so etwas wie die Grundstruktur einer Gesellschaft heraus, und dazu gehört, dass man sich über deren Mitglieder austauscht und auch, dass Mitglieder hinter dem Rücken anderer Mitglieder tratschen. Es ist ein Prozess der Selbstbespiegelung, der Selbstvergewisserung, der auch schmerzhaft sein kann.

Zimmermann wollte nun herausgefunden haben, dass Enis aus Syrien stammt, aus Damaskus. Seine Eltern hatten ihn, laut Zimmermann, zum Medizinstudium nach Europa geschickt.

Als Zimmermann uns das erzählte, lachte Marina Dunst laut ein extratiefes Lachen: „Der ist doch Asylant.“

Jean verzog sein Gesicht. „Willst du damit sagen, der Staat zahlt ihm die Penthousewohnung?“

„Kluges Bürschchen. Wir, die Steuerzahler, zahlen ihm die Luxusbleibe“, stimmte Marina Dunst ein.

Luxusbleibe konnte man Enis‘ Wohnung kaum nennen. Ich kenne die Wohnung, sie besteht aus einem Zimmer mit winzigem Bad und Kochecke, insgesamt 25 Quadratmetern. Der einzige Luxus ist der kleine Teil der Dachterrasse im fünften Stock, der dazugehört.

„Scht, scht“, Zimmermann versuchte den Ton zu dämpfen. „Wenn er in Damaskus lebt, ist er ja nicht unbedingt ein Flüchtling. Seine Eltern gehören vielleicht zum Asad-Establishment.“

„Na und?“, rief Marina mit tiefer Alkoholstimme. „Der kriegt trotzdem Geld vom Staat. Da verwette ich die Chihuahuas drauf.“

„Unverschämtheit“, zischte Priscilla. Ich zupfte sie am Arm, um Schlimmeres zu verhüten.

„Kommen hierher und lassen sich von uns aushalten, wollen aber nichts mit uns zu tun haben, gucken auf uns herab, weil wir Ungläubige sind“, grollte Marina.

Der mausgraue Bentivoglio regte sich auf einmal. Er hielt sich sonst immer zurück, als wolle er unter gar keinen Umständen auffallen. „Ein Syrer in einer teuren Penthousewohnung wird vom IS bezahlt! Das ist meine Meinung.“ Er wurde ganz rot. Wahrscheinlich, weil er zum ersten Mal eine eigene Meinung vertrat.

Marina sperrte die Augen so weit auf, dass ich schon Angst bekam, die Augäpfel sprängen heraus. „Klar! Genau. Schlaues Kerlchen.“ Sie blies Luft aus der Nase. „Wir können uns auf was gefasst machen hier drin. Ich sag’s euch. Da bleibt kein Stein auf dem anderen. Am besten, wir geben der Polizei einen Wink.“

Zimmermann versuchte abermals zu beschwichtigen: „Ruhig. Ruhig. Das ist doch ein gut aussehender, ganz freundlicher junger Mann ...“

„Warum will er dann nichts mit uns zu tun haben?“, blaffte Marina dazwischen.

„Er ist vielleicht nur schüchtern.“ Zimmermann zuckte mit den Schultern.

Die Wistlers standen sonst immer beiseite und tranken. Umso mehr war ich überrascht, als Frau Wistler sich einmischte: „Gleich die Polizei holen, nur weil jemand Syrer ist, das ist doch … rechtsradikal!“

Herr Wistler nickte eindringlich.

Als hätte Marina Dunst nur auf diesen Augenblick gewartet, baute sie sich in voller Größe vor den Wistlers auf und hielt schreiend einen Vortrag über das exponentielle Anwachsen der Kriminalität im Land infolge der Straftaten von Migranten.

Spätestens hier war der Abend gekippt. Die Feldner-Schwestern waren mucksmäuschenstill verschwunden. Ich hatte es nicht einmal bemerkt.

Nachdem Marina Dunsts Vortrag, den niemand zu unterbrechen gewagt hatte, endlich beendet war, kam keine gute Stimmung mehr auf. Wir standen noch eine Weile verlegen auf der Terrasse herum. Bald ging einer nach dem anderen unter einem fadenscheinigen Vorwand.

Leonardo Zimmermann tat mir leid. Er gab sich jedes Mal solche Mühe, bewirtete uns großzügig, und jetzt hatte die Dunst ihm den Abend komplett versaut. Vielleicht war das ihre neue Masche, bei einer Party einfach dreinzuschlagen und das Fest zu sprengen, zum Verdruss aller, statt nur eine einzelne Person zur Schnecke zu machen.

Als ich am Tag danach einen Zettel in meinem Briefkasten fand, auf dem Marina Dunst Unterschriften sammelte, um Enis aus dem Haus zu ekeln, angeblich gab es in unserer Hausordnung die Möglichkeit, jemanden loszuwerden, falls alle anderen Mieter unterschrieben, schämte ich mich, dass ich am Abend zuvor nichts gegen das Geschimpfe auf Enis eingewandt hatte.

Das Haus

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