Читать книгу Das Haus - Olivia Monti - Страница 4
Kapitel I
ОглавлениеIch kriege das Bild, das ich an dem Morgen sehen musste, einfach nicht mehr aus dem Kopf. Es war früh am Morgen, und es regnete. Der Regen fiel in dichten Schnüren. Zuerst erblickte ich nur einen Schuh. Dann, als ich weiter aus der Haustür trat und um die Ecke bog, sah ich Enis. Ein paar Tauben flogen knatternd hoch. Enis lag auf dem Rücken mit verrenkten Gliedmaßen. Eine klebrige Masse quoll seitlich aus seinem Kopf. Sein Gesicht glänzte vom Regen. Es wirkte wie tränenüberströmt. Um Kopf und Schultern färbte sich die Nässe schwarzrot. Sein weißes Hemd war durchsichtig geworden. Die dunkelblauen Hosen klebten wie Lappen an seinen unförmig gewordenen Beinen.
Ich bin nicht einmal erstarrt. Und ich konnte auch nicht schreien. Ich stürzte zurück ins Haus und wählte den Notruf.
Ich wartete zitternd im Eingang, bis der Krankenwagen mit Sirenengeheul vor dem Haus hielt. Ich kann mich nur noch vage erinnern, was ich ins Telefon gestottert hatte. Wahrscheinlich ging daraus nicht hervor, dass Enis schon tot war. Die Einsatzleute brauchten nicht lange, um das festzustellen, und riefen dann die Polizei.
Es regnete weiter ohne Unterlass. Wasser spritzte mir ins Gesicht, obwohl ich unter dem Vordach des Eingangs stand. Kein anderer Bewohner war zugegen. Dann hörte der Regen plötzlich auf. So abrupt, als sei es nur ein Bühnenregen gewesen. Und ich wünschte mir verrückterweise, dass es nur eine Filmszene sein mochte. Klappe, Enis steht auf, schüttelt sich. Einer der Notfallhelfer reicht ihm ein Handtuch zum Abtrocknen.
Das Eintreffen der Polizei riss mich aus meinem Wahn. Sie wollten alles Mögliche von mir wissen. Ich zeigte zum vierten Stock hoch und sagte: „Da oben hat er gewohnt.“
In der Wohnung darunter bewegte sich ein Vorhang. Es war die Wohnung von Frau Mooskop.
Enis‘ Körper wurde in einem Metallsarg abtransportiert. Auf dem Gehweg blieben nur ein paar verwaschene braune Flecke zurück. Es war fast so, als sei nie etwas geschehen. Dass es aber doch geschehen war, hatte sich dann bis zum Abend im ganzen Haus herumgesprochen.
Priscilla klingelte um sieben Sturm an meiner Tür. „Weißt du schon …?“ Ja, ich wusste schon … leider, und die Bilder gingen mir einfach nicht mehr aus dem Kopf.
„Die Rauhaar sagt, er hat sich von seiner Dachterrasse runtergestürzt. Selbstmord.“
„Aber warum?“ Ich bat Priscilla herein.
Sie ließ sich auf mein Sofa fallen. Ich dachte nicht, was ich sonst gewöhnlich dachte, dass man nachher einen Haufen Hundehaare auf dem dunklen Samt sehen würde. Ich vergaß auch, Priscilla etwas zu trinken anzubieten. Ich vergaß einfach alles. Ich war ziemlich durcheinander.
„Im Treppenhaus hab ich mit Zimmermann geredet. Er war völlig fertig, hatte sogar Tränen in den Augen. Er meinte, der Tod von Enis fiele auf das Haus zurück. Auf uns alle. Niemand habe wahrgenommen, wie unglücklich Enis war, und fast jeder hier drinnen hätte noch ein Leid hinzugefügt. Jeder von uns müsse sich fragen, ob er es nicht hätte verhindern können.“
Ich biss mir auf die Lippe und schwieg. Ich brachte nichts heraus. Ich spürte nur einen Klos im Hals, der immer härter wurde, schon schmerzte. Dann heulte ich los.
Priscilla legte einen Arm um mich.
„Entschuldige“, stammelte ich nur.
„Ruhig. Ganz ruhig. Sogar Zimmermann sind die Tränen gekommen. Und ich wein vielleicht später noch. Ich muss mir nur vorstellen, Boris und Churchill wäre so was passiert. Von der Terrasse runtergefallen ...“ So hießen Priscillas Chihuahuas, Boris war eine Abkürzung für Boris Johnson.
Mein Geheul stoppte. Ich konnte mich gerade noch beherrschen, nicht in irres Gelächter auszubrechen. Ich war mit den Nerven fertig.
Als Priscilla wieder fort war, wünschte ich mir einen Moment lang auch ein Tier in meiner Wohnung. Vielleicht einen Haushasen. Hasen sind Vegetarier und stinken fast nicht. Es hätte jetzt etwas ungemein Beruhigendes gehabt, wenn so ein Wesen hier herumwuselte, das Wärme ausstrahlt, von nichts Schlimmem weiß, unschuldig in den Tag hinein frisst, schläft, lebt.
Bis tief in die Nacht hinein hielten mich Grübeleien wach. Sie hatten mit meiner Arbeit über das Gedächtnis von Orten und Gegenständen zu tun. Es gibt da eine Annahme: Ein Ort, also auch ein Haus wie das unsere, speichert alles, was in ihm geschieht. Nicht nur jede Handlung, auch jedes Gespräch, jeden Gedanken, jedes Gefühl. Und es gibt abenteuerliche Theorien von Physikern, in was für einem physikalischen Feld alle diese Informationen verschlüsselt werden. Durchaus seriöse Hypothesen, vorgebracht von Forschern wie dem berühmten Einsteinschüler David Bohm.
Jeder von uns kann mehr oder weniger das Gespeicherte spüren. Wir haben alle diese Fähigkeit. Heftige Gefühle und Wiederholungen prägen sich einem Ort besonders ein und sind auch von uns stärker wahrnehmbar. Ist an einem Ort etwas Schreckliches geschehen, so kann es gut sein, dass wir uns an dem Ort bedrückt fühlen. Manche haben nur ein ganz undeutliches, mulmiges Gefühl. Ganz wenige sehen sogar im Geist vor sich, was konkret an diesem Ort passierte.
An dem Abend fragte ich mich, ob wir vielleicht in einem Haus wohnten, das die Einwohner bedrückt, und einen von ihnen derart, dass er sich aus dem fünften Stock gestürzt hat.
Im Haus wohnten lauter Singles in kleinen Wohnungen. Ein Teil junge Leute, die in die Berufswelt mussten und Ängste ausstanden. Ein anderer Teil ältere Menschen, die sich nichts Besseres leisten konnten und einsam waren. Das heißt, das Thema der Einsamkeit wiederholte sich Tag für Tag und auch die Ängste, es irgendwo in dieser Welt alleine schaffen zu müssen, wiederholten sich. Diese Gefühle sind sehr aufdringlich. Die Wände saugen sich voll damit und strahlen eine zähe Bedrückung ab, die womöglich manche, mir fiel Marina ein, aggressiv machte und in einem Fall vielleicht sogar einen jungen Menschen in den Tod gestürzt hatte.
Am Samstagmorgen fühlte ich mich stark betäubt. Um doch noch schlafen zu können, hatte ich in der Nacht viel zu spät noch eine Schlaftablette geschluckt.
Ich hatte mich an dem Tag zum Wäschewaschen in einer der zwei Waschküchen im Keller eingetragen. Eigentlich war ich froh, dass ich gleich etwas zu tun hatte, etwas Alltägliches. Alltagsverrichtungen beruhigen; sie machen einem vor, das Leben geht weiter. Sogar nach der schlimmsten Zäsur. Enis‘ Tod war eine brutale Zäsur. Es fiel mir dennoch sehr schwer, gleich wieder zur Tagesordnung überzugehen, so zu tun, als sei nichts passiert. Enis stand mir immer wieder vor Augen. Wenn ich nicht gerade seinen leblosen Körper vor mir sah, musste ich an den lebendigen Enis denken, dessen Weg ich ab und zu im Treppenhaus gekreuzt und der mich immer höflich lächelnd gegrüßt hatte. Er war ein schöner junger Mann gewesen. Was Matt Reynolds in Blond war, war Enis El Agha in Schwarz. Enis war lediglich weniger trainiert als Matt, der im Ballett der Oper tanzte. Und Enis hatte nicht Matts gesunden Teint; er wirkte eher blass und seine Gesichtshaut ein bisschen teigig, so als vertrage er unser nördliches Klima nicht. Enis wollte nicht groß Kontakte im Haus, das war allen aufgefallen. Ich überlegte, an was allem er gelitten haben konnte. Zieht man sich zurück, hat man eventuell eine Depression. Hatte er die Gräuel des Bürgerkriegs erlebt? Wirkten die unauslöschlich nach? War ihm in einem neuen Land alles zu fremd? Hatten seine Eltern für ihn entschieden, dass er sich in dem ihm völlig fremden Land eine Existenz aufbauen sollte? Glaubte er in einer Art Wahn oder Verzweiflung, sich dem nur durch Selbstmord entziehen zu können? War es das?
Während ich noch über Enis‘ Tod nachgrübelte, hörte ich Marco Bentivoglio und Marina Dunst in der Waschküche nebenan reden. Wahrscheinlich war es Bentivoglios Waschtag und Marina fragte ihn, ob sie auch waschen konnte. Sie tat das regelmäßig und bat Bentivoglio auch sonst ständig um Gefallen. Bentivoglio sagte nie Nein. Er galt allgemein als hilfsbereit. Vielleicht lehnte er auch nur aus Schwäche kein Ansinnen ab ...
Ich war gerade dabei, die Maschine mit Schmutzwäsche zu füllen, stellte sie aber nicht gleich an, sondern horchte, weil die Stimmen nebenan so alarmierend laut wurden.
„Du spinnst!“, rief Marina. „In unserem Haus wird doch niemand umgebracht!“
„Wenn es ein IS-Mann war, dann haben die ihn vom Dach gestürzt und es wie Selbstmord aussehen lassen.“
Ich hörte etwas wie „Pffffft“ und stellte mir vor, wie Marina Dunst Marco Bentivoglio den Vogel zeigte. „Wer soll das gewesen sein?“, blaffte Marina wieder so laut, dass es geradezu herüberschallte.
„Na, die Geheimdienste, ein westlicher Geheimdienst.“ Bentivoglios Stimme wurde leiser und klang zittrig. „Haben ihn aufgespürt und neutralisiert.“
Marina sprach in einem Schwall, als hätte sie zuerst Luft geholt, und schrie dann los: „So ein Quatsch. Der Staat hier ist doch viel zu zahm. Terroristen kommen hier nicht hinter Schloss und Riegel … die kriegen Bauspardarlehen …“
Den Rest konnte ich nicht verstehen, weil sie auf einmal verschwörerisch leise sprach. Dann wieder laut: „Für mich ist der Fall abgeschlossen. Ich will nichts mehr davon wissen. Enis‘ Tod geht mir so was von am Arsch vorbei.“
Irgendetwas rumpelte, ich hörte Türenschlagen, Schritte. Zum Glück war meine Waschküchentür zu. Ich wartete reglos, wagte kaum zu atmen.
Ich habe die Maschine erst angeschaltet, als alles ganz still war und nur noch die Tauben vor dem Kellerfenster gurrten. Die pickten dort die Krümel auf, die von Frau Mooskops Fenstersims herunterfielen. Die Mooskop fütterte bei sich den ganzen Tag die Tauben.
Was ich gehört hatte, machte mir Angst. Nicht, dass ich Enis für ein IS-Mitglied hielt, mit allen Folgen, die das für uns hier drinnen haben konnte. Es war die Rohheit Marinas, die mich erschreckte. Wäre jemand, der so wenig Empathie für andere empfand, dem, um es genauer zu formulieren, der Tod eines Nachbarn am Arsch vorbeiging, nicht auch irgendwann zu schlimmeren Übergriffen fähig als zu bloßen Verbalattacken?
Und nicht nur das machte mir Angst. Samstags herrschte normalerweise viel Betrieb im Haus, ein Kommen und Gehen. An diesem Samstag war aber das Haus wie ausgestorben. Nicht einmal Boris Johnson und Churchill bellten. Da ich mich wie gesagt mit Paranormalem und nebenbei auch mit Geistern beschäftige, drängte sich mir die Vorstellung auf, dass Enis nach seinem Tod – in welcher Form auch immer – noch im Haus umherwandelte, die Einwohner das diffus spürten und sich so jeder vor dem Unheimlichen, dem Unbegreiflichen in seinen eigenen vier Wänden verschanzte. Auf jeden Fall waren die Verzweiflung und die Ängste noch gegenwärtig, die Enis ausgestanden haben musste, um eine so schwerwiegende Entscheidung zu treffen. Sie hingen in der Luft, sie hüllten das Haus in eine Todeswolke, machten es zu einem Totenhaus. Und zumindest das konnte wohl jeder spüren.
Am Sonntag stellte sich dann heraus, dass Enis vor seinem Tod ganz andere als die von mir angenommenen Ängste ausgestanden haben musste.
Die Polizei kam ins Haus, klingelte an jeder Tür, befragte uns alle.
Enis El Agha hatte Prellungen am ganzen Körper und Würgemale am Hals gehabt, die er sich nicht selbst hätte beibringen können. Es sah nach einem Kampf aus. Jemand hatte ihn aller Wahrscheinlichkeit nach übers Geländer seiner Terrasse gestürzt, oder es war im Handgemenge einfach passiert.
Wir waren von einem Totenhaus, wie es aussah, zu einem Mörderhaus avanciert. Und das Verbrechen hinge hier nach meinen Annahmen fortan in der Luft, würde sich nicht mehr aus den Mauern lösen.
Das war noch schlimmer. Neben dem Tod haftete dem Haus nun auch noch etwas Böses an.
Die zwei Polizisten, die mich im Treppenhaus vor meiner Wohnung befragten, waren freundlich. Sie wollten wissen, ob ich Enis gekannt und irgendetwas Ungewöhnliches im Haus beobachtet hatte. Als ich beides verneinte, wollten sie nicht mehr viel von mir. Ich hatte den Eindruck, sie hielten mich für unverdächtig. Sie fragten mich noch, ob ich wisse, wann Herr Zimmermann da sei. Ich sagte ihnen, dass Leonardo Zimmermann das Wochenende bei seiner geschiedenen Frau und seinen beiden Söhnen im Westend verbrachte.
Zimmermann hatte die Penthousewohnung schon lange vor seiner Scheidung gemietet. Es wurde im Haus gemunkelt, dass er dort seine Geliebte traf. Niemand hat aber je diese Geliebte gesehen. Entweder war sie ungemein diskret oder es gab keine Geliebte und Zimmermann wollte einfach irgendwo Ruhe vor seiner Familie haben. Nach der Scheidung hatte Zimmermann die Villa im Westend seiner Familie überlassen und war ganz in unser Haus gezogen. Er lebte hier nun schon ein Jahr fest, und es schien ihm zu gefallen. Seine monatlichen Aperitif-Einladungen haben das Haus-Klima bedeutend verbessert. Die Abende bei Zimmermann waren nicht nur ausgelassen, sie hatten etwas Familiäres. Man fühlte sich nach einer Einladung bei ihm mehr zu Hause im Haus, zugehörig. Das Haus erhielt etwas Heimeliges, zumindest für eine kurze Zeitspanne danach. Ich hoffte, diese Einladungen würden nach dem erschreckenden Tod von Enis nicht ausgesetzt. Ich gebe zu, es war taktlos von mir, das zu hoffen. So ist der Mensch, er kann ohne Weiteres in einer Schreckens-, einer Trauersituation an ein Vergnügen denken; vielleicht nur, um nicht unterzugehen.
Im Hintergrund ging Matt Reynolds vorbei, die Treppe hinunter. Er nahm nie den Aufzug. Die Polizisten drehten sich um. Matt hob die Hand zum Gruß und ging weiter. Anscheinend hatten die Polizisten Matt schon befragt.
Die Polizisten verabschiedeten sich von mir und gaben mir eine Karte mit einer Nummer, die ich anrufen sollte, wenn mir etwas einfiele, etwas, das ich gesehen oder gehört hätte und das hilfreich für die Aufklärung des Verbrechens sein könnte.
Als ich wieder alleine in meiner Wohnung war, fragte ich mich, ob Matt wirklich so bleich gewesen war, mit so dunklen Ringen um die Augen, oder ob die Neonbeleuchtung im Treppenhaus ihn so ungesund aussehen ließ.
Matt hatte es eilig gehabt. Als wollte er nur raus aus dem Haus. So fühlte ich mich jetzt auch. Ein Verbrechen war im Haus geschehen. Das Haus war noch nie ein kuscheliges Heim gewesen und nun schon gar nicht mehr. Klar, dass man sich an einem solchen Ort nicht mehr wohlfühlte und schon gar nicht mehr alleine wohlfühlte. Ich rief deshalb gleich Priscilla an. Ich musste mit jemandem reden, und ich wollte auch wissen, was die Polizei sie gefragt hatte.
Die Polizei hatte Priscilla unter anderem Fragen über die restlichen Bewohner gestellt. Priscilla hatte geantwortet, dass man im Haus nicht viele Kontakte untereinander hatte, sie engeren Kontakt eigentlich nur zu mir pflegte. Und dass man sich ansonsten privat nur bei Zimmermann einmal im Monat zum Aperitif traf. Dass wir einander im Haus nur flüchtig kannten, wunderte die Polizisten nicht. Das war in den meisten Mietshäusern so. Alle waren so mit sich selbst beschäftigt, dass Einladungen von Nachbarn eine Seltenheit waren. Man lud ja nicht einmal mehr Arbeitskollegen oder Freunde ein. Gewundert hat sie allerdings Zimmermanns Gastfreundschaft. Die fiel aus dem Rahmen in unserer müden Zeit.
Als Priscilla vorschlug, zu mir zu kommen, um das schreckliche Vorkommnis zu bereden, war ich erleichtert. Unter normalen Umständen hätte ich an meinem Manuskript über das Gedächtnis von Dingen und Orten weitergeschrieben. Daran war aber heute nicht zu denken. Ich konnte mich nicht konzentrieren, konnte nicht zur Tagesordnung übergehen. Ich war verstört, verängstigt.
Priscilla kam nicht alleine, sie war in Begleitung der Rauhaar. Was mir sonst aufdringlich erschienen wäre, einfach ohne Anmeldung bei mir hereinzuschneien, kam mir heute gelegen. Je mehr Personen zu mir kamen, umso sicherer fühlte ich mich. Ich freute mich sogar, dass Priscilla an die Rauhaar gedacht hatte; die Rauhaar war bekannt dafür, dass sie überall im Haus herumschnüffelte, wahrscheinlich ungemein viel Zeit hinter dem Spion ihrer Wohnungstür verbrachte und womöglich unverhohlen im Treppenhaus an den Türen horchte. Sie arbeitete zwar hier und da noch, nahm Verbesserungsarbeiten an, um ihre Rente aufzubessern, ihr war aber häufig langweilig ... Wenn wir uns im Treppenhaus über den Weg liefen, erzählte sie mir sofort den neuesten Klatsch aus dem Haus. Sie wusste einfach alles, was hier drin los war.
Der Sonntagnachmittag war gerettet. Ein Funken Gemütlichkeit kehrte zurück, als ich den beiden auf dem Sofa Kaffee und Zitronenkekse servierte. Bücher und Papiere hatte ich so zur Seite geschoben, dass die beiden gerade Platz hatten und auch auf dem Fußboden nicht über Bücher und Zettelhaufen steigen mussten.
Die Rauhaar trug ein schwarzes T-Shirt mit Spitzenkragen, einen engen weißen Rock, und grellroten Lippenstift. Sie brachte es fertig, sich in wenigen Minuten in Schale zu werfen. Sie sah immer gut aus; die billigste Kleidung konnte sie so drapieren und kombinieren, dass es geschmackvoll aussah. Ein bisschen berührte mich ihre Aufmachung seltsam; sie schien das hier womöglich als Auftritt anzusehen. Priscilla schien Ähnliches zu überlegen, sie musterte die Rauhaar rätselhaft lächelnd.
Zuerst erklärte jede gefühlvoll und ausführlich, wie sehr sie das Verbrechen schockiert hatte. Es war die obligate Einleitung. In so einem Fall konnte man nicht unmittelbar zum Tratsch übergehen. Erst als wir minutenlang unseren Horror ausgebreitet hatten, stellten wir uns die ersten Fragen.
„Was glaubt ihr, wer es getan hat?“ Ich hielt Priscillas Frage zunächst für überflüssig. „Jemand von draußen oder jemand aus dem Haus?“ Als ich den Nachsatz gehört hatte, erschien mir die Frage allerdings nicht mehr so dumm.
Die Augen der Rauhaar weiteten sich. „Genau das habe ich mich auch gefragt. Und ich tendiere zu jemandem aus dem Haus.“ Die Rauhaar klang vollkommen überzeugt, als wäre das alternativlos.
„Aber wir kennen doch Enis praktisch nicht. Mehr als im Treppenhaus Hallo gesagt, hat niemand von uns. Wer sind seine Freunde, wer sind seine Feinde, woher sollen wir das wissen?“
„Er war noch nicht lange hier. Und er war schüchtern. Viele Freunde kann er nicht gehabt haben“, warf Priscilla ein.
Die Rauhaar glühte. „Genau! Und Feinde, die hatte er hier im Haus.“
Ich musste daran denken, wie hässlich sich einige über Enis während der Party geäußert hatten. Aber war das schon verdächtig?
Wir blickten die Rauhaar an.
Sie lächelte, genoss es, kostete unsere Aufmerksamkeit aus. „Ihr habt ja wohl mitbekommen, dass Jean immer wieder Ramona mobbt …“
Ich zuckte mit den Schultern. Was hatten Jean und Ramona mit Enis zu tun?
„… Ramona ist schwarz …“
Ich korrigierte: „Mulattin.“ Ramona war aus Sao Paolo.
„… und Jean ist Rassist“, fuhr die Rauhaar unverblümt fort. Jean hatte sich ihr gegenüber anscheinend beklagt, dass solche Leute wie Ramona im Haus wohnten. Wenn noch mehr solche einzögen, würde das Haus asozial, war, so die Rauhaar, sein Fazit.
Priscilla verzog den Mund. „Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Jean Ramonas Hautfarbe stört. Es kann auch ihre Bardamen-Vergangenheit sein, ihre vulgäre Kleidung.“
Die Rauhaar wedelte mit der Hand, als fächle sie Priscillas Beitrag weg, und fuhr ungerührt fort: „Wisst ihr noch, wie er Ramona Hundedreck vor die Tür gekippt hat? Nur ganz wenig, sodass sie es nicht gleich bemerkt, aus Versehen reintritt und den Gestank bei sich in der Wohnung und im ganzen Treppenhaus verbreitet. Ich habe ihn dabei beobachtet!“ Die Rauhaar hatte uns die Geschichte damals haarklein berichtet. Sie war quasi stolz gewesen, Jean bei so einer Frechheit ertappt zu haben.
Ich fand die Geschichte unglaubwürdig. Es war einfach zu kindisch.
Die Rauhaar wollte uns auch weismachen, dass Jean Ramona regelmäßig herabsetzte. Dass er sie wiederholt in der Waschküche demütigte, darüber hätte Ramona sich sogar bei ihr höchstpersönlich weinend beklagt. Wenn Ramona wusch, sei Jean öfters in die Waschküche gekommen und habe geschimpft, wie dreckig es dort sei. Er habe Ramona dann im Befehlston angeherrscht: Jetzt wisch mal schnell den Boden auf und leer endlich das Flusensieb. Jean habe Ramona wie eine Putzfrau behandelt, wo es doch Aufgabe des Hausmeisters war, die Böden zu reinigen und die Maschinen zu säubern.
Ich konnte mir schwer vorstellen, dass das stimmte. Insbesondere konnte ich mir nicht vorstellen, dass Ramona sich der Rauhaar anvertraut haben sollte. Die beiden hatten kaum etwas miteinander zu tun. Schon kleidungsmäßig war die eine das Gegenteil der anderen.
„Ich verstehe immer noch nicht, was Jean und Ramona mit Enis zu tun haben“, bemerkte Priscilla vorsichtig.
„Aber das ist doch sonnenklar! Kannst du Schwarze nicht leiden, hasst du auch Muslime.“ Die Rauhaar machte eine Pause, um uns Gelegenheit zum Begreifen zu geben. „Wer Rassen verachtet, hat auch mit anderen Religionen ein Problem. Das geht meist Hand in Hand.“
„Sie meinen, wer eine dunkelhäutige Brasilianerin provoziert, der ist auch imstande, einen muslimischen Syrer zu töten?“, fragte ich vorsichtig.
Die Rauhaar schlürfte nachdenklich Kaffee in den Mund. „Ich habe mir da so meine Gedanken gemacht.“
Aha.
„Jean ist fast vierzig und lebt vom Vermögen seiner Eltern. Er hat noch nie gearbeitet. Die Leute piesacken ihn deshalb immer wieder, und daher ist er dauerfrustriert. Er kommt sich wertlos vor, und doch kann er aus irgendeinem Grund keiner Arbeit nachgehen. Statt die zu hassen, die ihn quälen, weil sie keinen anderen Lebensentwurf dulden, hasst er Menschen, die von denselben Leuten noch mehr verachtet werden, die auf einer vermeintlich noch tieferen Stufe stehen als er selbst. Und an denen lässt er seinen Frust aus.“
Es erstaunte mich, was die Rauhaar da zusammentheoretisierte und wie sie es formuliert hatte. Es war für sich genommen ziemlich stimmig. Nur passte es meiner Ansicht nach weder auf Jean, noch stand Enis El Agha auf einer tieferen Stufe als Jean. Enis hat Medizin studiert, seine Eltern schienen wohlhabend zu sein ...
Priscilla konnte Rauhaars Äußerungen etwas abgewinnen. „Sie meinen, Jean ist nach Jahren des Dauerfrusts einfach ausgerastet, wie es in den USA immer wieder passiert? Ein frustrierter Arbeitnehmer steckt nach Feierabend stundenlang im Stau, die Wut schäumt über, er steigt aus und schießt wahllos in die Wagen neben ihm, tötet Leute, die er nicht einmal kennt ...“
Die Rauhaar nickte in Zeitlupe, sodass es bedeutungsschwanger aussah. „So ähnlich …“, räusperte sie sich.
Das ist doch an den Haaren herbeigezogen, dachte ich, schwieg aber. Ich wollte die Rauhaar nicht kränken. Um die Unterhaltung aus der Sackgasse zu manövrieren, lenkte ich die Aufmerksamkeit von Jean weg. „Bei Zimmermann zogen ja so einige über Enis her. Nicht nur Jean. Erinnert ihr euch, was Marina über Enis sagte?“, bemerkte ich laut. Noch im Nachhinein bekomme ich eine Gänsehaut, wenn ich zurückdenke, wie hasserfüllt sich Marina damals über Enis ausließ. Und das, ohne ihn eigentlich zu kennen … „Ist sie deshalb schon verdächtig? Jemanden zu hassen und jemanden umbringen, da liegen Welten dazwischen …“
Sofort unterbrach mich die Rauhaar, bevor ich noch weitere Ausführungen machen konnte. „Sie hat Enis als Asylanten bezeichnet. Enis war für Marina jemand, der sich vom Staat Leistungen erschleicht. Und der Gipfel ist: Sie hat Unterschriften gesammelt, um Enis aus dem Haus zu mobben.“ Die Rauhaar machte eine Wirkungspause. „Da sind wir also bei meiner Verdächtigen Nummer zwei.“
Priscilla schmunzelte. Marina gefiel Priscilla offensichtlich als Verdächtige; Marina hatte schließlich ihre Lieblinge, Boris und Churchill, und damit sie selbst persönlich angegriffen.
„Marina tat gerade so, als sei sie die Steuerzahlerin, die Enis‘ Miete finanziert“, triumphierte die Rauhaar.
„So ist sie“, schmunzelte Priscilla, „sie bezieht immer alles auf sich.“
Die Rauhaar fuhr unbeirrt fort: „Sehen wir uns also Marina genauer an. Marina ist gegen alle hier drin aggressiv und sie ist ausländerfeindlich. Sie hackt ständig auf Jean herum, bezeichnet ihn als Nichtsnutz, der nichts verdient, und auf Ramona schimpfen sie gemeinsam. Marina hat auch mich neulich wieder gegen Ramona aufwiegeln wollen; sie meinte, dass in unserem Haus keine Prostituierte wohnen dürfte, sie sich ekle, in derselben Waschmaschine zu waschen wie Ramona – wer wisse, was die für Sexualkrankheiten habe –, und dass Ramona sicher auch mit Drogen handle. Und Marina wollte, dass wir es der Verwaltung stecken.“
Priscilla kicherte. „Marina verpetzt gerne Leute. Mich wollte sie schon mal beim Tierschutz anzeigen. Dabei sind ihr die Hunde scheißegal. Sie weiß, wie wichtig die Hunde für mich sind. Ich habe keine Familie. Boris und Churchill sind meine Familie. Und deshalb wollte sie mir die Hunde, das Liebste, wegnehmen.“ Sie holte Luft. „Man muss es so sehen: Marina sucht sich eine Schwachstelle und haut rein. Die Hunde sind meine Schwachstelle. Wenn sie mir jemand wegnimmt, geh ich drauf.“
Ich kannte Marinas Verhalten nur zu gut, schließlich war ich mit ihr kurze Zeit befreundet gewesen. Weil sie mich bei jeder Gelegenheit herabsetzte, habe ich die Freundschaft aufgekündigt. Sie muss begriffen haben, dass ich ein schlechtes Selbstbewusstsein habe und in die Kerbe hat sie geschlagen. Was ich tat, war dümmlich, meine Forschungsarbeit war verstiegen, selbst meine Kleidung kritisierte sie. „Was trägst du für eine billige Fahne“, sagte sie immer, wenn ich ein Kleid trug, was selten genug vorkam. Marina war eindeutig ein Biest. War sie aber deshalb schon tatverdächtig?
Die Rauhaar schluckte genüsslich einen Keksrest. „Ja, das Herumreiten auf Schwachstellen anderer macht ihr Spaß: Wenn Marina mich anspricht, sagt sie immer irgendwann: Wenn man so alt ist … Wahrscheinlich meint sie, das juckt mich, weil ich mich trotz meines Alters schick kleide und dazu noch schminke. Da denkt sie wohl, ich will dem Alter entfliehen, es sei mein schwacher Punkt. Und manchmal guckt sie mich so scharf an, dass ich Angst kriege, Blitze schießen aus ihren Augen.“ Die Rauhaar lachte auf. „Was ich euch noch nicht erzählt habe: Marina wollte auch die Mooskop anzeigen. Ihr das Sozialamt auf den Hals hetzen. Die Mooskop verwahrlose in ihrer Wohnung, sei ein Messie, man könne sie nicht mehr alleine leben lassen, sie müsse in die Betreuung.“
Priscilla lebte auf, ihre Wangen wurden ganz rot. „Die Mooskop tut niemandem was! Das Einzige, was sie möchte, ist, in Ruhe gelassen werden und die Tauben füttern. Sie ist alt und sie hat niemanden; keine Freunde, keine Verwandten. Ich habe noch nie jemanden zu ihr kommen sehen. Ihre Wohnung ist ihr Ein und Alles, ihr sicherer Rückzugsort. Sie möchte unter allen Umständen in ihren gewohnten, sicheren vier Wänden bleiben. Und gerade das hat Marina gewittert und will, dass eintritt, wovor die Mooskop am meisten Angst hat: dass sie aus ihrer Wohnung gewiesen wird, in ein Heim.“
Die Rauhaar verschluckte sich und hustete eine Weile. Dann setzte sie mit heiserer Stimme an: „Eigentlich hackt Marina immer auf Schwächeren herum. Da kann sie draufhauen, und es kommt nichts zurück. So ist es einfach nur befriedigend für sie. Eine schöne Erfahrung.“
„Sie braucht es“, stimmte Priscilla ein.
Diesen Schluss hatte ich auch schon gezogen. Als wir noch befreundet gewesen waren, hatte Marina mir vom Hass auf ihre Mutter erzählt. Ihre Mutter hatte sie ständig kritisiert. Sie konnte ihr nie etwas recht machen. Marina konnte nichts, sie war nichts, sie würde es nie zu etwas bringen. Einmal war sie von ihrer Mutter so geschlagen worden, dass sie mit zwei blauen Augen ins Krankenhaus kam. Marina war damals die Schwache gewesen, sie hatte sich als Kind nicht wehren können. Niemand hatte die Mutter damals angezeigt. Der Vater hatte sich einfach rausgehalten: Die Erziehung ist deine Sache, hatte er immer zu seiner Frau gesagt ...
Wir hatten eine Menge über Marina zusammengetragen. Ich sagte meine Meinung: „Marina mag ein aggressives Biest und ausländerfeindlich sein, aber Enis verprügeln, würgen und über die Brüstung stürzen … das ist doch etwas anderes.“
Priscilla kommentierte trotzig: „Kräftig genug wäre sie dafür.“
„Und gibt’s Ihrer Meinung nach sonst noch Verdächtige, Frau Rauhaar?“, fragte ich fast schon spöttisch, da ich das Gefühl hatte, als hechelten wir bald alle Hausbewohner durch und jeder käme infrage.
Die Rauhaar nahm meinen spöttischen Unterton anscheinend nicht wahr und antwortete begeistert: „Hochinteressant war die Befragung der Wistlers.“
„Sie waren dabei, als die Polizei die Wistlers befragte?“ Priscilla zog die Brauen hoch.
Die Rauhaar lächelte und wurde leicht rot um die Backenknochen. Sie klang ein klein wenig stolz: „Ich stand oben im vierten Stock, und zwei Stock tiefer befragte die Polizei die Wistlers … Ich stand so weit vom Treppengeländer entfernt, dass sie mich nicht sehen und ich alles hören konnte.“ Ich wunderte mich, dass die Rauhaar vor uns ganz offen hinzufügte: „Das ist mein Beobachtungsposten. Wenn jemand kommt, verschwinde ich in den Raum mit den Sicherungen.“
In dem Raum lagern die Putzutensilien des Hausmeisters. Wir nennen den Raum auch die Besenkammer.
„Frau Wistler ist sonst ja eher kurz angebunden. Beide tun immer so überlegen ... Da hat mich das Verhalten der Wistler ziemlich gewundert: So hab ich die Wistler jedenfalls noch nie gehört. Sie heulte, fast würd ich sagen winselte, der Polizei etwas vor. Wie schlimm der Vorfall sei, dass sie so etwas noch nie erleben musste. Unser Haus sei ein unbescholtenes Haus, hier wohnten nur ordentliche Leute. Sie hat doch glatt die Polizei gefragt, ob sie überhaupt ohne Gefahr hier wohnen bleiben konnten.“ Die Rauhaar lachte kurz auf. „Ausgerechnet die Wistler …“
„Wieso ausgerechnet die Wistler?“
„Na, sie handelt mit Drogen! … Er verdient ja nichts.“
Ich war baff. „Woher wollen Sie das wissen?“
„Ich beobachte es schon seit Jahren. Immer wieder kommen andere Personen zu ihnen, bleiben grade mal fünf Minuten, und gehen dann wieder.“
„Aber das muss nicht bedeuten, dass …“
Die Rauhaar schnitt mir das Wort ab: „Erwischt hab ich die Wistler im Park. Zufällig hab ich gesehen, wie sie einem der Nordafrikaner was abgekauft hat. Ich nehme an, sie kauft dort den Stoff und verkauft ihn zu Hause teurer weiter. Vielleicht verschneidet sie ihn noch …“
Priscilla leuchtete das sofort ein. „So was habe ich mir auch schon gedacht …“
„Und die Wistlers könnten also auch Enis umgebracht haben, meinen Sie, Frau Rauhaar?“
„Für direkt verdächtig halte ich sie noch nicht. Aber sie sind nicht ohne ... Sie hat Dreck am Stecken … Er macht einfach alles mit, der Arme, und muss sie bedienen, weil er kein Geld hat.“ Aus der Rauhaar sprudelte es nur so heraus. „Und wisst ihr, was ich noch beobachtet habe?“
„Aus der Besenkammer?“, musste ich bemerken.
„Genau. Ich stand am Türspalt und da hab ich doch glatt Matt Reynolds gestern Abend im Vierten aus dem Aufzug kommen sehen ...“
„Aber Reynolds wohnt doch im Dritten?“
„… Da sah ich ihn also im Vierten aus dem Aufzug steigen, und wisst ihr was? Er stellte sich vor Enis‘ Tür und flennte. Seine flache Hand lag auf der Tür, als wollte er sich dort festhalten. Und dann hat er die Tür gestreichelt!“
Ich setzte mich kerzengerade auf. „Mann. Das erzählen Sie erst jetzt? Das ist ja wirklich verdächtig.“
Die Rauhaar winkte energisch ab. „Quatsch. So ein schöner Junge. Der könnte doch nie … Nein, das wäre viel zu hässlich. Niemals.“
„Die zwei hatten vielleicht was miteinander“, rief Priscilla. „Ein Verbrechen aus Leidenschaft.“
„Reynolds ist viel zu zart, zu schön, zu höflich für so was. Für den leg ich meine Hand ins Feuer“, bekräftigte die Rauhaar eindringlich.
Wir kamen nicht weiter, daher fragte ich in die Runde: „Also jetzt ist es dann bald jeder hier drin gewesen, wer ist dann noch unschuldig?“
„Na, wir drei!“ Die Rauhaar prustete Kekskrümel über den Sofatisch. Priscilla wischte sich rasch etwas von der Backe, sodass es nicht auffiel.
„Die Feldner-Schwestern sind auch harmlos“, zählte Priscilla weiter auf. „Und Marco Bentivoglio …“
Die Rauhaar befeuerte auf einmal explosive Energie. „Ha! So harmlos ist der nicht. Für den war Enis ja sogar beim IS! Immer schön höflich und unterwürfig und dann seinen Hass rauslassen, sein wahres Gesicht zeigen. Ist ja anstrengend, sich immer zu verstellen, da kann man dann schon mal ausrasten.“
„Bentivoglio bitten immer alle um Gefallen und er sagt nie Nein“, wusste auch Priscilla.
„Und die Feldners sind auch nicht so reizend, wie sie tun“, fuhr die Rauhaar energisch fort. „Die haben dem Enis schöne Augen gemacht. Wollten ihn verführen, die Luder. Diese Araber sind schöne Männer. Da haben sie einen im Haus und wollen ihn prompt vernaschen. Sexsüchtig sind die …“
Ich besänftigte die Rauhaar und fügte in leisem Ton an: „Schöne Augen machen ist ja noch kein Verbrechen.“
Priscilla klatschte sich auf die Schenkel. „Wisst ihr, wen wir vergessen haben?“ Sie wartete auf unsere Reaktion. Mir fiel absolut niemand ein. „Zimmermann!“
„Der liebe Zimmermann“, seufzte die Rauhaar.
„So lieb vielleicht auch nicht“, bemerkte Priscilla, und irgendetwas knirschte zwischen ihren Zähnen. „Geschieden, und hat die Wohnung hier für sich und seine Geliebte gemietet. Äh, Frau Rauhaar, haben Sie mal die Geliebte gesehen?“
„Nicht, dass ich wüsste“, kam es wie aus der Pistole geschossen.
„Warum hat er dann die Wohnung hier im Haus gemietet?“, fragte Priscilla mehr sich selbst als uns.
„Ich kann mir vorstellen, dass der Haussegen bei ihm schon länger schief hing. Er sich beizeiten auf den Absprung vorbereitet hat. Seine Frau ist sicher eine Megäre, und die Kinder sind womöglich ein Gräuel“, erklärte die Rauhaar mit einem Schafslächeln.
„Dass er sie dann jedes Wochenende besucht …?“, fragte sich Priscilla. „Zumindest hat er das rumerzählt.“
„Vielleicht steht er unter Druck. Hat irgendwie doch ein schlechtes Gewissen. Also ich kann verstehen, dass man seine Familie verlässt, wenn die einen nur noch piesackt.“ Und ich konnte auch verstehen, dass so ein Schritt lange Vorbereitung braucht.
„Wir wissen zu wenig über Zimmermann“, bedauerte Priscilla.
Rauhaars Augen leuchteten auf wie Scheinwerfer. „Sonntags kommt er immer um sieben abends zurück. Das hab ich auch der Polizei gesagt. Sie werden ihn dann sicher befragen. Ich muss bald meine Stellung im Treppenhaus einnehmen.“
Priscilla blickte mit Gefallen auf die Rauhaar; sie versprach sich bestimmt frische Informationen.
„Und wenn man Sie entdeckt?“ Ich war doch etwas besorgt.
„Ich geh schon um sechs rauf und nehm ein Gläschen Wein mit.“ Die Rauhaar lächelte selig. „Und ich hab nen Schlüssel und schließe von innen ab. Sobald ich was höre, stell ich mich mit dem Hörrohr an die Tür.“
„Hörrohr?“ Gab es so was noch?
„Trödelmarkt.“
Auch ich lächelte jetzt. Wenigstens war hier im Haus etwas los, das nicht nur tragische Züge trug, sondern auch die einer Komödie. Das Haus wurde wieder eine Spur lebendiger.
Als Priscilla und die Rauhaar fort waren, fühlte ich mich noch eine kleine Weile heimelig. Gegen sieben stellte ich mir die Rauhaar in der Besenkammer am Wein nippend vor, und auch das beruhigte mich irgendwie. Nach acht beschlich mich aber schon wieder Ängstlichkeit. Ich machte mir Sorgen, nicht schlafen zu können. Und wenn man sich Sorgen macht, nicht schlafen zu können, dann kann man meistens auch nicht mehr schlafen. Nicht, dass ich mir Sorgen machte, dass jemand aus dem Haus Enis umgebracht hätte. Ehrlich gesagt, glaubte ich nicht an die Geschichten der Rauhaar. Die Leute im Haus erschienen mir zu harmlos, um einen Mord zu begehen. Ich konnte auch kein starkes Motiv bei ihnen ausmachen. In der Realität war es ja nicht so, dass sich Nachbarn wegen Kleinigkeiten umbrachten. Kleine Morde unter Nachbarn waren noch nicht der Normalfall. Die Rauhaar war eben sensationslüstern. Dass der Mörder im Haus sein könnte, gab ihr eine Lizenz, um Tag und Nacht die Einwohner zu bespitzeln. Das war wie eine neue Daseinsberechtigung. Und weil das Spionieren gefährlich sein konnte, erhöhte sich dabei ihr Adrenalinspiegel und ihr Gehirn schüttete Glückshormone aus. Sie nahm etwas an, das ihr gelegen kam, das ihr quasi Rauschzustände verschaffte. Ich machte mir also nicht wegen eines eventuellen Mörders in unserem Haus, sondern wegen etwas ganz anderem Sorgen:
Bei meinen Forschungen über das Gedächtnis von Dingen und Orten hatte sich ergeben, dass Ereignisse dramatisch-tragischer Art, wie etwa ernste Erkrankungen, Unfälle, Selbstmorde oder Morde, und die dabei erlittenen starken Emotionen sogar zu Spukerscheinungen führen können. Es geht dabei nicht um Verstorbene, die sich bemerkbar machen – ob es solche überhaupt gibt, vermag ich nicht zu sagen –, sondern um besonders kräftig imprägnierte Orte, stark imprägniert durch starke Gefühle, die mit Gewalttaten verbunden sind oder mit besonders erschütternden Ereignissen. An solchen Orten sehen oder spüren einige Leute, also nicht nur besonders Sensitive, die Vergangenheit des Ortes in Form einer gespenstischen Erscheinung. Und davor hatte ich nun Angst. Im Haus war eine Gewalttat passiert, und diese Gewalttat konnte mich, da ich sehr sensibel war, als Spukerscheinung zu Tode erschrecken. Ich musste an einige der Fälle denken, die ich gesammelt hatte, legendäre Spukfälle dieser Art. Da gab es den Fall der Rocca di Montebello bei Rimini. Dort hat Azzurrina (Bläuchen), ein Kind mit blauen Haaren, in der Todesangst ihre Spuren hinterlassen. Azzurrina kam im vierzehnten Jahrhundert in der Burg als Albino mit vollkommen weißen Haaren zur Welt. Die Umgebung interpretierte das als teuflisch, und so färbten die Eltern ihre Haare, um sie vor dem Scheiterhaufen zu retten. Die Haare nahmen dabei die Farbe Blau an. Längere Zeit ließ man das Mädchen Azzurrina mit den blauen Haaren in Ruhe. Doch dann verschwand Azzurrina plötzlich. Schlosswachen hatten sie eben noch spielen sehen, dann hörten sie aus dem Keller einen fürchterlichen Schrei … Seit Hunderten von Jahren hört man nun Azzurrina immer wieder aus dem Keller schreien ... Die Literatur ist voll von Gespenstern, die an den Stätten von Mordtaten, Schlachten oder sonstigen Katastrophen umgehen. Montaperti in der Toskana – Schlacht vom 4. September 1260 – und Edge Hill – Schlacht vom 22. Oktober 1624 – gehören zu Orten regelmäßiger Geistererscheinungen über die Jahrhunderte hinweg. Auf einem Schlachtfeld bei Rom, auf dem die Römer 452 n. Chr. gegen Attila und die Hunnen gekämpft hatten, hätten, so wurde berichtet, die Geister noch nach dem Ende der Schlacht drei Tage und Nächte weitergekämpft; von der Stadt in der Nähe des Schlachtfeldes hatten viele noch lange nach dem Ende der Schlacht den Lärm des Kampfes und der Waffen gehört.
Warum sollte mir also nicht auch der tote Enis irgendwo im Haus als Spukerscheinung begegnen? Vielleicht hatte sein Angreifer ihn bereits im Treppenhaus erwischt, ihm die Gurgel zugedrückt, und Enis hatte versucht, in Todesangst zu schreien, aber keinen Ton herausbekommen. Und so würde im Treppenhaus der tote Enis noch als paranormaler Eindruck herumgeistern. In meiner Wohnung müsste ich vor einem solchen Spuk eigentlich sicher sein, sagte ich mir, es konnte höchstens die Stimmung des Schrecklichen durch die Wände wabern. Das beruhigte mich aber kaum. Ich hatte, seit es dunkelte, eine ganz unvernünftige, kindliche Gespensterangst.
Normalerweise lasse ich die Rollläden nur im Schlafzimmer herunter. An dem Abend schloss ich aber auch den Rollladen im Wohnraum, als fürchtete ich, Enis könne aus der Dunkelheit zu mir hereingrinsen. Ich weiß nicht, warum ich ausgerechnet an grinsen dachte, wahrscheinlich weil in Horrorfilmen Monster öfters diabolisch grinsen. In unserer Fantasie bedienen wir uns eben aus dem Repertoire, das wir kennen, und ein größerer Teil davon stammt aus dem Fernsehen.
Bis drei Uhr konnte ich in der Nacht nicht einschlafen. Um drei war es zu spät, um noch eine Schlaftablette zu schlucken. Ich schlief dann doch kurz ein, um aber schon gegen vier wieder aufzuwachen. Da war ein Geräusch. Ein dumpfer Schlag. Ich fuhr hoch, knipste das Licht an. Was war das nur? Es klang, als sei ein schwerer Gegenstand auf den Boden gefallen. Und es kam von irgendwoher über mir. Direkt über mir wohnten die Wistlers. Was taten die um die Zeit? Brachten die sich um? Als ich Schritte auf der Treppe hörte, brachte ich das Geräusch mit einer zuschlagenden Tür in Verbindung: Jemand hatte um vier Uhr nachts eine Wohnung in unserem Haus verlassen und eine Tür laut zugeschlagen. War das normal? Ging Enis im Treppenhaus um …? Was passierte jetzt? Die Fragen hielten mich bis zum Morgen wach.
Um fünf schien der Tag schon so hell durch die Rollladenritzen, dass ich mir den ersten Kaffee machte. Ich zog den Laden hoch und ließ kühle Luft ein. Ich lehnte mich aus dem Fenster, um in den blauen Himmel zwischen unserer und der gegenüberliegenden Fassade zu spähen. Die Welt erwachte in einen frischen Sommertag, und die Gespenster der Nacht waren augenblicklich verflogen.
Da die Rauhaar alles wusste, fragte ich sie, wer aus dem 2. Stock über mir nachts um vier das Haus verlassen haben konnte. Die Rauhaar wusste tatsächlich sofort Bescheid; sie hatte schon öfters mitten in der Nacht einen Schwarzafrikaner aus der Wohnung der Wistlers kommen sehen. Ihrer Ansicht nach war das ein Lieferant für größere Pakete von Ware. Im Park ein solches Paket abzunehmen, war zu gefährlich.
Was mich sonst entsetzt hätte, war für mich jetzt beruhigend. Das Kommen und Gehen in dieser Nacht hatte nichts Unerklärliches oder Schreckliches; es handelte sich um einen ganz gewöhnlichen Drogenhandel. Alles war also normal. Und tagelang blieb alles normal.
Schon in der dritten Nacht nach Enis‘ Tod konnte ich besser schlafen, hatte ich weniger Angst. Es ist erstaunlich, wie schnell menschliche Wesen zur Tagesordnung zurückfinden, wenn sie Zeugen einer schrecklichen Tat geworden sind, die nichts mit ihnen selbst zu tun hat. Das einzig Störende war der Traum, den ich hatte. Ich wusste aber nicht mehr, worum es darin ging. Es war nur eine üble Stimmung davon zurückgeblieben, Angst vor etwas oder jemand. Mein Kopfkissen und das Leintuch waren ganz nass gewesen.
Mit diesem Traum schien für mich allerdings die Verarbeitung des Schreckenserlebnisses abgeschlossen. Ich schlief wieder normal. Enis rückte aus meinem Fokus. Ich arbeitete besonders fieberhaft an meinem Manuskript. Nur ab und zu fiel er mir noch ein und verursachte mir dabei lediglich leichtes Magendrücken.
Das letzte Mal, dass wir über den Fall Enis sprachen, war am Montag gewesen. Die Rauhaar wollte unbedingt am Abend mit mir und Priscilla zusammenkommen, um über die polizeiliche Befragung Zimmermanns zu berichten, die sie von der Besenkammer aus verfolgt hatte. Ich hielt nicht wahnsinnig viel von Rauhaars Theoriegespinsten, sagte mir dann aber, dass es mit der Rauhaar zumindest unterhaltsam sein konnte, und dann hörten wir der Rauhaar am Abend bei Martinis auf Eis zu.
Ich war ziemlich überrascht, dass Priscilla der Rauhaar in der Besenkammer Gesellschaft geleistet und eigens einen zweiten Klappstuhl dort oben untergebracht hatte. Priscilla war eine glühende Fernsehguckerin; vielleicht hatte die Bespitzelung der Nachbarn etwas dem Fernsehen Vergleichbares. Vielleicht war es sogar noch besser; der Nervenkitzel war real. Jedenfalls hatten die zwei Polizisten Zimmermann gefragt, wo er von Freitag auf Samstag gewesen war. Und Zimmermann hatte erwartungsgemäß seine Frau und seine zwei Söhne angeführt.
„Haben Sie Herrn El Agha näher gekannt?“
„Nein, leider nicht. Er schien ein netter junger Mann zu sein. Ich habe ihn mehrmals mit den anderen Bewohnern zusammen zum Aperitif eingeladen. Er kam aber nie. Er hat sich dafür aber immer entschuldigt ... Herr El Agha war eine sehr höfliche, ruhige, zurückhaltende Person, fast scheu …“ Und dann hatte Zimmermann doch glatt gesagt: „Er muss die Feindseligkeit einiger Bewohner gespürt haben und wollte vielleicht auch deshalb nicht zum Aperitif kommen. Ich glaube, er hatte Angst, angepöbelt zu werden.“ Und Zimmermann berichtete dann haargenau, wie Marina Dunst, Marco Bentivoglio und Jean Colomb zuletzt über Enis gelästert hatten. Die Polizisten wollten, dass er darüber mehr Ausführungen machte. Und Zimmermann berichtete, dass sie in dem Zusammenhang auf die bedrohliche Migration zu sprechen kamen, die Nordafrikaner, Syrer, Türken, Afghanen und so weiter, die unter dem Vorwand von Asyl unsere Sozialsysteme ausbeuteten. So leise, dass die Rauhaar und Priscilla es fast nicht mehr verstehen konnten, fügte er hinzu, dass heute mindestens vierzig Prozent der Bevölkerung so dachten wie einige hier im Haus, er selbst, Zimmermann, eine solche Haltung aber nicht teile. Diese Leute seien teils aus Kriegsgebieten geflohen, um sich und ihre Familien zu retten, Wirtschaftsflüchtlinge seien womöglich in der Minderzahl. Wieder lauter sagte Zimmermann dann, er könnte weinen, wenn er an diesen begabten jungen Mann denke, dessen Leben in der Blüte abgeschnitten worden sei, und das womöglich aus einem ganz niedrigen Beweggrund, aus Rassismus.
„Ausländerfeindlichkeit“, verbesserte einer der Polizisten.
„Nennen Sie es, wie Sie wollen, wir meinen hier wohl dasselbe“, verteidigte sich Zimmermann. „Herr El Agha sah exotisch aus mit seinen blauschwarzen Haaren. Er hatte einen, wenn auch hellen, so doch fast … olivfarbenen Teint. Natürlich war er nicht schwarz ... Aber er wirkte jedenfalls nicht wie ein Nordeuropäer.“
Die Polizisten schwiegen.
Zimmermann fuhr fort: „Rassismus oder nicht, es geht doch immer um dasselbe. Da kommen Leute in unser Land, die von manchen nicht nur als fremd, sondern auch als minderwertig betrachtet werden. Sie sind schlechter ausgebildet, sie sind krimineller, sie sind in ihrer Entwicklung zurück, sie haben reaktionäre Wertvorstellungen, folgen einer überholten Religion und sind Frauenverächter.“
Die Polizisten nickten eifrig. Bis Zimmermanns Diskurs eine Wende nahm. „In Wahrheit möchten aber die im Land Alteingesessenen nicht den Kuchen mit neu Hinzukommenden teilen. Wenn die Neuen die Sozialsysteme belasten, gibt es für alle weniger Sozialleistungen. Wenn die Neuen auf den Arbeitsmarkt drängen, wird es für alle schwieriger, eine Stelle zu finden. Es wird weniger verteilt und es gibt mehr Konkurrenz. Man hat Angst, die Fremden grasen auf den eigenen Weiden.“
Viel mehr hatten die Rauhaar und Priscilla nicht hören können, da die Polizisten Zimmermann baten, sie auf die Dachterrasse zu begleiten.
„Zimmermann hat Glück gehabt, dass er nicht da war“, bemerkte die Rauhaar. „Wäre er zur Tatzeit auf seiner Terrasse gewesen, hätt’s ihn womöglich noch mit erwischt. Welcher Täter mag schon nen Zeugen, wenn er grade nen Mord begeht?“ Zwischen Zimmermanns großer Dachterrasse und Enis‘ kleinem Terrassenabschnitt gab es nur eine Abgrenzung in Form von Pflanzenkübeln. Dann summierte sie: „Bis jetzt sind zwei möglich Motive aufgetaucht, das wichtigere, dem auch ich anhänge, Ausländerfeindlichkeit, das unwahrscheinlichere: ein Beziehungsmotiv. Ich weiß nicht, was die Polizei über Enis‘ Leben außerhalb dieses Hauses so rausbekommen hat … Ich jedenfalls bin immer noch der Meinung, es war jemand aus unserem Haus.“
Priscilla nickte unsicher. Ich sagte nichts dazu. Auch wenn ich zugeben musste, dass zumindest Ausländerfeindlichkeit ein heißes Thema sein konnte. Würde sich das bestätigen, dann würden wir von Journalisten belagert. Ein solcher Mord wäre schließlich ein Politikum. Abscheuliche Aussichten. Ich wollte das gleich wieder vergessen.
„Und Sie halten nach wie vor Marina, Jean und Marco für verdächtig?“, fragte Priscilla die Rauhaar, um die Unterhaltung neu zu entfachen.
Mit schwellender Brust antwortete die Rauhaar: „Leonardo Zimmermann hat denselben Verdacht wie ich! Das will was heißen.“ Sie sprach dabei Leonardo so aus, als könne die Schönheit des Namens dem eher vierschrötigen Zimmermann Eleganz verleihen. Sie rutschte auf ihrem Sitz hin und her. „Und ich muss noch einen Verdächtigen hinzufügen.“ Sie wirkte jetzt, als hätte sie Verstopfung. Es wollte nicht raus. Nach langem Zögern gab sie es schließlich preis. „Wistler.“
Priscilla machte große Augen. „Aber gestern sagten Sie doch noch, die Wistlers seien nicht direkt verdächtig ... Also Herr Wistler ist immer höflich ... Jedenfalls zu mir.“
Er war zu allen höflich.
„Ich habe lange nachgedacht“, die Rauhaar rieb sich die Nase, „und auf einmal erinnerte ich mich an eine Unterhaltung, die wir letztes Jahr vor dem Haus hatten. Ich glaube, Herr Wistler half mir, den Restmüll in die Tonne zu werfen. Da gingen auf dem Gehweg gegenüber zwei Schwarze vorbei und Wistler sagte: ,Ich mag diese Leute nichtʽ. Dann hielt er mir glatt einen Vortrag über Schwarze, die seiner Ansicht nach durchweg krimineller und fauler als Weiße sind.“
Priscilla lachte auf. „Die Wistlers dealen doch mit den Schwarzen.“
Und ich fügte hinzu: „Ha, fauler als Weiße: Mit der Hausarbeit in der Wistler’schen Zweizimmerwohnung dürfte Wistler auch nicht gerade überfordert sein.“
„Ich hab das Gefühl, er tut sonst nichts“, bekräftigte Priscilla.
„Wenn man bedenkt, dass er vor Jahren mal selbständig war …“, seufzte die Rauhaar, als tue es ihr auf einmal leid, dass sie Herrn Wistler in den Kreis der Verdächtigen aufgenommen hatte.
Ich argwöhnte stark, Wistler hatte noch nie etwas getan. Manche Leute machen sich selbständig, damit kein Chef ihnen Arbeit auflädt. Sie fangen etwas an, der Anfang ist meist schnell gemacht, aber bald geht es an die Einzelheiten, kommt die Schufterei, der Teufel steckt im Detail, und dann steigen sie aus und fangen das nächste Projekt an, weil der Anfang immer einfach ist. Die erste Idee kommt geflogen, die ersten Kontakte sind leicht geknüpft, man zeigt anfangs einen Elan, der vertrauenerweckend ist, aber zu nichts, nie zu etwas führen wird.
„Und was ist eigentlich mit der Mooskop?“, fragte Priscilla ins Blaue hinein.
„Die Mooskop?“ Frau Rauhaar wirkte irritiert. „Die doch nicht... Die arme alte Frau hat niemandem je etwas zuleide getan. Sie kann sich außerdem vor Arthritis kaum noch bewegen.“
„Ich meine doch nicht, dass sie verdächtig ist, nur dass ich sie seit Freitag nicht mehr zu Gesicht bekommen habe.“
Die Rauhaar winkte ab. „Ach, die arme Frau Mooskop. Die sehe ich nur alle paar Tage. Ihr wisst doch, sie hat Angst, die Wohnung zu verlassen, und tut es nur, wenn sie unbedingt muss.“
Ich sah die Mooskop ebenfalls nur selten. Meistens roch ich sie lediglich. Wenn sie ausging, hing im Aufzug ein Geruch von Kampfer oder Naphthalin. Seit Zimmermann die Partys veranstaltete und auch die Mooskop einlud, lebte sie sichtbar auf. Sie kam parfümiert und geschminkt, und ihre Kleidung sah frisch gebügelt aus, war ohne jeden Fleck. Alte Menschen vernachlässigen sich oft. Und auch, weil sie fast immer schlecht sehen, laufen alle früher oder später mit schmutziger Kleidung herum. Die Mooskop lächelte bei Zimmermann, sie trank mit Lust ein Gläschen, sie sprach meistens mit der Rauhaar zwei, drei Sätze, fragte mich freundlich, wie es mir ging. Sie kam richtig aus sich heraus. Nur wenn ich sie draußen traf, auf dem Weg zum Supermarkt, tippelte sie so hastig und mit besorgter, stur nach vorne gerichteter Miene daher, als fürchte sie, jederzeit auf der Straße angegriffen zu werden. Man durfte sie dann nicht grüßen; sie eilte, wenn sie einen hörte, so schnell weiter, dass man Angst bekam, sie könne stürzen. Dabei hielt sie die Einkaufstasche, in der ihr Portemonnaie sein musste, eng an die Brust gepresst.
„Sollen wir nach der Mooskop sehen?“, fragte ich die anderen.
„Ich glaube, die kriegt nur Angst, wenn wir bei ihr läuten“, meinte Priscilla.
Die Rauhaar beruhigte uns: „Sie wird herauskommen. Spätestens, wenn das Taubenfutter zu Ende geht. Ich werde bei meinen nächsten Kontrollgängen auf sie achten.“
Kontrollgängen: Ich hustete, um nicht in Lachen auszubrechen. Ich wollte nicht unhöflich sein.
Warum hatte mich die Rauhaar am Sonntagabend eigentlich nicht auch in die Besenkammer eingeladen, fragte ich mich noch? Auch wenn ich natürlich abgesagt hätte, kam ich mir doch irgendwie ausgeschlossen vor. Vielleicht lag es daran, dass nur zwei Sitze reinpassten … Oder sie ahnte, dass ich sie weniger ernst nahm als Priscilla, und wollte keinen Korb riskieren.