Читать книгу Sisi, Sex und Semmelknödel - Omar Khir Alanam - Страница 6
Das Fest des Huhnes
ОглавлениеAls ich begonnen habe, an diesem Buch zu arbeiten und Erstaunliches aus dem Alltag hier in Österreich zusammenzutragen, habe ich einem Freund von meinem Plan erzählt. Diesen Freund kann man auf den ersten Blick als väterlich bezeichnen. Weil er fast doppelt so alt ist wie ich. Weil er vorne schon einen Fünfer trägt. Und weil er nicht wie andere seines Alters, die es unbedingt nochmal wissen und bei ihren viel jüngeren Zweit- und Drittfrauen gut ankommen wollen, ständig in schwarzen Converse mit weißen Schuhbändern herumläuft.
Trotzdem – und das soll jetzt bitte nicht respektlos klingen aus dem Mund des 28 Jahre jungen Mannes, der ich bin – ist er erstaunlich frisch im Kopf. Ich meine frisch im Sinne von jugendlich erfrischend. Er beklagt sich nicht ständig, ist kein bisschen resignativ und somit untypisch österreichisch. Ja, verglichen mit vielen meiner Altersgenossen oder einem gewissen, auch nicht viel älteren Spitzenpolitiker hier im Land, zu dem sie seiner konservativen Haltung wegen auch gerne »der alte Mann mit dem jungen Gesicht« sagen, ist mein Freund im Kopf ein richtiger Dénischer. Ohne dass deswegen seine Hormone ständig verrücktspielen. Ein Dénischer?
Ya-iIlahi. Oh, mein Gott. Diese verdammte deutsche Sprache mit ihren Hürden und Mauern und Zungenbrechern. Auch nach fünf Jahren legt sie immer noch ihre Schlingen nach mir aus. Dagegen ist perfekt Arabisch zu lernen das reinste Kinderspiel. Ob Sie es glauben oder nicht. Obwohl, Dénischer ist ja gar kein echtes Deutsch, sondern eines dieser vielen gestohlenen Worte. Trotzdem muss auch ich wie schon andere vor mir sagen:
Das Leben ist zu kurz, um Deutsch zu lernen.
Das sagt ein arabisches Sprichwort. Manche behaupten ja, es stammt von Mark Twain. Oder Oscar Wilde. Oder Voltaire. Vielleicht aber auch von einem Deutschen selbst. Vielleicht Goethe? Das posten jedenfalls Syrer, die gerade Deutsch lernen. Dann gibt es wieder welche, ebenfalls Syrer, die dieselbe Weisheit mit einem Foto von Adolf Hitler ins Netz stellen. Kein Österreicher oder Deutscher würde das wagen. Doch das Geschichtsbild der Syrer ist ohnehin ein anderes, als man es sich hier vorstellen kann: Denn in den Schulbüchern, die Diktator Assad freigibt, wird behauptet, Hitler habe im Ersten Weltkrieg die Gräueltaten der Juden miterlebt, und darum habe er sein Volk später vor ihnen schützen wollen. Dass er in Wahrheit sechs Millionen Juden grausam ermorden ließ, habe ich – ob Sie es glauben oder nicht – tatsächlich erst in Österreich erfahren.
So oder so. Das Leben ist definitiv zu kurz, um Deutsch zu lernen.
Dénischer liest sich in der hochdeutschen Schriftsprache übrigens so: Teenager. Mein Freund lächelt immer, wenn ich mit meiner nach wie vor etwas zu harten Aussprache darüber stolpere. Aber so sehr ich mich auch bemühe, wenn ich es eilig habe beim Reden (und das haben wir Araber praktisch immer), kommt am Ende des Tages, wie es so schön heißt, bei Teenager Dénischer heraus.
Derselbe kopfjunge Freund hat eines Tages übrigens zu mir gesagt, er wolle ab sofort keine neuen Menschen mehr kennenlernen. Er kenne ohnehin schon viel zu viele. Durch seinen Beruf und das Leben und überhaupt.
Inzwischen kenne ich ja auch den Begriff, mit dem man hierzulande gerne alles Mögliche zudeckt. Oder verschleiert. Vor allem die Unsicherheit. Man macht das hier mit dem Schmäh. In so einem Fall sagt der Araber dann: Zwei Drittel des Scherzes sind ernst gemeint.
Ob Schmäh sprachgeschichtlich etwas mit Schmähung zu tun hat, weiß ich nicht. Ebenso wenig, wie hoch der Prozentanteil Schmäh war bei der Aussage meines Freundes. Was ich weiß, ist, dass einem der Schmäh in diesem Land ausgehen kann wie anderen die Milch fürs Frühstück oder der Safran für ein arabisches Kabse, das beliebte Reisgericht mit jeder Menge Gewürzen, von Kardamom über Zimt und Muskat bis hin zu Safran, und natürlich mit Pinienkernen und Mandeln und Lammfleisch. Oder Huhn. Und, was ich ebenfalls erfahren habe: Derselbe Schmäh, der den Menschen plötzlich ausgeht, kann genauso gut plötzlich rennen. Wohin oder vor wem davon, weiß ich jedoch nicht.
Was soll‘s. Ich kann nicht alles wissen. Aber, keine neuen Menschen mehr kennenlernen wollen?
Niemals. Zur Sicherheit, Schmäh hin, Schmäh her, habe ich gegen die Behauptung meines Freundes sofort protestiert. Weil ich als gebürtiger Syrer am liebsten mit jedem und überall zu plaudern anfange. Wenn es sein muss, sogar auf der Herrentoilette.
Andererseits weiß ich inzwischen, dass systematisches Nicht-Reden auch eine Art von Kommunikation ist. Gerade hier in Europa. Da brauche ich nur an Menschen in U-Bahnen oder Aufzügen zu denken. Wenn sie in diese Leere starren, in die man eben sonst nur starrt, wenn man auf der Herrentoilette steht und in das geschmacklose Muster von Fliesen aus den Siebzigerjahren blickt und darüber staunt, welch seltsame Sprüche oder Ausrufe es als Graffiti ins Jahr 2020 geschafft haben. Man steht da so mit den anderen Namenlosen und macht sein Ding und blickt bloß nicht hin, wo man eben nicht hinblickt. Weil man da nicht hinblickt!
Aber bleiben wir bei dem Plan, von dem ich meinem Freund zu erzählen begonnen habe. »Ich schreibe ein neues Buch«, sage ich. »Über die ersten fünf Jahre in meiner neuen Heimat. Über den Zusammensturz der Kulturen.«
»Meinst du Clash of Cultures?«, fragt er.
Ich nicke.
»Dann heißt es Stoß. Zusammenstoß der Kulturen, Omar.«
Ya-iIlahi. Schon wieder. Was für eine ewige Herausforderung. Stoß. Sturz. Ist das denn nicht dasselbe? Oder führt nicht das eine zum anderen? Wer gestoßen wird, kann schließlich stürzen. Nur bei Diktator al-Assad bin ich mir da nicht so sicher.
Ich überlege, was und wie viel ich meinem Freund erzählen soll. Immerhin ist es bloß eine Idee. Sie leuchtet zwar schon grell auf in meinem Kopf wie eine Traube gelber Datteln hoch oben auf einer Oasenpalme inmitten der syrischen Wüste (wobei ich gestehen muss: Im Gegensatz zu meinem weitgereisten Freund, der schon die eine oder andere Wüste dieser Welt gesehen und auch viele Wochen dort verbracht hat, kenne ich die Wüste gar nicht. Sie soll jedoch, heißt es, wunderschön sein).
Aber wir waren bei der Idee und den Datteln. Ja, so verführerisch die Früchte auch herunterleuchten, in diesem Zustand sind sie einfach noch nicht reif. Und mein Freund (so jedenfalls stelle ich mir seinen Job vor) ist so etwas wie ein Verwerter von noch nicht ganz reifen Ideen. Eine Art freilaufende Reifemaschine. Ein kreativer Dattelpflücker mit Weitblick. Auch wenn er sich meiner Ideen bestimmt nicht bedienen würde. Aber prinzipiell.
Außerdem ist es doch so: Fliegen Ideen erstmal durch die Luft, greift rasch ein anderer nach ihnen. Ideen machen Geräusche wie auch der Wind Geräusche macht. Und wie der Wüstenwind ein loses Sandkorn hochhebt und verweht, so hebt auch der Wind der Sprache eine lose Idee hoch und verweht sie. Er trägt sie von da nach dort, von einem Ohr zum nächsten. Da gibt es dieses arabische Sprichwort, das auch für die guten, aber noch nicht verwerteten Ideen gilt. Dieses Sprichwort nämlich:
Der frühe Vogel fängt den Wurm.
Alena lacht mich bestimmt aus, wenn sie das liest. Ich kann es hören, wie sie dann mit diesem gewissen Blick als Begleitung sagt: »Omar, das mit dem Wurm kommt aus dem Englischen. Und zwar so was von fix.«
»Niemals«, werde ich rufen und standhaft bleiben. Weil Sprichwörter das sind: mehrheitlich arabisch. Nein, ausschließlich arabisch. Allein schon, weil es so viele gibt. Für alles. Araber baden in Sprichwörtern. Sie betreiben mit ihnen eine Art Hammam für die Seele. Das, was hier Wellness heißt, und meist nur für unverschämt viel Geld zu haben ist.
Wenn das mein Vater in der alten Heimat wüsste! Das mit Wellness und den Preisen. Er würde ins Telefon brüllen, ob ich jetzt endgültig den Verstand verloren habe durch zu viel Einatmen europäischer Luft. So eine Menge Geld zum Fenster hinauszuwerfen! Für etwas, das ein echter Araber (der ich ja anscheinend nicht mehr bin, wird er brüllen) erstens nicht freiwillig tun würde und zweitens (wenn es unbedingt sein muss) gratis bekommt, weil er es sich von der syrischen Sonne schenken lässt. Schwitzen.
Ja, Wellness, oder etwas internationaler Spa, ist auch so ein Thema, auf das ich bei meinen Recherchen und Überlegungen gestoßen bin. Ich habe bemerkt, wie wichtig es hier ist. Und welche Rituale damit verbunden sind. Also habe ich es auch ausprobiert. Ein Albtraum, kann ich Ihnen sagen. Und ich meine damit am allerwenigsten die staubtrockene Hitze in einer finnischen Sauna.
Doch fürs Erste zurück zu meinem Freund. Wie viel soll ich ihm verraten? Ich platze vor Lust, mich mitzuteilen. Andererseits ist er ein … hhmm … und wiederum andererseits weiß ich, dass er eine besondere Qualität besitzt, die ihn von vielen Menschen auf der ganzen Welt aus den unterschiedlichsten Kulturen unterscheidet. Zusammenbruch hin, Zusammenstoß her. Diese Qualität:
Er kann tatsächlich den Mund halten.
Alena, meine so wunderbare steirische Frau, die ich vor bald vier Jahren in Graz lieben gelernt habe und die mir, nein: die uns inzwischen einen Sohn geschenkt hat, der so wunderbar ist wie sie selbst, hat gesagt: Das Wort für die Qualität meines Freundes heiße vertrauenswürdig.
Alena und ich leben in wilder Ehe zusammen. So nennt man das hier. Ein Araber kann mit diesem Begriff nichts anfangen. Natürlich, in einer Ehe kann es schon mal wild zugehen. Aber eine Ehe kann nicht per Definition wild sein. Entweder Ehe. Oder keine Ehe. Was bedeutet nun so eine wilde Ehe für mich? Ich habe das auf meine Art gelöst. Indem ich Alena – ziemlich zu Beginn unserer Liebesbeziehung – gefragt habe:
»Alena, möchtest du mich heiraten?«
Alena hat sich riesig gefreut und sofort Ja gesagt. Also haben wir es amtlich gemacht. Auf un-österreichische Weise. Wir haben unser Versprechen (mit zwei Freunden als Zeugen) auf ein Stück Papier geschrieben, das wir bei uns tragen. So sind wir Mann und Frau geworden. Auch ohne Trauschein. Für uns und vor uns besteht diese Ehe. Soll die Gesellschaft dazu doch sagen, was sie will. Ich jedenfalls sage:
»Alena ist meine Frau«. Und diese meine Frau sagt: »Dein Freund ist vertrauenswürdig.«
Sie hat recht. Vertrauenswürdig. Das trifft es. Dabei ist genau das umso erstaunlicher, wenn ich an seinen Beruf denke. Und an seine Vergangenheit. Weil ich mit genau solchen Menschen ganz andere Erfahrungen gemacht habe. In meiner alten Heimat.
Aber alles schön der Reihe nach.
»In meinem ersten Buch«, sage ich also zu meinem vertrauenswürdigen Freund, »habe ich mich bei den Menschen hier bedankt. Dass sie mich aufgenommen haben. Und akzeptiert. Dass sie mir nach meiner Flucht aus Syrien eine neue Heimat geschenkt haben. Darum hat das Buch auch so geheißen: Danke.«
Mein Freund weiß das natürlich längst. Er hält sich auch nicht gerne auf mit Dingen, die vorbei und nicht mehr zu ändern sind. Darum sagt er etwas ungeduldig: »Ja, ja, Omar. Ich weiß, ich weiß … blablabla … das ist eh super, aber: Das hatten wir alles schon. Aber dein zweites Buch. Worum dreht es sich? Hast du schon erste Szenen? Zeigst du sie mir? Was ist der rote Faden? Was ist der Plot? Die Kernaussage? Wie lautet der Titel? Raus mit der Sprache!«
Raus mit der Sprache.
Das habe ich hier schon öfters gehört. Anfangs habe ich gedacht, es heißt so viel wie: Halt den Mund. Oder: Besser, du sagst jetzt nichts mehr. Weil es Sprachen gibt, wo das Wort Sprache zugleich auch Zunge bedeutet. Zum Beispiel im Russischen.
Angeblich spricht man das so aus: Jiasík. Mit Betonung auf dem zweiten i. Hoffentlich ist das nicht wieder so eine Falle wie der Dénischer. Egal. Sprache = Zunge also. Und ich komme aus einem Land, wo sie dir die Sprache = Zunge auch schon mal flott und unbürokratisch rausschneiden in einem der vielen Geheimdienstkeller. Einfach, weil es gerade lustig ist. Weil sie besonders gut oder besonders schlecht drauf sind. Weil den Männern in ihren billigen Klamotten danach ist. Weil du nicht laut genug »Lang lebe Bashar al-Assad!« geschrien hast, während sie auf dich einprügeln. Oder weil sie der Meinung sind, dass es vorbeugend besser so ist. Noch dazu bei Menschen, die wie ich gerne mit einem Buch in der Hand durch die Straßen von Damaskus laufen und schon allein deshalb sehr verdächtig sind. Also hat »Raus mit der Sprache« für mich einen etwas schalen Beigeschmack. Vor allem, weil es gut sein kann, dass du plötzlich gar nichts mehr schmeckst.
Heute weiß ich es besser. Österreich ist da ein Land der Seligen. Europa ist da eine Insel der Seligen. Meistens jedenfalls. Niemand will dir hier an die Zunge, wenn er so etwas sagt. Auch wenn die Zunge oft die Hebamme allen Unheils ist. Dazu gibt es auch ein Hadith (das ist so eine Art mündliche Betriebsanleitung für den Koran, Aufzeichnungen, die das Wirken des Propheten Mohammed belegen): Da heißt es, die meisten Fehler des Menschen würden seiner Zunge wegen entstehen. Wer an Allah glaube, solle entweder Gutes sprechen oder für immer schweigen.
Aber diese deutsche Sprache! Allein der Konjunktiv. Da weißt du nie, was die Leute wirklich wollen. Allein schon dieser Satz, den die allzu sehr Gestressten von sich geben, wenn sie von einem Termin zum nächsten hetzen, dazwischen dreimal einkaufen laufen, völlig abgekämpft und viel zu spät zum Treffen mit dir erscheinen, bei der Vorspeise ihre Mails checken und auch sonst noch hundert Mal aufs Handy starren. Und dann, noch vor dem Dessert, aufspringen, nach der Jacke greifen, weil sie fast den Friseurtermin vergessen hätten, und sich mit einem tiefen Stöhnen und diesen Worten verabschieden.
Ich hätte gerne etwas mehr Zeit für mich.
Hätte. Ja, was denn jetzt? Willst du mehr Zeit für dich oder willst du nicht?
Viel schlimmer jedoch ist der Konjunktiv im Gasthaus, wenn der Kellner sagt: »Na, der Herr? Was hätten wir denn gerne?«
Was soll denn das heißen? Außerdem: Warum wir? Hat er nicht nur mich gefragt? Immerhin sitze ich alleine am Tisch. Oder sagt er wir, weil er hofft, dass ich auswähle, was er am liebsten mag, damit er mitessen kann?
Hätte, hätte, Fahrradkette, sagt man da angeblich. Auch so eine Redewendung, die mir nicht in den Kopf will. Eines von den guten alten arabischen Sprichwörtern kann es jedenfalls nicht sein. Oder bestenfalls in einer sehr, sehr schlechten Übersetzung.
»Du sagst das«, sagt Alena, »wenn du eine Fehlentscheidung nicht mehr rückgängig machen kannst. Oder etwas nur in deinem Wunschdenken möglich ist.«
Wunschdenken auf Arabisch sieht anders aus. Aber bleiben wir noch bei meinem Freund. Der lässt nämlich nicht locker.
»Na, was ist, Omar? Raus mit der Sprache!« Du meine Güte. Der redet auf einmal so viel und so schnell wie ein Araber, habe ich in diesem Moment gedacht. Dabei ist er doch Österreicher. So wie ich mittlerweile auch. Auf eine gewisse Art.
Aber, bin ich das denn wirklich? Wer bin ich, nach fünf Jahren hier und nicht mehr dort?
Meinem Freund ist das jetzt gerade ziemlich egal. Er überschüttet mich mit Fragen. Alles will er wissen zu meinem neuen Buch. Einfach alles. Man könnte sagen: Er gießt seine Neugierde über mir aus, dass sie zu schäumen beginnt. Wie wenn ein Araber die Teekanne beim Ausschenken gekonnt hoch in die Luft zieht, einen Meter oder so, sodass sich der Chai aus immer größerer Höhe ins Glas ergießt. Natürlich, ohne dass ein einziger Tropfen daneben geht.
Das Ergebnis?
Ein fantastisches Getränk, das für Freundschaft und Wärme und Herzlichkeit steht. Natürlich ohne Milch. Weil Milch und schwarzer Tee – das geht gar nicht. Dafür aber muss er aus hochwertigem schwarzem Tee gebraut sein. Je hochwertiger, desto besser. Also kein Teesack. Nein. Es heißt ja Teesackerl. Oder Beutel. Egal. Angereichert mit frischer Minze sollte er sein. Oder mit einer Kardamomkapsel ganz zum Schluss. Und mit ganz, ganz viel Zucker. Das alles ergibt am Ende, im Glas, den perfekten Schaum und den göttlichen Geschmack.
Mmhhmm.
Genau so, denke ich mir, schäumt die Neugierde meines Freundes. Kein Wunder, überlege ich weiter. Neugierde ist sein zweiter Vorname. Er atmet sie den ganzen Tag. Neugierde ist sein Sauerstoff und Treibstoff. Neugierde wärmt ihm das Blut wie anderen Menschen die Lust auf Abenteuer. Oder die Freude am Anblick einer wunderschönen Frau. Das muss ich jetzt sagen. Als gebürtiger Araber. Klischees verpflichten.
Kein Wunder, sage ich still zu mir, dass er fast platzt vor Neugierde. Er ist ja auch Journalist. Und trotzdem (wie hat Alena gesagt?) vertrauenswürdig.
»Das Buch heißt Sisi, Sex und Semmelknödel«, sage ich.
Glauben Sie mir: Es tut gut, Menschen, die behaupten, niemand Neuen mehr treffen zu wollen, weil sie alles dutzendfach gesehen und gehört haben, plötzlich riesengroße Augen machen zu sehen. Augen, so groß wie ein Fladenbrot, das du frisch aus dem Ofen holst. Oder das du, wie es die Beduinen machen, aus der Glut ausgräbst, ein paar Mal kräftig an deiner staubigen Djellaba abklopfst, so dass alle beide wieder sauber sind – der Kapuzenmantel und das Brot. Und fertig.
Weil: Die Augen meines Freundes haben, als ich ihm den Titel verraten habe, nicht nur ordentlich an Größe zugelegt, sondern auch geglüht. Und in ihnen, den Augen, ist da so ein Fragezeichen aufgetaucht. Riesengroß. Das hätte locker von Graz bis nach Damaskus geblinkt. Damaskus. Meine alte Heimatstadt in Syrien. Oder besser gesagt: die große Schwester meiner Heimatstadt Ost-Ghuta.
Kennen Sie Ost-Ghuta?
Vermutlich nicht persönlich. Eher aus den Nachrichten. Ost-Ghuta, das ist dort, wo Bashar al-Assad am liebsten seine Bomben auf das eigene Volk fallen lässt. Aber darum geht es jetzt gerade nicht.
Jetzt gerade geht es um das neue Buch. Sisi, Sex und Semmelknödel. Und um die wie feinster arabischer Tee schäumende Neugierde meines österreichischen Freundes, als ich ihm auch den Untertitel verrate:
Ein Araber ergründet die österreichische Seele.
»Alles Gute dabei«, ruft er spontan und tut, als wollte er gehen. Doch dann fängt sich mein neugieriger Journalisten-Freund wieder, und sagt:
»Omar, wenn du wissen willst, wie wir sind, nein: wie wir auch sind, und wie auch du bald sein wirst, ob du willst oder nicht, na ja, vielleicht, dann musst du dir einen Film ansehen. Klapp deinen verdammten Laptop auf!«
Einen Film? Zeigt er mir jetzt, dass Andreas Gabalier seine Lederhose nicht mehr auszieht, weil er darin festgewachsen ist? Oder einen alten Sisi-Film? Warum die Menschen zu so einem alten Film auch Schinken sagen, werde ich wohl niemals begreifen. Was haben Schweineschenkel mit alten Filmen zu tun? Oder sagen sie das nur, weil sie uns Moslems ein bisschen ärgern wollen? Wobei ich schon sagen muss: Als ich Sisi (den Film) zum ersten Mal sah, dachte ich instinktiv: Was da geschieht, ist schon sehr seltsam. Aber doch auf eine gewisse Weise durch und durch arabisch. Ich komme noch darauf zurück.
Was für einen Film also? Außerdem … was soll das überhaupt heißen?
Wie du auch bald sein wirst.
Als ich erstmals österreichischen Boden betrat und begonnen habe, ganz vorsichtig und ziemlich ängstlich Fuß zu fassen, war erstmal das hier angesagt: das große Staunen. Österreich war mir bis dahin kein Begriff gewesen. Nein, ich zählte vielmehr zu denen, über die man hier so gerne lacht: Menschen nämlich, die darunter Australien verstehen. Ein echter Klassiker also.
Österreich kam in meiner syrischen Welt überhaupt nur in einem einzigen Wort vor. Sie haben es erraten: in einem Sprichwort.
Kol o ensa – rou a nemsa.
Ein Reim aus meiner Kindheit, der übersetzt so viel bedeutet wie: Iss und vergiss. Und geh nach Österreich. Nemsa. So lautet bekanntlich das arabische Wort für Österreich.
Alenas Mama Ruth meint, die deutsche Entsprechung könnte diese sein: Friss oder stirb! Das wäre jedoch wenig schmeichelhaft für Österreich, weil es dann ein Ort wäre, den du besser meidest und stattdessen lieber alles runterschluckst, was so daherkommt. Nein, dieses Bild gefällt mir gar nicht. Weil das Gegenteil der Fall ist. Und man merkt hier, wie sanft die arabische Sprache im Vergleich zur deutschen ist. Dennoch schreibe ich auf Deutsch.
Jedenfalls bekamen meine Freunde und ich diesen Reim immer dann zu hören, wenn es uns nicht gut ging. Oder wir aus irgendeinem Grund beleidigt waren. Oder unzufrieden. Die tiefere Bedeutung habe ich bis heute nicht begriffen. Vielleicht gibt es ja auch gar keine. Wie das bei Redensarten oder Sprichwörtern schon mal vorkommt. Oder weil wir die Hintergründe nicht kennen und die Worte einfach nur nachplappern.
Ganz anders bei Deutschland. Auch wenn ich bis zu meinem ersten Tag in Österreich nicht ein einziges Wort Deutsch gekonnt oder auch nur je zuvor gehört hatte – Deutschland, ja, das stand für etwas. Schon damals. Deutschland, Almanya, war und ist in Syrien der Inbegriff für Technik. Für Präzision. Für Maschinen. Dazu zählt in der Wahrnehmung der Syrer allerdings auch ein sehr übles Gerät: der deutsche Stuhl. Ein Folterinstrument aus beweglichen Teilen, mit dem der Körper von Gefangenen überdehnt wird, was häufig auch dazu führt, dass den Opfern irgendwann die Wirbelsäule gebrochen wird. Geflohene Nazischergen sollen dieses Teufelsgerät seinerzeit nach Syrien gebracht und dort populär gemacht haben.
Aber bleiben wir lieber bei jener deutschen Technik, die zurecht mit Ruhm bedacht wird. Autos zum Beispiel. Darum muss ich auch immer lachen, wenn ich einen aus der syrischen Community hier in Österreich am Steuer eines Wagens sehe. Des eigenen Wagens. Egal wie klapprig oder schrottreif die Kiste auch sein mag. Der ganze syrische Stolz einer gedemütigten, unterdrückten und von Krieg geschlagenen Nation sitzt da hinterm Lenkrad. Weil diese alte, klapprige Kiste dafür steht, was viele Araber (aber auch Menschen vom Balkan und aus der Türkei) mit Glück verbinden. Mit Wohlstand. Damit, es auch in der Fremde geschafft zu haben. Hauptsache, dass der Wagen einen dieser drei bis ins ferne Arabien klingenden Namen trägt:
Audi.
BMW.
Mercedes.
Glück ist eine Oase, die zu erreichen nur träumenden Kamelen gelingt, besagt eine alte Beduinenweisheit. Und die zweibeinigen syrischen Kamele träumen eben von einem deutschen Auto als Schlüssel zum Glück. Egal, ob es hinten beim Auspuff rausqualmt wie aus dem Rauchfang einer Dampflokomotive in der Jarmukschlucht, damals, als es in Syrien noch ein richtiges Eisenbahnnetz gab, bevor es zerbombt wurde. Egal, ob in der ersten eigenen Wohnung nichts außer einer Matratze zu finden ist (und vielleicht noch ein riesengroßer Flatscreen-Fernseher, der den ganzen Tag läuft, oft genug auch nur, damit er sich selbst zuhören kann, weil sonst niemand zu Hause ist). Egal, ob der Kühlschrank gähnend leer ist. Hauptsache Auto, Hauptsache deutsch. Hauptsache, mit einem der drei großen Namen.
Aber Nemsa?
Interessant ist, dass Österreich (das habe ich mal in einem Bericht über zwei Salzburger, die in Algerien von Fundamentalisten entführt worden waren, gelesen) das einzige Land der westlichen Hemisphäre ist, für das es ein eigenes arabisches Wort gibt. Also eines, das nicht hergeleitet ist. Hier würde man sagen: eingedeutscht. Oder eingearabischt. Nemsa ist jedoch ein echtes, gewachsenes, arabisches Wort. Das habe, hieß es in dem Artikel, vor allem historische Gründe. Ein Nemsawi zu sein, würde jedenfalls – im Fall des Falles – von Vorteil sein. Wobei ich aus heutiger Erfahrung ergänzen möchte: Es kann auch ein Vorteil sein, ein Nemsawi zu sein, ohne dass man sich deshalb gleich entführen lassen muss.
Für mich jedoch war Nemsa damals ein völlig unbeschriebenes Blatt. Ein weißes Blatt Papier. Das große Schreckgespenst vieler Schriftsteller. Einfach sehr weiß und sehr leer. Dafür aber mit sehr viel Platz für das große Staunen. Und gestaunt habe ich auch, als ich hierher kam. Als zum Beispiel ein Landsmann, der mit mir geflohen war, vor meinen Augen zu einem Polizisten im Burgenland hingegangen ist und ihn um eine Zigarette gebeten hat. Rotzfrech, sagt man da, oder? Das war keine zehn Minuten, nachdem wir per Schlepper-Sammeltaxi in Österreich gelandet und aufgegriffen worden waren. Und dann sah ich, wie der Polizist ihm auch noch die gewünschte Zigarette gegeben hat. Und Feuer obendrein. Einfach so!
Probieren Sie das mal in Syrien. Oh nein. Probieren Sie es lieber nicht. Und schon gar nicht an einem Tag, an dem der Polizist womöglich mit seiner Frau gestritten hat. Oder bloß die Oliven beim Frühstück nicht den perfekten Reifegrad hatten. Das allein kann dein Leben entscheidend verändern. Weil da nicht das Feuer für die Zigarette deinen Tag erhellt, sondern es im Gegenteil ganz schnell finster werden kann. So finster wie in einem der tausenden Kerker der syrischen Staatsgewalt. Finster wie eine tiefschwarze arabische Nacht draußen in der Wüste. Ohne Lichtverschmutzung. Aber auch ohne Sternenhimmel.
Ja, mein großes Staunen hat tatsächlich schon auf den allerersten Metern nach der Grenze angefangen. Im bitterkalten November 2014. Das war noch einige Monate vor der großen Wir-schaffen-das-Welle. Damals, nahe der ungarisch-burgenländischen Grenze, haben wir noch zu zweit gestaunt. Der Polizist mit der Zigarette hat gestaunt, als er gleich nach meinem rotzfrechen Landsmann mich gesehen hat mit meinen hauchdünnen Sommerschuhen, in denen ich ohne Socken steckte. Und ich habe gestaunt, weil ich das Gefühl hatte, bei Alice im Wunderland gelandet zu sein. Also doch ein Hauch von Australien. Irgendwie.
Das Staunen des Beamten hat sich vermutlich rasch wieder gelegt. Weil er bald danach ganz sicher jede Menge Menschen gesehen hat, die ähnlich luftig unterwegs waren wie ich. Mein Staunen hingegen sollte aus tausendundeinem Grund anhalten. Bis zum heutigen Tage.
Wenn es mich wieder mal so richtig packt mit dem Nicht-verstehen-Wollen oder Können, dann stelle ich mir Fragen nach meiner Identität, und genau dann – wenn ich zum Beispiel in unserer kuschelig warmen Küche in Graz wieder mal anstatt zu Olivenöl zu steirischem Kürbiskernöl greife oder ich den Araber in mir auf andere Weise verwirre – genau dann tritt Alena mit ihrem treffsicheren weiblichen Instinkt auf den Plan. Punktgenau. Sie ertappt mich auf frischer Tat auf dem Höhepunkt meiner Identitätsverwirrung. Und sie stellt sich vor mich hin und sagt:
»Omar, wenn du so weitermachst, bist du bald ein gelernter Österreicher.«
Bin ich das?
Wikipedia hat ja für so gut wie alles einen Eintrag. Gelernter Österreicher findet sich dort natürlich auch. Da heißt es: Menschen mit besonderem Insiderwissen über Land, Leute und Gepflogenheiten. Sie gelten, lese ich weiter, als Kenner der Verhältnisse, sozial, politisch und so weiter.
Was auch immer das bedeuten mag.
Was auch auf Wikipedia steht, ist: Das Ganze ist ironisch gemeint. Oder selbstironisch. Je nachdem, wie lustig die Leute anderen oder sich selbst gegenüber aufgelegt sind. Und der Begriff, erfahre ich darüber hinaus, geht auf die Zeit des Schriftstellers Franz Grillparzer zurück. Ein Zeitgenosse von Johann Nestroy also, auf den ich auch schon gestoßen bin und der mir eine wunderbare Semmel-Geschichte geschenkt hat. Ich werde davon berichten. Damals, zu Grillparzers Zeiten, sagte man jedenfalls noch: geübter Österreicher. Später dann machte ein gewisser Friedrich Torberg den gelernten daraus.
»Torberg«, sagt Alenas Mama Ruth, »war einer der besonders scharfzüngigen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Es gibt da dieses berühmte Buch von ihm, die Tante Jolesch, und darin diesen einen ganz besonders berühmten Ausspruch, den jeder kennt. Zumindest jeder, der auch weiß, wer Friedrich Torberg war.«
»Welchen Spruch, Ruth?«
Ruth sieht mich mit ihren direkten Augen an. Das war das Erste, was mir damals an ihr aufgefallen war, als ich sie als Alenas Mama kennenlernen durfte und zugleich furchtbare Angst hatte, sie könnte ein Problem mit mir haben. Einfach, weil ich Araber und Asylwerber war. Ruths direkte Augen. Ihr Blick, der anderen Blicken niemals ausweicht. Ihre so unglaublich ruhige Stimme. Ihr schönes, schwarzes, glänzendes Haar, das sie gerne auch mal zu einer Palme hochgebunden trägt. Ich, Omar, war für sie von Anfang an der junge Mann (und nicht einfach nur der Flüchtling), der in ihre Tochter verliebt war und ist. Und sie, Ruth, war für mich von Anfang an die Frau, die in die Ruhe verliebt ist.
Jetzt bin ich es, der sie aus direkten Augen ansieht. »Also, welchen Spruch, Ruth?«
»Was ein Mann schöner ist wie ein Aff’, ist ein Luxus.«
Muss ich das verstehen? Noch dazu, wenn ich gerade in den Spiegel blicke und an meinem gelockten Haar zupfe und mir überlege, was ich an mir zum Positiven verändern könnte?
Was ich verstehe, ist: Dieser Torberg liegt zwar (sagt mein Freund, der Journalist) auf dem ziemlich verwahrlosten Teil des alten jüdischen Friedhofs auf dem Zentralfriedhof in Wien, war und ist in den Herzen der Menschen aber immer noch eine große Nummer. Obwohl sich keiner um sein Grab schert. Und, was ich noch verstehe, ist: Gelernter Österreicher zu sein, hat viel mit Tradition zu tun. Tradition ist wichtig. Wie gut, denke ich, dass ich instinktiv die Kaiserin Sisi für den Titel meines zweiten Buches gewählt habe.
Alena setzt aber noch eins drauf. Weil von ihr lerne ich: Bist du, so wie ich, ein Zugezogener (Alena sagt, es heißt: Zuagrasta), und nennt man dich eines Tages, nachdem du eine bestimmte Reife im Hier-Sein erlangt hast, einen gelernten Österreicher, dann ist es vorbei mit Ironie oder Selbstironie. Dann ist der gelernte Österreicher plötzlich eine Auszeichnung.
Da soll sich einer auskennen.
Wir. Ihr. Zuagrast. Gelernt. Gewachsen. Das alles verwirrt mich mehr, als es mir hilft: Wer ist denn schon irgendetwas ganz und das andere gar nicht? Alena, zum Beispiel, ist Grazerin. Behauptet sie. Aber sie ist es nicht ganz. Weil geboren ist sie im Burgenland, und nach Graz kam sie erst, als sie schon ein paar Tage auf der Welt war. Und dann wieder gibt es den kleinen Josef. Er ist der Sohn eines Syrers, den ich schon lange kenne, und in Graz geboren. Trotzdem darf Josef sich nicht Grazer nennen. Weil seine Eltern beide keine sind. Wer ist nun was? Lässt sich das überhaupt bestimmen?
Und so plagt mich die Frage, wie es nach fünf Jahren mit mir aussieht, nur noch mehr.
»Was bin ich?«
»Da hat es einmal so eine Quizsendung gegeben«, sagt Ruth auf meine Frage. »Die hat genauso geheißen: Was bin ich? Das heitere Beruferaten. Sehr beliebt. Wir, die etwas älteren Semester, kennen das alle. Da gab es ein Schwein, in das bei jeder falschen Antwort Geld geworfen wurde. Nein, kein echtes Schwein, Omar. Ein Sparschwein.«
Alena verdreht die Augen und lacht. Und ich sitze nur noch wackeliger zwischen den beiden Sesseln der Kulturen und rutsche mit meinen Pobacken hin und her. Mal mehr in die eine, mal mehr in die andere Richtung. Mal mehr auf dem Sessel mit den vier Kamelbeinen (genau genommen sind es ja Dromedare, weil die arabischen nur einen Höcker haben). Dann wieder sitze ich mehr auf dem österreichischen Sessel, auf dem mit den vier Haustierpfoten. Ob Hunde oder Katzen oder Hasen. Egal, Hauptsache Klischee und Clash of Cultures.
»Was bin ich?«, frage ich Alena und Ruth ein zweites Mal. »Nach fünf Jahren zwischen den Kulturen?«
Bin ich das überhaupt, überlege ich still, während ich auf Antwort warte. Bin ich wirklich zwischen den Kulturen? Bin ich auf dem Weg von der einen zur anderen? Was trennt sie? Was verbindet sie? Sind das Arabische und das Westliche, wie es so schön heißt, Morgenland und Abendland, tatsächlich auf Crashkurs, wie ich oft zu hören bekomme? Weil es gar nicht anders geht? Statt Clash ein Crash of Cultures sozusagen?
»Du bist ein austro-arabischer Hybrid«, sagt Ruth.
»Du bist nicht Fisch und nicht Fleisch«, sagt Alena.
Dann lachen Mutter und Tochter aus ganzem Herzen.
Nicht Fisch und nicht Fleisch.
Ja, etwas Ähnliches kenne ich auch. Wir Araber (oder doch schon: Wir Österreicher?) lieben ja die Sprichwörter. Habe ich das schon erwähnt? Ja, wir lieben sie. Mehr als ihr. Mehr als wir.
Wir lieben Sprichwörter mehr als wir.
Das ist Blödsinn. Ihr. Wir. Was weiß denn ich. Jedenfalls haben (wir oder die) Araber wirklich für alles ein Sprichwort. Immer und überall. Und natürlich haben wir (oder sie) bei so gut wie keinem eine Ahnung, wo es herkommt und was es früher einmal bedeutet hat. Ach, das habe ich auch schon erwähnt?
»Das ist bei uns auch nicht anders«, sagt Alena. Alena hat es gut: Sie kann das einfach so sagen: bei uns.
Aber ich?
Und schon bin ich mittendrin gelandet. Bei uns. Das ist auch so eine Geschichte, die mich beschäftigt hat und die sofort als Stichwort in mein Notizbuch hineingesprungen ist, als ich angefangen habe, an Sisi, Sex und Semmelknödel zu denken. Eine Geschichte, die mich auch jetzt, nach Erscheinen des Buches, weiter beschäftigt. Ja, (Achtung, österreichischer Konjunktiv!!!) ich würde sogar sagen: mehr als je zuvor.
Würde. Sage ich es nun oder sage ich es nicht?
»Das«, sagt Alena, »verbindet unsere Kulturen auch.«
»Was?«, frage ich.
»Die Vielfalt und zugleich Ahnungslosigkeit.«
Damit kann ich leben. Weil es wirklich verbindet.
Alle Menschen sind klug, die einen vorher, die anderen nachher. Nur wenn es darauf ankommt, ist jeder dumm.
Genau. Auch arabisch. Damit müssen Sie leben, liebe Leserinnen und Leser. Mit meinen Sprichwörtern. Alena muss es auch. Aber wir einigen uns darauf: Ja, die/wir Araber haben für wirklich alles das passende Sprichwort. Und: Nein, sie/wir haben zumeist keine Ahnung, woher die Sprichwörter stammen und was sie ursprünglich bedeutet haben. Ach, das habe ich auch schon erwähnt?
»Ja, hast du«, sagt Alena. Alena, das ist übrigens auch jene Frau in meinem Leben, über die ich in meinem ersten Buch Danke geschrieben habe:
»Was ich weiß, hier in Graz, was ich gelernt … habe, sind auch diese Worte eines Schriftstellers: Wenn du einen Flüchtling liebst, versuche das letzte Zelt für ihn zu sein. Das ist Heimat. Und ich weiß, dass ich eine Frau gefunden habe, die für mich das letzte Gedicht war. Ist. Die mir Heimat ist. Und ich weiß: Ich bin angekommen. Ich darf eine Stimme haben für die tausenden, die keine mehr haben.«
Alena ist nicht das einzige, aber sie ist mein stärkstes Bindeglied zwischen den Kulturen. Eine Art Kupplung. Das Schöne daran ist: Auch Alena macht oft Augen groß wie ein Fladenbrot und frisch aus der Glut. Das bringt die Begegnung der beiden Kulturen, denen wir entstammen, einfach mit sich.
Ist das nicht wunderbar?
Und noch etwas habe ich in Danke geschrieben. Zum Thema Kultur.
»Kultur … ist etwas, das fast überall drinsteckt. Oder sollte. Im Körper. Im Geist. Im Verhalten. In der Kreativität. Im Boden eines Ackers. Ganz egal. Kultur ist Kraft. Zwei verschiedene Kulturen sind zwei verschiedene Kräfte. Wir können sie verwenden, um einander damit zu beschimpfen. Auszugrenzen. Zu hassen. Zu beschießen. Und zu töten. Oder wir können sie zu einer gemeinsamen Kraft bündeln. Wie einen Lichtstrahl, der aus vielen dünnen zu einem dicken wird und auf einen kleinen Mann auf einer Bühne fällt, der seine Beine nicht spürt.«
Dieser kleine Mann, der in dem Text seine Beine (vor Aufregung) nicht spürt, war ich. Damals. Bei meinem ersten Poetry Slam. Hier, in Österreich. Vor drei Jahren.
Aber: Jetzt ist Schluss mit den alten Geschichten. Wenn ich anfange, von mir selbst abzuschreiben, bin ich nicht besser als ein Politiker, der seine Doktorarbeit abschreibt oder sie sogar schreiben lässt und später in Brüssel als EU-Kommissar groß Karriere macht, sage ich mir. Soll ja schon vorgekommen sein. Dabei denke ich an meinen neugierigen Freund, der mich bestimmt schimpfen würde. Weil ich mich selbst zitiere und dabei alte Hüte aufwärme.
Sagt man das so? Alte Hüte aufwärmen? Warum wärmen Menschen ihre Hüte auf? Noch dazu alte?
Ich denke darüber nach und komme bald auf einen braunen Zweig. Nein, der Zweig ist grün. Vielleicht, sage ich mir, hat es ja mit dem Wetter hier zu tun. Ich würde es verstehen, wenn Menschen ihre Hüte aufwärmen und danach, wenn sie ofenwarm wie ein Fladenbrot sind, über den Kopf stülpen. Bis hinunter über die Ohren. Einfach, damit ihnen die Gedanken nicht einfrieren. Wie sonst sollen sie diese Kälte aushalten? Brrrrrrrrr.
Und dafür nehmen sie eben lieber alte Hüte her. Das leuchtet mir ein. Weil es bei alten Hüten ziemlich egal ist, wenn etwas schiefläuft und sie beim Aufwärmen auseinanderfallen. Oder sich verkriechen. Oder sich zusammenziehen, bis sie sooo klein sind. Wie wenn ein Mann in eiskaltes Wasser springt und dann nackt an sich hinabsieht und entdeckt, dass ER… na, Sie wissen schon. Sooo klein, wie man IHN auf der Herrentoilette nicht zu Gesicht bekommt. Weil man lieber in eine Fliesenwand starrt und schweigt. Und dem Hut, sage ich mir, geht es auch nicht besser. Kein Wunder. Bei den Temperaturen.
Apropos Hut: Ist der Hut, den Andreas Gabalier auf der Bühne trägt, auch so ein alter? Trägt Gabalier überhaupt Hut, wenn er singt? Oder singt er alte Hüte? Singt Gabalier überhaupt?
Ich weiß es nicht. Über Geschmack lässt sich ja nicht streiten, sagen wir Araber. Die Araber. Daran muss ich wohl noch arbeiten auf meinem Weg zum gelernten Österreicher. Ich muss gewisse Wissenslücken auffüllen wie der Zahnarzt einen hohlen Zahn. Was ich weiß, ist: Gabalier macht es auch mit dem Terminator. Der mit dieser besonders lustigen Variante des ohnehin schon lustigen steirischen Dialekts. Arnie rufen sie ihn hier. Ja, Arnie und der Gabalier. Das ist noch gar nicht so lange her. Mai, 2019. »Pump it up«, heißt der Titel, hab ich gelesen. Der … Song? Ein Duett jedenfalls. Oder sollte man besser sagen: Duell?
Wie auch immer. Das Ganze fügt sich nahtlos ein in die Reihe jener vielen Dinge hier, in Österreich, die mich ratlos zurücklassen. Und wo ich dann zu Alena gehe, sie in den Arm nehme und sage:
»Erklärst du es mir, bitte?«
Alena sagt nicht immer zu allem etwas. Bei Gabalier und Arnie zum Beispiel lächelt sie nur still und sehr rätselhaft. Aber sie klärt mich, einmal mehr, über etwas anderes auf. Darüber, was es mit den alten Hüten auf sich hat. Und mit dem Aufwärmen von alten Geschichten. Wie es richtig heißt. Bei uns.
Ya-iIlahi. Diese deutsche Sprache. Alena ist es übrigens auch zu verdanken, dass ich gelernt habe, meine Winterjacke zuzumachen. Reißverschlüsse an Jacken haben in Syrien meist nur dekorativen Charakter. Sie sind eine Möglichkeit, die du wahrnimmst. Oder nicht.
Wie das Bezahlen von Steuern. Oder das Beantragen einer Steuernummer (mit der man hier, wie ich höre, fast schon geboren wird). In Syrien und anderen arabischen Ländern ist all das nichts weiter als eine Möglichkeit. Eine von vielen kreativen Chancen, dein Leben in die eine oder andere Richtung zu lenken. Nicht einmal eine dringende Empfehlung. Aber, wie gesagt: Alles schön der Reihe nach. Wir waren ja hier stehengeblieben:
Bei uns.
Und bei dem Film, den mir mein neugieriger Freund ans Herz legt. Nein, nicht ans Herz legt. Er besteht darauf, dass wir ihn uns ansehen.
»Das ist Kult, Omar« sagt er.
Die Kultur in Österreich liegt mir. Warum nicht auch etwas, das hier Kult ist? Also folge ich artig und klappe den Laptop auf.
Es beginnt mit fröhlicher Musik aus einer Panflöte, dazu sehr rhythmische Trommelklänge wie aus dem afrikanischen Busch. Dann sehe ich ein erstes Insert in fetten gelben Buchstaben: Fremde Länder, fremde Sitten. (Dabei fällt mir als integrierter Halb-Österreicher spontan ein, was die Männer hier gerne sagen, wenn sie auf Herrenurlaub unterwegs sind: Fremde Länder, fremde Titten – aber bleiben wir doch lieber bei dem Film):
Denn gleich danach folgt schon die Kernbotschaft: Kayonga Kagame zeigt uns die Welt. Zu sehen ist ein schwarzafrikanischer Filmemacher, der seine Kamera auf der Schulter trägt und sich mit einem angespannten Lächeln langsam von einer Seite zur anderen dreht. So, als würde er gerade filmen und dabei staunen.
Wo bin ich hier gelandet?
Eine Sekunde danach weiß ich es, denn der zweiteilige Titel des Filmes wird nach und nach eingeblendet:
Erster Teil: Das unberührte und rätselhafte Oberösterreich.
Zweiter Teil: Das Fest des Huhnes.
Mein Freund, der Journalist, lacht bereits das erste Mal, und ich habe keine Ahnung warum. Natürlich werde ich Ihnen jetzt nicht den ganzen Film nacherzählen. Den finden Sie jederzeit über Google. Er stammt aus dem Jahr 1992, ist also nur ein Jahr kürzer auf der Welt als ich es bin.
Aber für alle, die ihn nicht kennen, ein paar Worte, worum es da geht: Afrikanische Forschungsreisende haben sich ins Herz von Europa aufgemacht, um für diese bei den Afrikanern scheinbar sehr beliebte Sendereihe das ursprüngliche Leben der Alpenstämme zu ergründen.
Man habe bei der Abreise aus Kinshasa, heißt es, keine allzu großen Erwartungen gehabt. Erstens, weil die allermeisten Stämme (wie zum Beispiel Salzburger und Tiroler) weltbekannt und darum längst erforscht seien. Zweitens, weil man bei ähnlichen Reisen nach Asien oder Amerika erkannt habe, dass ein übergroßes Interesse der übrigen Welt die traditionellen Stammessitten zerstöre.
Die Mission der filmenden Ethnologen lautet: Sofort Kontakt mit Eingeborenen aufnehmen und herausfinden, welchem Aberglauben sie anhängen. Tatsächlich gelingt es dem Forscherteam nach anfänglichen Schwierigkeiten, vier eingeborene Brüder als Träger der Ausrüstung und kundige Führer durchs Land zu gewinnen.
Diese Brüder heißen Himmelfreundpointner. Was für ein Name. Rudolf, Sepp, Karl und Franz Himmelfreundpointner.
Die Bilder sind bunt, die Vielfalt der Themen des Filmes ist es auch: rituelle Tänze; ein als Blockhütte verkleidetes Boot; Menschen beim Kartenspielen (Schnapsen); Frauen, die goldene Hauben tragen; Männer, die in Tracht auf und ab springen und sich dabei mit der flachen Hand abwechselnd auf Oberschenkel und Schuhsohlen schlagen (Alena sagt, das heißt schuhplatteln); Menschen, die scheinbar ziellos auf Fahrrädern durch die Gegend fahren, ohne von einem Ort zum anderen gelangen zu wollen; Menschen (vor allem Männer), die um die Wette trinken, nein: saufen; Menschen, die auf Biertischen stehen und schreien; Menschen, die massenweise Hühner essen. Und ein Mensch, der so ein Huhn (lebend) auf dem Kopf trägt. Oder ist es ein Hahn? Und, ganz zum Schluss, auch noch ein sehr lustiger Tanz, wo mein Freund, der Journalist, begeistert ruft:
»Jö, der Vogerltanz!«
Er ist begeistert wie ein Kind, das zum ersten Mal ein Feuerwerk sieht. Obwohl er den Film bestimmt schon oft gesehen hat. Davon bin ich überzeugt. Am Ende, stellt sich heraus, ist die ganze bunte Vielfalt der Bilder diesem einen Gedanken untergeordnet: Dass man möglicherweise Zeuge geworden ist, wie in einem fernen Land eine neue Religion entsteht. Weil die Menschen sich von ihrem alten Gott abgewendet und einem neuen zugewendet haben.
Darum heißt es auch: Das Fest des Huhnes.
Die ganze Zeit über (55 Minuten lang) bin ich hin und her gerissen. Zwischen Lachen und Staunen. Zwischen Ungläubigkeit und Nachdenklichkeit. Ja, einiges davon habe ich auf gewisse Weise hier auch schon erlebt. Anderes wiederum erscheint mir so fremd und absurd, dass ich es nicht glauben kann. Nein, so ist das hier nicht. Deshalb kann ich selbst auch nie so werden. Auch nicht als der vorbildhafteste gelernte Österreicher, der frei herumläuft.
Wir klappen den Laptop wieder zu und mein Freund sieht mich forschend an.
»Nun?«
»Was ich zu dem Film sage?«
»Nein, das habe ich in deinem Gesicht gelesen. Außerdem hast du ständig den Mund offen gehabt beim Ansehen und deinen Senf dazugegeben. Worum es in dem Buch geht, will ich wissen. Im Detail.«
»Also gut«, sage ich nach einigem Zögern. »Da dreht es sich um Themen wie … zum Beispiel das Sozialsystem.«
»Mir schlafen gerade die Füße ein.«
»Warum?«, frage ich. »Sitzt du schlecht?«
»Vor Langeweile, Omar. Sozialsystem. Schnarch. Gähn.«
»Okay«, sage ich rasch. »Gemeint ist mehr … Sozialbetrug. Auch.«
»Schon besser. Aber ich gähne immer noch.«
»Okay, okay. Es geht – auch – um Prost … Prosti … Prostitu … Prost, Prost, Prost … verdammtes Zungenbrecher-Deutsch.«
»Prostitution?« Jetzt ist mein beinahe eingeschlafener Freund doch wieder hellwach.
»Ja«, sage ich und blicke vorsichtig in Alenas Richtung. Sie ist zu unserem inzwischen erwachten Sohn gegangen und ziemlich beschäftigt. Drüben im Wohnzimmer. Oder sie ist höflich genug, so zu tun, als wäre sie ziemlich beschäftigt. »Darum geht es auch«, sage ich etwas leiser. Jetzt flüstere ich fast schon. »Aber nicht um meine eigenen Erfahrungen damit. Die habe ich nämlich nicht.«
»Natürlich nicht!«, sagt mein Freund. »Was noch, Omar?«
(Dazu nur kurz: Sie hätten, liebe Leserinnen und Leser, den Gesichtsausdruck meines Freundes sehen sollen, als er »Natürlich nicht!« gesagt hat. Als würde ich die Unwahrheit sagen! Dabei fällt mir ein kleines Gedicht ein, das ich zum Thema Wahrheit einmal verfasst habe. Es trägt auch genau diesen Titel: