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Sieben

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Jeder Mensch hat so seine Zahlen. Zahlen, denen er lieber aus dem Weg geht. Und Zahlen, die er liebt. Seine Zahlen.

Vielleicht liebt ein Mensch ja nur eine einzige Zahl. Weil sie von besonderer Bedeutung für ihn ist. Weil sie für einen bestimmten Tag steht. Einen Ort. Einen Freund. Eine Freundin. Für den Beginn einer Telefonnummer. Oder für den Beginn einer Liebe.

Zahlen, habe ich gelernt, sind wie Menschen. Jede einzelne hat eine starke Persönlichkeit. Einen eigenen Charakter. Manchmal jedoch sind Menschen nichts als Zahlen. Bedeutungslos. Beliebig. Nackt. Auch das habe ich gelernt. Schon viel früher. In meiner alten Heimat Syrien.

Meine Zahl ist die Sieben.

Die Sieben hat für mich eine dunkle, sehr dunkle Seite. Bis heute Abend. Zahlen, werde ich heute Abend lernen, sind bunt. Nicht nur schwarz. Oder weiß. Meistens jedoch schwarz. Nein. Sie haben, werde ich lernen, auf jeden Fall auch eine zweite Seite. Wie Münzen. Eine schlechte Seite und eine gute. Aber können Münzen überhaupt gute und schlechte Seiten haben? Alena wird mir später beibringen, dass ich es symbolisch betrachten muss. Weil man in diesem Land und in diesem Fall und in dieser Sprache auch nicht die zwei Seiten einer Münze sagt, sondern: Die Kehrseite der Medaille.

Doch das weiß ich in dem Augenblick noch nicht, als ich die Bühne betrete. Ich weiß nur, dass meine Beine wackeln. Und dass es eine Bühne in Graz ist, meiner neuen Heimat. Auf den Tag genau vor zwei Jahren bin ich nach Österreich gekommen. Heute Morgen noch habe ich daran gedacht. Als Ruth und Alena mich angetrieben, mir in diesen Tag geholfen haben. In diesen ganz besonderen Tag.

Zufall? Schicksal? So vieles ist seitdem geschehen. Das alles schwirrt in mir umher. Gedanken schießen mir durch den Kopf. Sie prallen ab und fliegen weiter. Prallen wieder ab. Fliegen wieder weiter. Außer Kontrolle. Wie Gewehrkugeln. Nein. Die gehören nicht hierher. Es sind doch bloß Gedanken. Aber ich kann sie nicht ordnen. Nicht jetzt. Nicht hier auf der Bühne. Vor mir liegt das Dunkel, und ich weiß nur:

Ich bin die Sieben.

Und ich spüre, als ich stehenbleibe, mich zur Seite drehe, dass ich plötzlich nichts mehr spüre. Dass ich meine Beine nicht mehr spüre. Sie sind taub. Genau wie damals, als ich zum ersten Mal die Sieben war und die Angst meinen Körper beherrscht hat.

Ich stehe jetzt auf der Bühne. Endlich. Aufrecht. Und doch klein. Gebückt. Ich halte einen Text in den Händen. Meinen Text. Sind Texte wie dieser nicht verboten? Meine Finger zittern vor Angst. Aber es ist eine andere Angst. Und wenn ich in das Dunkel vor mir blicke, sehe ich, dass es auch ein anderes Dunkel ist. Ein Dunkel voller Menschen, die es verdienen, Mensch genannt zu werden. Sie sind nicht gekommen, um mich zu erniedrigen. Sie nicht.

Ja, es ist ein Dunkel, das in Wirklichkeit nur aus Licht besteht. Licht, das sich in einem Scheinwerfer sammelt und mir nun ins Gesicht strahlt. Es ist stark. Es blendet. Geitzend, nennt man das, werde ich lernen. Nein. Gleißend. Wieder ein neues Wort. Worte sauge ich auf. Wie ein ausgetrockneter Schwamm jeden einzelnen Tropfen Wasser. Oder das Bilsenkraut oder ein Kapernstrauch oder ein Feigenbaum in der syrischen Wüste. Dabei kenne ich die Wüste kaum. Viel weniger als die meisten hier glauben würden. Manche hier kennen die Wüste vermutlich besser als ich.

Ich bin die Sieben.

Aber nicht die alte Sieben. Eine neue, die nicht länger schwarz ist. Ich bin die bunte Nummer sieben von neun. Ich stehe auf der Bühne. Und ich bin auf seltsame Weise ganz bei mir. Wie unter einer Hülle. Zugleich bin ich aber auch ganz weit weg von mir. Und dann höre ich, wie ich zu lesen beginne:

Ich bin. Ich komme aus.

Wer bist du?, fragte sie mich.

Wer ich bin? Ich bin Flüchtling. Asylwerber. Refugee.

Ja, aber wie heißt du?

Flüchtling.

Ja, aber wie heißt du?

Flüchtling.

Woher kommst du?

Ich komme aus Syrien.

Bitte?

Syrien.

Wo?

SYRIEN! Wo Israel ist, weißt du, ja? Und wo der IS ist, weißt du, ja? Dort.

Aha.

Das Dunkel, das ich als die schwarze Sieben aus Syrien kenne, ist totenstill. Oder es brüllt dir den nahen Tod entgegen. Begleitet von Fußtritten. Schlägen. Dem Knacken des Abzugs einer geladenen Waffe. Dem leisen Kratzen, wenn dir der Lauf dieser Waffe durchs Haar fährt.

Dieses Dunkel hier als Nummer sieben von neun, gleich vor der Bühne, ist nicht still. Immer wieder fliegen Geräusche auf mich zu. Ich kenne sie. Wie wenn jemand es eilig hat. Wie wenn dieser Jemand möchte, dass etwas schnell geschieht. Dieses ungeduldige Schnippen mit den Fingern.

Aber es ist ein anderes Schnippen. Und auch nicht nur eines. Viele Finger. Dutzende. Sie schnippen zur selben Zeit. Und ich begreife, dass es ein Zeichen ist. Weil es bedeutet, dass nicht nur ich sehr angespannt bin. Die Menschen dort unten sind es auch. Sie sind dicht an mir. Dicht an den Worten, die ich mit meinem harten arabischen Akzent zu ihnen hinabspreche. Weil sie darauf konzentriert sind, diesen Worten genau zu folgen und jedes einzelne zu erfassen. Weil diese Worte nicht an ihnen abprallen. Weil sie in sie dringen. Weil die Menschen dort unten zulassen, dass sie sie berühren. Und das Schnippen ist ein äußerer Ausdruck dafür. Und dazwischen eine Stille, dass du einen Nagel fallen hörst. In Österreich, habe ich auch gelernt, sagt man: Nadel.

Bei meinen Vorgängern, Nummern eins bis sechs, haben sie auch geschnippt. Manchmal. Sehr oft aber auch zwischendurch gelacht. Und geklatscht. Bei mir, dem Einzigen, dessen Muttersprache nicht Deutsch ist, wird immer nur geschnippt.

Schnipp! Schnipp!! Schnipp!!! Schnipp!!!!

Manchmal habe ich das Gefühl, der Saal vibriert, weil sie so schnippen. Sie schnippen immer nur, weil das, was über meine Lippen kommt, was ich zu sagen habe, auch nicht lustig ist. Aber ankommt. Weil ich eine Sprache habe, und weil sie in die Herzen dringt. Darum schnippen alle diese Finger.

Klatschen. Lachen. Schnippen. Alles mittendrin. Und auch ein lautes Johlen, wenn die Menschen, die man Wertungsrichter nennt, wie ich jetzt weiß, und die kurz vor Beginn der Lesung wahllos aus dem Publikum bestimmt werden, nicht die Tafeln mit den Zahlen hochhalten, die das übrige Publikum gerne hätte. Fünf Menschen mit Tafeln. Die höchste Zahl und die niedrigste werden gestrichen. Die Übrigen zusammengezählt. Wie beim Skispringen werde ich später einmal erfahren, und ich werde auf große, ungläubige Augen stoßen, weil ich sage:

»Was ist Skispringen?«

Klatschen. Lachen. Schnippen. Johlen. Die Gesetze eines Poetry-Slams. Sie lerne ich heute Abend kennen.

»Was ist das, Poetry-Slam?«, habe ich Ruth gefragt, nachdem sie mir eine Zeitschrift, die sie in der Hand gehalten hatte, hingelegt und gesagt hatte: »Omar, lies das!«

Das war vor genau einer Woche.

Ich habe die Falten auf meiner Stirn gespürt. Dann habe ich gelesen, doch ich habe nicht verstanden. Nicht wirklich. Nur, dass es um einen Workshop geht. Um einen Workshop mit Sprache. Einen Workshop für Poetry-Slam. Mit anschließendem Auftritt.

»Möchtest du Kaffee?«, hat Ruth kurz vorher gefragt.

Und noch bevor ich habe antworten können, hat Alena gefragt: »Hast du deine Zähne geputzt?« Sie hat mich streng angesehen. Dann hat sie gelacht.

»Hast du dein Gesicht gewaschen?«, habe ich gesagt und Alena streng angesehen. Dann habe auch ich gelacht. Und mir gedacht, dass ich nach mehr als einem Jahr bei Ruth und Alena noch immer nicht verinnerlicht habe, wie das hier mit dem Zähneputzen läuft. Und dass Alena mir immer vorbetet, dass die Menschen hier sich öfter als einmal am Tag die Zähne putzen. Vor dem Essen. Nach dem Essen. In der Früh. Zu Mittag. Am Abend. Und dass ich mir mehr als einmal am Tag gedacht habe: Wenn ich sie zehnmal am Tag putzen muss, dann integriere ich mich lieber nicht.

Und dann war das mit der Zeitschrift, und Ruth hat gesagt: »Poetry-Slam. Na ja, also, das ist so eine Art Literatur. So was Ähnliches halt. Du willst doch Schriftsteller sein, oder?«

Schriftsteller, habe ich gedacht, ist ein sehr großes Wort. Schriftsteller sein? Erstmal einer werden. Aber Workshop und Sprache? Das klingt gut. Das klingt nach: Deutsch lernen. Klingt nach: Lernen, wie man in einer fremden Sprache einen Text aufbaut. Also habe ich genickt und dankbar gelächelt.

Ich bin der, den die Araber belächeln. Wegen meiner Haare.

Gleichzeitig der, den die Österreicher bewundern. Wegen meiner Haare.

Deshalb hatte ich die Idee, meine halben Haare zu schneiden und die anderen zu lassen. Dann sind alle zufrieden.

Ich bin der, den eine Mitschülerin auf einem Fest fragte: Bist du Muslim?

Ja, sagte ich.

Aber bist du praktizierend?

Entschuldigung … was ist praktizierend?

Bist du gläubig? Betest du? Ich glaube nicht, oder? Weil du schaust sehr lieb aus.

Ah ja, dachte ich.

Vielleicht bin ich lieb, weil ich drei Gebete statt fünf am Tag bete. Ich muss also immer nur drei beten. Passt!

Vor mir das Dunkel, in das ich hinein lese. Und während ich lese, merke ich, dass meine Gedanken auch anderswo sind. Sie hängen nicht mehr nur an den Zeilen. Sie sind beim Morgen, an dem der Workshop stattfand.

Heute Morgen.

Es ist früh. Noch vor dem Frühstück. Ich gehe in den Garten, um den Rasen zu mähen. Und ein paar andere Dinge zu erledigen, die Ruth mir aufgetragen hat. Ich rauche eine Zigarette, überlege, was ich schreiben soll. Weil ich es immer noch nicht weiß. Auch nach einer Woche nachdenken nicht. Aber: Etwas von hier soll es sein. Über das hier.

Was, das hier?

Über Österreich. Ja. Was ich erlebe. Die frühen Urteile, die mir begegnet sind. Es heißt: Vorurteile. Und über die Menschen ohne frühe Urteile. Über die häufigsten Fragen, die man mir stellt. Über diese eine Frage, weil die Menschen sie stellen müssen. So, wie ich aussehe. So, wie ich spreche. Die Frage der Fragen:

Woher kommst du?

Ich lese, blicke ab und zu hoch, blicke ins dunkle Nichts und sehe, wie ich ins Haus laufe. Ins Schlafzimmer. Dort auf und ab gehe. Rastlos, habe ich gelernt, heißt dieses Wort. Und ich sehe, wie ich mich dusche, weil ich mir denke: Vielleicht kann ich das Arabisch abwaschen? Nicht für immer. Nur für jetzt. Damit ich besser denken kann. Damit das bisschen Deutsch in mir besser raus kann. Es ist noch eine so zarte Pflanze.

»Alena!«, rufe ich durchs Haus. »Ich weiß es.«

»Was weißt du?«

»Was ich schreibe. Für den Workshop heute.«

»Ach ja?«

»Ich bin. Ich komme.«

»Okaaaaay?«

Mehr weiß ich nicht. Noch nicht. Also frühstücken wir. Seit ich hier wohne, essen wir meistens nur syrisch. Das Fleisch im Kühlschrank ist sehr oft halal, und im Schrank stehen mehr orientalische Gewürze als sonstige. Meine Mutter hätte Schweinefleisch im Kühlschrank niemals erlaubt. Aber Ruth ist nicht meine Mutter. Ruth ist so etwas wie meine Schwiegermutter. Doch sie ist alles andere als eine Schwiegermutter. Das zu unterscheiden habe ich auch gelernt.

Österreichische Kuchen liebe ich. Und Kernöl. Auf keinem Salat darf es fehlen. Aber sonst liebe ich die syrische Küche über alles. Alena liebt sie auch. Ruth mag die syrische Küche ebenso, doch jetzt, während sie die gekochten Eier aufschneidet und über den Salat streut, sagt sie: »Eigentlich sollten wir heute gesund essen.«

Wenn Ruth gesund sagt, meint sie im Scherz: alles, nur nicht syrisch.

Woher kommst du?

Aus Syrien.

Aha. Und habt ihr Kühlschränke in Syrien?

Was ist ein Kühlschrank?

Na, ihr Armen. Und … habt ihr viele Kamele?

Ich selbst habe noch keines gesehen.

Aber … wenn ein Mann heiraten will … muss er dann nicht mindestens siebzig Kamele für die Frau geben? Oder?

Ja. Aber ich hatte nur einen Hasen.

Ich stehe auf der Bühne, lese und sehe, wie wir immer noch am Tisch sitzen. Heute Morgen. Die Teller sind leergegessen. Was wir gegessen haben, war nur fast gesund.

»Na, Omar. Wie läuft es?«

»Was meinst du, Ruth?«

»Mit deinem Text? Für den Workshop.« Ihre Sprache ist immer so erstaunlich ruhig. Und doch voller Kraft. Wie ein mächtiger Fluss in der Ferne.

Verlegen sehe ich sie an. »Ich habe die Idee«, sage ich. »Aber nicht die Worte.«

Gleich nach dem Essen setze ich mich an den Schreibtisch. Ich weiß, ich habe nicht mehr viel Zeit. Aber ich weiß, welche Geschichte ich schreiben will. Jetzt brauche ich nur noch die Worte. Die deutschen Worte.

Um zwölf Uhr: keine Worte.

Um dreizehn Uhr: keine Worte.

Ich springe auf, stelle mich vor den Kasten. »Alena, was soll ich anziehen?!«

Alena, denke ich, wird jetzt sagen: das blaue Hemd mit den Punkten, den blauen Pullover und die braune Hose mit den blauen Schuhen. Oder doch das schwarze Hemd mit der grauen Hose? Und Ruth wird auf jeden Fall das Gegenteil sagen. Dann werden beide sagen, ich solle nicht auf die andere hören. Und lachen.

Jetzt ist es nur noch eine halbe Stunde, bis ich losmuss. Und mit dem Druck kommen auf einmal auch die Worte. Deutsche Worte. Sie sprudeln nur so. Ich sprudle. Ich bin alles andere als ein Fluss in der Ferne.

Kennst du mich nicht?

Ich bin Flüchtling. Ich bin sehr berühmt.

Liest du Zeitungen? Alle paar Tage komme ich in die Zeitung: Ein Flüchtling hat etwas gestohlen. Ein Flüchtling ist in ein Geschäft eingebrochen. Ein Flüchtling …

Ich bin der, den jeder Politiker kennt. Jeder Politiker kennt meinen Namen. Hast du noch nie einen Politiker sprechen hören? Ich bin in seiner Rede die Einleitung, der Hauptteil und der Schluss.

Schnipp! Schnipp!! Schnipp!!! Schnipp!!!!

Ich stehe auf der Bühne, spüre meine Beine wieder, blicke ins Dunkel. Nur in der ersten Reihe kann ich Gesichter erkennen. Ich sehe ein Funkeln. Ich spüre, wie die Worte aus meinem Herzen über die Zunge hinaus in die Welt fließen. Die Worte fliehen, wie auch ich geflohen bin. Sie suchen nach einer Heimat. Und die Herzen in diesem Raum sperren ihre Türen auf. Sie lassen meine Worte hinein. Sie erlauben, dass sie ankommen. Sie finden jetzt eine Heimat. Die Heimat meiner Worte ist die Empathie in den Herzen. Und dieses Funkeln, das ich sehe, sind Tränen im Gesicht einer jungen Frau, die ganz vorne sitzt.

Und dann denke ich an Alena.

Ich bin Muslim. Der 70 Frauen hat. So hat es mir mein Nachbar in Österreich erzählt. Und ich dachte: Boah, ich muss noch nach 69 Frauen suchen!

Alena hat mir den Text ausgedruckt, während ich in die Schuhe gesprungen bin. Bestimmt werde ich den Bus versäumen, oder? Termine einzuhalten ist für mich wie Zähneputzen. Ein langer Prozess des Lernens. Doch ich will mich integrieren. Natürlich will ich das. Bloß, Syrien kennt keine Termine. Nicht auf diese Art. In Damaskus geschieht das Meiste spontan. Würde ich mit meiner Großmutter einen Termin für einen Besuch zum Essen im nächsten Monat oder auch nur in einer Woche ausmachen, sie würde mich beschimpfen, wäre beleidigt.

»Spinnst du, Omar?«, würde sie rufen. »Du kommst, wenn du Hunger hast. Wenn du da bist, bist du da.« Dann wird gegessen, was gerade da ist.

Aber hier läuft das anders. Das habe ich gelernt. Nein, das lerne ich jeden Tag immer noch. Weil pünktlich und pünktlich nicht dasselbe ist. Weil es in Österreich Menschen gibt, die es sehr schätzen, wenn du fünf Minuten vor der Zeit anklopfst. Oder fünf Minuten vor der Tür stehst und dann zur richtigen Zeit anklopfst. Und andere, wie ein Wiener Schriftsteller, bei dem ich eingeladen war, der mich geschimpft hat, weil ich erst eine Viertelstunde gewartet und dann um fünf Minuten zu früh geklopft habe.

»Warum bist du jetzt schon da?!«, hat er gesagt. Und dann, als ich mich bereits umdrehen und wieder gehen wollte: »Egal, wenn du schon da bist. Aber noch lieber wäre mir, wenn du zehn Minuten zu spät kommst. Oder gleich eine Viertelstunde.«

Aber zu einem Workshop, das weiß ich fix, sollte man nicht zu spät kommen. Lernen wie man einen Text auf Deutsch aufbaut. Was für eine schöne Aussicht! Ich tue es für mich. Für mein Leben hier. Seit langem schon will ich auch auf Deutsch schreiben. Mit der Psychologin, zu der ich ging, als ich noch im Flüchtlingsheim war, habe ich auch darüber gesprochen. Sie meinte, ich würde das schaffen. Ganz bestimmt. Wenn ich nur fest daran glaube. Wenn ich nur hart genug an mir arbeite.

Omar, der Schriftsteller?

Spät wie immer laufe ich zum Bus. Später, schon in Graz, lese ich meinen Text in der Straßenbahn. Wieder und wieder lese ich ihn. Endlich stehe ich vor der Tür zum Workshop. Nervös rauche ich eine Zigarette. Eine zweite.

Soll ich überhaupt hineingehen?

Bestimmt sind da viele Leute. Bestimmt werden sie mich nicht … werden sie mich mögen? Werde ich willkommen sein?

Zu meiner Überraschung bin ich nicht nur nicht zu spät. Ich bin sogar etwas zu früh. Also habe ich noch Zeit, setze mich auf eine Bank und rauche noch eine Zigarette. Ich denke zurück. Ans Schreiben. An mein erstes Mal. Daran, dass es mir immer schon so leichtgefallen ist. Auf Arabisch. Daran, dass es zuhause für mich als Kind kein Buch zum Lesen gegeben hat. Außer dem Koran. Und den Schulbüchern, die ich hatte.

Und ich denke an diesen einen Lehrer im letzten Jahr in der Schule. Er hat an mich geglaubt. Dieser eine sehr engagierte, sehr mutige Lehrer. Weil er versucht hat, Literaturveranstaltungen zu organisieren. Weil er in mir etwas erkannt hat, das ich selbst nicht gekannt habe. Weil er mich als einzigen seiner Schüler mitgenommen hat. Zu meiner ersten Lesung, ins »Al Assad-Literaturzentrum«.

Ich hatte keine Erwartungen. Ich hatte auch keine Begeisterung dafür. Ich ging einfach nur mit, weil ich mir Vorteile erhoffte, wenn ich den Lehrer zum Freund hatte. Ich war damals 16 und wusste nicht, dass es syrische Philosophen und Schriftsteller gibt, die seit vielen Jahren hier in Europa leben und auch bekannt oder sogar berühmt sind. Männer wie Yassin al-Haj Saleh oder der Dichter Faradsch Birqadar, die beide mehr als zehn Jahre im Gefängnis saßen, bevor ihnen die Flucht gelang. Sie existierten damals nicht in Syrien. Nicht offiziell. Auch inoffiziell nicht so richtig. Und sie existieren auch heute nicht. Kaum jemand kennt sie. Rafik Schami? Nie gehört. In seinem Exil Deutschland ist er berühmt. Auch das habe ich hier gelernt. Sie sind große Leute. Und ich bin klein.

Omar, der Schriftsteller also?

Literatur ist in Syrien, was der Staat sagt, habe ich früh gelernt. Und nicht, was aus dem Herzen kommt. Jedes Wort, jede Zeile wird zensuriert. Literat ist, wer Assad und dem Regime gefällt.

Doch dann begann die Lesung, zu der mich mein Lehrer mitgenommen hatte. Und plötzlich war mein Kopf von allem anderen geleert. Da waren nur noch diese Worte. Dieser Text. Diese Poesie. Ein Mann, dessen Namen ich nicht mehr weiß, trug ein Gedicht vor. Er erzählte von einem Kuss. Und meine Wangen wurden glühend rot. Und die Wangen der beiden Frauen, die neben mir saßen, wurden glühend rot.

Bis zu diesem Tag dachte ich nicht, dass ich jemals ein Gedicht schreiben würde. Oder einen anderen Text. Nach diesem Tag dachte ich, dass ich nicht mehr leben könnte, ohne ein Gedicht zu schreiben. Oder einen anderen Text.

Gleich am nächsten Tag schrieb ich meinen ersten Text. Englischunterricht. Langeweile pur. Und ich schrieb über ein Mädchen, das ich noch gar nicht getroffen hatte. Es existierte nur in meiner Fantasie. Und trotzdem begann ich leise zu weinen, als ich mir vorstellte, es würde mich verlassen. Dann spürte ich den Atem des Lehrers hinter mir, wie er mich anbrüllte:

»Was machst du?!«

»Ich schreibe«, sagte ich zitternd.

Er lachte höhnisch. »Bist du jetzt auf einmal ein Poet?«

Und die Freunde aus meiner Klasse lachten mit. Ohne zu wissen warum.

Bist du jetzt auf einmal ein Poet?

Und heute, hier in Graz, soll ich einer sein? Ein Workshop? Mit einem Auftritt? Auf einer richtigen Bühne? Nein, denke ich. Bestimmt ist der Auftritt für andere gedacht. Aber der Workshop? Ja, das schon. Gerne. Aber was ich schreibe, denke ich auf Arabisch. Und wenn ich es ins Deutsche übersetze, ergibt es meist keinen Sinn.

Überhaupt bei einem Gedicht.

Ich drücke die Zigarette aus und gehe ins Haus. Die Sekretärin zeigt mir den Weg, lächelt freundlich. Dann betrete ich den Raum, und was ich als Erstes sehe, ist ein blondes Mädchen. Stark geschminkt. Sie ist ganz in Schwarz gekleidet, nur ihr Sakko ist grau. Neben ihr sitzt ein Mann. Kariertes Hemd. Langes Haar. Jogginghose. Mario, wie ich gleich erfahren werde, der Leiter des Workshops. Sie unterhalten sich.

»Hallo«, sage ich zu Mario. »Ich bin Omar. Ich komme aus Syrien. Ja. Ich bin Flüchtling. Ich lebe seit zwei Jahren in Österreich.«

Ich bin der, der seinen Reisepass versteckt. Nein, nicht den Reisepass. Den Konventionsreisepass.

Und ich bin der, der sich freut, wenn die Leute glauben, dass er Italiener oder Spanier ist. Irgendwas außer Syrer. Araber. Flüchtling.

Dann beginnt das blonde Mädchen zu performen. Sie braucht kein Blatt Papier. Sie kann ihren Text auswendig. Und sie gestikuliert, gibt jedem wichtigen Wort mit dem Körper einen wichtigen Ausdruck.

Ich merke, wie ich kleiner werde. Noch kleiner, als ich bin. Omar, du bist hier fehl am Platz. Du kannst deinen Text nicht auswendig. Du hast keine einzige Geste vorbereitet.

Mario reißt mich aus meinen Gedanken. »Hast du einen Text mit, Omar?«

Ich zögere. »Ja«, sage ich schließlich. Meine Stimme zittert. »Aber ich muss ihn ablesen. Ich habe ihn erst heute Nachmittag geschrieben.«

Und dann lese ich. Höre selbst die vielen Aussprachefehler, die ich mache. Aber ich kann sie nicht verhindern. Sie kleben an mir wie der Schweiß an einem sehr heißen Sommertag. Ich erzähle von einem Flüchtling, der nicht ich bin. Und der doch auch ich bin. Den der Mann beim AMS fragt, was er studiert hat.

Medizin.

Aber ich habe nicht fertig studiert.

Ja, und was willst du machen?

Etwas in meinem Bereich.

Ja, aber was willst du arbeiten?

Was meinen Sie?

Auf der Baustelle oder putzen?

Als ich fertig bin, klatschen alle. Auch Mario. Später kommt er zu mir, nimmt mich am Arm, damit wir eine rauchen gehen, und draußen sagt er: »Omar, ich möchte, dass du heute Abend liest.«

»Ich? Heute Abend?«

»Ja, beim Poetry-Slam. Im Schloss St. Martin.«

Ich bin überwältigt. Ich schnappe nach Luft. Und jetzt stehe ich hier. Auf der Bühne. Mit kribbelnden Beinen. Auf einer echten Bühne mit einem echten Mikrofon. Und ich weiß, dass es in Syrien eine Bühne und ein Mikrofon nicht einfach so gibt. Nicht ohne Prüfung und Erlaubnis durch den Geheimdienst.

Und ich weiß, dass vor ein paar Minuten erst eine Stimme meinen Namen in ein Mikrofon gerufen und mich auf diese Bühne geholt hat. Ohne Prüfung und Erlaubnis.

»Nummer sieben ist seit zwei Jahren in Österreich und heute das erste Mal bei einem Poetry-Slam. Großen Applaus für Ooooooomar!«

Omar mit sieben O. Für die Nummer sieben von neun. Ich weiß, ich bin wieder die Sieben, trotzdem darf ich meinen Namen verwenden. Ich darf die Worte verwenden, die ich in Syrien erstmals so gehört und die ich zu meinen Worten gemacht habe. Frei-heit. Frei-heit. Frie-den. Frie-den. Und ich habe gelernt, dass ich hier ohne Geheimdienst sein darf. Ohne Überwachung. Dass man mir so viel gibt, und dass ich zurückgeben will. Dass hier Heimat ist. Wo ich ohne Überwachung denke. Ohne Überwachung schreibe. Ohne Überwachung lese.

Ich bin das Volk, das vor fünf Jahren eine Volksrevolution gemacht hat.

Ich bin die Menschen, die auf der Straße friedlich demonstrierten. Obgleich sie wussten, dass es sein kann, dass sie jederzeit ermordet werden.

Ich komme aus Syrien. Diesem Land, auf dessen Straßen viele Fotos von einem Diktator hängen.

Und ich bin das Volk, das die Fotos zerstört.

Ich bin die Menschen, die im Gefängnis in Syrien ohne einen Namen ermordet werden. Weil sie Freiheit wollten.

Ich bin ihre Namen.

Schnipp! Schnipp!! Schnipp!!! Schnipp!!!!

Ich stehe auf der Bühne, lese immer noch, blicke ins dunkle Nichts. Und ich sehe Alena und Ruth. Vorhin. Sehe, wie sie ins Schloss St. Martin gekommen sind, um an meiner Seite zu sein. Wie sie sich schöngemacht haben. Die hübschen Kleider, die sie tragen. Ihr Lächeln, in dem ihr ganzer Stolz steht. Und ich denke: Ich liebe euch. Alle beide.

Ich blicke auf den Text, die Buchstaben tanzen wie mein Herz. Doch dann stehen sie still. Und für einen Moment ist es, als würde auch die Zeit stillstehen. Sie tut es für mich. Sie hält den Atem an. Damit ich diesen Augenblick nehmen kann. Die Zeit schenkt mir diesen Moment der Pause, um alles zu genießen. Sie schenkt mir das Gefühl, endlich wieder eine Stimme zu haben. Anders als die Hunderten, Tausenden Menschen in meiner alten Heimat, die Frie-den, Frieden, Frei-heit, Frei-heit gerufen haben und deren Stimme für immer genommen wurde.

Dann läuft die Zeit weiter, und auch ich lese weiter. Ich erzähle von 23 Millionen Menschen mit vielen verschiedenen Religionen. Von der Freiheit, die schon lange keine mehr ist.

Schnipp! Schnipp!! Schnipp!!! Schnipp!!!!

Von den zigtausenden Syrern, die in den Jahren spurlos verschwunden sind. Bestimmt hunderttausend. Oder mehr. Niemand weiß es genau. Und ich denke: Omar, auch du bist einmal verschwunden gewesen. Aber nur für eine Nacht. Und du weißt bis heute nicht, warum du wieder aufgetaucht bist. Warum sie es zugelassen haben.

Und plötzlich, ohne es zu merken, bin ich am Ende angelangt. Ich zittere schon lange nicht mehr. Und die Beine sind auch wieder ein fester Teil von mir. Ich stehe da, nicht gebückt und auch nicht klein.

Ich bin Omar Khir Alanam. Ich komme aus Syrien. Aus Damaskus. Und ich bin verliebt. Kennt ihr die Jasmin-Blume?

Kein Schnippen. Jetzt nur noch Applaus. Tosender Applaus. Licht geht an. Und ich sehe die lächelnden Phantome meiner verstorbenen Freunde. Sehe das kaputte Schlauchboot, das mich übers Meer getragen hat. Schmecke das Salz in meinem Mund, das jetzt süß schmeckt. Wie die Kuchen hier. Und ich vergesse Militär und Polizei und Richter. Und mit ihnen die Härte und Kälte und Bestechung, die ich erlebt habe. Auf meinem langen, fast zwei Jahre dauernden Irrweg hierher.

Ich blicke mich um. Sehe jetzt die vielen Gesichter. Ich habe eine Stimme, und meine Seele tanzt im Rhythmus des Klatschens. Frie-den, Frie-den, Freiheit, Frei-heit. Und ich sehe die vielen Tafeln, die in die Höhe gehalten werden. Bis zu zehn können es sein. Zwei zählen nicht. Wie beim Skispringen.

Und dann höre ich eine Stimme an meinem Ohr. »Bist du bereit für die zweite Runde?«

»Zweite Runde?«

»Ja«, sagt Mario. »Du bist unter den besten drei.«

Ich verstehe nicht, doch ich lerne, dass Poetry-Slam auch so etwas wie Wettkampf bedeutet. Obwohl ich nicht kämpfen will. Genau darum bin ich doch fort.

»Hast du noch einen anderen Text?«

Tatsächlich habe ich einen. Zufällig. Diesen einen anderen Text, den ich bei mir trage wie einen Schutzschild. Den ich vor einem Jahr in der Stadtpfarrkirche Graz anlässlich der Langen Nacht der Kirchen vorlesen durfte.

Heimatlos.

Ein Text, der von den Straßen in Damaskus erzählt. Den Straßen, wo ich so viele Gedichte geschrieben habe. Wo unsere christlichen Nachbarn im Ramadan für uns gekocht haben. Und wo überall die riesigen Bilder des Diktators hängen. Ich erzähle von den Schlägen, die mir mein Vater auf die Hand gegeben hat, weil ich als Bub von sieben Jahren zu ihm gesagt habe: »Ich will auch auf so großen Plakaten sein.«

Heimatlos. Der Text, der auch von meinem Großvater erzählt. Dass er gesagt hat: Baue in jeder Stadt, in der du auf deinem Weg vorbeikommst, ein Haus.

Schnipp! Schnipp!! Schnipp!!! Schnipp!!!!

Und wieder der tosende Applaus. Und wieder die Tafeln wie beim Skispringen. Und dann umarme ich Menschen. Werde umarmt. Und in diesem Augenblick, als ich es nicht glauben kann, als ich gar nicht weiß, was ich glauben kann, weil ich gewonnen habe, bleibt mir nur noch die Luft weg. Ich habe gewonnen, obwohl die anderen Texte besser waren. Sie waren natürlich besser geschrieben. Aber ich habe eine Geschichte. Ruth hat das zu mir gesagt, und ich habe es ihr geglaubt.

Dabei wollte ich doch gar nicht gewinnen. Weil gewinnen kämpfen ist. Ich wollte nur eine Stimme. Und jetzt habe ich keine Ahnung, was kommt. Natürlich nicht. Keine Ahnung, dass ich bald schon in Wien lesen werde. Dass ich mit mehr als dreißig anderen vortragen werde. Die besten Texte aus allen Bundesländern werden es sein.

Und ich werde nicht länger die Sieben sein. 600 Fingerpaare werden schnippen und schnippen. Und wieder werde ich sehr weit oben stehen. Dritter Platz. Und das Fernsehen wird kommen, mich besuchen. 150.000 Menschen werden den Beitrag über mich sehen. Ich werde auf Facebook überflutet werden. Sogar von einem Burschenschafter, mit dem ich einige Zeit in gutem Kontakt stehe. Ein offener Austausch über viele Themen. Natürlich auch die Flüchtlinge. Er geht seinen Weg. Ich meinen. Ohne ein einziges böses Wort. Das und vieles andere mehr werde ich erleben.

Aber das weiß ich da noch nicht.

Was ich weiß, hier in Graz, was ich gelernt und auch schon in Heimatlos geschrieben habe, sind auch diese Worte eines Schriftstellers: Wenn du einen Flüchtling liebst, versuche das letzte Zelt für ihn zu sein. Das ist Heimat. Und ich weiß, dass ich eine Frau gefunden habe, die für mich das letzte Gedicht war. Ist. Die mir Heimat ist. Und ich weiß: Ich bin angekommen. Ich darf eine Stimme haben für die Tausenden, die keine mehr haben.

Ich habe gewonnen, ohne kämpfen zu müssen. In ihrem Namen. Ich lächle für sie in meiner neuen Heimat. Und ich will dieser neuen Heimat geben, was sie mir gegeben hat. Was sie mir an jedem neuen Tag gibt.

Ich will diese Heimat beschützen.

Danke

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