Читать книгу Die Venusische Trilogie / Engel weinen nicht - Omnec Onec - Страница 8
Kapitel 2 Meine irdische Familie
ОглавлениеIch stand vor Großmutters Wohnung und klopfte. Schließlich gingen die Lichter an, die Tür öffnete sich, und vor mir stand eine ältere Frau im Nachthemd. Ich erkannte sie sofort: dies war meine irdische Großmutter Jane. Vonic hatte Recht, als er sie als eine kränkliche Frau beschrieb. Die Tumore in ihrem Magen ließen sie aussehen wie im achten Monat schwanger.
„Sheila?“ fragte sie und spähte in die Dunkelheit, um zu sehen, wer da war.
„Ja, ich bin’s“, sagte ich. Ich stand schweigend da und wartete ihre Reaktion ab.
„Kind, was machst du denn hier? Und wo ist deine Mutter? Wo sind sie alle?“ fragte sie. Es war für mich offensichtlich, daß sie ihren eigenen Augen nicht traute, um drei Uhr morgens Sheila an der Tür vorzufinden. Wie sich herausstellte, hatte Donna vorher nicht angerufen, um die Ankunft ihrer Tochter in Chattanooga anzukündigen.
„Sonst ist niemand da“, antwortete ich. „Ich bin allein hier.“ „Was meinst du damit, du bist allein hier?“ fragte sie. Dann hielt sie mir die Tür auf, damit ich eintreten konnte.
Vonic hatte mich gut darauf vorbereitet, was ich als nächstes zu sagen hätte. „Meine Mutter hat mich hierher geschickt, weil sie und C.L. sich streiten, und sie wollte nicht, daß ich dort noch länger bleibe.“
Ich zeigte ihr die Nachricht und erzählte, was C.L. getan hatte, wie er versucht hatte, Donna und mich zu töten, und wie Donna C.L. gefragt hatte, ob sie mich zu ihrer Mutter Jane schicken könne, um dort zu bleiben.
„Wie konnten sie das nur tun, ohne es mich vorher wissen zu lassen?“ Großmutter war sehr aufgeregt. Als wir durchs Wohnzimmer auf die Treppe zugingen, sagte sie besorgt: „Ich weiß bloß nicht, was ich mit dir anfangen soll.“
Ich fühlte mich ein wenig unbehaglich, als Großmutter mit mir nach oben in ihr Zimmer ging und mich mit in ihr Bett nahm. Doch es dauerte nicht lange, bis ich beim Knistern und Knacken des Kiesdaches, das von der fallenden Temperatur herrührte, einschlief. Es war, gelinde gesagt, ein langer und ereignisreicher Tag gewesen.
Dies sollte für mehrere Jahre meine neue Heimat werden. Meine Großmutter Jane mit den beiden Jungen Merle und Ben und ihre Tochter Ellen mit ihren Söhnen Donny und Jim waren noch nicht ganz vom alten Haus auf dem Land in das staatliche Sozial-Wohnbauprojekt hier in Chattanooga umgezogen, in dem sie zwar in getrennten Wohnungen, aber nah beieinander wohnen würden. Einige Möbel waren schon hier, aber den vollständigen Umzug aus dem ländlichen Falling Water hatten sie noch vor sich.
Großmutter war gerade hier, um sich von ihrem kürzlich erlittenen Koma zu erholen, bei dem die Ärzte entdeckt hatten, daß sie zuckerkrank war und unter Herzrhythmusstörungen litt.
Ich erwachte am Morgen und stellte fest, daß alle schon unten am Frühstückstisch saßen. Ruhig ging ich in die Küche, setzte mich an den Tisch und unterbrach Tante Ellens und Großmutters Unterhaltung nur flüchtig. Es ging um mich.
Ellens Idee war es, mich wegzuschicken in ein Pflegeheim, hauptsächlich deshalb, weil meine Großmutter zu dieser Zeit sehr arm war, von der Wohlfahrt lebte und schon die beiden Jungen versorgte.
Ich war sprachlos! Sollte das wahr sein? dachte ich, und sie setzten ihre Diskussion trotzdem fort, als ob ich gar nicht anwesend wäre. Es brach mir einfach das Herz zu hören, wie wenig sie sich um Sheila zu kümmern schienen, so kurz nachdem sie angekommen war.
Als ich merkte, wie ernst es ihnen damit war, mich fortzuschicken, brach ich in Tränen aus. „Ich will nicht in ein Kinderheim gehen“, schrie ich und sprang auf, um meine Arme um Großmutters Beine zu legen. Tränen strömten mein Gesicht hinunter. „Bitte, schickt mich nicht in ein Heim“, flehte ich.
Großmutter sah Tante Ellen an. „Ich kann sie einfach nicht in ein Pflegeheim schicken“, sagte sie und erinnerte Ellen daran, daß ich (Sheila) wahrscheinlich genug darunter gelitten hatte, mit C.L. zusammenzuleben.
„Gut, vielleicht kann ich sie so lange zu mir nehmen, bis du ein paar Vorbereitungen treffen kannst“, schlug Tante Ellen vor.
Aber Großmutter beschloß, mich bei sich zu behalten. Mein Onkel Leroy, der auch hier im Wohnbauprojekt lebte und zu diesem unerwarteten Familientreffen dazugekommen war, war auf Großmutters Seite und sagte ihr seine Unterstützung zu. An diesem Morgen telefonierte sie mit jemandem und vereinbarte einen Gerichtstermin für das Vormundschaftsverfahren. Ich war erleichtert.
[no image in epub file]
1957: C.L. mit Donnas Schwester Ellen vor dem Haus der Großmutter.
Erst nach dem Frühstück lernte ich meine Cousins Donny und Jim kennen. Sie waren draußen spielen gewesen. Donny war ein paar Monate älter als ich, Jim ungefähr drei Monate jünger. Ihre schnittigen Frisuren faszinierten mich.
Fast sofort fingen sie an, mir alles über die Schule zu erzählen, in die ich gehen würde, was mich sehr glücklich machte. Nicht, daß ich Angst davor hatte, zur Schule zu gehen, aber ich war glücklich, akzeptiert und gemocht zu werden.
Merle und Ben hatte ich schon in der Nacht zuvor gesehen, als sie die Treppe herunterkamen, um zu sehen, welchen Aufruhr es im Hause gab. Das waren die beiden Jungen, von denen einer der Onkel des anderen war und die mit Großmutter und mir zusammen leben würden. Sie gingen schon auf das Gymnasium.
Als wir zusammen in der Küche saßen, versuchten Donny und Jim, mir alles zu erzählen, was sie über die Nachbarschaft wußten. Bald darauf kamen zwei Mädchen in die Küche. Beide waren ungefähr in meinem Alter. Eine von ihnen, die mit den braunen Augen und Haaren, der Ponyfrisur und einem sehr hübschen Gesicht, erkannte ich als meine Cousine Lynn. Die andere, Andrea, hatte lange kastanienbraune Haare und grüne Augen.
Großmutter stellte mich ihnen vor; sie waren die Töchter von Donnas Bruder Bob, die ich (Sheila) lange nicht gesehen hatte. Sie lebten im Wohnbauprojekt nebenan. Vor kurzem waren auch sie aus Falling Water weggezogen.
Die meisten meiner Cousins und Cousinen, so stellte ich mit Genugtuung fest, waren etwa in meinem Alter und wir würden wahrscheinlich gute Freunde werden. Sie sahen ganz genauso aus, wie Vonic sie mir beschrieben hatte.
Bald nach meiner Ankunft in Chattanooga zogen Großmutter, Merle, Ben und ich noch einmal zurück in ihr Haus auf dem Lande. Dies war der erste von vielen plötzlichen Umzügen, die verhinderten, daß ich mich während dieser ersten Monate auf der Erde allzu wohl fühlte.
Falling Water war der primitivste Ort, den ich je gesehen hatte, obwohl er sehr üppig und grün war. Wir befanden uns mitten in den bewaldeten Hügeln von Tennessee, nicht weit von Chattanooga. Unser Haus war ein Holzhaus mit neun Zimmern, das auf einen Steinsockel aufgesetzt war. Die Toilette bestand aus einer Bretterbude hinter der Lichtung. Unsere Wasserversorgung lag eine Meile entfernt an einem Gebirgsbach.
Wilde Tiere liefen draußen herum, und ich mochte sie, außer den Wildschweinen, die gelegentlich aus den Wäldern herauskamen und mich ins Haus trieben.
Ich staunte über all das. Ich liebte die frischen Gerüche, das Spielen im Wald, aber ich hätte nie gedacht, daß der Planet Erde so primitiv sein kann. Natürlich war Falling Water für moderne Verhältnisse tatsächlich primitiv, und ich hatte noch nicht viel von der Stadt Chattanooga gesehen.
Wir wohnten nicht mehr lange in Falling Water. Meine Großmutter und ich blieben eines Abends lange auf und sprachen miteinander. „Großmutter, du wirst mich nicht wieder nach Hause schicken, nicht wahr?“ fragte ich.
„Nein, ich habe schon mit dem Richter gesprochen, den wir in der Stadt treffen werden. Ich schätze, er wird mich dich behalten lassen.“
Während unserer Unterhaltung merkte ich, daß Großmutter krank aussah. „Was ist los, Großmutter?“ fragte ich besorgt, „Du siehst nicht besonders gut aus.“
Sie antwortete mit einem Seufzer. „Ja, ich fühle mich auch nicht allzu gut. Ich bin ganz schön müde.“ Dann begann sie, mit mir über die Bibel zu reden. Ich legte meinen Kopf in ihren Schoß, und im Licht der Kerosinlampe las sie mir eine wunderschöne Geschichte über Jesus und die Frau am Brunnen vor. Es war sehr spät, und Merle und Ben waren noch nicht heimgekommen, als ich einschlief.
Ich öffnete meine Augen mit einem Gefühl von Besorgnis. „Wo bin ich?“ dachte ich bei mir, als ich die seltsamen Wände um mich herum sah. „Bin ich wach oder träume ich?“ Elektrisches Licht brannte oben in einem angrenzenden Raum. Auf einem Sims sah ich ein Bild von einer hübschen Frau und einem nett aussehenden Mann. Am anderen Ende des Simses stand das Bild eines Babys.
Dann hörte ich Schritte, die sich dem Zimmer näherten. Ich schloß meine Augen und tat so, als ob ich schliefe. Die Stimme einer Frau sagte: „Ich weiß nicht, wo wir sie hinstecken sollen. Ich schätze, wir richten einfach irgendwo eine Pritsche her.“
Dann entschied sie: „David, ich denke, wir bringen sie hierher. Wir legen das Baby zu uns und Sheila in das Babybett.“
Dann schoß mir das Foto auf dem Sims durch den Kopf, und ich erinnerte mich, daß Sheilas Vater David hieß. „Das ist mein Vater“, dachte ich, „mein irdischer Daddy“. Ich öffnete meine Augen und streckte mich.
„Na Süße, wie geht’s dir?“ fragte David, als er lächelnd ans Bett kam. „Daddy!“ schrie ich. „Ja, ich bin’s“, sagte er fröhlich, als er sich über mich neigte. Ich setzte mich auf und drückte ihn an mich. Ich war wirklich froh, ihn zu sehen, und fühlte mich sehr wohl dabei, den Hals dieses Mannes zu umarmen; er war so ein lieber Mensch.
„Wir werden dich in das Bett vom Baby legen“, erklärte er, „und das Baby bei uns schlafen lassen. In Ordnung?“
„Gut, das ist okay für mich, aber ich könnte auch auf dem Boden schlafen.“
„Nein, das brauchst du nicht. Wir haben Platz. Du weißt, wir haben auch noch einen kleinen Jungen. Er ist vier Jahre alt.“
Peggy kam aus dem Nachbarraum herein. „Okay, laßt uns essen gehen. Es ist Zeit fürs Abendessen.“
„Abendessen?“ rief ich. Ich war sicher, daß es Morgen sei.
„Sicher“, sagte David, „du hast die ganze Nacht geschlafen. Und du mußt wirklich müde gewesen sein, weil du auch den ganzen Tag verschlafen hast.“
„Wirklich?“ Ich konnte es kaum glauben.
„Ja“, antwortete er, „dein Onkel brachte dich hierher, und du wirst bei uns bleiben, bis es Großmutter besser geht.“
Ich vermutete, daß Großmutter wieder sehr krank geworden war und ins Krankenhaus gebracht wurde. Wie man mir sagte, wurde sie ziemlich oft krank.
Bis Großmutter sich erholt hatte und gänzlich ins Wohnbauprojekt umzog, blieb ich bei meinem Vater und Peggy. Ich ging nie wieder nach Falling Water, außer für kurze Besuche bei anderen Verwandten, die dort noch lebten.
Während dieser ersten Wochen auf der Erde fürchtete ich nie, daß einer meiner Verwandten zu mir sagen würde: „Du bist nicht Sheila!“ Ich wußte genug über Sheila und sah ihr sehr ähnlich, so daß ich genügend Vertrauen hatte, es durchzustehen.
Peggy und David waren sehr gut zu mir, und ich genoß es, bei ihnen zu sein. Es störte mich nie, daß Peggy nicht meine eigene Mutter war, weil alle Menschen, bei denen ich lebte, nicht meine eigenen Verwandten waren. Peggy war ein lieber und wunderbarer Mensch, und sie behandelte mich wie ihr eigenes Kind.
Nach dem Essen besuchten wir an diesem Tag Peggys Mutter Rose und ihre Kinder Jimmy und Janice. Ich fand, daß Janice einfach wunderschön war mit ihren langen blonden Haaren, die ihr über die Schultern fielen. Sie war nur fünf Tage jünger als ich, und wir verstanden uns sehr gut.
„Sheila, laß uns Filmstars spielen“, schlug sie vor.
„Was?“ fragte ich, denn das war etwas Neues für mich.
„Filmstars, weißt du denn gar nichts über sie?“
„Nein“, sagte ich, „ich war noch nie in einem Film.“
„Oh richtig. Du hast draußen auf dem Land gelebt“, erinnerte sich Janice und dachte an Falling Water. „Ich bin Doris Day. Nein – ich will Janet Leigh sein. Du bist Doris Day.“
„Okay“, sagte ich. „Wer ist Doris Day?“
„Schau, hier ist ein Bild von ihr.“ Janice blätterte in einem Magazin und zeigte schließlich auf ein Foto.
„Oh, sie ist süß“, sagte ich, „aber kann ich nicht Marilyn Monroe sein, die hier?“
„Nein, das geht nicht, du siehst nicht aus wie sie. Du bist Doris Day.“
„Okay“, sagte ich.
„Tony Curtis ist mein Freund“, erklärte Janice, „und ich denke, du kannst Dean Martin haben.“
Ich sagte noch einmal okay. Dann begannen wir zu spielen. „Wie machst du das?“ fragte ich.
„Zuerst mußt du dich zurechtmachen. Hier, zieh eins von den Kleidern meiner Mutter an.“
Janice muß sich gewundert haben, warum ich so unbedarft war. Ich schätze, sie schob es auf meinen Aufenthalt auf dem Lande in Falling Water.
Ich fühlte mich lächerlich in dem langen, fließenden Kleid und den hochhackigen Schuhen. Janice legte mir Lippenstift auf, trat einen Schritt zurück und blickte zufrieden drein. „Nun siehst du hübsch aus.“
„Vielen Dank“, sagte ich. „Du siehst auch hübsch aus.“
Dann spielten wir Filmstars. Ich lernte, daß man singt, große Autos hat, in Restaurants ausgeht und eine Menge Geld ausgibt.
Janices Augen leuchteten auf. „Ich sag’ dir was!“ rief sie aus. „Ich werde schauen, ob du mit uns heute Abend in die Vorstellung gehen kannst. Wir wollen ins Kino gehen.“
„Was werden wir sehen?“ fragte ich aufgeregt. Das klang interessant. Filmstars zu spielen war ein dummes Spiel.
„The Blob“, sagte Janice. „Der Film soll sehr gruselig sein. Laß mal sehen, ob du mit uns gehen kannst.“
Janice und ich rannten ins Wohnzimmer. „Peggy, kann Sheila heute Abend mit in die Vorstellung gehen?“ fragte sie. Peggy war Janices ältere Schwester.
„Hm, ich weiß nicht.“ Sie sah Daddy an.
David sagte: „Gut, du kannst mitgehen. Es ist in Ordnung. Hier Janice, hier hast du ein paar Dollar. Du kannst Sheila mit ins Kino nehmen.“
„Das Geld brauche ich nicht“, sagte Janice. „Wir kommen umsonst rein!“
„Wie machst du das denn?“ fragte Daddy.
„Jimmie steht draußen, und wir ducken uns unter seinem Arm, während er für sich bezahlt.“ Jimmie war Janices vierzehnjähriger Bruder.
„Nein, das ist nicht ehrlich. Ihr Mädchen bezahlt bitte“, sagte Daddy. „Hier ist das Geld. Kauf’ Sheila ein paar Cashew-Nüsse, die wird sie mögen.“
„Die habe ich noch nie probiert“, sagte ich.
„Ja, ich weiß, weil deine Großmutter dich nicht in die Vorstellung läßt, nicht wahr?“ fragte er.
„Ich weiß nicht.“
„Weißt du, sie hält nichts von Filmen, frag’ sie besser nie, ob du ins Kino gehen darfst“, sagte er.
Das verstand ich nicht. „Warum mag sie sie nicht?“
„Weil sie eine Christin ist, Liebling, und Christen gehen nicht in Filmvorstellungen.“
Das ergab für mich immer noch keinen Sinn, aber ich sagte trotzdem okay. Okay war mein Lieblingswort, weil es mich aus allen Schwierigkeiten raushielt. Ich war ein sehr gehorsames kleines Mädchen.
Diese Vorstellung von Religionen, die den Leuten sagt, was sie tun dürfen und was nicht, erschien mir absurd, und ich erinnere mich, daß meine Tante einmal über dieses Thema gesprochen hatte.
Als wir uns zum Aufbruch fertigmachten, hielt mich Janice zurück. „Warte eine Minute. So wie du aussiehst kannst du nicht in die Vorstellung gehen.“
„Wie seh’ ich denn aus?“ fragte ich. Ich fühlte mich gut.
„Du mußt zuerst den Lippenstift abwischen und das Kleid und die hochhackigen Schuhe ausziehen“, sagte sie.
Ich lachte. „Oh ja, richtig.“
Jimmie brachte uns ins Kino und dort bekam ich die zweite Limonade in meinem Leben und auch Popcorn. Popcorn! Das mochte ich sehr und besonders die Cashew-Nüsse.
„The Blob“ handelte von einer fliegenden Untertasse, die den Menschen auf der Erde alle Arten von Verwüstung und Terror bescherte. Sie landete eines Nachts in einem abgelegenen Wald. Zwei verliebte Teenager waren die ersten, die die Untertasse sahen, doch als die beiden die Landungszone erreichten, war nichts zu sehen als eine unheimliche, glühende Masse.
Neugierig, was passieren würde, stieß der Junge mit einem Stock hinein. Plötzlich bedeckte die glühende Masse seine Hand und kroch an seinem Arm hoch. Die Freundin des Jungen schrie und rannte weg, während er verzweifelt versuchte, das Zeug wegzuschleudern.
Im Krankenhaus waren die Ärzte erstaunt. Was auch immer das Ding war, sie waren sich darüber einig, daß es so schnell wie möglich aufgehalten werden mußte. Als sie im Nebenraum über den Jungen diskutierten, sahen sie plötzlich vor sich einen gigantischen, glühenden und pulsierenden Energieball. Er hatte den Jungen verschlungen und bewegte sich nun zu seinem nächsten Opfer.
Bis zum Ende des Films absorbierte der Ball Menschen, Häuser und Autos, und er war noch gigantischer geworden. Die Leute gerieten in Panik und flohen aus ihren Häusern.
Zufällig entdeckten die Helden des Films, daß die Kreatur mit niedrigen Temperaturen getötet werden konnte, als sie nämlich versuchte, sich in einem Gefrierschrank zu verstecken. Die Erde war gerettet.
Mein Problem war, daß ich während der ganzen Vorstellung nicht aufhören konnte zu lachen. Alles war für mich so lustig. Und der “Blop” war das Lustigste von allem.
„Wieso lachst du?“ fragte Janice. Sie hatte Schwierigkeiten, mich zu verstehen. „Es ist doch wirklich gruselig!“
„Ich weiß nicht“, sagte ich. „Für mich ist es lustig.“
Die ganze Zeit dachte ich, das ist doch wirklich seltsam. Warum haben die Menschen die Vorstellung, daß aus dem Weltall solch unheimliche Kreaturen kommen? Woher stammt dieses Bewußtsein? Oft prägten sich ihre Vorstellungen danach aus, was sie im Kino gesehen hatten.
Ich wurde mir der Weisheit meiner venusischen Freunde bewußt, die mich davor gewarnt hatten zu sagen, daß ich von einem anderen Planeten komme. Diejenigen, die meine Geschichte glaubten, würden sich wahrscheinlich an die schrecklichen Kreaturen der Science-Fiction-Filme erinnern. Auf diese Weise hatten die negativen Kräfte sichergestellt, daß unser Volk sich nicht so bald würde offenbaren können.
Es war ein seltsamer Zufall, daß dieser erste Film, den ich auf der Erde sah, von Kreaturen aus dem Weltall handelte. Janice war noch verschreckt, als wir das Theater verließen. „Warte, bis du ‘Dracula’ siehst!“ sagte sie. „Das wirst du mögen.“
„Ja, wahrscheinlich“, sagte ich. Aber als sie anfing, mir von Dracula zu erzählen, wer er war und was er tat, fing ich an, mich zu fürchten. Ich hatte Grund zu glauben, daß solche Kreaturen wirklich auf der Erde existieren.
Daddy wartete, um mich heimzubringen, als wir in Janices Haus zurückkehrten. „Morgen müssen wir dich für ein paar Wochen in der Schule anmelden, bis du bei deiner Großmutter leben kannst.“
„Muß ich zu ihr zurückgehen?“ fragte ich. „Kann ich nicht bei dir leben?“
Mein Vater zog mich eng an sich heran. „Liebling, du kannst nicht bei mir leben, weil deine Großmutter dein Vormund wird. Das bedeutet, daß das Gesetz dich ihr zuspricht und du nicht bei mir bleiben kannst.“
„Ich verstehe aber nicht, warum“, sagte ich.
Er versuchte, mir gegenüber standhaft zu bleiben. „Weil es nun mal so passiert ist. Wenn du zuerst zu mir gekommen wärst, dann wäre ich dein Vormund geworden. Aber es wäre schwer für mich. Ich habe meine eigene Familie, meine eigenen Kinder großzuziehen, weißt du. Du bist mein erstes Kind, und ich liebe dich sehr, und du wirst für mich immer etwas Besonderes sein. Aber es ist nun mal eine Tatsache, daß ich gerade jetzt nicht genug Geld habe, alle zu ernähren.“
„Okay“, sagte ich. „Aber wann wird meine Großmutter wieder gesund?“
„Nun, ich weiß es nicht. In der Nacht, als du in ihrem Schoß einschliefst, wurde sie wirklich krank. Weißt du, sie ist zuckerkrank und hat ein schwaches Herz. Sie sollte bald wieder zu Hause sein.“
„Zurück auf dem Land?“
„Nein, sie wird in der Stadt leben, in dem Wohnbauprojekt.“
„Oh ja, das stimmt“, erinnerte ich mich.
Mein Vater fuhr fort zu erklären: „Ich schätze, sie wird dort leben, weil es wirklich billig ist, nur 25 Dollar Miete im Monat.“
„Und werde ich dort zur Schule gehen?“
„Ja“, sagte er.
„Werde ich dich je wiedersehen?“ fragte ich. Ich empfand große Zuneigung zu David.
„Oh sicher, ich werde kommen und dich manchmal holen und in unser Haus bringen, wenn deine Großmutter mich läßt“, antwortete er.
Als ich in dieser Nacht im Bett lag, dachte ich an all die wunderbaren Dinge, die geschehen waren. Ich hatte mich mit einem gleichaltrigen Mädchen vergnügt, und ich hatte meinen ersten Film gesehen. Filme waren eine beliebte Form der Unterhaltung, hatte mir Onkel Odin einmal gesagt.
Auf dem Land zu spielen machte Spaß, aber es war ein Abenteuer, in eine Kinovorstellung zu gehen und eine Kreatur aus dem Weltall zu sehen. Ich vermute, es gibt solche bedrohlichen Kreaturen wie den “Blop” auf der niederen Astralebene, doch ich weiß von keinem solchen Wesen auf der physischen Ebene.
Am nächsten Morgen weckte mich mein Vater, um mich für die Schule anzukleiden. Zunächst zeigte er mir etwas Besonderes.
„Für mich?“ fragte ich, als er es mir gab.
„Sicher“, sagte er lächelnd.
Es war ein Schreibblock mit dem bekannten Countrysänger Gene Autry und seinem Pferd auf dem Deckblatt. „Es ist wunderschön!“ rief ich aus, doch ich verstand nicht, warum die schwarzen Stifte, die er mir gab, so dick waren. Und die Linien auf den Seiten waren so groß. Ich schätze, von Kindern wurde erwartet, daß sie groß schreiben.
An diesem Morgen war ich in der Schule nervös. Janice war schon da, um mich ihren Freunden vorzustellen, aber sie war in einer anderen Klasse.
Meine Lehrerin war eine schöne Frau mit großen braunen Augen und kurzem, lockigen, schwarzen Haar. Sie stellte mich der Klasse vor und sagte, meine Eltern seien viel gereist. Darum fing ich erst im Alter von sieben mit der ersten Klasse an.
Ich war überrascht und glücklich zu sehen, wie nett die anderen Kinder mich behandelten. Einige von ihnen, besonders die Jungen, konnten es nicht lassen, mich zu hänseln, weil ich älter war. Aber nach einer Weile beruhigten sich alle.
Mrs. Lewis war eine wunderbare Lehrerin. Sie war aufrichtig bemüht, mir beim Lernen zu helfen, und ich begann, sie zu lieben. Ich wußte schon, was sie versuchte mir beizubringen, aber ich würde es sie sicher nicht merken lassen. Ich gab vor zu lernen.
Zunächst arbeitete sie mit mir und lehrte mich das ABC, während die anderen Kinder beschäftigt waren. Ich holte die Klasse in kürzester Zeit ein. Bald brauchte Mrs. Lewis keine Sonderausflüge mehr an mein Schreibpult zu machen und zu erklären, was der Rest der Klasse machte.
Als sie sah, wie schnell ich Buchstabieren, Zählen und meinen Namen zu schreiben lernte, wurde ich in die zweite Klasse versetzt. Das war nur zwei Wochen, nachdem mein Vater mich angemeldet hatte. Sheila selbst hatte nie die erste Klasse beendet, und mein Vater und Mrs. Lewis konnten wahrscheinlich nichts anderes denken, als daß ich ein begabtes Kind war.
Ich kam in die zweite Klasse, als unser Lehrer Mr. Reed gerade die Subtraktion einführte.
Er sagte, „heute werden wir die Subtraktion lernen.“
„Subtraktion?“ platzte es aus mir heraus.
Er sah mich streng an und sagte: „Es ist dir nicht gestattet zu sprechen, es sei denn, du hebst deine Hand.“
„Oh, okay“, sagte ich. So hob ich meine Hand und fragte: „Was ist Subtraktion?“
Mr. Reed klang ungeduldig. „Ich werde es in wenigen Minuten erklären.“ Aber je mehr er darüber sprach, desto verwirrter wurde ich.
„Das ist wirklich merkwürdig“, sagte ich. „Warum wollen Sie etwas von etwas anderem wegnehmen?“
„Ich weiß nicht“, sagte er.
Das irritierte mich. „Sie wissen es nicht? Sie sind unser Lehrer. Was meinen Sie? Sie nehmen eins von zweien weg und bekommen eins. Warum wollen sie eins von zweien wegnehmen?“
„Sheila, solche Fragen ergeben keinen Sinn.“
„Macht das denn Sinn – eins von einem wegzunehmen ergibt Null. Wie können Sie etwas von sich selbst wegnehmen? Sie können das Objekt wegnehmen und nichts haben, doch Sie können es nicht von sich selbst wegnehmen.“ Ich fuhr fort in dem Versuch, meinen Standpunkt klar zu machen; diese neuen mathematischen Ideen stimmten nicht mit dem überein, was mir beigebracht worden war.
„Sheila, wenn du nicht aufhörst, Fragen zu stellen, werde ich dich zum Direktor schicken.“
„Oh, okay“, sagte ich ruhig. „Ich werde nicht mehr fragen.“
Subtraktion machte für mich niemals Sinn und wird es auch niemals tun. Ich mag dies nicht, weil es zu mental ist und nicht den natürlichen Gesetzen der Ausdehnung folgt. In Teutonia wurde mir niemals beigebracht, etwas von etwas anderem wegzunehmen. Wir veränderten nur, was existierte.
Ich hatte auch Probleme mit dem irdischen Zehnersystem. Auf den fortschrittlicheren Planeten existiert die Null nicht, wegen ihrer eigentlichen Natur. Indem wir den Gesetzen der Natur folgen, haben wir gelernt, daß das grundlegende Neunersystem am besten zu uns paßt. Nebenbei gesagt, haben die Regierungen der Erde im Laufe der Jahre abgestürzte fliegende Untertassen untersucht und herausgefunden, daß ihre Dimensionen auf ein Neunerzahlensystem hinweisen.
Um alle zufriedenzustellen, lernte ich Subtraktion. An diesem Abend ging ich heim und erzählte Daddy, was ich gelernt hatte, daß zwei weniger eins gleich eins ist.
„Das ist sehr gut!“, sagte er.
„Ich weiß auch, was zehn weniger fünf ist“, sagte ich.
„Wieviel?“
„Fünf.“
„Woher weißt du das?“ fragte er. Haben sie dir das beigebracht?“
„Sie haben mir beigebracht, eins abzuziehen, und ich habe das andere selbst herausgefunden.“
„He, du bist aber gut darin, oder?“ Er lächelte. „Ich bin wirklich stolz auf dich, weil du mein erstes kleines Mädchen bist. Du siehst deiner Mutter sehr ähnlich.“
„Tu’ ich das?“
„Ja.“
„Sie ist hübsch“, sagte ich und erinnerte mich an Vonics Beschreibung von ihr. „Sie sieht aus wie Marilyn Monroe.“
„Ja, das tut sie“, stimmte er lachend zu.
Ich fragte mich, ob ich Donna je treffen würde und wann das sein würde. Ich hatte von Großmutter und von Tante Ellen so viel über sie gehört, aber ich hatte sie selbst nie gesehen. Dies sollte erst nach einem Jahr meines Lebens auf der Erde geschehen.
Am Freitagabend saßen wir am Eßtisch. Wie gewöhnlich gab es Hot Dogs und Chili, was ich gern aß. Das Telefon klingelte, und Daddy nahm ab.
„Deine Großmutter wird heimkommen“, kündigte er an, und meine Stimmung sank. Ich würde in einer Woche zu ihr zurückkehren. Die Vorstellung zu gehen mochte ich nicht; David und Peggy waren so gut zu mir gewesen. Und was sollte aus all meinen neuen Freunden in der Schule werden, dachte ich?
„Muß ich zurückgehen?“ fragte ich.
„Ja, Liebling“, sagte Daddy. „Ich habe dir vorher gesagt, daß du zurück zu deiner Großmutter gehen mußt.“
„Okay“, sagte ich ruhig mit einem Anflug von Traurigkeit. Peggy war wirklich lieb und drehte mir das Haar auf. Sie war so wunderschön mit ihren blauen Augen, der wunderschönen Haut und dem langen, welligen, braunen Pferdeschwanz. Ich würde sie vermissen.
„Montag müssen wir mit dir zur Schule gehen oder eine Nachricht schicken und ihnen sagen, daß du Ende der Woche gehen wirst. Dann können sie dir die Zeugnisse zur neuen Schule schicken.“
„Okay.“
Aber anstatt Montag zur Schule zu gehen, mußte ich Daddy und Peggy Aufwiedersehen sagen. Tränen füllten meine Augen. Großmutter wollte, daß ich früh nach Hause kam, um ihr beim Auspacken behilflich zu sein und das Haus herzurichten. Ich war noch nicht einmal in der Lage, meinen Freunden Aufwiedersehen zu sagen.
Großmutter erwartete mich, als ich wieder einmal in der Southern Street Nummer 1821 anklopfte. Drinnen war alles in Unordnung, und trotz der Hilfe von Merle und Ben gab es nicht viel, was wir tun konnten, um den Ort schön zu gestalten. Die Wohnung selbst sah neu und glänzend aus, aber Großmutters Einrichtung war so alt und wirkte so schrecklich, daß ich schnell deprimiert war.
Großmutter, so hatte ich von Vonic gelernt, hatte sich von ihrem Ehemann wegen seiner Trinkerei getrennt und lebte mit den beiden Jungen allein.
Wenn man von den Hügeln von Chattanooga hinuntersah, hatten die Appartements unseres Wohnbauprojekts gegenüber dem Eisenbahnhof die Form eines riesigen Hufeisens. Die Southern Street grenzte an das eine Ende des Projekts und hinter uns befanden sich Reihen von zweigeschossigen Ziegelsteingebäuden mit flachen, weißen Kiesdächern. Jede Familie verfügte über einen eigenen Hinterhof, ein Ober- und ein Untergeschoß und mit der Hausnummer beschriftete Mülltonnen.
Die Innenwände unserer Wohnung bestanden aus ebenmäßigen, pfefferminzgrün gestrichenen Mauersteinen, und die Böden waren mit dunkelbraunen Asphaltfliesen bedeckt. Vorn war das Wohnzimmer, ein Flur rechts führte zur Küche, und die Betontreppe hinauf zu den Schlafzimmern ging links vom Flur ab.
Alles war elektrisch; unsere Wohnung hatte einen neuen Kühlschrank, einen Herd und in die Wände eingelassene Heizkörper. Neben der Küche und hinter dem Wohnzimmer lag die Speisekammer. Hier befanden sich zwei große Spülbecken und eine Menge Regale und Schränke. Die obere Etage bestand aus drei Schlafzimmern und einem modernen Badezimmer mit einer eingebauten Badewanne.
Für die 25 Dollar, die Großmutter monatlich zahlte, war dies sogar für moderne Verhältnisse luxuriös. Jeden Monat kamen Kammerjäger, die Ungeziefer beseitigten, ein Service, den viele Leute in großen Städten nicht hatten, wie ich erfuhr.
Ein paar Tage nachdem wir uns eingerichtet hatten, schleppte Großmutter uns in ein schönes weißes Holzgebäude in der Nähe unseres Hauses. Ich verstand bald, was Vonic gemeint hatte, als er sagte, daß sie eine ergebene Christin in der Kirche Gottes war.
Die Neuheit, in die Kirche zu gehen, war bald keine mehr, weil wir jeden Montag, Mittwoch, Freitag und Sonntag dorthin gingen. Die Sonntagsschule war lustig. Wir lasen Geschichten und sangen Lieder. Genauso lustig war es, in der Kirche zu singen und den Gitarren und dem Piano zuzuhören. Ein junger Mann, der manchmal vor der Gemeinde sang, war besonders beliebt. Sein Name war Elvis Presley.
Meine übrigen Erfahrungen in der Kirche bestanden aus Lektionen in Toleranz und Verständnis. Die Kirche Gottes machte es einem sehr schwer, ein Individuum zu bleiben. Genau wie Vonic erklärt hatte, durften Frauen keine Hosen, keine kurzen Haare, keine Dauerwelle, Makeup oder Schmuck tragen. Es schien, als wären die meisten Regeln für Frauen gemacht.
Den Männern war es verboten zu trinken oder zu rauchen, was ja eigentlich gut für ihre Gesundheit war. Doch es störte mich, daß sie dies nur befolgten, weil es eine Vorschrift war.
Die Predigt störte am meisten. Die Geistlichen predigten immer direkt aus der Bibel, sie begannen mit einer Geschichte und erklärten dann die Moral. Oft wiederholten sie dieselbe Idee vier oder fünf Mal, wobei sie verschiedene Beispiele benutzten. Und es war immer eine höchst emotionale und manchmal laut geschriene Art von Predigt.
Immer wenn ein Wanderprediger in der Stadt war, erreichte das Predigen und Singen einen absoluten Höhepunkt. Großmutter bestand darauf, mich zu diesen Erweckungen mitzunehmen; die Versammlungen wurden jeden Abend abgehalten.
Die Gemeindemitglieder brachten Neulinge mit, die gerettet werden sollten und demjenigen, der die meisten Konvertiten mitbrachte, wurden Preise verliehen. Ich wußte nicht, was ich von all dem halten sollte.
Der Wanderprediger flehte und bettelte die Neulinge an, heraufzukommen, um jetzt gerettet zu werden, bevor es zu spät sei. Seine aufgeheizte Stimme mischte sich mit Hymnen aus dem Hintergrund. In der Zwischenzeit entstand in der Kirche oft eine sonderbare Atmosphäre. Menschen fingen an zu weinen und knieten nieder. Andere begannen, auf und ab zu springen, mit hoher Stimme zu rufen und in fremden Zungen zu reden. Die Bibel an einer bestimmten Stelle aufgeschlagen, gingen sie emotionsgeladen herum, zeigten sie anderen und redeten in einer mysteriösen Sprache.
Diejenigen, die gerettet wurden, fielen weinend und wehklagend vor der langen Holzbank auf die Knie, die als Altar diente.
Der Prediger und seine Mitarbeiter eilten prompt herbei und knieten bei jedem neuen Anwärter. „Bist du gewillt, Gott um die Vergebung deiner Sünden zu bitten? Bist du gewillt, ein heiliger Mensch zu sein und deine Sünden vom Blute Jesu wegwaschen zu lassen?“
Dieses Geschäft mit dem Blute Jesu beunruhigte mich oft, weil ich die Dinge wörtlich nahm.
Als alles vorüber war, standen die geretteten Leute vorn, und alle kamen, um ihnen die Hände zu schütteln und sie als Mitglieder der Kirche willkommen zu heißen.
Die Erweckungen schläferten mich gewöhnlich ein, wenn ich nicht zeichnen oder spielen konnte. Manchmal versuchte ich, dem zuzuhören, was vor sich ging, doch mein Interesse hielt nie lange an. Ich mochte das Singen und das Klatschen, das war alles.
Ich sah und verstand, daß diese Leute sehr aufrichtig waren, und all das hatte für sie eine sehr tiefe spirituelle Bedeutung. Meine Reaktionen basierten auf meinen eigenen Erfahrungen und Lehren.
Auf der Venus hatte ich gelernt, daß die Bibel ein Tagebuch besonderer Menschen war, die vor langer Zeit auf der Erde lebten. Sie war kaum mehr als ein Geschichtsbuch. Das ist für die Leute auf der Erde schwer zu akzeptieren. Es gab eine Zeit, als in den Reden der religiösen Führer große Wahrheiten lagen, aber nach Jahrhunderten der Überarbeitung und Rückübersetzung können die Worte der Bibel nicht mehr als absolute Wahrheit angenommen werden. Den Geboten stimme ich jedoch zu.
Auf der Venus ist es bekannt, daß viele Individuen die Schriften spiritueller Führer für ihre eigenen Zwecke verwendet haben oder dazu, eine bestimmte Aussage einzubringen. Wenn es eine andere Meinung über das gab, was geschrieben stand, oder wenn etwas nicht verstanden wurde, dann wurde dieser Abschnitt der Bibel umgeschrieben.
Verschiedene Gruppierungen haben aus diesem Grund unterschiedliche Bibeln. Die Schriften wurden ihrem Verständnis von Wahrheit entsprechend verändert.
Das Wort Gottes oder der Wahrheit muß erfahren, nicht in einem Buch gelesen werden. Dies geschieht durch das wirkliche Sehen der Höchsten Gottheit und durch die Kommunikation mit ihr in der namenlosen Welt jenseits der Seelenebene. Nur die Seele selbst kann sie erfahren. Es ist keine physische Erfahrung.
Um die Menschen zu beherrschen, haben religiöse Führer das „Glaube-oder-sei-verdammt-Evangelium“ geschaffen – eine Religion der Angst. Es wurde ein Postulat aufgestellt, daß eine bestimmte Sammlung von Schriften das Wort Gottes sei. Durch Manipulation und Interpretation des Buches können die Menschen beherrscht werden. Dies sind die Werke von Kal, der negativen Kraft, obwohl die meisten sich gar nicht bewußt sind, darin verwickelt zu sein.
Das menschengemachte Gesetz ärgerte mich, und oft bekam ich Streit mit Großmutter darüber, warum Frauen keinen Lippenstift auflegen oder Hosen tragen durften. Es ergab für mich einfach keinen Sinn, daß eine Kirche in der Lage war, den Leuten vorzuschreiben, das eine zu tun und das andere zu lassen.
Gemäß den Gesetzen des Höchsten Wesens wurde ich mit dem Recht geboren, mich zu kleiden und zu handeln, wie es mir gefiel. Und ich übernahm volle Verantwortung für meine Handlungen unter dem Gesetz des Karma. Keine Kirche oder Person hatte das Recht, mir meine Rechte wegzunehmen.
Die einzige Sache, die ich aus meinen Diskussionen mit Großmutter lernte, war, daß es sinnlos war zu diskutieren. Wie mein Onkel und Vonic mir gesagt hatten, wird den Kindern auf der Erde in ihrer Individualität wenig Freiheit gegeben.
Dies traf besonders auf die Schule zu. Großmutter meldete mich in der Mary Ann Garber Schule an, die zu unserer Wohnsiedlung gehörte und von der Regierung unterhalten wurde. Die ältere Mrs. Jensen, meine Lehrerin in der zweiten Klasse, machte auf mich nicht viel Eindruck. Sie schien an ihren Schülern oder der Schule nicht interessiert zu sein.
Für eine Weile war die Schule eine nette Neuheit, aber mein eigenes Interesse nutzte sich schnell ab. Es störte mich, daß Lehrer nur das lehrten, was ihrem Gefühl nach für Kinder wissenswert war, und das waren die Grundlagen, die jeder zu Hause gelernt haben sollte.
Viel zu viel Zeit wurde damit verschwendet, die Fakten zu wiederholen, Fakten, die uns im Leben wenig helfen würden, es sei denn bei einem Fernsehquiz oder einem Wettbewerb.
Von Anfang an sah ich, daß das Testen und Bewerten den Kindern einen Wettbewerbssinn einimpfte, eine zerstörerische Kraft, ohne die die Erde gut auskommen könnte.
Die langsamen Schüler wurden durch schlechte Noten degradiert oder dadurch, daß sie den Lernbehinderten zugeteilt wurden. Die Erzieher schienen keine Zugeständnisse hinsichtlich der Tatsache zu machen, daß jedes Individuum in dem ihm eigenen Tempo lernt. Ich mochte die Lehrer, die Kinder, die Pause und die Essensstunde, doch der Klassenunterricht selbst war langweilig. Viele Kinder genossen den Unterricht, weil sie es wichtig fanden, alles zu lernen, was man ihnen beibrachte. Eine größere Wahlfreiheit der Kinder darin, was wann zu lernen ist, würde Wunder vollbringen.
Wenn ich nicht in der Schule war, verbrachte ich oft Zeit allein mit mir, und ich dachte über die verschiedenen Dinge nach, gegen die ich etwas hatte. Es gab so viele Routineereignisse in meinem Leben, die zu viel von meiner Zeit aufzehrten, aber nur so konnte mein physischer Körper überleben. Immer noch waren viele Leute fett und unsauber oder kümmerten sich nicht um ihr Äußeres. Ich vergegenwärtigte mir, daß all dies von untauglicher Schulung und schlechten Eßgewohnheiten kam.
Nachts, allein in meinem Bett, konnte ich nicht umhin, an meine Heimat zu denken, an Arena und Odin, meinen Vater und all die Kreativität in unserem Leben. Es war etwas, das ich nie vergessen konnte, egal welche Rolle ich spielte. Mein Leben hier erschien so seltsam, und wie traurig war ich, daß ich nicht in der Lage war, meine Vergangenheit mit irgendjemandem zu teilen.
Ich stellte mir vor, wieder in meinem Zimmer in unserem Haus auf der Venus und an all meinen Lieblingsplätzen zu sein. Erinnerungen an Rimj und die lächelnden Gesichter all meiner Freunde, wie sie Aufwiedersehen sagten, begleiteten mich stets, wenn ich mich niedergeschlagen fühlte.
Es gab Zeiten, da ich hoffte, jemand würde erkennen, daß ich nicht Sheila war. Ich hatte Angst, wirklich sie zu werden, Angst davor, mich so tief in ihr Leben zu verstricken.
Als Sheila galt ich als sehr stilles Kind. Als Omnec war ich offen und übersprudelnd. Ein Teil meiner Reserviertheit rührte daher, daß ich nicht wußte, was zu tun war, weil ich Angst hatte, etwas Falsches zu sagen oder zu tun.
In meiner irdischen Familie beobachtete ich viel und ich lernte vom Beobachten, anstatt Fragen zu stellen. Egal, wieviel es mich kostete oder wie lange ich auf die Antwort warten mußte, ich wollte immer für mich selbst herausfinden, was los war. Fragen zu stellen war mir peinlich, weil es die Aufmerksamkeit auf etwas lenkte, das ich nicht wußte.
Meine Lieben und meine Freunde von der Venus kommunizierten zu dieser Zeit in meinem Leben sehr wenig mit mir. Sie blieben ihrem Grundsatz treu, sich nicht einzumischen, es sei denn, es wäre unbedingt nötig. Trotzdem erkannte ich manchmal, daß gewisse Gedanken nicht meine eigenen waren, und so war ich mir ihrer Teilnahme und ihrer inneren Führung gewiß.
Ich besuchte Teutonia nur wenige Male im Traumzustand. Ich merkte bald, daß ich jetzt viel weniger Kontrolle über meinen Astralkörper hatte; seine Schwingungen hatten sich gesenkt, als ich meinen physischen Körper manifestiert hatte.
Die meiste Zeit war mein Geist voll mit dem, was ich auf der Erde lernte und meine Aufmerksamkeit richtete sich sehr selten auf die Reise der Seele. Ich war damit beschäftigt, meinen Weg in diesem neuen Leben zu erfühlen und zu lernen, was die Leute von mir erwarteten, so daß ich wußte, wie ich reagieren sollte. Ich hörte aufmerksam zu, wenn Kommentare über Sheila gemacht wurden.
Spirituelle Übungen zu machen war fast unmöglich in der eingeschränkten Privatsphäre, die ich hatte. Und ich war mit den vielen neuen Erfahrungen auf der physischen Ebene beschäftigt.
Weihnachten kam heran, und ich war schon fast zwei Monate in Chattanooga. Ich kannte die irdische Version der Geschichte Christi, aber was hatten der Baum und die Geschenke damit zu tun, fragte ich mich. Trotzdem war es eine wunderschöne Zeit des Jahres. Die Menschen schienen sich anderen gegenüber besser zu verhalten.
Am Weihnachtsabend fanden wir Geschenke in lustiges buntes Papier eingewickelt unter unserem Christbaum, und wir konnten den nächsten Morgen kaum erwarten. Jeder behauptete, daß Sankt Nikolaus die Geschenke gebracht hätte, aber bis sie mir ein Bild von ihm zeigten, glaubte ich nicht, daß es wirklich solch einen Mann gab. Er sah absurd aus, doch er schien glücklich zu sein. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich an ihn glauben sollte oder nicht, aber es war für mich unvorstellbar, daß die Erwachsenen die Kinder betrogen. Vielleicht hatte er vor langer Zeit existiert!
Vor unserer Haustür stand am Weihnachtsmorgen ein großer Flechtkorb, randvoll mit Schinken, Hühnchen, Plätzchen, Süßigkeiten, Früchten und Nüssen. Es war das erste Obst und das erste Konfekt, das ich in diesem Hause gesehen hatte. Es kam von der amerikanischen Heilsarmee.
Dann war es für uns Zeit, unsere Geschenke auszupacken. Von Tante Ellen bekam ich einen kleinen Spielzeugherd. Mr. Dow, unser Nachbar von gegenüber, schenkte mir ein Spielzeug-Messingbettchen, in genau der richtigen Größe für das Geschenk von Großmutter, einer Babypuppe. Ebenfalls von Großmutter waren Handschuhe, eine Strumpfhose und ein Schal mit Kapuze. Das Malbuch und die Stifte kamen von Merle und Ben. Ich liebte das Malen, es war sehr kreativ.
Donny und Jim bekamen Spielzeugautos und -gewehre, ein paar Bauklötze und einen Holzbausatz. Aus Bauklötzen Häuser zu bauen machte Spaß, doch die Babypuppe von Großmutter bedeutete mir mehr als alles andere.
Unser Weihnachtsessen aus Hühnchen, Braten, Gebäck und Blaubeerstrudel war die beste Mahlzeit, an die ich mich erinnern kann, seit ich in Chattanooga angekommen war.
Die nächsten paar Jahre lebte ich das Leben eines gewöhnlichen Kindes. Ich war sehr klein, und das Leben war nicht sehr bedeutungsvoll. Mein geliebtes Hündchen wurde vor unserem Haus von einem Auto überfahren; wahrscheinlich machte ich all das durch, was kleine Kinder nun mal so durchmachen.
Ich genoß Chattanooga. Es war eine schöne Stadt mit viel Grün, umgeben von dicht bewaldeten Bergen und Hügeln. Ich erfuhr bald, daß eine berühmte Bürgerkriegsschlacht im Osten, in Missionary Ridge, stattgefunden hatte. Aussichtsberge und viele andere Gebiete der Region bildeten touristische Attraktionen.
Was mich an Chattanooga am meisten störte, war die Einstellung der Leute gegenüber den schwarzen Menschen. Die Farbigen hatten ihren eigenen Stadtteil namens „Niggertown“. Und in unserer Wohnsiedlung lebte keine einzige schwarze Familie. Das war in den frühen 50er Jahren.
Aus Erfahrung wußte ich, was für einen wichtigen Teil in unserer Bruderschaft der Planeten das schwarze Volk ausmachte. Sie können mit Recht stolz auf ihr Erbe sein. Viele Male mußte ich mich zurückhalten, etwas zu sagen, wenn eine negative Bemerkung gemacht wurde. Doch wer würde ein kleines Kind, das eine Rasse verteidigt, verstehen oder tolerieren? Ich hätte mir nur selbst mehr Probleme eingehandelt. So lernte ich, meine Ohren vor den Schmähreden gegen das schwarze Volk zu verschließen.
Ich lebte schon fast ein Jahr in Chattanooga, als ich das erste Mal Donna, meine irdische Mutter, kennenlernte. Ich hatte mich oft gefragt, wann es geschehen würde, und eigentlich freute ich mich wirklich darauf. Ich sorgte mich nie, daß sie erkennen könnte, daß ich nicht Sheila war.
Eines Nachts konnte ich tief im Schlaf undeutlich Großmutter und eine andere Frau mit gedämpfter Stimme im Flur sprechen hören. War es ein Traum? Ich hatte nicht die Energie, aufzustehen und nachzusehen.
Dann spürte ich sie nahe bei mir, sie lag neben mir im Bett, instinktiv schmiegte ich mich an sie und legte meine Arme um ihren Hals. So erwachte ich am Morgen.
Große blaue Augen voller Liebe schauten in die meinen, und Glücksgefühle stiegen in mir auf. Meine Arme lagen noch um ihren Hals, und ich wußte, daß sie wartete, bis ich aufwachte, glücklich, mich so nahe zu haben. Sie liebte mich!
„Schön, schön, endlich bist du aufgewacht, Schlafmützchen!“
„Mami!“ schrie ich. Ich drückte sie und kuschelte meinen Kopf an ihren Hals.
„Wie geht’s meiner Kleinen?“ fragte sie mit gebrochener Stimme, mich fest an sich drückend.
„Ich bin so froh, daß du hier bist, Mami.“
Donna fing an zu weinen, und ich auch.
Sie wollte mich zu einem besonderen Anlaß irgendwohin mitnehmen, sagte sie und fragte, ob ich denn ein besonders schönes Kleid zum Anziehen hätte. Ich sagte ja. Tief im Innern fühlte ich mich mit ihr verwandt.
„Ich habe mir all deine Sachen angesehen“, sagte sie, „und ich habe bemerkt, daß Großmutter dich wirklich immer sehr schön kleidet. Du hast 27 Kleider!“ Sie hatte sie gezählt, jedes einzelne.
„Ich weiß nicht, wie viele Mädchen 27 Kleider haben. Ich habe selbst nicht so viele.“
Ich erzählte ihr, daß Großmutter in die Stadt ging und sich in den Schaufenstern die neueste Mode ansah. Dann kam sie heim und machte mir diese Kleider, wobei sie Reste und Materialien verwendete, die von den Kleidern übriggeblieben waren, die sie für andere Leute nähte. So blieb ich immer auf dem neuesten Stand der Mode. Dank Großmutter hatte ich in der Schule einen Preis als bestgekleidetes Mädchen bekommen.
Nach dem Frühstück gingen Mami und ich in die Stadt zum Einkaufsbummel. Ein Regenmantel war genau das, was ich noch brauchte, beschloß sie, doch erst Stunden später fanden wir schließlich einen, den ich mochte – in einem wunderschönen Himmelblau anstelle von Gelb oder Schwarz.
Dann kehrten wir in einem einfachen kleinen Speiselokal ein, in dem ich einen Hamburger, Pommes Frites und eine Limo verzehrte. Dies war meine erste Mahlzeit in einem Restaurant, seit Onkel Odin mich in die amerikanische Küche eingeführt hatte. Es war eine echte Wonne.
Ich genoß es, mit Mami zusammen zu sein, und ich fühlte mich vollkommen wohl. Irgendwie vermittelte sie mir das Gefühl, als ob ich tatsächlich ihr eigenes besonderes kleines Mädchen sei. Es war eine Wärme und Nähe, die ich auf der Erde noch nicht erfahren hatte; ich war froh darüber. Und ich zweifelte nicht daran, daß wir beide schon viele Leben zusammen verbracht hatten.
Zu Hause fing ich sofort an, in dem Malbuch zu arbeiten, das Mami mir mitgebracht hatte – eines, in dem Zahlen für die jeweiligen Farben in jedes Feld eingedruckt sind. Als ich ihr meine erste Seite zeigte, war sie erstaunt. Woher ich so gut lesen könne, wollte sie wissen. Alle Farben waren richtig. Großmutter und Mami unterhielten sich darüber eine Weile, während ich still blieb, weil ich nicht wußte, was ich sagen sollte.
Mami besuchte uns ab und an während der nächsten Jahre, gewöhnlich einmal im Jahr, immer wenn sie in der Lage war, für eine Weile von C.L. wegzukommen. Nach dem, was ich hörte, wurde das Leben mit C.L. härter.
Im Nu hing ich wirklich sehr an meiner neuen Mami. Während einer ihrer seltenen Besuche weinte ich den ganzen Abend lang, als sie mit Freunden ausging, statt die Zeit mit mir zu verbringen. Als Kind war ich unvernünftig. Die tiefen Gefühle, die ich für sie hegte, die Wärme, die ich fühlte, immer wenn ich ihr nahe war, verwirrten mich manchmal. Was war mit dieser Seele, welche Erfahrungen hatten wir in vergangenen Leben geteilt, daß ich so für sie empfand? Jahre würden vergehen, bis ich es endlich wußte.
Als ich zehn Jahre alt war, fing mein Leben an, sich zu verändern. Ich vermute, das lag daran, daß ich mir bewußter wurde, was in der Welt um mich herum geschah. Bis dahin hatte ich gespielt und mich vergnügt, so weit dies eben ging. Nun war ich stark am Leben interessiert; ich befand mich zwischen Kindheit und Pubertät.
Das Leben zu Hause war schön und friedlich. Ich freute mich immer darauf, wenn Merle und Ben ihre Band mit nach Hause brachten, um zu üben und Spaß zu haben. Ben spielte das Schlagzeug und Merle den Bass. Dann konnte ich tanzen.
Wenn Ben Gitarre für mich spielte, übte ich Ballett. Und immer, wenn Großmutter mich tanzen sah, war sie sicher, ich würde eine Ballerina werden.
Ich entdeckte, daß ich beim Tanzen fähig war, für eine Weile ich selbst zu sein, mein wirkliches Selbst. Wenn die Musik spielte und ich mich in ihren Rhythmen verlor, war ich wieder Omnec. Wie wunderbar wäre es doch, dachte ich oft, wenn meine Familie nicht so arm wäre. Dann hätten wir vielleicht eine Harfe.
Ich genoß es, mit den Kindern in unserer Nachbarschaft zu spielen. Wir gründeten einen Club, tranken Limonade und aßen Plätzchen. Wir spielten Vater-Mutter-Kind, Zirkus, Dodgeball und Softball zusammen. Während des Sommers gab es nur wenige Tage, an denen wir nicht sehr lange draußen blieben, oft ging es bis Mitternacht. Wir rannten im Bereich unserer Siedlung die Straße auf und ab, während die Erwachsenen zusammensaßen und redeten.
Gewöhnlich vermied ich Wettkämpfe, bei denen es nur ums Gewinnen ging. Es störte mich, daß die Gewinner die Verlierer verspotteten und sich über sie lustig machten, die ihrerseits anfingen zu kämpfen. Das Leben war ernst genug; Spiele sollten Spaß machen. Wenn es zu Gruppenspielen kam, erwies ich mich fast immer als Anführerin. Das lag vielleicht daran, daß mein Kopf immer von neuen und aufregenden Ideen überquoll, und da ich ein offenherziger Mensch bin, liebte ich es mitzuteilen, was ich wußte und fühlte.
Selten empfand ich mich gegenüber den anderen Kindern als kritisch. Ich bemühte mich immer darum, mich mit den Außenseitern anzufreunden, sie gleich zu behandeln, was mich manchmal selbst zur Außenseiterin machte. Und ich begann, mich weniger und weniger für meine Lage selbst zu bedauern. Ich war zu beschäftigt damit, viele neue Lektionen zu lernen.
Beim Spielen mit den Kindern in unserer Nachbarschaft lernte ich eine Menge über die Welt und die Erwachsenen. Die Einstellungen und Gewohnheiten der Kinder rührten direkt von denen ihren Eltern her statt von ihren eigenen Erfahrungen. Sie fluchten wie ihre Eltern und wiederholten, was ihre Eltern über Politik und über die Schwarzen sagten. Einige der Kinder haßten den Präsidenten, weil er nicht derselben Partei angehörte wie ihre Eltern. Die Russen waren alle schlecht, weil sie planten, uns zu bombardieren. Und alle wollten groß werden und in die Armee gehen, weil Daddy und Opa und all die Onkel hingegangen waren, um Amerika zu retten. Genauso hatten die Erwachsenen die Eigenschaften ihrer Eltern übernommen.
Es schien, daß die gläubigen Christen den Schwarzen gegenüber nicht so vorurteilsbeladen waren wie alle anderen. Großmutter zum Beispiel stellte Essen für die obdachlosen Eisenbahntramps beiseite, die gelegentlich an unsere Türe klopften. Sie meinte, solange sie großzügig zu anderen war, würde Gott großzügig zu ihr sein. Von ihr lernte ich eine wertvolle Lektion in Großzügigkeit. Ich lernte, daß derjenige, der gibt, immer das hat, was er braucht. Ich lernte auch, daß Erwachsene sehr leicht durch das beeinflußbar waren, was andere sagten oder dachten. Und jeder mischte sich in das Leben des anderen ein.
Ich ärgerte mich darüber, wenn man mir die ganze Zeit sagte, was ich zu tun hätte, doch ich mußte meinen Platz als Kind akzeptieren. Wie seltsam, daß den Kindern kaum Intelligenz und wenig Wahlfreiheit zugestanden wurde. Was die Erwachsenen sagten, war Gesetz und durfte nicht hinterfragt werden.
Von Kindern erwartete man, daß sie Abbilder ihrer Eltern wurden, keine Individuen. Dies war keine Absicht, sondern resultierte aus dem Nichtverstehen, daß jedes Kind eine individuelle Seele ist. Kinder nach ihrem Vater oder einem Verwandten zu benennen, nimmt ihnen ihre Individualität. Jeder Name hat eine charakteristische Schwingung, und Menschen mit den gleichen Namen sind karmisch miteinander verwandt.
Mit der Zeit sah ich, wie extrem negativ die Einstellungen der Leute gegenüber allen anderen außer sich selbst waren. Die Erdenmenschen waren viel egozentrischer, als ich mir das anfangs je vorgestellt hatte.
Eine sehr verbreitete Eigenschaft war die, daß man ein Sieger sein muß oder daß man eine Menge von irgendetwas haben muß – Geld, Talent, Schönheit –, um es in der Welt zu etwas zu bringen. Ich verstand das nicht, und ich brauchte lange, es als Bestandteil dieser Welt zu akzeptieren. Ich wußte, daß solch ein Verhalten eine Menge Leiden mit sich brachte.
Ich sah nicht ein, warum es eine Rolle spielte, ob ein Mensch schön anzuschauen war, weil nur die inneren Qualitäten wirklich zählen. Der physische Körper ist nur eine Schale.
In meinem Leben auf der Erde habe ich nie das Gefühl verloren, eine Außenseiterin zu sein, in einer fremden Welt zu leben. Als junges Mädchen in Chattanooga begegnete ich oft den Gedanken der Menschen auf physische Weise. Ich erledigte oft Besorgungen oder beantwortete Fragen, noch ehe mich jemand gefragt hatte. Dies war für meine Familie verwirrend, und ich mußte davor auf der Hut sein. Ich merkte bald, daß viele Menschen sich vor solchen Dingen fürchteten, die außerhalb ihres Verständnisbereichs lagen. Es schien, daß sie auf alles außerhalb ihres Verständnishorizontes negativ reagierten.
Weil ich jeden Menschen mehr als Seele denn als physischen Körper betrachtete, war ich anders. Ich reagierte kaum auf Zorn oder negative Gefühle, weil Nichtreaktion der einzige Weg ist, den Angriff abzuwehren. Die negative Energie hat dann nichts, wogegen sie sich richten kann und kehrt zu ihrer Quelle zurück. Ein wütender Mensch wird nur noch wütender.
Ich werde wütend, wenn jemand absichtlich versucht, mich oder einen Freund zu verletzen. Ich bin immer für die verfolgten und schikanierten Kinder in unserer Nachbarschaft eingetreten, und ich wurde oft emotional verletzt und weinte, weil ich all die Grausamkeit in der Welt nicht verstehen konnte.
Kommunikation war für mich ein großes Problem. Ich habe immer Schwierigkeiten mit der englischen Sprache gehabt, so beim Buchstabieren und der richtigen Betonung. Bis heute benutze ich oft ein Wort und meine ein anderes, sehr zu meiner eigenen Bestürzung.
Anfangs nahm ich alles wörtlich, was die Leute sagten. Wenn einer meiner Verwandten kurz vor dem Essen zu mir sagte, „geh und wasch’ dir das Gesicht ab“, verwirrte mich das enorm. Die Menschen benutzten die Worte sorglos.
Nachdem Merle und Ben in die Armee eingetreten waren, lebten Großmutter und ich allein, und das Haus war sehr still. Großmutter war während dieser Jahre sehr gut zu mir. Sie hing sehr an ihrer letzten Enkelin. Einst war das Haus voller Kinder gewesen, die es großzuziehen galt – nun gab es nur noch eines. Es war eine große Umstellung für sie.
Als die Schule im Herbst wieder anfing, begann sich das Leben zu Hause zu beruhigen. Dank unserer neuen Lehrerin Mrs. Dodson wurde die Zeit in der vierten Klasse ein äußerst schönes Jahr.
Jeden Tag las sie uns eine Geschichte vor, aber zuerst zog sie ihre lustige Brille auf. Immer wenn sie den Kopf bewegte, zwinkerten die Augen, die auf der Brille angebracht waren. Wir freuten uns jeden Tag darauf.
Dann kam eine Zeit, als Großmutter wegen einer Operation in ein Armeekrankenhaus in Kentucky mußte. Einer ihrer Söhne hatte es arrangiert, daß sie nichts zu bezahlen brauchte. Tante Ellen zog für zwei Wochen ein, um auf mich aufzupassen.
Keine zehn Minuten, nachdem Großmutter gegangen war, zeigten sich Tante Ellen und die Jungen von ihrer niederträchtigen Seite. Tante Ellen war immer nett zu mir, wenn Großmutter in der Nähe war. Nun durfte ich nichts anderes tun, als zur Schule zu gehen und Haushaltsarbeiten zu erledigen. Zur gleichen Zeit genossen ihre beiden Jungen Donny und Jim eine große Menge Freiheit. Sie konnten fast alles tun, was sie wollten.
Großmutters Krankenhausaufenthalt in Kentucky war fast zuende und ich konnte es kaum erwarten, sie wiederzusehen. Ich fühlte mich sehr glücklich, daß ich mit ihr statt mit jemandem wie Tante Ellen zusammenleben durfte.
Donny und Jim gingen eines Tages recht früh ins Kino, während ich mit Besorgungen in einen Laden geschickt wurde. Als ich zu Hause ankam, fand ich Tante Ellen und unseren Nachbarn vor, wie sie sich gerade mit einem Faß Bier zu einem See aufmachen wollten. Tante Ellen sagte: „Deine Großmutter würde dich nicht in die Vorstellung lassen.“ Ich wußte, daß das nicht stimmte. Großmutter hatte eine Nachricht geschrieben, daß wenn Donny und Jim in die Vorstellung gingen, ich mitgehen könne. „Und du kannst nicht mit uns an den See kommen, weil wir Bier trinken werden“, fuhr sie fort. Tante Ellen verschloß die Haustür und ermahnte mich beim Weggehen, auf der Veranda zu bleiben.
Ich setzte mich auf die Verandatreppe, den Kopf auf beide Arme gestützt und fühlte mich niedergeschlagen. Ich war an diesem Tag nicht wirklich überrascht über die Sonderbehandlung, draußen ausgesperrt zu sein, während Donny und Jim sich im Kino vergnügten. Die ganze Woche war nicht viel besser gewesen. Ich seufzte und fragte mich, was ich den ganzen Tag über tun sollte. Als ich aufschaute, war meine Niedergeschlagenheit wie weggeblasen. Daddy war da! Wahrhaftig Daddy! Da war er, er kam den Bürgersteig herunter auf mich zu. Wie wunderbar war es, ihn gerade am heutigen Tag zu sehen.
„Hallo Liebling, wo ist deine Großmutter?“
„Oh, sie ist im Krankenhaus“, sagte ich. „Sie wird in Kentucky operiert.“
„Und wer paßt auf dich auf?“ fragte er.
“Tante Ellen”, sagte ich, aber sie sei heute am See und ich sei ausgesperrt.
Daddy sah sich um. „Wo sind die Jungen?“ fragte er.
„Sie sind zur Kinovorstellung gegangen“, erklärte ich mit einem Anflug von Traurigkeit.
„Das ist nicht nett. Das begreif’ ich nicht“, sagte er empört. „War Tante Ellen gut zu dir?“
„Hm, nein“, gab ich zu, „sie war wirklich lange Zeit gemein zu mir.“ Ich klagte ihm mein Leid.
Durch ein Seitenfenster gelangte mein Vater ins Haus, ließ mich herein und versprach, daß ich ganz sicher bei ihm bleiben würde, bis Großmutter zurückkehrte. Wir sammelten meine Sachen zusammen und hinterließen eine Nachricht für Tante Ellen bei den Nachbarn. Natürlich war ich begeistert. Aber das war noch nichts, verglichen mit meiner Freude am Montag, als Daddy mich in der Schule in seiner Nachbarschaft anmeldete.
Wir Kinder marschierten gerade zum Spielplatz in der Cherry Street hinüber, als sich jemand von hinten an mich heranschlich und mir auf die Schulter tippte. Ich drehte mich kichernd um und erwartete, eines der Kinder hinter mir zu sehen.
„Das ist meine Mami!“ schrie ich, jubelnd auf- und abhüpfend. Wir umarmten uns. „Wie hast du mich gefunden?“ fragte ich. Das war zu schön, um wahr zu sein. Was für eine Wonne, sie wiederzusehen!
„Oh, deine Großmutter hat mir geschrieben, und ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Tante Ellen sagte, daß du bei deinem Vater bist“, erklärte sie mit einem strahlenden Lächeln. Es war toll, Mami so glücklich zu sehen.
Wir spazierten weiter zum Spielplatz, wo wir uns niederließen, um zu reden. Sie fragte, wie es mir gehe, wie mir die Schule gefalle; ich erfuhr, daß sie und C.L. die Route durch Tennessee genommen hatten, weil sie im Osten ein Restaurant eröffnen wollten. Mami blieb während der Lesestunde, und dann ließ mich unser Lehrer die Schule vorzeitig verlassen. In Peggys und Davids Haus sammelten wir meine Sachen zusammen. Dann gingen wir heim in die Southern Street Nr. 1821. Als sie hörte, wie schlecht ich behandelt worden war, beschloß sie, bei mir zu bleiben, bis Großmutter nach Hause käme. Ich war sehr erleichtert und auch dankbar, daß sie einige zusätzliche Zeit mit uns verbringen würde.
Ganz plötzlich waren Tante Ellen und die Jungen ungewöhnlich freundlich zu mir. Ein paar Tage später, als Großmutter heimkehrte und die ganze Geschichte erfuhr, war sie so aufgebracht, daß sie schwor, mich nie wieder allein bei Tante Ellen zu lassen.
[no image in epub file]
Omnec als Sheila im Jahre 1959 mit ihrer irdischen Großmutter und ihren Cousins Eddie (hint. li.), Tommy (hint. re.) und Dale (vorne)
Wie immer, wenn Mami ging, weinten wir beide beim Abschied. Meine starke Zuneigung zu ihr war unerklärlich. Es war, als wäre sie schon immer meine Mutter gewesen, denn immer, wenn es Zeit für sie wurde zu gehen, sehnte ich mich danach, bei ihr zu bleiben.
Das ganze Jahr über bis zum folgenden Sommer kam ich immer wieder in Krankenhäuser und Kliniken. Einem Arzt zufolge hatte ich Anämie. Ich war ein kränkliches kleines Mädchen.
Seit ich angefangen habe, irdische Nahrung zu essen, hat mir mein Magen Probleme bereitet. Oft mußte ich wegen Magenschmerzen die Schule verlassen und nach Hause gehen. Das Problem bestand zum Teil darin, daß ich selten eine ausgeglichene Mahlzeit bekam. Es gab kaum genug Eiweiß in meiner Ernährung, um mich am Leben zu erhalten. Meistens aßen wir Kohlehydrate, keine Salate und fast kein Obst. Das gekochte Gemüse war verkocht, und immer wenn wir Fleisch hatten, war es übergar. Unsere Familie war wirklich sehr arm.
Weil ich barfuß herumlief und aufgrund unserer schlechten Ernährung bekam ich Bandwürmer. Kurz darauf hatte ich eine Blinddarmreizung. Aber die meisten meiner Beschwerden und Leiden bestanden in ständigen Erkältungen, Fieberanfällen, Geschwüren, Gerstenkörnern und schrecklichen Magenschmerzen. Vielleicht war all dies ein Teil meiner unbewußten Abwehr gegen die physische Welt.
Physische Schmerzen haben mich nie sehr bekümmert, nicht so sehr wie seelische Schmerzen. Es verletzte mich mehr, wenn jemand zornig oder gemein zu mir war, als wenn sie mir ins Gesicht schlugen.
Ich zeigte niemals, daß ich physisch verletzt war. Ich tat so, als ob nichts wäre, egal wie schlimm der Schmerz war, teilweise, weil ich es als erniedrigend empfand, physische Schmerzen zu haben. Dies ließ mich all die zusätzlichen Schmerzen aushalten, als ich mich dann chronisch unwohl in meinem physischen Körper fühlte.
Es war nicht einfach, in einem physischen Körper zu leben, der immer müde wurde, der jeden Tag schlafen gelegt werden mußte, ob ich es wollte oder nicht. An Gegenstände anzustoßen war schmerzvoll, die Haut zu ritzen war gefährlich und alle Arten von Bakterien attackierten ständig den Körper. Was für ein miserabler Ort diese physische Welt ist, dachte ich oft. Baden, Waschen, Haarekämmen, Zähneputzen, all diese Pflichtaufgaben waren eine Bürde, die ich akzeptieren mußte.
Kaltes Wetter verabscheute ich besonders; es machte mir den physischen Körper und all seine Schmerzen bewußter. Die Beschwerden und Schmerzen des Körpers sind für mich zu einer ganz neuen Dimension des Seins geworden.
Ich war mir dessen zu jener Zeit noch nicht bewußt, aber die sechste Klasse war mein letztes Schuljahr. Wie gewöhnlich wurden uns alle Arten von Dingen beigebracht, die mich nicht interessierten, trotzdem bekam ich meistens sehr gute Noten. Am liebsten mochte ich Kunst, Sport und Theateraufführungen.
Geschichtsunterricht ärgerte mich. Wie konnten so viele Leute stolz auf die Kriege sein, die für die Freiheit geführt worden waren? Kindern wurde die Idee eingeimpft, daß Gewalt und Aufruhr ein sicherer Weg waren, Ziele durchzusetzen. Ich dachte immer, es sollte auch gelehrt werden, daß es andere Wege gibt, Unstimmigkeiten zu überwinden.
Das letzte Schuljahr. Omnec ist 14 Jahre alt.
Während dieses Jahres keimte mein Interesse an Jungen auf. Bis dahin war Großmutter immer hinter mir her, um herauszubekommen, ob ich Interesse am anderen Geschlecht zeigte. Schließlich bekam ich selbst Interesse daran.
Meine Cousine Janice und ich liebten es, uns zurechtzumachen, wenn ich die Nacht bei ihr verbrachte. Wir trugen lange Kleider, hochhackige Schuhe und Lippenstift und promenierten so die Straße auf und ab. Großmutter hätte mich umgebracht, wenn sie das rausbekommen hätte.
Meine Freundin Mary war hauptsächlich für mein wachsendes Interesse an Jungen, Herumtreibern und Elvis Presley verantwortlich. Die Musik liebte ich nicht eigentlich, doch sie war ein Bestandteil unseres Beisammenseins.
Marys ältere Schwester Lilly beeinflußte uns stark in Sachen Jungen, Makeup und Erwachsenenwelt. Sie war 16. Mary und Lilly trieben ein verrücktes Spiel miteinander, so jedenfalls empfand ich das zu dieser Zeit. Das war nichts für mich. Lilly spielte einen Jungen, Mary das Mädchen, und dann liebten sie sich.
Es war fast August, als Donna uns wieder schrieb. Alles hatte sich zum Besseren gewendet. Sie und C.L. tranken und stritten nicht mehr und führten nun ein vergnügliches Leben auf der Insel Sanibel an der Küste von Florida bei Fort Meyers. Sie leiteten das Sandcastles Motel. Der Postkarte nach, die sie schickten, schien es ein Paradies zu sein, und ich träumte von dem kilometerlangen Sandstrand und der üppigen tropischen Vegetation.
„Wäre es in Ordnung“, fragten sie, „wenn Sheila ein paar Wochen bei uns bliebe?“
Ich wünschte mir sehnsüchtig, noch am selben Tag loszufahren, aber Großmutter war sich nicht sicher. Ich bettelte und flehte, und wir diskutierten das Pro und Contra tagelang.
Endlich kam der Wendepunkt. Großmutter sagte: „Ich weiß, du liebst deine Mutter und du weinst die ganze Zeit nach ihr, ich denke also, du kannst fahren und sie eine Zeitlang sehen.“
Ich wußte nicht, was ich sagen sollte, so glücklich und aufgeregt war ich. Hurra! Endlich kam ich an einen anderen Ort außerhalb von Tennessee!
Am Tag, an dem Onkel Bob mich zum Busbahnhof fuhr, fühlte ich mich erwachsener als je zuvor. Den ganzen Sommer lang hatte Großmutter Kleider für mich genäht, und heute zog ich mein Lieblingsdress an. Es war ein weißes Kleid, bedruckt mit Blumen in warmem Rot, Orange und Gelb. Es war tailliert, hatte einen ausgestellten Rock und einen tiefen Rückenausschnitt. Und ich trug die schwarzen Lacklederpumps und Strümpfe, die Mami mir geschickt hatte.
Als ich den Bus bestieg, steckte mir meine Cousine Andrea hinter Großmutters Rücken einen Lippenstift zu. Großmutter schniefte und sagte Aufwiedersehen. Ich sah sie an. Ja, sicherlich würde ich diese Frau vermissen, die trotz unserer Armut dafür gesorgt hatte, daß ich alles hatte, was ich brauchte. Ich drückte und küßte sie. Ich liebte sie wirklich.
Der Bus verließ Chattanooga. Ich fuhr allein an einen unbekannten Ort. Ich hoffe, ich sehe diese Gegend nie wieder, dachte ich. Ich fühlte mich sehr erwachsen und selbständig und ich trug roten Lippenstift. Was ich nicht wußte, war, daß mein Leben während dieser ersten Erdenjahre sehr behütet gewesen war. Doch die schlimmste Kraftprobe mit dem Karma stand mir noch bevor ...