Читать книгу Der Radrennfahrer und sein Schatten - Olivier Haralambon - Страница 8

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Flacher Kosmos

Er war winzig und das Rad sehr groß. Schon schlug es ihn in seinen Bann. Jedem Gefühl von Zeit und Raum enthoben, Hände in Kopfhöhe, ließ er die seltsame Maschine ein paar Zentimeter zurücklegen – vielleicht wagte er auch einen vollen Meter? Sofort drang das Klackern in ihn ein, als fielen die Kugeln des Freilaufs einzeln auf sein Trommelfell, irgendwo dort auf dem Grund seiner aufgerissenen, runden Augen. Ein Schaudern lief ihm über den Kopf, und um ihn zu schützen, zog er ihn leicht zwischen die Schultern. Die unglaubliche Winzigkeit der Berührungspunkte mit dem Boden und die Labilität eines Gleichgewichts, das nur durch Geschwindigkeit und rasche Bewegung zustande kommt, reichten, einen Riss durch die Welt gehen zu lassen.

All unsere Geburten beruhen auf einem Vergessen. Manche Spalte und Risse, durch die wir uns zwängen und dabei das Hindernis unserer Körperlichkeit mitziehen, verschließen sich für immer. Wir können das fallende Laub hinter unserem Rücken nicht mehr sehen, während wir noch den Flug der Blätter spüren. Schon muss man auf den nächsten Schritt achten.

Es gibt meiner Meinung nach keinen Radrennfahrer, der diese Verblüffung nicht durchlebt hat. Der nicht imstande ist, hunderttausende Kilometer später und im Augenblick seines letzten Atemzugs die Spur dieses Zaubers in den Windungen seines Gedächtnisses nachzuverfolgen.

Ich kenne keinen einzigen Radrennfahrer, der nicht irgendwann im Lauf seiner Karriere regelmäßig das Bedürfnis verspürt hat, wie beim ersten Mal vor dieser Vollkommenheit niederzuknien. Selbst wenn man jahrzehntelang im Bad der seichten Unterhaltung von (Fernseh-)Bildern eingetaucht war, denen die Inszenierung radsportlicher Tragödien so viel verdankt, ist es nicht möglich, das weißglühende Gleißen dieser Szene anders als mit zusammengekniffenen Lidern wiederzuerleben. Das erste Rennrad (es gibt kein anderes Rad als das Rennrad), dem man begegnete, konnte nicht anders, als im Strahlenkranz von einem lichtdurchfluteten Himmel herabgestiegen sein.

Wie im Traum sehe ich noch an manchen Sonntagen meiner frühen Kindheit im Licht eines Zimmers, eines Flures oder Kellers Staubkonstellationen zwischen Rahmen und Speichen wirbeln. Lichtklingen, die den Raum zerteilen. Und ich spüre noch die Kontraktion dessen, was in mir noch an Waden eines Kindes steckt, wie ich mich ohne zu zittern auf den Fußspitzen aufrichte, und dort oben, auf der salzigen Oberfläche des Sattelleders, fühle ich noch das Gewicht meiner Hand ruhen. Als sie auf das kalte Rohr der Maschine zurückfällt, folgt sie langsam deren Rückgrat und dem übrigen Skelett bis in die feinsten Knöchelchen. Dieses Rad, das ich meine und das mir eines schönen Morgens die Augen öffnete, zieht mir bis heute den Gaumen zusammen – unablässig öffneten und schlossen sich meine feuchten Handflächen um seinen Körper, streichelten die eckigen Rundungen des mageren Stahlgestells. Es war ein Mercier. Die weißen Buchstaben stachen aus einem tiefen Rosa hervor, einem fleischfarbenen Rosa, dessen Geschmack und Geruch ich jetzt noch spüre. Heute frage ich mich oft, wo es geblieben ist, nachdem es schon so lange Zeit weit entfernt von mir gelitten und anderen Belastungen ausgesetzt war. Ich stelle mir die Risse und Blasen seiner lackierten Oberfläche vor.

Auch weiß ich, dass der blöde Plastiknuckel, der die am Rahmen eingehängte Trinkflasche verschließt, mir gleichsam einverleibt ist – ein gewissermaßen archaisches Element meiner Sexualität: Durch diese Öffnung nahm ich den größten Teil des Wassers auf, aus dem ich bestehe. Mit geneigtem Kopf habe ich diese zuckerverklebten Plastikflaschen wie Brüste gepresst, wobei meine Augen nie die Straße und ihren Verlauf aus dem Blick verloren. Ich bestehe aus Wasser, das von der groben Körnung der Straße durchgerüttelt wurde. So kann man nicht stillhalten. In mir gibt es nicht den kleinsten Winkel stillen Wassers. Jeder Radrennfahrer besteht aus einer Brandung.

Tausende Male wurde versucht, die Poesie dieses Gegenstandes zu beschreiben, der aber widersetzt sich; tausende Male hat man mit dem Finger auf den Halo gedeutet, der diesen kleinen flachen Kosmos umgibt. Man hat mit dem Mikroskop – keine Vergrößerung reicht dazu aus – die Feinheiten dieser besteigbaren Galaxie dargestellt. Man weiß, dass jeder Punkt der Felge ein Satellit der Nabe ist, genau wie die 53 Zähne des Kettenblatts jene der Tretlagerachse, dem Ursprung des gesamten (Planeten-)Systems. Und man weiß, dass die Pedale am äußersten Punkt der Kurbel eine weiter entfernte Umlaufbahn beschreiben, welche wiederum ein lebender Fuß bewegt, der, nur eine Sohlendicke entfernt, die unvollkommene Ellipse seiner eigenen Umlaufbahn beschreibt. Die über eine Kette verbundenen Kettenblätter und Ritzel und die von den Füßen gezogenen Pedale beleben sich samt den Rädern und entreißen das Zusammenspiel der Kreisbahnen der Reglosigkeit. Schon wird der menschliche Körper angesprochen, dessen durch Gelenke verbundene Gliedmaßen sich diesem gleichermaßen komplexen wie zyklischen System hinzufügen. Dieser Ruf wühlt den Magen des Rennfahrers in heftiger Liebeswallung auf.

Dem Rad ist etwas Animalisches eigen: Wie gern verdreht man Lenker zu Hörnern und Sättel zu Schädeln, wenn man sie nicht gleich als Trophäen an die Wand hängt. Sein Skelett übrigens ist wie das der Vögel voller Luft. Masse ist ihm verhasst, der Hohlkörper seine Daseinsform. Es stützt sich auf starre Rohre und auf elastische Röhren, die sich um Laufräder wickeln, was Geschmeidigkeit und Lautlosigkeit garantiert. Die unter Druck in Kammern eingeschlossene Luft sichert eine dauerhafte Verbindung zum Boden und eine sanfte mit der Welt. Als Kind des Geistes ist das Rad zudem ein mageres Geschöpf. Die Armut liegt in seinem Wesen, da nichts an ihm überflüssig ist. Und wenn es entblößt wirkt, dann deshalb, weil seine Form endgültig und nicht mehr zu verbessern ist.

In unseren Tagen gibt es kaum mehr echte Rahmenbauer, geschweige denn Räder, die deren sanfte Berührungen in sich tragen. Der sagenhafte Marcel Borthayre ist tot und mit ihm all seine Kniffe und Rituale – er, der jeden Morgen bei Arbeitsbeginn die einzuspeichenden Räder nur mit den Fingerrücken berührte, »um sie nicht zu erschrecken«. Und vor ihm sein Vater, der die Sättel der Champions zuschnitt und umformte, nachdem er das Leder wochenlang unter einem Baum im Garten vergraben hatte oder mit Wein und Salbei tränkte, auf dass es genährt und geschmeidig werde. Nein, heute entsteht die fabelhafte Maschine in einem industriellen Prozess, bei dem Entwurf und Herstellung getrennt sind. Ihre Gestalt verdankt sie dem Konstruktionsbüro auf der einen Seite und kleinen Helfern auf der anderen, die sorgfältigst kleine schwarze Gewebeschichten in eine Form legen, denn inzwischen werden Rahmen aus Carbon gefertigt. Aber Fasern, Verbundwerkstoffe und die Massenproduktion, die das Handwerk hinwegfegten, konnten nur die Außenhülle des Rades verändern. Eine unerhörte Zahl von Verbesserungen wurde diesem Gegenstand zuteil, dessen Wettkampfgewicht heute nur noch sechs bis sieben Kilo beträgt und der dennoch unnachgiebig dem dumpfen Antritt sprintender Kolosse widersteht, dessen Gangwechsel sich nun mit dem trockenen Schnarren elektronischer Schaltwerke vollziehen, dessen Felgen inzwischen die Höhe von Schutzschilden erreichen und den Wind zerteilen… – all die Neuerungen aufzuzählen, würde einen eigenen Band füllen. Aber nach wie vor ist es das Zusammenspiel der Linien, vor dem ein Radrennfahrer mit gefalteten Händen auf die Knie geht. Verändert man nur ein Detail, senkt man beispielsweise die Sattelnase um nur einen Zentimeter oder versetzt man leicht die Stellung der Bremshebel, so zerfällt alles, die Erotik verschwindet und übrig bleibt nur das technische Gerät.

Als Jugendlicher, zur Zeit meiner ersten Rennlizenzen, ließ ich mein Rad in meinem Zimmer schlafen. Um es zu wienern, hatte ich es auf eine Art Stativ gestellt, das ich von meinem Bett aus bewegen konnte. Wenn ich mich hinlegte, konnte ich es mit den Zehenspitzen anstoßen und im blendenden Gegenlicht hob sich sein Schattenriss hervor, erzeugt von einer blanken Glühbirne, die die Stofflichkeit der Zimmerdecke durchbrach. In einer langsamen Kreiselbewegung senkte es sich auf mich herab, auf einer Matratze hypnotischer Wolken, die durch die Vervielfachung der Lichtbögen erzeugt wurde, und ich taumelte langsam in meinen Schlummer. Dann ergriff ich es im Traum und sah uns im Wirbel der Bilder schon als Sieger aller Rennen. Ich habe stundenlang ausgestreckt auf dem Teppich gelegen, um die Bremsflanken und die graue, sahnige Eloxalschicht meiner »Service Course«-Felgen zu streicheln oder meinen Zeigefinger durch die Ausbohrung der Kurbeln zu führen, die exakt dessen Durchmesser hatte. Ich habe mich wachsen sehen, ja, der Ausdruck ist zutreffend, ich habe meine Nase im Zerrspiegel der verchromten Muffen anamorphotisch wachsen sehen, während ich diese unter frenetischem Rubbeln des Tuchs auf Hochglanz polierte. Ich hielt meine Wange an die Frische des Stahls. Ich brachte meine schöne Maschine in verschiedene Stellungen und leuchtete sie mit Liebe aus, ein wenig so, wie ich heute davon träume, die unendlichen Landschaften des Körpers meiner Frau fotografieren zu können. Aus dem Dunkeln ließ ich es in Ausschnitten auftauchen und richtete es so aus, dass es hie und da von dichten Schattenmassen übergossen wurde. Ich näherte mich mit meinem Mund, um beobachten zu können, wie sich mein Atemhauch auf dem eisigen Glanz der Metalllegierungen niederschlug. Nach dem Training wusch ich es mit mir in der Dusche, seifte es mit Bürste und Schwamm ein und stellte die Beine auseinander, um nicht mit den Rinnsalen des Petroleums in Berührung zu kommen, das ich mit einer Zahnbürste zur Reinigung der Kette auftrug. Die gröbsten Spuren beseitigte ich, bevor meine Mutter heimkehrte, die ihren Arbeitstag beendete, nur um eine weitere Liste von Aufgaben zu entdecken, die sie erwarteten.

Heute, da mich die Zeit weit zuverlässiger als der Raum von ihm getrennt hat, bewahren meine Hände seine Erinnerung genau auf. Immer noch kann ich mit meinen Fingerspitzen seine Glätte und Rauheit, Wärme und Kälte, die Oberflächen und Vertiefungen wie kleinste Details eines geliebten Körpers nachverfolgen.

Ein Rad wird nicht erwählt. Es drängt sich auf, wie Begierde und die Liebe. Die struppigen Haare des zukünftigen Radrennfahrers stehen ihm wie einem Liebhaber zu Berge und seine Knie werden einen Augenblick lang weich. Von diesem Tag an hat er nur noch eine Bestimmung zu erfüllen: der Verheißung der Geschwindigkeit den Hof machen, sich mit ihr vermählen, sie aufsaugen und sich einverleiben. Aus dem Werk, das sich seinem Auge darbietet, muss nichts weniger als sein eigenes Fleisch werden.

Der Radrennfahrer und sein Schatten

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