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Erster Teil I

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Das Drehkreuz Saint-Jean, dessen Schilderung seiner Zeit zu Beginn der Studie »Eine doppelte Familie« langweilig erschienen sein mag, dieses kleine harmlose Wahrzeichen des alten Paris, existiert nur noch in dieser Beschreibung. Die Errichtung des heutigen Rathauses hat ein ganzes Stadtviertel verschwinden lassen.

Im Jahre 1830 konnten die Passanten noch das Drehkreuz auf dem Schilde eines Weinhändlers erblicken, aber auch dieses Haus, sein letzter Zufluchtsort, ist inzwischen niedergelegt worden. Ach, das alte Paris verschwindet mit erschreckender Schnelligkeit! Bei dieser Zerstörung bleibt noch irgendwo ein Haus aus dem Mittelalter stehen, wie das am Anfang der »Ballspielenden Katze« geschilderte, und wie solche nur noch in ein oder zwei Exemplaren existieren; oder ein Haus wie das des Richters Popinot in der Rue du Fouarre, das Muster eines alten Bürgerhauses. So ist auch das Haus von Fulbert erhalten, ebenso das ganze Seinebassin aus der Zeit Karls IX. Warum sollte der Historiker der französischen Gesellschaft, ein moderner »Old mortality«, nicht die interessanten Denkmäler der Vergangenheit vor der Vergessenheit bewahren, ebenso wie es Walter Scotts Alter mit den Gräbern tat? Die Warnrufe der Publizisten, die seit zehn Jahren laut geworden sind, waren wahrhaftig nicht unbegründet: Die Baukunst wird durch die gemeinen Fassaden der Häuser verschimpfiert, die man in Paris »Rentenhäuser« nennt und die einer unserer Poeten in amüsanter Weise mit Kommoden verglichen hat.

Es mag hier darauf hingewiesen werden, dass die Einrichtung einer städtischen Kommission »del ornamento«, die in Mailand die Architektur der Straßenfassaden zu überwachen hat, und der jeder Bauherr seine Pläne vorlegen muss, aus dem XII. Jahrhundert stammt. Daher wird auch jedermann in dieser schönen Hauptstadt erkennen müssen, was der Patriotismus der Bürgerschaft und des Adels für seine Stadt geleistet hat, und die charakteristischen eigenartigen Bauten bewundern ... Die abscheuliche, zügellose Spekulation, die Jahr für Jahr die Höhe der Stockwerke vermindert, aus dem Raum, den früher ein Salon ausfüllte, eine ganze Wohnung macht und einen mörderischen Kampf gegen die Gärten führt, wird unvermeidbar ihren Einfluss auch auf die Pariser Sitten ausüben. In kurzer Zeit wird man genötigt sein, mehr draußen als drinnen zu leben. Das geheiligte Privatleben, das unbeeinträchtigte Zuhause, wo ist es noch zu finden? Es fängt erst bei fünfzigtausend Franken Rente an. Und es gibt sogar nur noch wenige Millionäre, die sich den Luxus eines eigenen Hauses gestatten, das von der Straße durch einen Vorhof getrennt und durch einen schattigen Garten vor der Neugierde des Publikums geschützt ist.

Durch das Nivellieren der Vermögen hat der Code, der die Erbschaften regelt, diese steinernen ???Phalansterien entstehen lassen, in denen dreißig Familien wohnen, und die hunderttausend Franken Rente bringen. Daher werden in fünfzig Jahren die Häuser zu zählen sein, zu denen das gehört, welches zu Beginn dieser Erzählung die Familie Thuillier bewohnte, ein wirklich interessantes Haus, das der Ehre einer eingehenden Beschreibung würdig ist, sei es auch nur, um die frühere Bourgeoisie mit der heutigen vergleichen zu können.

Die Lage und das Äußere dieses Hauses, das den Rahmen für dieses Sittenbild abgibt, hat übrigens schon an sich einen gewissen Anstrich von Kleinbürgerlichkeit, der, je nach dem Geschmack eines jeden, die Aufmerksamkeit fesseln kann oder nicht.

Zunächst muss bemerkt werden, dass das Haus Thuillier weder Herrn noch Frau, sondern Fräulein Thuillier, der älteren Schwester des Herrn Thuillier, gehörte.

Es war während der ersten sechs Monate nach der Revolution von 1830 von Fräulein Marie-Jeanne-Brigitte Thuillier, einem majorennen Mädchen, erworben worden und befand sich etwa in der Mitte der Rue Saint-Dominique-d'Enfer, wenn man von der Rue d'Enfer kommt auf der rechten Seite, so dass der Flügel, in dem Herr Thuillier wohnte, nach Süden zu gelegen war.

Der fortschreitende Drang, mit dem sich die Pariser Bevölkerung nach dem höheren Teil des rechten Seineufers hinüberzieht, während das linke Ufer leer wird, hatte lange Zeit hindurch den Verkauf der Grundstücke des sogenannten lateinischen Viertels stocken lassen; da veranlassten Gründe, die bei der Schilderung des Charakters und Wesens des Herrn Thuillier angegeben werden sollen, seine Schwester, ein Haus zu erwerben: sie kaufte dieses für den geringen Grundpreis von sechsundvierzigtausend Franken; die Nebenkosten betrugen etwa sechstausend Franken, so dass die Gesamtausgabe sich auf zweiundfünfzigtausend Franken belief. Die Einzelbeschreibung dieser Besitzung im Stil einer Verkaufsanzeige und die durch die Bemühungen des Herrn Thuillier erzielten Resultate werden erkennen lassen, auf welche Weise im Juli 1830 so viele Vermögen sich neu zu bilden begannen, während vorhandene Vermögen zurückgingen.

Nach der Straße hin besaß das Haus eine Fassade aus Gipsputz, der sich mit der Zeit geworfen hatte, und auf der mit der Maurerkelle Einschnitte gemacht waren, wodurch Hausteine vorgetäuscht werden sollten. Diese Häuserfassaden sind so verbreitet in Paris und so hässlich, dass die Stadt Preise für Grundbesitzer aussetzen sollte, die neue Fassaden in Hausteinen herstellen. Die grau gewordene, sieben Fenster breite Vorderfront war drei Stockwerke hoch, über denen Mansarden unter einem Ziegeldache sich befanden. Das dicke, solide Seitentor zeigte in Form und Stil deutlich, dass der nach der Straße zu gelegene Flügel zur Zeit des Kaiserreichs errichtet war, um einen Teil des Hofes damals, als das Quartier d'Enfer sich noch einer gewissen Gunst erfreute, für eine sehr geräumige alte Wohnung auszunutzen.

Auf der einen Seite war der Portier untergebracht, auf der andern befand sich die Treppe des Vorderhauses. Die beiden Flügel, die an die Nachbarhäuser stießen, waren früher für Remisen, Ställe, Küchen und Gesindezimmer des Hinterhauses verwendet worden; seit dem Jahre 1830 aber hatte man sie in Lagerräume umgewandelt.

Die rechte Seite hatte ein Papierhändler en gros, in Firma M. Métiviers Neffe, gemietet; die linke ein Buchhändler namens Barbet. Die Büros der beiden Kaufleute befanden sich über ihren Lagerräumen, die Wohnung des Buchhändlers im ersten, die des Papierhändlers im zweiten Stock des Vorderhauses. Métivier war weit mehr Agent in der Papierbranche als Kaufmann, Barbet mehr Darlehnsgeber als Buchhändler, und beide benutzten die ausgedehnten Lagerräume, der eine um Partien von Papier, die er in Bedrängnis geratenen Fabrikanten abgekauft hatte, der andere, um Auflagen von Büchern, die ihm als Pfand für Darlehen gegeben waren, unterzubringen.

Der Haifisch des Buchhandels und der Hecht des Papiergeschäfts lebten im besten Einvernehmen miteinander, und ihre Tätigkeit, die nichts von der Geschäftigkeit des Detailhändlers hatte, ließ nur selten Wagen in diesem Hofe erscheinen, der so unbenutzt dalag, dass der Portier das Unkraut, das zwischen einzelnen Pflastersteinen wuchs, ausjäten musste. Die Herren Barbet und Métivier, die hier bloß eine Statistenrolle zu spielen haben, machten ihren Hauswirten nur selten einmal einen Besuch, zählten aber, da sie ihre Miete pünktlich bezahlten, zu den guten Mietern; sie galten in den Augen der Familie Thuillier als sehr anständige Leute.

Der dritte Stock des Vorderhauses enthielt zwei Wohnungen: die eine hatte ein Herr Dutocq, Gerichtsvollzieher beim Friedensgericht, ein pensionierter Beamter, inne, der zu dem ständigen Kreise der Thuilliers gehörte; die andere bewohnte der Held dieser Erzählung: für jetzt mag es genügen, die Höhe seines Mietzinses anzugeben, der siebenhundert Franken betrug, und die Stellung zu kennzeichnen, die er inmitten dieses Hauses drei Jahre vor dem Augenblick eingenommen hatte, in dem sich der Vorhang vor dieser häuslichen Tragödie hebt.

Der Gerichtsvollzieher, ein Junggeselle im Alter von fünfzig Jahren, hatte die größere der beiden Wohnungen des dritten Stocks inne; er hielt sich eine Köchin und zahlte tausend Franken Miete. Zwei Jahre nach dem Erwerb des Grundstücks hatte Fräulein Thuillier ein Einkommen von siebentausendzweihundert Franken aus ihrem Hause, das der letzte Besitzer mit Jalousien ausgestattet, im Inneren restauriert und mit Spiegeln versehen hatte, ohne es verkaufen oder vermieten zu können; und die Thuilliers, die, wie man sehen wird, eine großartige Wohnung besaßen, erfreuten sich außerdem eines der schönsten Gärten dieses Viertels, dessen Bäume die kleine stille Rue Neuve-Sainte-Cathérine beschatteten.

Der Flügel, den sie bewohnten, zwischen Hof und Garten gelegen, verdankte anscheinend sein Dasein der Laune eines reich gewordenen Bürgers unter Ludwig XIV., eines Parlamentspräsidenten, oder es war die Behausung eines stillen Gelehrten gewesen. Seine schöne, von der Zeit angegriffene Hausteinfassade hatte etwas von der Großartigkeit der Zeit Ludwigs XIV.; die Rustika stellten Steinschichten dar, die roten Ziegelsteinmuster erinnerten an das Aussehen der Versailler Pferdeställe, die Rundbogenfenster hatten Masken als Schmuck der Schlusssteine der Bögen und unterhalb des Gesimses. Durch die Tür, die in ihrem oberen Teile mit kleinen viereckigen Scheiben versehen, in ihrem unteren glatt geschlossen war, sah man in den Garten; sie zeigte den soliden unaufdringlichen Stil, den man so häufig an den Pavillons der Portiers bei königlichen Schlössern sieht.

Dieser Pavillon mit fünf Fenstern hatte über dem Parterre zwei Stockwerke und zeichnete sich durch ein viereckiges Dach mit einer Wetterfahne aus, das von großen schönen Schornsteinen und Oeils-de-boeuf-Fenstern durchbrochen war. Vielleicht war dieser Bau der Rest irgendeines großen Privathauses; aber in den alten Plänen von Paris ist nichts zu finden, was diese Annahme rechtfertigte; im übrigen nennen die Akten des Fräuleins Thuillier als Besitzer unter Ludwig XIV. Petitot, den berühmten Emailmaler, der dieses Grundstück von dem Präsidenten Lecamus erworben hatte. Es ist anzunehmen, dass der Präsident diesen Pavillon bewohnte, während er sein berühmtes Haus in der Rue de Thorigny erbauen ließ.

Die Richterschaft und die Kunst hatten also beide hier gehaust. Aber mit welchem reichen Verständnis für das Nötige wie für das Angenehme war auch das Innere dieses Pavillons eingerichtet worden! In dem viereckigen Saal, der ein abgeschlossenes Vestibül bildete, befand sich rechts eine steinerne Treppe, die durch zwei Fenster nach der Gartenseite hin erhellt wurde; unter der Treppe war die Tür zum Keller. Vom Vestibül ging es in ein Speisezimmer, dessen Fenster auf den Hof hinaussahen. An das Speisezimmer schloss sich seitlich eine Küche an, die an Barbets Lagerräume grenzte. Hinter der Treppe nach dem Garten zu befand sich ein prächtiges, längliches, zweifenstriges Arbeitszimmer. Der erste und der zweite Stock enthielten zwei vollständige Wohnungen, die Dienstbotenzimmer lagen unter dem viereckigen Dache hinter den Oeils-de-boeuf-Fenstern. Ein prachtvoller Ofen schmückte das geräumige, quadratische Vestibül; die beiden einander gegenüberliegenden Glastüren gewährten das erforderliche Licht. Dieser mit einem Fußboden von schwarzem und weißem Marmor versehene Raum zeichnete sich durch eine Decke mit vorspringenden Balken aus, die, früher farbig und vergoldet, zweifellos unter dem Kaiserreich glatt weiß überstrichen worden waren. Gegenüber dem Ofen war ein Springbrunnen aus rotem Marmor mit einem Marmorbassin angebracht. Über den drei Türen des Arbeitszimmers, des Salons und des Speisezimmers enthielten die ovalen Rahmen der Sopraporten Bilder, deren Restaurierung mehr als nötig war. Das Holzwerk war plump, zeigte aber feine Ornamente. Der ganz in Holz getäfelte Salon erinnerte mit seinem Kamin aus Languedoc-Marmor, seinen Deckenverzierungen und der Form seiner mit kleinen quadratischen Scheiben versehenen Fenster an das große Jahrhundert. Das Speisezimmer, in das eine zweiflügelige Tür aus dem Salon führte, hatte Steinfußboden; es war in naturfarbenem Eichenholz getäfelt und an Stelle der alten Wandbehänge mit einer abscheulichen modernen Tapete versehen. Die Decke war aus geschnitztem Kastanienholz hergestellt, das unberührt geblieben war. Das von Thuillier modernisierte Arbeitszimmer erhöhte noch die Disharmonie.

Das Gold und Weiß der Gesimse des Salons war so verändert, dass man an Stelle des Goldes nur noch rote Linien sah, während das gelb und streifig gewordene Weiß abblätterte. Ein schönerer Kommentar zu dem lateinischen Worte Otium cum dignitate als diese Wohnung wäre für einen Poeten nicht zu finden gewesen. Die Schmiedearbeit des Treppengeländers war eines Richters und eines Künstlers würdig; um aber in dem, was heute von dieser majestätischen Antiquität übriggeblieben war, ihre Spuren wiederzufinden, dazu bedürfte es der Späheraugen eines Künstlers.

Die Thuilliers und ihre Vorgänger haben dieses Kleinod der vornehmen Bourgeosie durch die Lebensweise und die Erfindungen des Kleinbürgertums entstellt. Man braucht bloß auf die Nussbaumstühle mit Rosshaarbezug zu achten, auf den mit Wachstuch überzogenen Mahagonitisch, die Mahagonibuffets, den bei einem Gelegenheitskauf erworbenen Teppich unter dem Tische, die Lampen aus Zinkguss, die billige Tapete mit roter Borte, die grässlichen Schabkunstbilder und die Schirtinggardinen mit rotem Rande in diesem Speisezimmer, wo Petitots Freunde tafelten! Und wie wirkten im Salon die Bilder von Herrn, Frau und Fräulein Thuillier von Pierre Grassou, dem Porträtmaler der bürgerlichen Gesellschaft; die Spieltische, die seit zwanzig Jahren im Gebrauch waren, die Konsolen im Empirestil, der von einer großen Lyra getragene Theetisch, die Möbel aus ästigem Mahagoni, mit buntem Plüsch auf schokoladenfarbenem Grund bezogen; die Kandelaber mit kanellierten Säulen auf dem Kamin mit seiner Uhr, die eine Bellona im Empirestil darstellte, die leinenen Vorhänge und die gestickten Musselingardinen, die mit gestanzten kupfernen Haltern aufgenommen waren! Auf dem Parkett lag ein billiger Teppich. In dem schönen länglichen Vestibül standen Plüschbänke; die Reliefbilder der Wände waren mit Schränken in verschiedenen Stilarten verstellt, die in den früheren Wohnungen der Thuilliers gestanden hatten. Über den Springbrunnen war ein Brett gelegt, das eine qualmende Lampe aus dem Jahre 1815 trug. Schließlich hatte die Furcht, diese scheußliche Gottheit, die Besitzer veranlasst, nach der Garten- und nach der Hofseite hin doppelte, mit Eisenblech beschlagene Türen anzubringen, die am Tage zurückgeklappt und nachts vorgelegt wurden.

Die beklagenswerte Profanierung dieses Monuments des Privatlebens im siebzehnten Jahrhundert durch die privaten Lebensgewohnheiten des neunzehnten Jahrhunderts lässt sich unschwer erklären. Etwa zu Beginn der Konsulatszeit kam ein Maurermeister, der das kleine Haus erworben hatte, auf den Gedanken, das nach der Straße hin gelegene Terrain auszunutzen; er legte wahrscheinlich den schönen, von kleinen Pavillons, die, um einen altertümlichen Ausdruck zu gebrauchen, diesen hübschen »Wohnsitz« vervollständigten, flankierten Seiteneingang nieder, und die Betriebsamkeit eines Pariser Hausbesitzers drückte dieser Zierlichkeit ihr Brandmal auf, wie die Zeitungen und ihre Druckerpressen, die Fabriken und ihre Magazine, der Handel und seine Kontore an die Stelle der Aristokratie, der alten Bourgeosie, der Finanzleute und der Richterschaft überall, wo diese sich glanzvoll ausgebreitet hatten, getreten sind. Was für ein interessantes Studium gewähren Akten des Hausbesitzes von Paris! In der Rue des Batailles ist aus der Besitzung des Chevaliers Pierre Bayard du Terrail ein Krankenhaus geworden; der dritte Stand hat dort, wo das Haus Neckers sich befand, eine Straße entstehen lassen. Das alte Paris verschwindet, wie die Könige verschwunden sind. Für ein erhaltenes architektonisches Meisterwerk, das eine polnische Fürstin vor der Zerstörung bewahrt hat, fallen so viele andere kleine Palais, wie Petitots Wohnung, in die Hände von Thuilliers! Die Gründe, aus denen Fräulein Thuillier dieses Haus kaufte, waren folgende:

Beim Sturz des Ministeriums Villèle wurde Herr Louis-Jérôme Thuillier, der damals sechsundzwanzig Dienstjahre hinter sich hatte, Vizechef; aber kaum erfreute er sich der subalternen Ehre dieser Stellung, die einst das geringste war, worauf er gehofft hatte, als die Ereignisse des Julis 1830 ihn zwangen, seinen Abschied zu nehmen. Er rechnete sehr schlau damit, dass ihm von den Leuten, die glücklich waren, über einen freien Platz mehr verfügen zu können, eine anständige Pension glatt bewilligt werden würde, und er hatte sich nicht verrechnet, denn seine Pension wurde auf siebzehnhundert Franken festgesetzt.

Als der kluge Vizechef davon sprach, dass er sich aus dem Verwaltungsdienst zurückziehen wolle, geriet seine Schwester, die weit mehr als seine Frau seine Lebensgefährtin war, in Angst wegen seiner Zukunft.

»Was soll aus Thuillier werden? ...« Das war die Frage, die sich Frau und Fräulein Thuillier, die damals in einer kleinen Wohnung im dritten Stock in der Rue d'Argenteuil lebten, gegenseitig in großer Sorge vorlegten.

»Mit der Regelung seiner Pensionsansprüche wird er nur für einige Zeit zu tun haben,« hatte Fräulein Thuillier gesagt; »aber ich denke daran, meine Ersparnisse so anzulegen, dass eine Beschäftigung für ihn damit verbunden ist ... Die Verwaltung eines Grundstücks ist ja beinahe so etwas wie eine amtliche Tätigkeit.«

»Ach, liebe Schwägerin, Sie sind seine Lebensretterin!« rief Frau Thuillier aus.

»Ich habe schon immer an diese für Jérômes Leben kritische Zeit gedacht!« antwortete die alte Jungfer mit Protektormiene.

Fräulein Thuillier hatte ihren Bruder allzuoft sagen hören: »Der und der ist gestorben! Er hat seine Pensionierung nicht zwei Jahre überlebt!« Sie hatte allzuoft Colleville, den intimen Freund Thuilliers, einen Beamten wie er, wenn er über diese kritische Zeit der Bürokraten scherzte, sagen hören: »Wir kommen alle dahin!« ..., um nicht die Gefahr, die ihr Bruder lief, zu würdigen. Der Übergang von der Tätigkeit zum Ruhestand ist in der Tat die kritische Zeit für den Beamten. Wer von ihnen nicht die Fähigkeit oder die Möglichkeit hat, an Stelle seiner bisherigen Tätigkeit eine andere Beschäftigung aufzunehmen, der verändert sich ganz auffallend: einige sterben, viele werden Angler, eine Zerstreuung, deren Leere ihrer früheren Büroarbeit entspricht; wieder andere, spekulative Köpfe, kaufen Aktien, verlieren daran ihre Ersparnisse und sind glücklich, wenn sie dann eine Anstellung bei einem Unternehmen erhalten, das nach dem ersten Niederbruch und der ersten Liquidation in geschickten Händen, die das abgewartet hatten, Aussicht auf Ertrag gewährt; dann reibt sich der Beamte die Hände, die inzwischen leer geworden sind, und sagt zu sich: »Ich habe es richtig geahnt, dass aus dieser Sache mal etwas werden wird ...« Aber fast alle sträuben sich dagegen, ihre frühere Lebensweise beizubehalten.

»Es gibt welche,« pflegte Colleville zu sagen, »die von dem besonderen Beamtenspleen (er sagte: Splehn) aufgezehrt werden; sie gehen an den immer wiederkehrenden Erinnerungen an die Rundverfügungen zugrunde; sie leiden nicht am Bandwurm, sondern am Papierwurm. Der kleine Poiret konnte kein weißes, blau liniiertes Papier sehen, ohne dass dieses geliebte Bild ihn die Farbe wechseln ließ; seine grünliche Gesichtsfarbe wurde dann gelb.«

Fräulein Thuillier galt als der starke Geist des brüderlichen Haushalts; es fehlte ihr nicht an Kraft und Entschlussfähigkeit, wie ihre eigene Lebensgeschichte erweisen wird. Diese Überlegenheit über ihre Umgebung gestattete ihr, ihren Bruder richtig zu beurteilen, so leidenschaftlich sie ihn auch liebte. Nachdem die auf ihr Ideal gesetzten Hoffnungen zunichte geworden waren, wurde ihr mütterliches Empfinden sich über die soziale Bedeutung des Vizechefs klar.

Thuillier und seine Schwester waren die Kinder des ersten Portiers im Finanzministerium. Jérôme war, dank seiner Kurzsichtigkeit, allen militärischen Requisitionen und Konskriptionen entgangen. Der Vater hatte den Ehrgeiz, aus seinem Sohne einen Beamten werden zu lassen. Zu Beginn dieses Jahrhunderts gab es zu viele Stellen bei der Armee, als dass nicht viele in den Büros unbesetzt gewesen wären, und der Mangel an Unterbeamten machte es dem dicken Vater Thuillier möglich, seinen Sohn die ersten Stufen der Beamtenhierarchie überspringen zu lassen.

Der Portier starb im Jahre 1814, als Jérôme kurz vor der Ernennung zum Vizechef stand, und hinterließ ihm als einziges Vermögen nur diese Hoffnung. Der dicke Thuillier und seine Frau, die im Jahre 1806 gestorben war, waren mit der Pension als ihrem einzigen Besitz in den Ruhestand getreten, denn sie hatten ihre Ersparnisse aufgebraucht, um Jérôme eine zeitgemäße Erziehung zu geben und ihn und seine Schwester zu unterhalten.

Es ist bekannt, welchen Einfluss die Restauration auf die Bürokratie ausübte. Aus einundvierzig verlorengegangenen Departements kehrte eine Menge tüchtiger Beamter zurück und verlangte eine Anstellung, die niedriger war als die von ihnen innegehabte. Zu jenen Rechtsansprüchen kamen noch die Ansprüche der proskribierten Familien hinzu, die durch die Revolution ruiniert worden waren. Von diesen beiden Strömen bedrängt, war Jérôme noch sehr glücklich, dass er nicht unter irgendeinem bei den Haaren herbeigezogenen Vorwande verabschiedet wurde. Er zitterte davor bis zu dem Tage, wo er durch einen Glücksfall Vizechef geworden und nun sicher war, dass er sich in Ehren zurückziehen konnte. Dieser kurze Bericht zeigt, dass Thuillier wenig Bedeutung und Beziehungen besaß. Er hatte Latein, Mathematik, Geschichte und Geographie gelernt, wie man das in der Schule lernt; aber er war nicht über die sogenannte zweite Klasse hinausgekommen, da sein Vater von einer günstigen Gelegenheit, in das Ministerium hineinzukommen, Gebrauch machen wollte, wobei er rühmte, dass sein Sohn »eine vortreffliche Hand« schriebe. Da der kleine Thuillier also die ersten Eintragungen in das Hauptbuch zu machen hatte, konnte er den Kursus der Rhetorik und Philosophie nicht besuchen.

Einmal in das ministerielle Triebwerk eingespannt, befasste er sich wenig mit Literatur und noch weniger mit Kunst; aber er erwarb sich Routine in seinem Amte; und als es ihm unter dem Kaiserreich möglich wurde, in die Sphäre der höheren Beamten zu gelangen, eignete er sich äußerliche Formen an, die den Portiersohn verbargen, aber auf seinen Geist hatte das nicht den geringsten Einfluss. Seine Unwissenheit riet ihm, sich schweigend zu verhalten, und dieses Schweigen war ihm nützlich. Unter der kaiserlichen Verwaltung gewöhnte er sich an den passiven Gehorsam, der den Vorgesetzten gefällt, und dieser Eigenschaft verdankte er es, dass er dann zum Vizechef aufrückte. Mit seiner Routine erwarb er sich eine große Geschäftserfahrung, und seine Manieren wie sein Schweigen verbargen seinen Mangel an Kenntnissen. Seine Unbedeutendheit empfahl ihn, wenn man einen Unbedeutenden brauchte. Man scheute sich, die beiden Parteien in der Kammer vor den Kopf zu stoßen, und das Ministerium half sich dadurch aus der Verlegenheit, dass es das Prinzip der Anciennität durchführte. So wurde Thuillier Vizechef. Da Fräulein Thuillier wusste, dass ihr Bruder einen Widerwillen gegen Bücher hatte und das Bürogetriebe durch keine andere Tätigkeit ersetzen konnte, so hatte sie klugerweise beschlossen, ihm die Sorge für das Grundstück aufzuhalsen, die Pflege des Gartens, die unendlich vielen kleinen Mühen des Privatlebens und die Intrigen mit der Nachbarschaft.

Die Übersiedelung der Familie Thuillier aus der Rue d'Argenteuil in die Rue Saint-Dominique-d'Enfer, die durch den Grundstückskauf sich ergebenden Erfordernisse, die Suche nach einem geeigneten Portier, das Heranschaffen von Mietern beschäftigten Thuillier von 1831 bis 1832. Als die Übersiedelung beendet war und seine Schwester sich überzeugt hatte, dass Jérôme diese Sache gut überstanden hatte, fand sie andere Mühewaltungen für ihn, von denen später die Rede sein soll, die aber auf Thuilliers Charakter basiert waren, den jetzt zu schildern am Platze sein dürfte.

Obwohl der Sohn eines Portiers im Ministerium, war Thuillier das, was man einen schönen Mann nennt; über mittelgroß, schlank, besaß er ein Gesicht, das mit der Brille nicht unangenehm, aber, wie bei vielen Kurzsichtigen, schrecklich war, wenn er seine Augengläser abnahm; denn die Gewohnheit, durch die Brille zu sehen, hatte über seine Pupillen eine Art von Schleier gebreitet.

Zwischen achtzehn und dreißig Jahren hatte der junge Thuillier Erfolg bei Frauen gehabt, allerdings immer nur in der Sphäre, die bei den Kleinbürgern beginnt und bei den Abteilungsvorstehern endet; es ist bekannt, dass unter dem Kaiserreich der Krieg die Pariser Gesellschaft ein wenig dezimiert hatte, indem er die kraftvollen Männer auf das Schlachtfeld führte, und diesem Umstande ist vielleicht, wie ein großer Arzt gesagt hat, die Verweichlichung der Generation um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts zuzuschreiben.

Da Thuillier genötigt war, sich durch andere als geistige Vorzüge bemerkbar zu machen, so lernte er so gut Walzer tanzen, dass man ihn als Muster nannte; er hieß »der schöne Thuillier«, er spielte vollendet Billard, konnte Schattenrisse ausschneiden, und sein Freund Colleville verstand es, ihn so gut einzuüben, dass er modische Romanzen zu singen vermochte. Mit diesen kleinen Gesellschaftskünsten hatte er den äußerlichen Erfolg, der die Jugend zu täuschen und sie über ihre Zukunft zu verblenden pflegt. Von 1806 bis 1814 glaubte Fräulein Thuillier an ihren Bruder, wie die Prinzessin Orléans an Louis-Philippe; sie war stolz auf Jérôme, sie sah ihn schon als Generaldirektor, dank seinen Erfolgen, die ihm damals den Zutritt zu einigen Salons eröffneten, in denen er sicherlich ohne die Verhältnisse, die unter dem Kaiserreich aus der Gesellschaft ein buntes Allerlei gemacht hatten, niemals zugelassen worden wäre.

Aber die Triumphe des schönen Thuillier waren im allgemeinen von kurzer Dauer; die Frauen legten ebensowenig Wert darauf, ihn zu halten, wie er darauf, ewig an sie gefesselt zu sein; er hätte das Sujet für eine Komödie mit dem Titel »Der Don Juan wider Willen« abgeben können. Das Handwerk eines »Beau« ermüdete Thuillier dermaßen, dass er alt wurde; sein mit Runzeln bedecktes Gesicht, wie das einer alten Kokette, ließ ihn zwölf Jahre älter erscheinen, als er war. Von seinen Erfolgen hatte er nur die Gewohnheit beibehalten, sich im Spiegel zu betrachten, sich an die Taille zu fassen, um sie hervortreten zu lassen, und die Pose eines Tänzers anzunehmen, so dass über die Zeit hinaus, wo ihm seine Vorzüge Annehmlichkeiten verschaffen konnten, der Kontrakt, den er mit seinem Beinamen »der schöne Thuillier« geschlossen hatte, verlängert wurde!

Was im Jahre 1806 der Wahrheit entsprach, wurde im Jahre 1826 zur Lächerlichkeit. Er behielt noch einige Reste der Tracht eines Beau aus der Kaiserzeit bei, was übrigens seiner Würde eines früheren Vizechefs keinen Abbruch tat. Er trug weiterhin die weiße Krawatte mit zahlreichen Falten, in die das Kinn vergraben war, und deren beide Enden rechts und links die Passanten bedrohten, während sie von einem ziemlich zierlichen Knoten zusammengehalten wurde, der einstmals von schöner Hand geknüpft worden war. Er richtete sich ein wenig nach der Mode, trug den Hut sehr nach hinten geschoben und zog im Sommer Schuhe und feine Strümpfe an; seine langen Überröcke erinnerten an die Leviten des Kaiserreichs; er behielt auch das steife Jabot und die weiße Weste bei, spielte immer noch mit seinem Spazierstöckchen aus dem Jahre 1810 und hielt sich gebeugt. Wenn Thuillier über die Boulevards spazierte, so hätte niemand in ihm den Sohn eines Mannes vermutet, der für die Beamten des Finanzministeriums das Frühstück zubereitete und die Livree Ludwigs XVI. trug: er sah aus wie ein kaiserlicher Diplomat oder wie ein Unterpräfekt. Und Fräulein Thuillier begünstigte nicht nur ganz harmlos diese Schwäche ihres Bruders dadurch, dass sie ihn noch zu besonderer Sorgfalt für seine Person antrieb, was bei ihr nur eine Fortsetzung ihrer Anbetung war, sondern sie gewährte ihm auch alle häuslichen Freuden, indem sie in ihr Haus als Nachbarn eine Familie aufnahm, deren Existenz ein Seitenstück zu der ihrigen bildete.

Es handelt sich um Herrn Colleville, den intimen Freund Thuilliers; bevor aber Pylades geschildert werden kann, ist es um so unerlässlicher, mit Orestes zu Ende zu kommen, als erklärt werden muss, weshalb Thuillier, der schöne Thuillier, ohne Familie war, denn von einer Familie kann man nur sprechen, wo Kinder vorhanden sind; und hier muss nun eins von den tiefen Geheimnissen ans Licht gezogen werden, die im Privatleben vergraben liegen, und von denen nur Teile sichtbar werden, wenn bei einer sonst geheimgehaltenen Situation die Bedrängnisse allzu stark geworden sind: es handelt sich um das Privatleben von Frau und Fräulein Thuillier, denn bis jetzt haben wir nur das sozusagen öffentliche Leben Jérôme Thuilliers betrachtet.

Marie-Jeanne-Brigitte Thuillier, die vier Jahre älter war als ihr Bruder, wurde diesem vollständig aufgeopfert; es war leichter, dem einen eine Stellung zu verschaffen, als der andern eine Mitgift zu geben. Für gewisse Charaktere ist das Unglück ein Leuchtturm, der über die dunklen Tiefen des sozialen Lebens Licht verbreitet. Ihrem Bruder an Energie und Intelligenz überlegen, besaß Brigitte jenen Charakter, der sich unter den Hammerschlägen der Verfolgung zusammenpresst, hart wird, und eine große Widerstandsfähigkeit, um nicht zu sagen Unbeugsamkeit, erlangt. Auf ihre Unabhängigkeit eifersüchtig bedacht, wollte sie nicht in der Portierloge ihr Leben fortführen, sondern sich selbst ihr Geschick gestalten.

Vierzehn Jahre alt mietete sie sich ein Mansardenzimmer, wenige Schritte vom Finanzamt entfernt, das damals in der Rue Vivienne war, nicht weit von der Rue de la Vrillière, wo sich noch heute die Bank von Frankreich befindet. Mutig begann sie eine wenig bekannte Tätigkeit, die, dank den Protektoren ihres Vaters, ein Privileg genoss und die darin bestand, dass sie Säcke für die Bank, für die Schatzkammer und auch für große Finanzhäuser nähte. Im dritten Jahre beschäftigte sie schon zwei Arbeiterinnen. Ihre Ersparnisse ließ sie ins Staatsschuldbuch eintragen und besaß im Jahre 1814 bereits dreitausendsechshundert Franken, die sie im Verlaufe von fünfzehn Jahren beiseite gelegt hatte. Sie hatte wenig Ausgaben, aß fast alle Tage bei ihrem Vater, solange er lebte, und es ist ja bekannt, dass die Rente während der letzten Erschütterungen des Kaiserreichs nur einige Vierzig stand; so erklärt sich dieses anscheinend so außerordentliche Ergebnis von selbst.

Nach dem Tode des alten Portiers zogen Brigitte und Jérôme, die eine siebenundzwanzig, der andere dreiundzwanzig Jahre alt, zusammen. Der Bruder und die Schwester besaßen eine ganz ungewöhnliche Zuneigung zueinander. Wenn Jérôme, der damals auf der Höhe seiner Erfolge stand, in Geldverlegenheit war, so hatte seine Schwester, die grobe Wolle trug und von dem starken Faden, mit dem sie nähte, zerarbeitete Finger hatte, immer einige Louisdor für ihren Bruder übrig. In Brigittes Augen war Jérôme der schönste und reizendste Mann des französischen Kaiserreichs. Diesem geliebten Bruder die Wirtschaft zu führen, in seine Lindor- und Don Juan-Geheimnisse eingeweiht zu werden, seine Dienerin, sein Pudel zu sein, das war der Traum Brigittes; sie war beinahe verliebt in den Gedanken, sich für ihr Idol aufopfern zu können, dessen Egoismus durch ihre Opfer noch vergrößert wurde. Sie verkaufte ihre Kundschaft für fünfzehntausend Franken an ihre erste Arbeiterin und bezog mit Thuillier eine Wohnung in der Rue d'Argenteuil, wo sie sich zur Mutter, Beschützerin und Dienerin dieses »verhätschelten Lieblings der Damen« machte. Mit der bei einem Mädchen, das alles seiner Umsicht und seiner Arbeit verdankte, selbstverständlichen Klugheit, verheimlichte sie ihrem Bruder ihr Vermögen; sie musste fürchten, dass ein Mann, der sich für wohlhabend halten dürfte, es bald vergeudet haben würde, und trug nur sechshundert Franken zu den Wirtschaftsausgaben bei, was mit Jérômes achtzehnhundert Franken zusammen für den Jahresverbrauch hinreichte.

Vom ersten Tage ihres Zusammenlebens an hörte Thuillier auf seine Schwester wie auf ein Orakel, fragte sie bei den geringsten Anlässen um Rat, hatte kein Geheimnis vor ihr und ließ sie so das Bewusstsein ihrer Machtvollkommenheit, ihrer einzigen kleinen Charakterschwäche, auskosten. Die Schwester hatte ja auch dem Bruder alles geopfert und alle seine Wünsche zu den ihrigen gemacht; sie lebte ja nur für ihn. Der Einfluss Brigittes auf Jérôme verstärkte sich noch ganz erheblich durch seine Heirat, die sie gegen das Jahr 1814 zustande brachte.

Als sie sah, welchen heftigen Druck die neuen Männer der Restauration auf die Ämter ausübten, und besonders wie die frühere Gesellschaft die Bürgerlichen zurückdrängte, begriff Brigitte, und zwar um so deutlicher, als ihr Bruder sie darüber aufklärte, dass dieser soziale Umschwung ihre gemeinsamen Hoffnungen vernichtete. Für den schönen Thuillier war von dem Adel, der jetzt die bürgerlichen Kreise der Kaiserzeit von ihrem Platze verdrängte, nichts mehr zu erwarten!

Thuillier war nicht imstande, sich eine politische Meinung zu bilden, aber er empfand, ebensosehr wie seine Schwester, dass er das, was ihm noch von Jugend verblieben war, benutzen müsse, um einen entscheidenden Schritt zu tun. In einer solchen Situation musste ein auf ihre Stellung so eifersüchtiges Mädchen wie Brigitte daran denken, ebensowohl ihretwegen wie seinetwegen, ihren Bruder zu verheiraten; ihn glücklich machen konnte allein sie, und eine Frau Thuillier war nur ein zwar notwendiges, aber nebensächliches Beiwerk, damit er ein oder zwei Kinder haben könnte. Wenn auch Brigitte den ihrer Willenskraft entsprechenden Geist nicht besaß, so hatte sie doch instinktiv das Bewusstsein ihrer Herrschfähigkeit; sie hatte keinerlei Unterricht genossen, aber sie ging geradeswegs auf ihr Ziel los mit der Hartnäckigkeit einer Natur, die gewohnt ist, sich durchzusetzen. Sie verstand vortrefflich zu wirtschaften, hatte den Sinn für Sparsamkeit, das Verständnis für die Erfordernisse des täglichen Lebens und die Liebe zur Arbeit. Es war ihr daher klar, dass sie Jérôme niemals in einer höheren Sphäre als der ihrigen, wo die Familien sich über ihre häuslichen Verhältnisse informieren und sich an einer schon vorhandenen Leiterin des Haushaltes stoßen könnten, zu verheiraten vermöge; deshalb suchte sie in niedrigeren Gesellschaftsschichten nach Leuten, die sie blenden konnte, und sie fand auch in der Nähe eine passende Partie.

Der älteste Bankdiener, ein gewisser Lemprun, hatte eine einzige Tochter Celeste. Fräulein Celeste Lemprun war die dereinstige Erbin ihrer Mutter, der einzigen Tochter eines Landwirts. Das Vermögen bestand aus einigen Morgen Land in der Umgegend von Paris, die der alte Mann immer noch selbst bebaute; dann aus dem Vermögen des guten Lemprun, der zuerst bei der Firma Thélusson und der Firma Keller in Stellung gewesen, und dann zur Staatsbank bei ihrer Gründung übergetreten war. Lemprun, der damals Dienstleiter war, genoss Achtung und Ansehen bei der Direktion und bei den Kommissaren.

Daher setzte auch der Aufsichtsrat der Bank, als er von der Heirat Celestes mit einem achtbaren Beamten des Finanzministeriums hörte, ihr eine Gratifikation von sechstausend Franken aus. Diese Gratifikation, die zwölftausend Franken, die der Vater Lemprun seiner Tochter mitgab, und die zwölftausend Franken die Galard, der Gemüsezüchter aus Auteuil, spendete, machten zusammen eine Mitgift von dreißigtausend Franken aus. Der alte Galard und Herr und Frau Lemprun waren entzückt von dieser Verbindung; dem Dienstleiter war Fräulein Thuillier als eins der anständigsten und ehrenhaftesten Mädchen von Paris bekannt. Brigitte verstand es im übrigen, ihre Eintragungen ins Staatsschuldbuch ins rechte Licht zu setzen, und gab Lemprun vertraulich die Versicherung, dass sie sich nie verheiraten würde, und weder der Dienstleiter noch seine Frau, Leute aus dem goldenen Zeitalter, hätten gewagt, an Brigittes Wort zu zweifeln. Ihnen imponierte besonders die glänzende Stellung Thuilliers, und die Hochzeit fand, wie die geheiligte Formel lautet, zu allseitiger Zufriedenheit statt.

Der Gouverneur und der Sekretär der Bank waren Trauzeugen der Braut, ebenso wie Herr von Billardière, der Abteilungsvorsteher, und Herr Rabourdin, der Bürochef, die des Bräutigams waren. Sechs Tage nach der Hochzeit wurde der alte Lemprun das Opfer eines frechen Diebstahls, von dem damals in den Zeitungen die Rede war, der aber über den Ereignissen von 1814 in Vergessenheit geriet. Die Diebe hatten sich allen Nachforschungen entzogen und Lemprun wollte den Verlust bezahlen; aber obgleich die Bank ihn auf ihr Gewinn- und Verlustkonto übernehmen wollte, starb der arme Alte an dem Kummer, den ihm dieser Schimpf verursachte. Er sah diesen Handstreich als ein Attentat auf seine siebzigjährige Ehrlichkeit an.

Frau Lemprun überließ ihr Erbteil Frau Thuillier, ihrer Tochter, und zog zu ihrem Vater nach Auteuil; dieser starb infolge eines Unfalls im Jahre 1817. Da sie davor zurückschrak, die Gemüsezucht und die Feldwirtschaft ihres Vaters selbst zu leiten oder zu verpachten, so bat Frau Lemprun Brigitte, deren Fähigkeit und Ehrlichkeit sie bewunderte, den Besitz des guten Galard zu liquidieren und die Angelegenheit so zu arrangieren, dass ihre Tochter alles bekäme und ihr nur eine Rente von fünfzehnhundert Franken zugesichert und das Haus in Auteuil überlassen würde. Das Gelände des alten Landwirts erbrachte, in Parzellen verkauft, dreißigtausend Franken. Lemprun hatte ebensoviel hinterlassen und so betrug das Vermögen von beiden Seiten zusammen mit der Mitgift im Jahre 1818 neunzigtausend Franken.

Die Mitgift war in Aktien der Bank angelegt worden, als diese neunhundert standen. Brigitte kaufte für sechzigtausend Franken fünftausend Franken Rente, als die fünfprozentige sechzig stand und ließ auf den Namen der Witwe Lemprun als Nutznießerin fünfzehnhundert Franken eintragen. So gewährten zu Beginn des Jahres 1818 die Pension von sechshundert Franken, die Brigitte bezahlte, die dreitausendfünfhundert Franken, die Thuillier Gehalt hatte, die dreitausendfünfhundert Franken Rente Celestes und die Dividende der vierunddreißig Aktien der Bank der Familie Thuillier ein Einkommen von elftausend Franken, über die, ohne die andern zu fragen, Brigitte verfügte. Es war nötig, sich zunächst mit dieser Geldfrage zu befassen, nicht nur um etwaigen Einwürfen zu begegnen, sondern auch um den tragischen Verlauf klarzulegen.

Anfangs gab Brigitte ihrem Bruder monatlich fünfhundert Franken und lenkte das Schiff so, dass der Haushalt mit fünftausend Franken bestritten wurde; ihrer Schwägerin bewilligte sie monatlich fünfzig Franken, wobei sie hervorhob, dass sie sich für ihren Teil mit vierzig begnügte. Um ihre Oberherrschaft noch durch die Macht des Geldes zu festigen, verschaffte sich Brigitte noch einen Zuschuss zu ihren Renten; sie machte, wie man sich in den Büros erzählte, Darlehngeschäfte durch Vermittlung ihres Bruders, der als ein Geschäftstalent galt. Wenn Brigitte von 1813 bis 1830 ein Kapital von sechzigtausend Franken zusammenbrachte, so ließ sich ein solcher Betrag aber auch durch geschäftliche Operationen mit der Staatsrente, die in ihrem Kurse um vierzig Prozent schwankte, erklären, ohne dass man auf diese mehr oder weniger begründeten Anschuldigungen zu hören brauchte, die, auch wenn sie wahr wären, für diese Geschichte kein Interesse böten.

Vom ersten Tage ab unterwarf sich Brigitte die unglückliche Frau Thuillier mit Spornstößen und Anziehen der Zügel, die sie sie hart fühlen ließ. Aber dieses Übermaß von Tyrannei war unnötig; das Opfer unterwarf sich sofort. Celeste war, wie Brigitte sie richtig beurteilte, ohne Geist, ohne Kenntnisse, gewöhnt, zu Hause in aller Ruhe zu leben, und besaß einen Charakter von außergewöhnlicher Sanftmut; sie war fromm im umfassendsten Sinne dieses Wortes; sie hätte für ein Unrecht, dass sie unwissentlich ihrem Nächsten angetan hätte, die härteste Buße auf sich genommen. Vom Leben hatte sie keine Ahnung; gewöhnt, von ihrer Mutter bedient zu werden, die selber die Wirtschaft besorgte, und genötigt, sich wegen ihrer lymphatischen Konstitution, die sie bei der geringsten Arbeit ermüden ließ, nur wenig zu bewegen, war sie so recht ein Pariser Volkskind, eins von jenen selten hübschen Produkten des Elends, der übermäßigen Arbeit, der stickigen Wohnungen, ohne Bewegung in freier Luft und aller Bequemlichkeiten des Lebens beraubt.

Nach ihrer Heirat war Celeste eine kleine, widerwärtig fade Blondine, dick, träge und sehr dumm. Ihre zu große und übermäßig vorspringende Stirn ähnelte der eines Wasserkopfes, das unverhältnismäßig kleine Gesicht unter dieser wachsfarbenen Kuppel lief spitz wie ein Mäuseschnäuzchen aus und ließ bei manchen Besuchern die Ansicht aufkommen, dass sie früher oder später irrsinnig werden würde. Ihre blassblauen Augen und ihr fast starres Lächeln auf den Lippen widersprach dem nicht. An ihrem Hochzeitstage machte sie in ihrer Haltung, ihrem Aussehen und ihrem Benehmen den Eindruck einer zum Tode Verurteilten, die nur den Wunsch hat, dass alles möglichst bald zu Ende sein möchte.

»Sie hat etwas von einem Kloß! ...« sagte Colleville zu Thuillier.

Brigitte drang in dieses Wesen, zu dem sie den schärfsten Kontrast darstellte, wie ein Dolch ein. Sie selbst war von regelmäßiger, fehlerfreier Schönheit, die nur von den Anstrengungen schwerer, mühevoller Arbeit von klein auf und von den Entbehrungen, die sie sich im stillen auferlegte, um Ersparnisse machen zu können, zerstört worden war. Ihr frühzeitig fleckig gewordener Teint schimmerte wie Stahl. Ihre braunen Augen waren von dunklen Ringen umzogen, oder vielmehr zerdrückt; auf der Oberlippe lag wie ein Hauch ein brauner Flaum; die Lippen waren schmal und über ihrer Herrscherstirn thronten früher schwarze, jetzt wie Chinchilla schimmernde Haarflechten. Sie hielt sich gerade, wie eine schöne Blondine, und alles an ihr zeugte von harter Arbeit und gedämpftem Feuer; sie hatte, wie die Gerichtsvollzieher sagen, »die Kosten des Verfahrens« zu tragen.

Für Brigitte war Celeste nur ein Vermögen, das man sich angeeignet hatte, eine, die als Mutter zu dienen, ein Subjekt mehr, dem sie zu befehlen hatte. Sie warf ihr sehr bald ihre »Schlappheit«, wie sie sich ausdrückte, vor, und das eifersüchtige Mädchen, das eine tätige Schwägerin zur Verzweiflung gebracht hätte, fand ein grausames Vergnügen darin, dieses schwache Wesen aus seiner Untätigkeit aufzurütteln. Celeste, die sich schämte, dass ihre Schwägerin alle Stubenarbeit und die Küche so eifrig besorgte, versuchte, ihr zu helfen; aber davon wurde sie krank; sofort war Brigitte eifrig um Frau Thuillier besorgt, pflegte sie wie eine liebe Schwester und sagte vor Thuillier zu ihr: »Du hast keine Kräfte, also darfst du nichts anfassen, Kleine! ...« Mit diesem zur Schau getragenen Troste, der Celestes Unfähigkeit noch betonte, zeigte sie, wie die Kraft ihr zärtliches Mitleid mit der Schwäche dazu benutzt, um sich selber zu rühmen.

Und weil despotische Naturen, die ihre Kräfte gern zeigen, voll zarten Empfindens gegen körperlich Leidende sind, so pflegte sie ihre Schwägerin so gut, dass Celestes Mutter, wenn sie ihre Tochter besuchte, zufrieden war. Als Frau Thuillier aber wiederhergestellt war, nannte sie sie wieder, und zwar so, dass sie es hören musste, »krankes Gewächs, zu nichts zu gebrauchen usw.« Dann ging Celeste weinend in ihr Zimmer, und wenn Thuillier sie in Tränen überraschte, entschuldigte er seine Schwester, indem er sagte:

»Sie ist ein vortrefflicher Mensch, aber sie ist zu lebhaft; sie liebt dich auf ihre Art; mit mir macht sie es ebenso.«

Celeste, die daran dachte, wie mütterlich ihre Schwägerin für sie gesorgt hatte, verzieh ihr. Ihren Bruder behandelte Brigitte übrigens als Herrn des Hauses: sie rühmte ihn vor Celeste und machte aus ihm einen Autokraten, einen Ladislaus, einen unfehlbaren Papst. Frau Thuillier, die keinen Vater und Großvater mehr hatte, und ihre Mutter, die nur an den Donnerstagen zu ihr kam, und welche sie im Sommer Sonntags besuchte, nur wenig sah, besaß als Gegenstand ihrer Liebe nur ihren Mann, erstens weil er ihr Mann war und dann, weil er für sie der schöne Thuillier blieb. Er behandelte sie auch manchmal wie seine Frau, und alle diese Gründe machten ihn für sie anbetungswürdig. Er erschien ihr um so vollkommener, als er sie oft verteidigte und mit seiner Schwester schalt, obwohl das nicht aus Interesse für seine Frau geschah, sondern aus Egoismus und um in der kurzen Zeit, die er zu Hause verbrachte, Ruhe zu haben.

Der schöne Thuillier erschien zu Hause nur zum Essen und spät abends zum Schlafen; er besuchte Bälle in seinem Gesellschaftskreise, und zwar immer allein, ganz so, als ob er noch Junggeselle wäre. So waren die beiden Frauen immer mit sich allein. Unmerklich gewöhnte sich Celeste an ihre passive Rolle und wurde das, was Brigitte wollte: ihre Sklavin. Die Königin Elisabeth dieses Haushalts ging nun von ihrem herrschsüchtigen Benehmen zu einer Art mitleidigen Verhaltens gegen dieses Opferlamm, das sich dauernd aufopferte, über. Sie mäßigte schließlich ihr hochmütiges Wesen, ihre verletzenden Redensarten und ihren verächtlichen Ton, nachdem sie sich überzeugt hatte, dass ihre Schwägerin ihr Joch willig trug.

Und als sie bemerkte, dass die Kette den Hals ihres Opfers wund rieb, sorgte sie für es als für eine ihr gehörige Sache, und Celeste lernte bessere Zeiten kennen. Wenn sie diesen Verlauf mit dem Anfang verglich, so fühlte sie eine gewisse Zuneigung für ihren Henker. Um irgendeine Möglichkeit, sich zu verteidigen, zu finden, um irgend etwas in diesem Hause, das ohne ihr Wissen von ihrem Vermögen lebte, ohne dass sie mehr als die vom Tische gefallenen Brosamen bekam, zu werden, dafür bot sich für die arme Sklavin nur eine Aussicht, aber diese Aussicht erfüllte sich nicht.

Nach sechsjähriger Ehe hatte Celeste noch kein Kind bekommen. Diese Unfruchtbarkeit, die sie allmonatlich Ströme von Tränen vergießen ließ, erregte lange Zeit Verachtung bei Brigitte, die ihr vorwarf, dass sie zu gar nichts tauge, nicht einmal zum Kinderkriegen. Die alte Jungfer, die so sehr darauf gerechnet hatte, ein Kind ihres Bruders wie ein eigenes liebhaben zu können, brauchte lange Zeit, um sich an den Gedanken einer solchen unheilbaren Unfruchtbarkeit zu gewöhnen.

Zur Zeit, da diese Geschichte beginnt, im Jahre 1840, hatte Celeste, nun sechsundvierzig Jahre alt, aufgehört, darüber zu weinen, nachdem sie die traurige Gewissheit erlangt hatte, dass sie niemals Mutter werden würde. Merkwürdig! Nach fünfundzwanzig Jahren häuslichen Zusammenlebens, nachdem ihr Sieg den Dolch stumpf gemacht und zerbrochen hatte, liebte Brigitte Celeste ebenso, wie Celeste sie liebte. Die Zeit, die Gewohnheit, das beständige Nebeneinander im Hause, das die Ecken abgestumpft und die Rauheiten abgeschliffen hatte, ihre Ergebung und ihre Lammesgeduld – alles zusammen verschaffte Celeste einen heiteren Lebensherbst. Beide Frauen hatten ja dasselbe gemeinsame Gefühl, das sie belebte: sie beteten beide den glücklichen egoistischen Thuillier an.

Und endlich hatten die beiden Frauen, alle beide kinderlos, wie alle Frauen, die sich vergeblich nach Kindern gesehnt haben, sich in ein Kind verliebt. Diese fingierte Mutterschaft, die aber so stark war wie eine wirkliche, verlangt eine Auseinandersetzung, die auf den Kernpunkt dieses Dramas führt und zugleich die Gründe für einen Zuwachs an Beschäftigung angibt, die Fräulein Thuillier für ihren Bruder gefunden hatte.

Thuillier war als Supernumerar zusammen mit Colleville eingetreten, von dem, als seinem intimen Freunde, schon die Rede gewesen ist. Neben die ruhige und so geregelte Wirtschaft Thuilliers hatte das Geselligkeitsbedürfnis die Collevilles als Kontrast hingesetzt, und wenn man auch unmöglich übersehen kann, dass es ein auf den Zufall gestellter und kein bewusster Kontrast war, so muss doch hinzugefügt werden, dass man Schlüsse daraus besser erst am Ende dieses Dramas zieht, das unglücklicherweise nur allzuwahr, für das im übrigen aber der Erzähler nicht verantwortlich ist.

Dieser Colleville war der Sohn eines talentvollen Musikers, der vordem an der Oper unter Franceur und Rebel die erste Violine spielte. Bei seinen Lebzeiten erzählte er mindestens sechsmal im Monat Anekdoten von den Aufführungen des »Dorfpropheten« und machte Jean-Jacques Rousseau wundervoll nach. Colleville und Thuillier waren unzertrennliche Freunde; sie hatten keine Geheimnisse voreinander, und ihre Freundschaft, die mit fünfzehn Jahren begonnen hatte, war bis zum Jahre 1839 ungetrübt geblieben.

Colleville war einer von den Beamten, die in den Büros mit »Betriebsvetter« bezeichnet werden. Diese Beamten zeichnen sich durch ihre Betriebsamkeit aus. Colleville, ein guter Musiker, verdankte dem Namen und dem Einflusse seines Vaters die Stelle als erster Klarinettist an der Komischen Oper, und solange er Junggeselle war, teilte er, da er etwas mehr als Thuillier hatte, häufig mit seinem Freunde. Aber im Gegensatz zu Thuillier schloss Colleville eine Neigungsheirat, indem er zur Frau Fräulein Flavia nahm, die natürliche Tochter einer berühmten Tänzerin an der Oper, ein angebliches Kind von du Bourguier, einem der reichsten Lieferanten dieser Zeit, der, nachdem er sich im Jahre 1800 ruiniert hatte, sich um so weniger um seine Tochter kümmerte, als er Zweifel an der Treue der berühmten Tänzerin hegte.

Ihrem Äußeren und ihrer Herkunft nach sah sich Flavia zu einem ziemlich traurigen Handwerk bestimmt, als Colleville, der häufig mit der reichen ersten Kraft der Oper zu tun hatte, sich in Flavia verliebte und sie heiratete. Der Fürst Galathionne, der im September 1815 der Protektor der berühmten Tänzerin war, die damals am Ende ihrer glänzenden Laufbahn stand, gab Flavia eine Mitgift von zwanzigtausend Franken, und die Mutter fügte dem eine prachtvolle Ausstattung hinzu. Die ständigen Gäste des Hauses und die Kameraden an der Oper schenkten Schmucksachen und Geschirr, so dass Collevilles Haushalt viel reicher an Überflüssigem als an Kapital war. Flavia, im Überfluss aufgewachsen, bezog zuerst eine reizende Wohnung, die der Lieferant ihrer Mutter möblierte, und hier thronte die junge Frau, die voll Geschmack für die Künste, die Künstler und für eine gewisse Eleganz des Lebens war.

Frau Colleville war hübsch und pikant, geistvoll, lustig, liebenswürdig und, alles zusammengenommen, ein guter Kerl. Im Alter von dreiundvierzig Jahren verließ die Tänzerin das Theater und zog sich aufs Land zurück, und so sah sich ihre Tochter der Hilfsquellen beraubt, die ihr ihre verschwenderische Üppigkeit gewährt hatte. Frau Colleville führte ein sehr angenehmes Haus, das aber außerordentlich kostspielig war. Sie gebar zwischen den Jahren 1816 und 1826 fünf Kinder. Abends Musiker, führte Colleville morgens von sieben bis neun Uhr einem Kaufmann die Bücher. Um zehn Uhr erschien er in seinem Büro. Und indem er so abends in ein Stück Holz blies und morgens an der doppelten Buchführung schrieb, verdiente er sich jährlich sieben- bis achttausend Franken.

Frau Colleville spielte die vornehme Dame; sie empfing Mittwochs, hatte alle Monat ein Konzert bei sich und gab alle vierzehn Tage ein Diner. Colleville sah sie nur beim Essen und spät, wenn er um Mitternacht heimkehrte; oft war sie dann selbst noch nicht zu Hause. Sie ging ins Theater, da sie manchmal Logenplätze geschenkt bekam, und benachrichtigte Colleville mit ein paar Worten, dass er sie in dem und dem Hause, wo sie tanzte oder soupierte, abholen solle. Man speiste vortrefflich bei Frau Colleville, und die etwas gemischte Gesellschaft amüsierte sich dort ausgezeichnet; sie sah berühmte Schauspielerinnen bei sich, Maler, Schriftsteller und einige reiche Leute. Frau Colleville war ebenso elegant wie Tullia, die erste Tänzerin an der Oper, die sie oft besuchte; aber wenn die Collevilles auch alles, was sie hatten, verbrauchten und am Monatsende häufig in Verlegenheit waren, so machte Flavia doch niemals Schulden.

Colleville war sehr glücklich; er liebte seine Frau immer noch und war immer noch ihr bester Freund. Stets mit liebevollem Lächeln und mit gewinnender Herzlichkeit empfangen, unterwarf er sich ihrer reizenden Art und ihrem unwiderstehlichen Zauber. Die wilde Arbeitslust, die er in seinen drei Berufen entwickelte, entsprach übrigens seinem Charakter und seinem Temperament. Er war ein kräftiger Kerl, von frischer Gesichtsfarbe, gutmütig, freigebig und voll guter Laune. Im Verlaufe von zehn Jahren gab es kein einziges Mal Streit in seinem Hause. In den Büros galt er als ein Leichtfuß, wofür man dort alle Künstler hielt, und oberflächliche Leute hielten seine beständige Arbeitshast für das Hin und Her eines Wirrkopfes.

Colleville war so klug, sich dumm zu stellen; er rühmte sein häusliches Glück und gab sich die größte Mühe, Anagramme zu fabrizieren, um als ein Mann zu erscheinen, der von dieser Leidenschaft ganz in Anspruch genommen wird. Die Beamten seiner Abteilung im Ministerium, die Bürochefs, ja selbst die Abteilungsvorsteher kamen zu seinen Konzerten; von Zeit zu Zeit und bei passender Gelegenheit verteilte er unter der Hand Theaterbilletts, denn er war auf eine außerordentliche Nachsicht bei seinem beständigen Wegbleiben vom Dienste angewiesen. Die Proben nahmen ihm die Hälfte seiner Dienststunden weg, aber seine vom Vater ererbten musikalischen Fähigkeiten waren bedeutend genug, um ihm zu erlauben, nur bei den Generalproben anwesend zu sein. Dank den Beziehungen der Frau Colleville genügten das Theater und das Ministerium den Bedürfnissen des ehrenwerten Vielarbeiters, der übrigens seinerseits einen kleinen jungen Menschen, den ihm seine Frau warm empfohlen hatte, verhätschelte, einen Musiker mit großen Zukunftshoffnungen, der ihn im Orchester vertrat und sein Nachfolger werden sollte.

In der Tat wurde um das Jahr 1827, als Colleville seinen Abschied nahm, dieser junge Mann erster Klarinettist. Alle Kritik, die Flavia erfuhr, bestand in dem Satze: Sie ist »eine kleine Spur« kokett, die Frau Colleville! Die älteste Tochter, geboren 1816, war das leibhaftige Ebenbild des guten Colleville. Im Jahre 1818 bevorzugte Frau Colleville die Kavallerie vor allem anderen, selbst vor den Künsten, und zeichnete einen Unterleutnant der Dragoner von Saint-Chamans, den jungen reichen Charles Gondreville aus, der später im spanischen Feldzuge fiel; inzwischen hatte sie ein zweites Kind, einen Sohn, geboren, den sie für die militärische Karriere bestimmte. 1820 erklärte sie die Banken für die Ernährer der Industrie und die Stützen des Staates, und der große Keller, der berühmte Redner, war ihr Idol; sie bekam damals einen Sohn, Franz, den sie später Kaufmann werden lassen wollte, und dem die Protektion Kellers sicher niemals fehlen würde. Gegen Ende des Jahres 1820 fühlte Thuillier, der intime Freund von Herrn und Frau Colleville und Flavias Bewunderer, das Bedürfnis, seinen Schmerz am Busen dieser vortrefflichen Frau auszuweinen; seit sechs Jahren machte er vergebliche Versuche, ein Kind zu bekommen; der liebe Gott segnete seine Bemühungen nicht, denn die arme Frau Thuillier verrichtete ihre neuntägigen Andachten vergeblich; und sie war dazu bis nach Notre Dame de Liesse gegangen! Er schilderte ihr Celeste nach allen Richtungen hin, und die Worte: »Armer Thuillier!« fielen von den Lippen der Frau Colleville, die auch ihrerseits ziemlich betrübt war; sie hatte damals keine ausgesprochene Vorliebe für irgend jemanden. Und so weinte auch sie ihren Kummer an Thuilliers Herzen aus. Der große Keller, dieser Heros der liberalen Partei, war in Wirklichkeit ein kleinlicher Mensch; sie hatte die Kehrseite der Berühmtheiten, die Torheiten der Bankwelt, die Härte eines Volkstribunen kennengelernt. Der Redner sprach nur in der Kammer und hatte sich ihr gegenüber sehr schlecht benommen; Thuillier war darüber entrüstet. »Nur die Einfältigen verstehen zu lieben,« sagte er, »nehmen Sie mich doch!« Es hieß, dass der schöne Thuillier Frau Colleville ein klein wenig den Hof mache, und er wurde einer ihrer »Anbeter«, ein Wort, das aus der Zeit des Kaiserreichs stammte.

»Ach, du bemühst dich um meine Frau!« sagte Colleville lachend zu ihm; »nimm dich in acht, sie wird dich ebenso wie alle die andern abblitzen lassen.«

Eine feine Wendung, mit der Colleville seine Manneswürde in den Büros aufrecht erhielt. Von 1820 bis 1821 fühlte sich Thuillier in seiner Eigenschaft als Hausfreund veranlasst, Colleville, der ihm früher so oft ausgeholfen hatte, beizuspringen, und lieh im Verlaufe von anderthalb Jahren der Familie Colleville etwa zehntausend Franken, wovon niemals die Rede sein sollte. Im Frühjahr 1821 wurde Frau Colleville von einem reizenden Mädchen entbunden, dessen Paten Herr und Frau Thuillier waren; sie wurde deshalb Celeste-Louise-Caroline-Brigitte genannt. Denn auch Fräulein Thuillier wollte dem kleinen Engel einen ihrer Vornamen geben.

Der Name Caroline war eine Aufmerksamkeit für Colleville. Die alte Frau Lemprun nahm es auf sich, das kleine Wesen zu einer Amme nach Auteuil zu geben, wo sie es unter ihrer Aufsicht hatte und wo Celeste und ihre Schwägerin es zweimal wöchentlich besuchten. Sobald Frau Colleville wieder aufgestanden war, sagte sie offen, aber ernsthaft zu Thuillier:

»Wenn wir gute Freunde bleiben wollen, mein Lieber, dann dürfen Sie nicht mehr als unser Freund sein wollen; Colleville liebt Sie ja, und wenn es einer im Hause tut, so genügt das.«

»Erklären Sie mir doch,« sagte der schöne Thuillier zu der Tänzerin Tullia, die sich gerade bei Frau Colleville befand, »weshalb die Frauen mich nicht lieb behalten wollen. Ich bin ja gewiss kein Apollo von Belvedere, aber doch auch kein Vulkan; ich sehe erträglich aus, ich habe Geist, ich bin treu ...«

»Wollen Sie die Wahrheit wissen?« erwiderte Tullia.

»Jawohl«, sagte der schöne Thuillier.

»Also, wenn wir auch mal ein Vieh lieben können, so lieben wir doch nie einen Dummkopf.«

Dieses Wort vernichtete Thuillier, und er kam nicht mehr auf die Sache zurück; er war seitdem melancholisch und schalt auf die Launen der Weiber.

»Habe ich dir das nicht vorhergesagt? ...« sagte Colleville. »Ich bin kein Napoleon, mein Lieber, und ich möchte auch keiner sein; aber ich besitze eine Josephine, ... eine Perle!«

Der Generalsekretär des Ministeriums, des Lupeaulx, dem Frau Colleville mehr Einfluss zugetraut hatte, als er besaß, und von dem sie später zu sagen pflegte: »Der war einer von denen, in welchen ich mich geirrt habe ...«, war damals eine Zeitlang der große Mann im Salon Colleville; aber da er nicht imstande war, Colleville in die Abteilung Bois-Levant zu bringen, war Flavia so klug, seine Bemühungen um Frau Rabourdin, die Gattin des Bürochefs, übelzunehmen, eine Zierpuppe, wie sie sich ausdrückte, die sie niemals eingeladen und ihr gegenüber zweimal sich herausgenommen hatte, nicht zu ihren Konzerten zu kommen.

Frau Colleville war tief erschüttert von dem Tode des jungen Gondreville; sie war untröstlich; sie erblickte darin, wie sie sagte, die Hand Gottes. Im Jahre 1824 wurde sie häuslich, redete vom Sparen, gab ihre Empfangsabende auf, beschäftigte sich mit ihren Kindern, wollte eine gute Hausmutter sein, und ihre Freunde hörten nicht, dass sie jemanden bevorzugte; sie ging in die Kirche, kleidete sich einfach, in graue Farben, und redete über Katholizismus und über Schicklichkeit; und diese Richtung aufs Geistliche ließ im Jahre 1825 ein reizendes Kind zur Welt kommen, das sie Theodor nannte, das heißt »Gottesgeschenk«.

So wurde auch Colleville im Jahre 1826, der schönen Zeit der Kongregationen, zum Vizechef in der Abteilung Clergeot ernannt und im Jahre 1828 zum Steuereinnehmer eines Pariser Bezirks. Er erhielt das Kreuz der Ehrenlegion, so dass er einmal seine Tochter in Saint-Denis würde erziehen lassen können. Die halbe Freistelle, die Keller für Charles, das älteste Kind Collevilles, im Jahre 1823 durchgesetzt hatte, wurde auf den zweiten Sohn übertragen; Charles erhielt eine volle Freistelle im Gymnasium Saint-Louis, und der dritte Sohn, ein Schützling der Dauphine, bekam eine Dreiviertel-Freistelle am Gymnasium Henri IV.

Im Jahre 1830 war Colleville, der das Glück hatte, dass ihm alle seine Kinder erhalten geblieben waren, genötigt, wegen seiner Anhänglichkeit an die alte Linie des Königshauses seinen Abschied zu nehmen; aber er verstand das so geschickt zu bewerkstelligen, dass er mit Rücksicht auf seine Dienstzeit eine Pension von zweitausendvierhundert und von seinem Nachfolger eine Abfindungssumme von zehntausend Franken erhielt und zum Offizier der Ehrenlegion befördert wurde. Trotzdem befand er sich in schwieriger Lage, und so riet ihm im Jahre 1832 Fräulein Thuillier, in ihr Haus zu ziehen, wobei sie die Aussicht durchblicken ließ, dass er eine Stelle in der städtischen Verwaltung erhalten könne, was ihm auch nach vierzehn Tagen gelang und ihm ein Einkommen von tausend Talern einbrachte.

Charles Colleville war eben in die Marineschule eingetreten. Die Gymnasien, in denen die beiden andern kleinen Collevilles erzogen wurden, lagen in ihrem Stadtviertel. Das Seminar von Saint-Sulpice, in das dereinst der Jüngste kommen sollte, war nur wenige Schritte vom Luxembourg entfernt. Endlich wollten Thuillier und Colleville ihr Leben zusammen beendigen. Im Jahre 1833 zog Frau Colleville, damals fünfunddreißig Jahre alt, mit Celeste und dem kleinen Theodor nach der Rue d'Enfer, an der Ecke der Rue des Deux-Eglises. Colleville hatte es gleich weit nach dem Rathause und nach der Rue Saint-Dominique. So sah sich das Ehepaar nach einem abwechselnd glänzenden und entbehrungsreichen, festlichen und zurückgezogenen ruhigen Leben ins kleinbürgerliche Dunkel mit einem Einkommen von fünftausendvierhundert Franken als einzigem Vermögen zurückgeworfen.

Celeste war damals vierzehn Jahr alt; sie versprach hübsch zu werden; sie musste Lehrer haben, das erforderte eine Ausgabe von mindestens zweitausend Franken jährlich. Die Mutter hielt es für nötig, dass sie unter den Augen ihrer Paten lebe. Deshalb hatte sie den, im übrigen sehr verständigen Vorschlag des Fräuleins Thuillier angenommen, die ihr, ohne sich zu binden, ziemlich deutlich zu verstehen gab, dass die Vermögen ihres Bruders, ihrer Schwägerin und auch das ihrige dereinst Celeste zufallen würden. Das kleine Mädchen war bis zu seinem siebenten Jahre in Auteuil geblieben, angebetet von der guten alten Frau Lemprun, die im Jahre 1829 starb und zwanzigtausend Franken nebst dem Hause hinterließ, das für die enorme Summe von achtundzwanzigtausend Franken verkauft wurde. Der kleine Schelm hatte bis zum Jahre 1829, wo er in das elterliche Haus zurückkehrte, seine Mutter wenig, aber Fräulein und Frau Thuillier sehr häufig gesehen. Im Jahre 1833 kam sie unter die Zucht Flavias, die damals sehr bemüht war, ihre Pflichten zu erfüllen, und das wie alle Frauen, die Gewissensbisse haben, übertrieb. Ohne eine schlechte Mutter zu sein, hielt Flavia ihre Tochter sehr strenge; sie dachte an ihre eigene Erziehung und schwor sich heimlich zu, aus Celeste eine anständige und nicht eine leichtfertige Frau zu machen. Sie nahm sie daher zur Messe mit und ließ sie unter der Leitung eines Pariser Pfarrers, der später Bischof wurde, einsegnen. Celeste war um so frömmer, als ihre Patin, Frau Thuillier, eine wahre Heilige war; das Kind betete seine Patin an; es empfand, dass es von der armen, verlassenen Frau heißer geliebt wurde als von seiner eigenen Mutter.

Von 1833 bis 1840 erhielt sie eine nach bürgerlichen Begriffen ausgezeichnete Erziehung. Die besten Musiklehrer machten eine ziemlich gute Musikerin aus ihr; sie konnte sauber in Aquarell malen, tanzte wundervoll und hatte Französisch, Geschichte, Geographie, Englisch und Italienisch gelernt, kurz alles, was zu der vollendeten Erziehung einer jungen Dame gehört. Mittelgroß, etwas dick und kurzsichtig, war sie weder hässlich noch hübsch, hatte weder einen weißen noch einen leuchtenden Teint und war gänzlich ohne vornehme Manieren. Sie war von zurückgehaltener Empfindlichkeit, und ihr Pate, ihre Patin, Fräulein Thuillier und ihr Vater waren darüber einig, dass Celeste warme Anhänglichkeit, eine Tugend, an die sich alle Mütter klammern, besaß. Schön war ihr prachtvolles aschblondes Haar; aber Hände und Füße verrieten ihre kleinbürgerliche Herkunft.

Celeste hatte sehr wertvolle Eigenschaften: sie war gut, einfach, ohne jede böse Regung; sie liebte ihren Vater und ihre Mutter und hätte sich für sie aufgeopfert. In tiefer Verehrung für ihren Paten, für Brigitte, die sich von ihr »Tante Brigitte« nennen ließ, für Frau Thuillier und für ihre Mutter aufgewachsen, die sich wieder mehr und mehr dem alten Beau der Kaiserzeit näherte, hatte Celeste den höchsten Begriff von dem früheren Vizechef. Der Pavillon der Rue Saint-Dominique machte auf sie einen Eindruck, wie das Tuilerienschloss auf einen Hofmann der jungen Dynastie.

Thuillier hatte der aufreibenden Arbeit seiner Verwaltungstätigkeit nicht Stand halten können, die ihn abmagern ließ, je umfangreicher sie wurde. Von dieser langweiligen Tätigkeit ebenso abgebraucht wie von seinen Erfolgen als Liebhaber, hatte der ehemalige Vizechef schon alle seine Vorzüge eingebüßt, als er in die Rue Saint-Dominique kam; aber sein müdes Gesicht mit hochmütigem Ausdruck im Verein mit einer gewissen Selbstzufriedenheit, die an die gesuchte Haltung eines höheren Beamten erinnerte, machte einen lebhaften Eindruck auf Celeste. Sie allein schwärmte für dieses bleiche Gesicht. Sie wusste, dass sie die Freude des Hauses Thuillier war.

Die Collevilles und ihre Kinder bildeten natürlich den Mittelpunkt der Gesellschaft, die Fräulein Thuillier um ihren Bruder zu versammeln den Ehrgeiz hatte. Ein früherer Beamter der Abteilung la Billiardière, der seit mehr als dreißig Jahren im Stadtviertel Saint-Jacques wohnte, Herr Phellion, Bataillons-Kommandeur der Legion, wurde sogleich bei der ersten Begegnung von dem früheren Steuereinnehmer und Vizechef wieder begrüßt. Phellion war einer der angesehensten Männer in seinem Bezirk. Er hatte eine Tochter, eine ehemalige Unterlehrerin am Pensionat Lagrave; die mit einem Lehrer aus der Rue Saint-Hyacinthe, Herrn Barniol, verheiratet war.

Der ältere Sohn Phellions war Professor der Mathematik an einem königlichen Gymnasium; er gab Unterricht, Nachhilfestunden und widmete sich, wie sein Vater sich ausdrückte, der reinen Mathematik. Der zweite Sohn war auf der Ingenieurschule. Phellion hatte neunhundert Franken Pension und eine Rente von neuntausend und einigen hundert Franken, das Resultat seiner Ersparnisse und der seiner Frau aus dreißigjähriger Arbeit und Entbehrung. Er besaß außerdem ein kleines Haus mit einem Garten in der Gasse des Feuillantines. (In dreißig Jahren hatte er nicht ein einziges Mal den alten Ausdruck »Sackgasse« gebraucht.) Dutocq, Gerichtsvollzieher beim Friedensgericht, war früher Beamter im Finanzministerium; er war damals das Opfer einer Zwangsmaßregel, wie sie bei einer Regierung des Repräsentativ-Systems vorkommen, geworden und hatte die Rolle eines Sündenbocks in einer unsauberen Verwaltungsangelegenheit, die zur Kenntnis der Budgetkommission gekommen war, auf sich genommen, wofür er im geheimen mit einer ziemlich runden Summe entschädigt worden war; er war damit imstande, sich die Gerichtsvollzieherstelle zu kaufen. Dieser, im übrigen wenig anständige Mensch, ein Büro-Spion, wurde von den Thuilliers nicht so aufgenommen, wie er es erwartet hatte; aber trotz des kühlen Verhaltens seiner Hauswirte beharrte er dabei, sie zu besuchen.

Er war ein lasterhafter Junggeselle, der seine Lebensweise ziemlich sorgsam geheim hielt und sich bei seinen Vorgesetzten durch Schmeichelei in seiner Stellung erhielt. Der Friedensrichter hatte Dutocq sehr gern. Diese üble Persönlichkeit verstand es, durch niedrige, grobe Lobhudeleien, die niemals ihre Wirkung verfehlen, zu erreichen, dass er bei den Thuilliers geduldet wurde. Er kannte Thuilliers Leben, seine Beziehungen zu Colleville, und vor allem die zu seiner Frau, ganz genau; man fürchtete seine gefährliche Zunge, und die Thuilliers ließen ihn sich gefallen, ohne ihn zu ihrem engeren Kreise zuzulassen. Die Familie aber, die der Stolz ihres Salons wurde, war die eines armen kleinen Beamten, der früher ein Gegenstand des Mitleids in den Büros gewesen war, und der, durch seine Armut genötigt, im Jahre 1827 aus dem Dienst geschieden war, um sich mit einer Idee im Kopfe auf die Industrie zu legen. Minard erblickte eine hoffnungsvolle Aussicht in einer der üblen Manipulationen, die den französischen Handelsstand in Verruf gebracht haben, und die um das Jahr 1827 vor der Öffentlichkeit noch nicht gebrandmarkt waren. Minard kaufte Tee und mischte ihn zu gleichen Teilen mit gebrauchten Teeblättern; dann wendete er ein ähnliches Verfahren bei der Schokolade an, das ihm gestattete, sie billig zu verkaufen. Der Handel mit Kolonialwaren, den er in dem Stadtviertel Saint-Marcel begonnen hatte, machte aus Minard einen richtigen Kaufmann; er besaß eine Fabrik und konnte vermöge seiner Beziehungen nun seine Rohstoffe von den Erzeugern beziehen; und so betrieb er jetzt in anständiger Weise das Geschäft weiter, das er mit Fälschungen begonnen hatte. Er wurde Destillateur, handelte mit riesigen Mengen von Waren und galt im Jahre 1835 als der reichste Kaufmann des Viertels an der Place Maubert. Er hatte sich eins der schönsten Häuser in der Rue des Maçons-Sorbonne gekauft, war Beigeordneter gewesen und im Jahre 1839 zum Bürgermeister seines Bezirks und zum Handelsrichter ernannt worden. Er hatte einen Wagen und einen Landsitz bei Lagny; seine Frau erschien mit Brillanten bei den Hofbällen, und er war stolz auf die Rosette eines Offizieres der Ehrenlegion in seinem Knopfloch. Minard und seine Frau waren übrigens außerordentlich wohltätig. Vielleicht wollten sie im Kleinen den Armen wieder zurückgeben, was sie im Großen dem Publikum abgenommen hatten. Phellion, Colleville und Thuillier trafen Minard bei den Wahlen wieder, und es entspann sich eine um so intimere Freundschaft mit Thuillier und Colleville, als Frau Zélie entzückt darüber zu sein schien, ihre »Fräulein« Tochter mit Celeste Colleville Bekanntschaft machen zu lassen. Auf einem großen Balle, den die Minards gaben, wurde Celleste in die Gesellschaft eingeführt, sie war damals sechzehneinhalb Jahr alt und wundervoll gekleidet, wie es ihr Name verlangte, der für ihr Leben verheißungsvoll zu sein schien. Glücklich über die Freundschaft mit Fräulein Minard, die vier Jahre älter war als sie, veranlasste sie ihren Paten und ihren Vater, die Beziehungen zu dem Hause Minard mit seinen goldstrotzenden Salons, seinem Reichtum, dem Treffpunkt mehrerer politischer Zelebritäten der Mittelpartei, zu pflegen; hier verkehrte Herr Popinot, der spätere Handelsminister, Cochu, der Baron geworden war, ein früherer Beamter der Abteilung Clergeot im Finanzministerium, der, stark bei einer Drogeriefirma beteiligt, das Orakel der Stadtviertel des Lombards und des Bourdonnais zusammen mit Anselm Popinot war. Der älteste Sohn Minards, Advokat, der beabsichtigte, der Nachfolger eines der Advokaten, die seit 1830 sich der politischen Karriere zugewendet hatten, zu werden, war das Genie der Familie, und seine Mutter ebenso wie sein Vater wünschten, ihn gut zu verheiraten. Zélie Minard, eine frühere Blumenmacherin, hatte eine brennende Vorliebe für die hohen Gesellschaftskreise und wollte sich vermittelst der Heiraten ihrer Tochter und ihres Sohnes dort Zutritt verschaffen, während Minard, klüger als sie und strotzend von der Kraft der Mittelklasse, mit der die Julirevolution das Blut der Machthaber auffrischte, nur daran dachte, reich zu werden.

Er besuchte den Salon der Thuilliers, um dort Genaueres über Celestes Erbschaftsaussichten zu erfahren. Er kannte, ebenso wie Dutocq und Phellion, die Gerüchte über das frühere Verhältnis Thuilliers mit Flavia und hatte auf den ersten Blick gemerkt, wie sehr die Thuilliers ihr Mündel anbeteten. Um bei Minard zugelassen zu werden, überhäufte Dutocq ihn mit übermäßigen Schmeicheleien. Er verglich Minard, den Rothschild des Bezirks, als er ihn bei Thuilliers traf, in beinahe geistvoller Art mit Napoleon, da er ihn, stark, dick und blühend wiedersah, den er im Büro mager, blass und elend verlassen hatte: »In der Abteilung la Billardière waren Sie wie Napoleon vor dem achtzehnten Brumaire, und jetzt sehe ich Sie hier wie Napoleon, als er Kaiser geworden war!« Trotzdem behandelte Minard Dutocq kühl und lud ihn nicht ein; daher machte er auch den giftigen Gerichtsvollzieher zu seinem Todfeinde.

Was für ehrenwerte Leute Herr und Frau Phellion auch waren, so konnten sie doch nicht unterlassen, Berechnungen anzustellen und Hoffnungen zu hegen; sie meinten, dass Celeste eine gute Partie für ihren Sohn, den Professor, wäre, und um eine Rolle in Thuilliers Salon zu spielen, brachten sie auch ihren Schwiegersohn, Herrn Barniol, eine im Faubourg Saint-Jacques angesehene Persönlichkeit, und einen früheren Beamten der städtischen Verwaltung, ihren intimen Freund, mit, dem Colleville gewissermaßen seine Stelle weggenommen hatte; denn Herr Leudigeois, seit zwanzig Jahren städtischer Beamter, hatte als Belohnung für seine langjährigen, Dienste auf die Sekretärsstelle, die Colleville erhalten hatte, gerechnet. So bildeten die Phellions eine Phalanx von sieben zuverlässigen Getreuen; nicht weniger zahlreich war die Familie Colleville, so dass an manchen Sonntagen dreißig Personen im Salon Thuillier zusammenkamen. Thuillier machte auch die Bekanntschaft der Saillards, der Baudoyers und der Falleix, angesehener Leute des Viertels der Place-Royale, die häufig zum Diner eingeladen wurden.

Frau Colleville war die distinguierteste Dame dieser Gesellschaft, ebenso wie der junge Minard und der Professor Phellion ihre geistig bedeutendsten Männer waren; denn alle anderen, ohne eigene Gedanken, ohne Kenntnisse, aus den unteren Ständen hervorgegangen, waren komische Typen des Kleinbürgertums. Obgleich jedes mühsam erworbene Vermögen gewisse Verdienste zur Voraussetzung hat, war Minard doch nur ein aufgeblasener Ballon. Sich in wilden Phrasen ergießend, Unterwürfigkeit für Höflichkeit und Redensarten für Geist haltend, gab er Gemeinplätze mit einem Aplomb und einer Ungeniertheit von sich, dass das für Beredsamkeit gehalten wurde. Solche Worte, die nichts bedeuten und auf alles eine Antwort sind, wie: Fortschritt, Dampfkraft, Asphalt, Nationalgarde, Ordnung, demokratisches Element, Geist der Einigkeit, Gesetzmäßigkeit, Bewegung und Widerstand, Einschüchterung, schienen bei jeder politischen Phase für Minard neu erfunden zu sein, der dann damit die Sätze seiner Zeitung ausschmückte. Julian Minard, der junge Advokat, litt ebenso unter seinem Vater wie sein Vater unter seiner Frau. Zélie Minard hatte mit dem Reichtum Prätentionen angenommen, ohne je richtig Französisch gelernt zu haben; sie war dick geworden und sah in ihrem reichen Staat wie eine Köchin aus, die ihren Herrn geheiratet hat.

Phellion, dieses Musterbild eines Kleinbürgers, besaß ebenso viele Vorzüge wie lächerliche Eigenschaften. Ein Subalterner während seiner ganzen Amtstätigkeit, hatte er Respekt vor den sozial Höherstehenden. Deshalb verhielt er sich auch Minard gegenüber schweigsam. Die kritische Zeit der Pensionierten hatte er für seinen Teil vortrefflich überstanden, und zwar in folgender Weise: Niemals vorher hatte dieser würdige, ausgezeichnete Mann seinen Neigungen entsprechen können. Er liebte die Stadt Paris, er interessierte sich für Baufluchtlinien, Verschönerungen, er konnte zwei Stunden lang vor Häusern, die abgebrochen wurden, stehen bleiben. Man konnte ihn dabei überraschen, wie er unerschütterlich, auf seine zwei Beine hingepflanzt, die Nase in der Luft, auf das Herabfallen eines Steins wartete, den ein Maurer oben auf der Mauer mit seiner Brechstange gelockert hatte, und wie er nicht eher vom Platze wich, als bis der Stein heruntergefallen war; und wenn er dann gefallen war, ging er weiter, glücklich wie ein Akademiker über den Durchfall eines romantischen Dramas. Als echte Statisten bei der großen menschlichen Komödie, übten Phellion, Leudigeois und ihresgleichen die Funktionen des antiken Chors aus. Sie weinten, wenn man weinen, sie lachten, wenn man lachen musste, und sangen ihren Refrain zu den öffentlichen Leiden und Freuden, indem sie in ihrem Winkel über die Triumphe von Algier, Konstantinopel, Lissabon, Saint-Jean-d'Ulloa mit triumphierten und ebenso den Tod Napoleons und die verhängnisvollen Katastrophen von Saint-Merri und in der Rue Transnonnain bejammerten und berühmte Leute beklagten, die ihnen völlig unbekannt waren. Nur Phellion zeigte ein doppeltes Gesicht: er teilte seine Ansichten gewissenhaft zwischen der Opposition und der Regierung. Bei Straßenkämpfen besaß Phellion den Mut, vor seinen Nachbarn hervorzutreten; er begab sich nach der Place Saint-Michel, wo sich sein Bataillon versammelte, bedauerte die Regierung und tat seine Pflicht. Vor und während einer Emeute stand er auf Seiten der Julimonarchie; aber sobald ein politischer Prozess eingeleitet wurde, ging er zu den Angeklagten über. Dieses ziemlich unschuldige »Wetterwendische« trat auch bei seinen politischen Ansichten hervor; seine Antwort auf alles war der nordische Koloss. England war für ihn, wie für den alten Constitutionel, eine Gevatterin mit zwei Gesichtern; abwechselnd war es das macchiavellistische Albion und das Musterland: macchiavellistisch, wenn es sich um die Interessen des beleidigten Frankreichs und Napoleons handelte; Musterland, wenn von den Fehlern der Regierung die Rede war. Er billigte wie seine Zeitung, das demokratische Element und lehnte in der Unterhaltung jedes Paktieren mit dem republikanischen Geiste ab. Der republikanische Geist, das war das Jahr 1793, das war die Emeute, der Terror, das Agrargesetz. Das demokratische Element, das war die Entwicklung des Kleinbürgertums, das war die Herrschaft der Phellions.

Dieser ehrenwerte Alte gab sich immer würdevoll; aus dieser würdevollen Haltung erklärt sich sein ganzes Leben. Er hatte seine Kinder würdig erzogen; er war in ihren Augen immer der Vater geblieben, und er hielt darauf, dass ihm zu Hause Achtung erwiesen wurde, wie man Achtung vor der Regierung und den Vorgesetzten haben soll. Niemals hatte er Schulden gemacht. Als Geschworener schwitzte er Blut und Wasser, um der Verhandlung des Prozesses folgen zu können, und niemals lachte er, selbst nicht, wenn der Gerichtshof, die Zuhörer und der Staatsanwalt lachten. Außerordentlich dienstwillig, opferte er seine Bemühungen, seine Zeit, nur nicht sein Geld. Sein Sohn Felix, der Professor, war sein Idol; er hielt ihn für fähig, Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu werden. Thuillier, ein neutrales Element zwischen der vorlauten Nichtigkeit Minards und der gravitätischen Albernheit Phellions, neigte sich mit seinen trüben Erfahrungen bald auf die eine, bald auf die andere Seite. Er verbarg die Leerheit seines Kopfes hinter Banalitäten, wie er seinen gelben Schädel unter den fadenscheinigen Strähnen seines grauen Haars versteckte, die der Kamm des Friseurs mit außerordentlicher Geschicklichkeit von unten hinaufzog.

»In jeder andern Karriere«, pflegte er zu sagen, wenn er von der Verwaltung sprach, »hätte ich mir ein ganz anderes Vermögen erworben.«

Er hatte gesehen, wie das Gute theoretisch möglich, aber praktisch unmöglich war, und wie die Ergebnisse mit den Erwartungen in Widerspruch standen, und er erzählte von Ungerechtigkeiten, Intrigen und der Affäre Rabourdin.

»Hiernach kann man an alles und an nichts glauben,« sagte er. »Ach, so eine Verwaltung, das ist eine verdrehte Sache; ich bin glücklich, dass ich keinen Sohn habe, der solch eine Karriere einschlagen könnte.«

Colleville, immer lustig, rund und gutmütig, Witze erzählend und Anagramme machend, war das Bild des tüchtigen, spottlustigen Bourgeois, die Begabung ohne Erfolg, die hartnäckige Arbeit ohne Resultat, aber auch die gutmütige Resignation, der Witz ohne Bosheit und die nutzlose Kunst, denn er war ein ausgezeichneter Musiker, spielte aber nur für seine Tochter.

Dieser Salon war also eine Art Provinz-Salon, aber von dem Reflex des dauernden Pariser Leuchtfeuers überstrahlt: mit seiner Mittelmäßigkeit, seinen Plattitüden folgte er dem Strom des Jahrhunderts. Das Modewort und die Modesache, denn in Paris verhalten sich Wort und Sache zueinander wie Pferd und Reiter, gelangten erst aus zweiter Hand dorthin. Man wartete ungeduldig auf Herrn Minard, der bei wichtigen Angelegenheiten die Wahrheit wissen musste. Die Frauen im Salon Thuillier standen auf Seiten der Jesuiten, die Männer verteidigten die Universität; aber im allgemeinen hörten die Frauen zu. Ein geistvoller Mann, der die Langeweile solcher Abende hätte ertragen können, würde wie bei einem Lustspiel Molières gelacht haben, wenn er nach langen Diskussionen solche Dinge gehört hätte wie:

»Konnte die Revolution von 1789 vermieden werden? Die Anleihen Ludwigs XIV. waren ein starker Anstoß dazu. Ludwig XV., ein Egoist, ein Mann von beschränktem Geiste (er hat gesagt: »Wenn ich Polizeileutnant wäre, würde ich die Kabriolets verbieten«), ein liederlicher König, man kennt seinen Hirschpark! hat viel dazu beigetragen, dass sich der Abgrund der Revolution öffnete. Herr von Necker, ein übelgesinnter Genfer, hat den Anstoß dazu gegeben. Das Maximum hat der Revolution sehr unrecht getan. Von Rechts wegen hätte Ludwig XVI. nicht verurteilt werden dürfen; von einer Geschworenenbank wäre er freigesprochen worden. Weshalb hat Karl X. den Thron verloren? Napoleon war ein großer Mann, und die Einzelheiten, die sein Genie bezeugen, sind in. Anekdoten enthalten: er nahm fünf Prisen Tabak in der Minute und aus ledergefütterten Taschen, die in seine Westen eingenäht waren. Er bezahlte alle Rechnungen der Lieferanten; er ging selbst nach der Rue Saint-Denis, um den Preis der Waren zu erfahren. Er hatte Talma zum Freunde; Talma brachte ihm seine Gesten bei, und trotzdem hat er sich immer geweigert, Talma einen Orden zu verleihen. Der Kaiser ist auf Wache gezogen für einen Soldaten, der verschlafen hatte, damit dieser nicht erschossen würde. Deshalb beteten ihn die Soldaten an. Ludwig XVIII., der ein geistvoller Mann war, hat doch darin unrecht getan, dass er ihn mit Herr von Buonaparte anredete. Der Fehler der gegenwärtigen Regierung besteht darin, dass sie sich führen lässt, anstatt selbst zu führen. Sie erniedrigt sich selbst. Sie fürchtet sich vor energischen Männern; sie hätten den Vertrag von 1815 zerreißen und von Europa den Rhein verlangen müssen. Man arbeitet im Ministerium zu lange mit denselben Männern.«

»Sie haben nun genug Geist entwickelt,« pflegte Fräulein Thuillier nach solchen lichtvollen Aussprüchen zu sagen: »Der Tisch ist hergerichtet, machen Sie Ihre kleine Partie.« Die alte Jungfer beendete immer die Diskussionen, bei denen sich die Damen langweilten, mit einem solchen Vorschlage.

Wären diese früheren Vorgänge und all diese allgemeinen Bemerkungen nicht in der Form von Schlussfolgerungen vorgebracht worden, um den Rahmen für diese Erzählung zu bilden und einen Begriff vom Geiste dieser Gesellschaft zu geben, so würde die dramatische Entwicklung darunter gelitten haben. Im übrigen ist diese Skizze historisch treu und schildert eine gesellschaftliche Schicht von gewisser sozialer Bedeutung, besonders wenn man bedenkt, dass die politischen Maximen der jüngeren Linie der Königsfamilie sich auf sie gestützt haben.

Der Winter des Jahres 1839 war sozusagen die Zeitspanne, in der der Salon der Thuilliers seinen höchsten Glanz erreichte. Die Minards erschienen fast alle Sonntage und pflegten, auch wenn sie anderswo eingeladen waren, eine Stunde hier zu verbringen, und oft ließ Minard, wenn er mit seiner Tochter und seinem älteren Sohne, dem Advokaten, fortging, seine Frau zurück. Diese Beharrlichkeit Minards fand ihre Erklärung in einer, allerdings ziemlich späten Unterredung mit den Herren Métivier und Barbet, die eines Abends stattfand, als diese beiden wichtigen Mieter etwas länger als gewöhnlich dablieben und mit Fräulein Thuillier sprachen. Minard erfuhr von Barbet, dass die alte Jungfer ihm etwa dreißigtausend Franken gegen Sechsmonatswechsel zu siebeneinhalb Prozent jährlich lieh und Métivier den gleichen Betrag, so dass sie wenigstens über hundertachtzigtausend Franken verfügen müsste.

»Ich nehme für Darlehen im Buchhandel zwölf Prozent, und gebe sie nur gegen sichere Unterlagen. Ich kann es also gar nicht bequemer haben,« schloss Barbet. »Ich behaupte, dass sie hundertachtzigtausend Franken besitzen muss, denn die Bank nimmt nur Dreimonatsakzepte.«

»Sie hat also ein Konto bei der Bank?« sagte Minard.

»Ich glaube es«, erwiderte Barbet.

Da er Beziehungen zu einem Verwaltungsrat der Bank hatte, erfuhr Minard, dass Fräulein Thuillier in der Tat dort ein Konto in Höhe von etwa zweihunderttausend Franken besaß, für das als Unterlage vierzig Aktien deponiert waren. Diese Unterlage war übrigens, wie es hieß, überflüssig; die Bank hatte alles Entgegenkommen gegen eine Persönlichkeit, die ihr bekannt war und das Vermögen Celeste Lempruns verwaltete, der Tochter eines Angestellten, der ebensoviel Dienstjahre zählte, wie die Bank Jahre ihres Bestehens.

Im übrigen hatte Fräulein Thuillier im Verlaufe von zwanzig Jahren niemals ihren Kredit überschritten. Sie diskontierte allmonatlich Dreimonatswechsel über sechzigtausend Franken, was ungefähr hundertsechzigtausend Franken ausmachte. Da die deponierten Aktien einen Wert von hundertzwanzigtausend Franken hatten, so lief man gar kein Risiko, denn die Wechsel waren jedenfalls sechzigtausend Franken wert.

»Würde sie«, sagte der Bankkommissar, »im dritten Monat uns auch Wechsel über hunderttausend Franken bringen, wir würden nicht einen einzigen zurückweisen. Sie besitzt ein unbelastetes Haus, das mehr als hunderttausend Franken wert ist. Und schließlich sind alle diese Wechsel von Barbet und Métivier ausgestellt und tragen vier Unterschriften, die ihrige inbegriffen.«

»Weshalb macht Fräulein Thuillier noch solche Geschäfte?« fragte Minard Metivier. »Aber das wäre doch etwas für Sie«, fügte er hinzu.

»Oh, was mich anlangt,« erwiderte Metivier, »ich tue besser, wenn ich eine von meinen Kusinen heirate; mein Onkel Métivier hat mir seine Geschäfte übertragen; er hat hunderttausend Franken Einkommen und nur zwei Töchter.«

So heimlich Fräulein Thuillier, die niemandem, nicht einmal ihrem Bruder, etwas von solchen Geldanlagen mitteilte, auch vorging, und obwohl in diesen Summen auch die Ersparnisse aus dem Einkommen der Frau Thuillier mit den ihrigen zusammen enthalten waren, so ließ es sich doch schwer verhüten, dass nicht ein Strahl des Lichtes unter dem Scheffel, der ihren Schatz bedeckte, hervordrang.

Dutocq, der bei Barbet verkehrte, dem er im Charakter und im Aussehen vielfach ähnelte, hatte, zutreffender als Minard, die Ersparnisse der Thuilliers im Jahre 1838 auf hundertfünfzigtausend Franken geschätzt und konnte im geheimen ihr weiteres Anwachsen verfolgen, wenn er die Gewinne berechnete, die sie mit Hilfe des schlauen Geldverleihers Barbet machten.

»Celeste bekommt von uns zweihunderttausend Franken bar,« hatte die alte Jungfer Barbet vertraulich mitgeteilt, »und Frau Thuillier will ihr kontraktlich ihr Vermögen verschreiben und sich nur die Nutznießung vorbehalten. Was mich betrifft, so ist mein Testament gemacht. Mein Bruder behält alles, solange er lebt, und Celeste ist meine Erbin. Herr Cardot, mein Notar, ist mein Testamentsvollstrecker.«

Inzwischen hatte Fräulein Thuillier ihren Bruder veranlasst, seine alten Beziehungen zu den Saillards, den Baudoyers und den Falleix wieder aufzunehmen, die im Viertel Saint-Antoine, wo Saillard Bürgermeister war, eine den Thuilliers und Minards entsprechende Stellung einnahmen. Der Notar Cardot hatte seinerseits ihnen einen Bewerber in der Person des Advokaten Godeschal, Dervilles Nachfolger, präsentiert, eines tüchtigen Mannes von sechsunddreißig Jahren, der beim Ankauf seiner Stelle hunderttausend Franken angezahlt hatte, und den Rest mit den zweihunderttausend Franken der Mitgift würde begleichen können. Aber Minard bewirkte, dass Godeschal abgelehnt wurde, nachdem er Fräulein Thuillier mitgeteilt hatte, dass Celeste dann zur Schwägerin die berühmte Marietta von der Oper bekommen würde.

»Sie kommt ja von dort her,« sagte Colleville mit einer Anspielung auf seine Frau, »und sie will doch nicht wieder dorthin zurückkehren.«

»Außerdem ist Herr Godeschal zu alt für Celeste«, sagte Brigitte.

»Und dann,« fügte Frau Thuillier schüchtern hinzu, »soll man sie nicht nach ihrem Geschmack wählen lassen, damit sie glücklich wird?«

Die arme Frau hatte gemerkt, dass Felix Phellion Celeste wahrhaft liebte, mit einer Liebe, wie sie eine Frau, die von Brigitte unterdrückt und durch die Gleichgültigkeit Thuilliers, der sich um seine Frau weniger als um ein Dienstmädchen kümmerte, verletzt war, sich erträumte: innerlich voll Mut, schüchtern nach außen hin, selbstsicher und doch furchtsam, vor allen andern zurückhaltend und in allen Himmeln schwelgend. Dreiundzwanzig Jahre alt, war Felix Phellion ein sanfter, harmloser junger Mann, wie die Gelehrten sind, die sich der Wissenschaft um der Wissenschaft willen hingeben. Er war sorgfältig von seinem Vater erzogen worden, der alles ernst nahm und ihm stets ein gutes Vorbild gewesen war, wenn er ihm auch triviale Lehren gab. Er war ein junger mittelgroßer Mann mit hellbraunem Haar, grauen Augen und einem Gesicht voller Sommersprossen; er hatte eine sehr angenehme Stimme, eine ruhige Haltung, bewegte sich wenig, war träumerisch, machte nur sinnvolle Bemerkungen, widersprach niemandem und war vor allem jedes schmutzigen Gedankens und jeder egoistischen Berechnung bar.

»Solch einen Mann hätte ich mir gewünscht!« sagte sich Frau Thuillier oft.

Zu Anfang des Jahres 1840, im Februar, waren im Salon bei den Thuilliers mehrere der eben geschilderten Personen anwesend. Es war gegen Ende des Monats. Barbet und Métivier, die jeder dreißigtausend Franken von Fräulein Brigitte bekommen hatten, spielten mit Minard und Phellion Whist. An einem andern Tisch spielten Julian, der Advokat, welchen Spitznamen Colleville dem jungen Minard gegeben hatte, Frau Colleville, Herr Barniol und Frau Phellion. Eine Bouillotte, den Point zu fünf Sous, machten Frau Minard, die kein anderes Spiel verstand, Colleville, der alte Vater Saillard und sein Schwiegersohn Bandoze. Laudigeois und Dutocq waren Ersatzmänner; die Damen Falleix, Baudoyer, Barniol und Fräulein Minard spielten Boston, und Celeste saß neben Prudence Minard. Der junge Phellion unterhielt sich mit Frau Thuillier und sah Celeste an.

Am Kamin thronte auf einem Sofa die Königin Elisabeth der Familie, ebenso einfach wie seit dreißig Jahren gekleidet, denn kein Reichtum hätte sie ihren Gewohnheiten untreu machen können. Auf ihren chinchillafarbenen Haaren saß eine Haube aus schwarzer Gaze mit Charles X.-Geranien garniert; ihr Kleid aus schleierartigem korinthenfarbigem Stoff hatte fünfzehn Franken gekostet; ihre gestickte Halskrause für sechs Franken verhüllte nur mangelhaft den tiefen Einschnitt, den die beiden Muskeln, die den Kopf mit der Wirbelsäule verbinden, machen. Monvel, wenn er den alten Augustus spielte, zeigte kein so strenges Profil wie das dieser Autokratin, die für ihren Bruder Strümpfe strickte. Vor dem Kamin stand Thuillier, immer auf dem Sprunge, den Neuankommenden entgegenzugehen, und neben ihm befand sich ein junger Mann, dessen Erscheinen großes Aufsehen erregt hatte, als der Portier, der an Sonntagen in seinem besten Anzug als Diener fungierte, Herrn Olivier Vinet anmeldete.

Eine vertrauliche Mitteilung, die Cardot dem berühmten Generalstaatsanwalt, dem Vater dieses jungen Beamten gemacht hatte, war die Veranlassung zu dessen Besuch gewesen. Olivier Vinet war als Staatsanwaltsgehilfe von dem Gericht in Arcis-sur-Aube an das Seinegericht versetzt worden. Der Notar Cardot hatte Thuillier mit dem Generalstaatsanwalt, der Aussicht hatte, Justizminister zu werden, und seinem Sohne zum Essen eingeladen. Cardot schätzte das Vermögen, das Celeste einmal zufallen sollte, augenblicklich auf siebenhunderttausend Franken. Der junge Vinet war entzückt, dass er Sonntags bei Thuilliers erscheinen durfte. Große Mitgiften verführen heutzutage zu großen Gemeinheiten, ohne dass man sich deren schämt.

Zehn Minuten später erhob ein anderer junger Mann, der vor der Ankunft des Staatsanwaltsgehilfen mit Thuillier geplaudert hatte, bei einer erregten politischen Diskussion laut seine Stimme und nötigte den Beamten, infolge der Lebhaftigkeit der Debatte, seinem Beispiele zu folgen. Es war die Rede von einem Beschluss, durch den die Deputiertenkammer soeben das Ministerium des 12. Mai gestürzt hatte, weil sie die für den Herzog von Nemours verlangte Apanage ablehnte.

»Ich bin gewiss weit davon entfernt,« sagte der junge Mann, »zur monarchischen Partei zu gehören, aber ebenso weit davon, den Anspruch der Bourgeoisie auf die Regierung zu billigen. Die Bourgeoisie hat ebensowenig wie früher der Adel das Recht, zu behaupten, dass sie der Staat sei. Aber schließlich hat doch die französische Bourgeoisie eine neue Dynastie geschaffen, ihr Königtum, und jetzt behandelt sie es so! Wenn das Volk den Aufstieg Napoleons zuließ, so hat es mit ihm doch etwas Großartiges, etwas Monumentales geschaffen; es war stolz auf seine Größe und hat edelmütig sein Blut und seinen Schweiß hergegeben, um das Kaiserreich aufzurichten. Neben dem Glanz des aristokratischen Thrones und dem kaiserlichen Purpur, neben den Großen und dem Volke erscheint die Bourgeoisie armselig, sie zieht die Regierungsgewalt zu sich herab, anstatt sich zu ihr hinauf zu erheben. Ihre Kontorsparsamkeit mit Kerzenendchen mutet sie den Prinzen zu. Was in ihrem Laden eine Tugend ist, das ist oben ein Fehler und ein Verbrechen. Ich würde viel für das Volk verlangt haben, aber ich hätte von der neuen Zivilliste nicht zehn Millionen abgestrichen. Nachdem sie in Frankreich fast alles geworden ist, schuldet die Bourgeoisie dem Volke das Glück, sie schuldet ihm Glanz ohne Prunk, Größe ohne Privilegien.«

Der Vater Olivier Vinets war damals schlecht auf die Regierung zu sprechen: Die Amtstracht des Großsiegelbewahrers, die sein Traum war, wollte sich immer noch nicht um seine Schultern legen. Der junge Staatsanwaltsgehilfe wusste daher nicht recht, wie er antworten sollte, und glaubte am besten zu tun, wenn er nur einer Seite der Frage zustimmte.

»Sie haben recht, mein Herr,« sagte Olivier Vinet. »Aber bevor sie sich bereit macht, muss die Bourgeoisie ihre Pflichten gegen Frankreich erfüllen. Der Glanz, von dem Sie sprechen, kommt erst hinter der Pflicht. Was Ihnen so sehr tadelnswert erscheint, entspricht dem Zwange der augenblicklichen Verhältnisse. Die Kammer ist weit davon entfernt, den ihr zukommenden Anteil an den Geschäften gewährt zu erhalten; die Minister dienen weniger Frankreich als der Krone, und die Kammer will, dass das Ministerium wie in England eine selbständige Macht haben soll und nicht nur eine entliehene. An dem Tage, an dem das Ministerium selbständig handeln und als Exekutivgewalt die Kammer repräsentieren wird, wie die Kammer die Repräsentantin des Landes ist, wird sich das Parlament auch sehr freigebig gegen die Krone bezeigen. Hierin liegt der Kernpunkt der Frage; ich erkläre sie bloß, ohne meine persönliche Meinung zu äußern, denn die Pflichten meines Amtes verlangen von mir in politischer Hinsicht eine Art von Lehnstreue gegenüber der Krone.«

»Abgesehen von der politischen Seite der Frage«, erwiderte der junge Mann, dessen Aussprache und Akzent ein Kind der Provence verrieten, »ist es nicht weniger wahr, dass die Bourgeoisie ihre Mission nur mangelhaft begriffen hat; wir sehen Generalstaatsanwälte, erste Gerichtspräsidenten und Pairs von Frankreich im Omnibus fahren, Richter, die von ihrem Gehalt leben, Präfekten ohne Vermögen, Minister, die Schulden haben; wenn die Bourgeoisie solche Stellen besetzt, dann muss sie auch angemessene Gehälter für ihre Inhaber aussetzen, wie das früher die Aristokratie getan hat, damit sie sie nicht dazu benutzen, um sich ein Vermögen zu verschaffen, wie das Skandalprozesse erwiesen haben, sondern um ihr Einkommen auszugeben ...«

»Wer ist denn dieser junge Mensch?« fragte sich Olivier Vinet als er ihn so reden hörte; »ein Verwandter? Cardot hätte mich eigentlich bei meinem ersten Besuche begleiten können.«

»Wer ist denn dieser kleine Herr?« fragte Minard Herrn Barbet; »ich habe ihn hier schon mehrmals getroffen.«

»Er ist ein Mieter«, erwiderte Métivier, während er Karten gab.

»Es ist ein Advokat«, sagte Barbet leise; »er hat eine kleine Wohnung im dritten Stock vorn heraus ... Oh, nichts von Bedeutung, er hat nichts.«

»Wie heißt er denn?« sagte Olivier Vinet zu Herrn Thuillier.

»Theodosius de la Peyrade; er ist Advokat«, erwiderte Thuillier leise.

In diesem Moment blickten die Damen wie die Herren auf die beiden jungen Leute, und Frau Minard konnte sich nicht enthalten, zu Colleville zu sagen:

»Der junge Mann sieht recht gut aus.«

»Ich habe schon ein Anagramm auf ihn gemacht«, antwortete Celestes Vater; »sein Name und seine Vornamen bedeuten nichts gutes ... Deshalb hüten Sie sich, meine liebe Mama Minard, ihm Ihre Tochter zu geben.«

»Man findet diesen jungen Mann hübscher als meinen Sohn«, sagte Frau Phellion zu Frau Colleville; »wie denken Sie darüber?«

»Oh, was das Äußere anlangt,« erwiderte Frau Colleville, »so könnte eine Frau schwanken, bevor sie ihre Wahl träfe.«

Der junge Vinet glaubte jetzt klug zu handeln, wenn er sich, im Hinblick auf diesen Salon voller Kleinbürger, für die Bourgeoisie begeisterte, und er stimmte der Ansicht des jungen provenzalischen Advokaten bei, indem er sagte, dass die mit dem Vertrauen der Regierung beehrten Leute es machen müssten wie der König, dessen Freigebigkeit noch die des früheren Hofes überträfe, und dass Sparen bei den Repräsentationspflichten einer Stellung eine Torheit sei. Und außerdem, wie sei das vor allem in Paris möglich, wo das Leben dreimal so teuer sei und wo zum Beispiel die Wohnung eines Richters dreitausend Franken koste? ...

»Mein Vater«, schloss er, »gibt mir jährlich tausend Taler und ich kann damit und mit meinem Gehalt kaum meiner Stellung entsprechend leben.«

Als der Staatsanwaltsgehilfe sich auf dieses schlüpfrige Gebiet begab, wechselte der Provenzale, der ihn geschickt dorthin geführt hatte, ohne dass es jemand merkte, einen Blick mit Dutocq, der wieder am Bouillottetisch seinen Platz einnehmen musste.

»Und es sollen soviele Stellen besetzt werden,« sagte der Gerichtsvollzieher, »dass man davon spricht, es würden in jedem Bezirk zwei Friedensgerichte gebildet werden, damit wir noch zwölf Gerichtsvollzieherstellen mehr bekommen ... Gerade als ob man unsere Rechte angreifen wolle, wo wir doch unsere Ämter so übermäßig hoch bezahlt haben!«

»Ich hatte noch nicht den Vorzug, Sie vor Gericht plädieren zu hören«, sagte der Staatsanwaltsgehilfe zu Herrn de la Peyrade.

»Ich bin Armenadvokat, ich plädiere nur vor dem Friedensgericht«, erwiderte der Provenzale.

Als sie die Grundsätze des jungen Beamten über die Pflicht, sein Einkommen zu verbrauchen, verkündigen hörte, hatte Fräulein Thuillier ihr feierliches Gesicht, das dem jungen Provenzalen und Dutocq schon bekannt war, aufgesetzt. Der junge Vinet entfernte sich jetzt mit Minard und dem Advokaten Julian, so dass das Schlachtfeld vor dem Kamin dem jungen la Peyrade und Dutocq überlassen blieb.

»Die hohe Bourgeoisie«, sagte Dutocq zu Thuillier, »wird es ebenso machen, wie früher die Aristokratie. Der Adel wollte reiche Mädchen haben, um sein Land zu düngen; unsere heutigen Parvenüs wollen Mitgiften haben, um ihre Schuhe mit Stroh füttern zu können.«

»Dasselbe hat Herr Thuillier heute morgen zu mir gesagt«, erwiderte der Provenzale ungeniert.

»Sein Vater«, bemerkte Dutocq, »hat ein Fräulein de Chargebocuf geheiratet und sich die Anschauungen des Adels zu eigen gemacht; er will um jeden Preis zu Geld kommen, seine Frau führt einen fürstlichen Haushalt.«

»Ach,« sagte Thuillier, bei dem der Neid der Bourgeois gegen ihresgleichen erwachte, »man braucht diesen Leuten bloß ihr Amt zu nehmen, und sie werden wieder, was sie waren ...«

Fräulein Thuillier strickte so heftig, als ob sie von einer Dampfmaschine getrieben würde.

»Die Reihe ist an Ihnen, Herr Dutocq«, sagte Frau Minard und stand auf. »Ich habe kalte Füße bekommen«, fügte sie hinzu und stellte sich ans Feuer, wo das Gold ihres Turbans beim Lichte der rosa Kerzen, die vergeblich den riesigen Salon zu erhellen versuchten, wie ein Feuerwerk strahlte. Frau Colleville beobachtete den Provenzalen und verglich ihn mit dem jungen Phellion, der mit Celeste plauderte, ohne sich um das zu kümmern, was um sie herum vorging. Es ist nun sicher an der Zeit, diese eigenartige Persönlichkeit, die eine so wichtige Rolle bei den Thuilliers spielen sollte, zu schildern und die wohl der Darstellung durch die Hand eines großen Künstlers würdig wäre.

Es gibt in der Provence und vor allem in der Gegend des Hafens von Avignon eine Sorte blonder oder hellbrünetter Männer mit weißem Teint und beinahe zärtlichem Ausdruck, deren Augen eher matt, ruhig und schmachtend sind, als lebhaft, glühend und dunkel, wie es gewöhnlich bei Südländern der Fall ist. Es mag nebenbei bemerkt werden, dass auch bei den Korsen, Leuten, die zu Aufwallungen und zu den gefährlichsten Zornausbrüchen neigen, sich häufig solche blonden, anscheinend ruhigen Erscheinungen finden. Diese bleichen, ziemlich dicken Männer mit unruhigen grünen oder blauen Augen sind die schlimmste Sorte in der Provence, und Charles-Marie-Theodosius de la Peyrade war ein gutes Beispiel dieser Gattung, deren Wesen ein sorgfältiges Studium seitens der Medizin und der Physiologie verdiente. Es kocht in ihnen eine Art Galle, ein bitterer Hohn, der ihnen zu Kopf steigt und sie zu brutalen Handlungen, die scheinbar kühl ausgeführt werden, hinreißt. Das Ergebnis eines geistigen Rausches, scheint diese Art stummer Wut unvereinbar mit ihrer gewissermaßen lymphatischen äußeren Hülle und dem ruhigen Ausdruck ihres freundlichen Blickes.

In der Umgegend von Avignon geboren, war der junge Provenzale mit dem erwähnten Namen von mittlerer Statur, wohlproportioniert, beinahe dick, von farblosem Teint, der weder blass, noch matt, noch leuchtend, sondern gallertartig war, denn diese Bezeichnung kann allein einen Begriff von dieser weichen matten Oberfläche geben, unter der sich weniger starke als im gegebenen Moment außerordentlich widerstandsfähige Nerven verbargen. Die Augen von kaltem Blassblau hatten gewöhnlich einen Ausdruck trügerischer Melancholie, der einen großen Reiz auf die Frauen ausüben musste. Die gut geformte Stirn war nicht ohne Adel und passte zu dem feinen, dünnen, hellbraunen Haar, das sich an den Enden leicht und natürlich lockte. Die Nase war, genau wie bei einem Jagdhunde, glatt, an der Spitze eingekerbt, neugierig und klug umhersuchend und immer spürend; sie gab dem Gesicht nicht einen gutmütigen, sondern einen ironischen, spöttischen Ausdruck; aber diese beiden Seiten des Charakters traten nicht deutlich hervor, und der junge Mann musste erst aufhören, sich zu beobachten, und heftig werden, damit sein Sarkasmus und sein Geist, der dann einen teuflischen Spott entwickelte, hervorbrechen konnten. Sein ganz angenehm geschwungener Mund mit granatroten Lippen schien ein wundervolles Instrument für seine in der Mittellage, die Theodosius gewöhnlich festhielt, beinahe süße Stimme, die aber in der Höhenlage wie der Ton eines Gongs in den Ohren vibrierte. Diese Fistelstimme ertönte, wenn er nervös und gereizt war. Sein Gesicht, von gewollter Ausdruckslosigkeit, hatte ovale Form. Sein ganzes Wesen war in Übereinstimmung mit der priesterlichen Ruhe seines Antlitzes sehr zurückhaltend und angemessen, aber schmiegsam und entgegenkommend, ohne fuchsschwänzelnd zu sein, und es besaß eine gewisse Anziehungskraft, die man sich übrigens nicht erklären konnte, sobald er verschwunden war. Wenn das Reizvolle von Herzen kommt, so hinterlässt es einen tiefen Eindruck; ist es aber nur ein Kunstprodukt, dann feiert es, ebenso wie die Beredsamkeit, nur flüchtige Triumphe; es will um jeden Preis Effekt machen. Aber wieviele Philosophen findet man im Leben, die imstande sind, einen solchen Vergleich anzustellen? Fast immer ist, um einen gewöhnlichen Ausdruck zu gebrauchen, die Geschichte vorbei, wenn die Leute dahinterkommen.

Bei diesem jungen Menschen von siebenundzwanzig Jahren stand alles im Einklang mit seinem wahren Charakter; er folgte seiner natürlichen Bestimmung wenn er die Philanthropie pflegte. Theodosius liebte das Volk, und er beschränkte seine Menschenliebe hierauf. Ebenso wie die Blumenpächter sich mit Rosen, Dahlien, Nelken oder Geranien befassen, und keinerlei Interesse an den Blumenarten, die ihre Liebhaberei nicht erwählt hat, nehmen, so gehörte dieser junge la Roche-Foucauld-Liancourt allein den Arbeitern, den Proletariern, den Elenden der Faubourgs Saint-Jacques und Saint-Marceau. Der hervorragende Mann, das Genie in verzweifelter Not, die verschämten Armen des Mittelstandes waren für sein Mitleid nicht vorhanden. Bei allen Leuten mit einer fixen Idee gleicht das Herz einem jener Kästen mit Abteilungen für die einzelnen Sorten Zuckerzeug; das »suum cuique tribuere« ist ihr Wahlspruch, und sie wiegen jeder Pflicht ihre Dosis ab. Es gibt Philanthropen, die nur den Verirrungen Verurteilter ihr Mitleid zuwenden. Die Eitelkeit ist sicherlich die Grundlage der Philanthropie; bei dem Provenzalen aber war es die Berechnung, eine gespielte Rolle, eine liberale und demokratische Heuchelei, die mit einer Vollendung durchgeführt wurde, wie sie kein Schauspieler hätte zustande bringen können. Er griff die Reichen nicht an, er begnügte sich damit, sie nicht zu begreifen, aber er duldete sie; nach seiner Ansicht müsste jeder von seiner Arbeit leben; er war, wie er sagte, ein begeisterter Schüler Saint-Simons gewesen, aber diesen Fehler müsse man seiner frühen Jugend zugute halten: die moderne Gesellschaft könne keine andere Grundlage haben als das Erbrecht. Strenggläubiger Katholik, wie fast alle Leute des Comtats, ging er ganz früh zur Messe und verheimlichte seine Frömmigkeit. Wie fast alle Philanthropen war er schmutzig geizig und schenkte den Armen nur seine Zeit, seinen Rat, seine Beredsamkeit und das Geld, das er für sie von den Reichen erlangen konnte. Stiefel und ein Anzug von schwarzem Tuch, den er abtrug, bis die Nähte weiß schimmerten, bildeten seine Kleidung. Die Natur hatte viel für Theodosius getan dadurch, dass sie ihm nicht die männliche, vornehme Schönheit der Südländer verlieh, die bei anderen eingebildete Bedürfnisse erzeugt, die ein Mann nur sehr schwer befriedigen kann. Da es ihn nur wenig kostete, zu gefallen, so wurde er, ganz wie er wollte, für angenehm, für hübsch oder für sehr gewöhnlich angesehen. Seit er im Hause Thuillier zugelassen war, hatte er noch niemals bis zu diesem Abend gewagt, seine Stimme zu erheben und sich mit solcher Autorität zu äußern, wie er es eben gegen Olivier Vinet riskiert hatte; aber wahrscheinlich war es Theodosius de la Peyrade nicht unangenehm gewesen, aus der Dunkelheit, in der er sich bis dahin gehalten hatte, herauszutreten; außerdem war es nötig, sich dieses jungen Beamten zu entledigen, ebenso wie die Minards vorher den Anwalt Godeschal vernichtet hatten. Gleich allen überlegenen Geistern, und es fehlte ihm nicht an Überlegenheit, hatte der Staatsanwaltsgehilfe sich nicht bis zu dem Punkte vorgewagt, wo die Fäden dieser bourgeoisen Spinnennetze deutlich erkennbar werden, aber er war, wie eine Fliege mit dem Kopf voran, in die Falle gegangen, die ihm Theodosius fast unwahrnehmbar mit einer Schlauheit gestellt hatte, die auch gewandtere Leute als Olivier nicht gemerkt haben würden.

Um die Schilderung dieses Armenadvokaten abzuschließen, wird es nicht überflüssig sein, über sein erstes Auftreten im Hause Thuillier zu berichten.

Theodosius war gegen Ende des Jahres 1837 erschienen; er war damals seit fünf Jahren Rechtskandidat und hatte seinen Vorbereitungsdienst in Paris absolviert, um Advokat zu werden; unbekannte Umstände, über die er Schweigen bewahrte, hatten ihn verhindert, sich in die Liste der Pariser Advokaten eintragen zu lassen; er war noch Advokat im Vorbereitungsdienst. Sobald er aber die kleine Wohnung im dritten Stock bezogen hatte, mit dem für seinen vornehmen Beruf unbedingt erforderlichen Mobiliar – denn der Advokatenstand lässt keinen neuen Kollegen zu, der nicht ein anständiges Arbeitszimmer und eine Bibliothek besitzt, und zwar wird das nachgeprüft – wurde Theodosius de la Peyrade Advokat beim Pariser Obergericht.

Über dieser neuen Gestaltung seiner Lage verging das ganze Jahr 1838; er führte ein sehr regelmäßiges Leben, studierte von früh morgens an bis zur Essensstunde und erschien bei wichtigen Sachen vor Gericht. Seine Beziehungen zu Dutocq hatten sich, nach Dutocqs Aussage, nur schwer angeknüpft, und zwar dadurch, dass er einigen Unglücklichen aus dem Faubourg Saint-Jacques, für die der Gerichtsvollzieher sich bei ihm verwendet hatte, den Dienst erwies, ihre Vertretung vor Gericht zu übernehmen; er ließ Anwälte für sie tätig sein, die nach den Statuten der Anwaltschaft umschichtig Armensachen annehmen mussten, und da er nur ganz sichere Sachen übernahm, so gewann er alle Prozesse. Nachdem er so in Beziehungen zu einigen AnwaltsBüros getreten war, wurde er der Anwaltschaft durch solch ein rühmliches Verhalten bekannt, und aus diesem einiges Aufsehen erregenden Anlass wurde er zunächst unter die Hilfsadvokaten aufgenommen und dann in das ordentliche Advokatenregister eingetragen. Von da ab war er Armenadvokat beim Friedensgericht und blieb weiter der Beschützer der unteren Klasse. Die Theodosius zu Dank Verpflichteten gaben ihrer Dankbarkeit und ihrer Bewunderung, trotz des Widerspruchs des jungen Advokaten, vor den Portiers Ausdruck, und vieles davon drang bis zu den Ohren der Hausbesitzer. Entzückt darüber, dass bei ihnen ein so rühmenswerter und hilfsbereiter Mann wohnte, wollten die Thuilliers ihn gern in ihrem Salon sehen und erkundigten sich bei Dutocq über ihn. Der Gerichtsvollzieher äußerte sich über ihn, wie es neidische Leute zu tun pflegen, und wenn er dem jungen Manne auch Gerechtigkeit widerfahren ließ, so bemerkte er doch, dass er auffallend geizig sei, was sich allerdings aus seiner Armut erklären lassen könne.

»Ich besitze übrigens eine Auskunft über ihn. Er gehört zu der Familie de la Peyrade, einer alten Familie der Grafschaft Avignon; er ist gegen Ende des Jahres 1829 hierhergekommen, um Nachforschungen nach einem Onkel anzustellen, dessen Vermögen für bedeutend galt; er hat schließlich die Wohnung dieses Verwandten drei Tage nach dessen Tode aufgefunden, und die Möbel des Verstorbenen haben gerade dazu hingereicht, die Kosten der Beerdigung und die Schulden zu bezahlen. Ein Freund dieses nutzlosen Onkels hat dann unserm Vermögenssucher hundert Louisdor zukommen lassen und ihn veranlasst, Jura zu studieren und sich der Rechtskarriere zu widmen; mit diesen hundert Louisdors hat er seinen Lebensunterhalt in Paris drei Jahre hindurch bestritten und wie ein Einsiedler gelebt; da er aber niemals etwas über seinen unbekannten Beschützer erfahren konnte, so befand sich der arme Student im Jahre 1833 in großer Not.

Er warf sich nun, wie damals viele Rechtskandidaten, auf die Politik und die Literatur und war so eine Zeitlang der Bedürftigkeit überhoben; von seiner Familie hatte er nichts zu erwarten: sein Vater, der jüngere Bruder des in der Rue des Moineaux verstorbenen Onkels, hat elf lebende Kinder, die von dem Ertrag einer kleinen Besitzung, Canquoelles genannt, leben.

Schließlich erhielt er eine Stellung bei einer offiziösen Zeitung, deren verantwortlicher Leiter der bekannte Cerizet war, der so berühmt geworden ist durch die Verfolgungen, die er unter der Restauration wegen seiner Anlehnung an die Liberalen erlitten hat, und dem die Männer der neuen Linken seine offiziöse Stellung nicht verzeihen wollen. Ebenso wie heute die Regierung ihre treuesten Diener sehr wenig schützt, wie die Affäre Gisquet beweist, ebenso haben die Republikaner Cérizet schließlich zugrunde gerichtet. Ich erwähne das, um Ihnen zu erklären, wie es kam, dass Cerizet jetzt Sekretär in unserer Gerichtsschreiberei ist.

Zu der Zeit also, wo er als Leiter eines von dem Minister Perier auf gefährliche Zeitungen, wie die Tribüne und andere, losgelassenen Blattes in Ansehen stand, war Cérizet, alles in allem ein guter Kerl, der aber die Weiber, gutes Essen und Vergnügungen ein bisschen zu sehr liebt, dem Theodosius sehr nützlich, der bei ihm politischer Redakteur war; und ohne den Tod Casimir Periers wäre der junge Mann Staatsanwaltsgehilfe geworden. In den Jahren 1834 und 1835 geriet er, trotz seiner Begabung, wieder ins Elend, denn seine Mitarbeiten einem Regierungsblatt hat ihm geschadet. ›Ohne meine religiösen Grundsätze‹, sagte er einmal zu mir, ›hätte ich mich damals in die Seine gestürzt.‹ Anscheinend hat schließlich der Freund seines Onkels von seiner üblen Lage gehört und hat ihm so viel zugewendet, dass er sich als Advokat eintragen lassen konnte; Namen und Wohnung seines unbekannten Beschützers kennt er aber immer noch nicht. Nach alledem ist unter solchen Umständen seine Sparsamkeit entschuldbar, und es bedarf eines festen Charakters, um alles abzulehnen, was ihm die armen Teufel anbieten, die durch seine aufopfernde Tätigkeit ihre Prozesse gewinnen. Es ist wirklich unwürdig, wenn, wie man sieht, Leute darauf spekulieren, dass die Armen nicht in der Lage sind, die Kosten für einen Prozess aufzubringen, den man ihnen ungerechterweise angehängt hat. Oh, der wird schon seinen Weg machen, und es würde mich nicht in Erstaunen setzen, wenn ich diesen Jungen mal in sehr glänzender Stellung sehen würde; er besitzt Zähigkeit, Ehrlichkeit und Mut; er arbeitet und büffelt.«

Trotz der Freundlichkeit, mit der er empfangen worden war, ließ sich la Peyrade nur selten bei Thuilliers sehen. Erst als man ihm wegen seiner Zurückhaltung Vorwürfe machte, zeigte er sich häufiger, erschien schließlich an allen Sonntagen, wurde zu allen Diners eingeladen und endlich so vertraut im Hause, dass man ihn, wenn er um vier Uhr kam, um mit Thuillier zu sprechen, nötigte, zwanglos an dem täglichen Essen teilzunehmen. Fräulein Thuillier sagte sich dann

›Wir sind so wenigstens sicher, dass er gut zu essen bekommt, der arme junge Mensch!‹

Eine soziale Erscheinung, die gewiss schon beobachtet, aber noch nicht formuliert oder, wenn man will, schriftlich festgehalten worden ist, obgleich sie konstatiert zu werden verdient, ist die Wiederkehr der Gewohnheiten, der Gedanken, der Manieren der früheren Situation bei Leuten, die von der Kinderzeit bis ins Alter aus ihrem ursprünglichem Stande empor gestiegen sind. So war Thuillier innerlich wieder der Portierssohn geworden; er wendete Scherzworte seines Vaters an und ließ schließlich auf der äußeren Oberfläche seines im Abstieg befindlichen Lebens die Spuren seiner Herkunft deutlich werden. Fünf-, sechsmal im Monat pflegte er, wenn die fette Suppe gut war, wie einen ganz neuen Einfall zu äußern, während er seinen Löffel auf den leeren Teller legte: »Das ist besser als ein Fußtritt, selbst wenn man ihn aufs Schienbein bekommt! ...«

Als er diesen Scherz zum erstenmal hörte, verlor Theodosius, der ihn noch nicht kannte, seinen würdevollen Ernst und lachte so herzlich los, dass Thuillier, der schöne Thuillier, sich in seiner Eitelkeit geschmeichelt fühlte wie nie zuvor. Seitdem begleitete Theodosius diese Redensart immer mit einem kleinen verständnisvollen Lächeln. Dieser kleine Umstand mag erklären, warum Theodosius am Morgen des Tages, an dessen Vorabend er den Disput mit dem jungen Staatsanwaltsgehilfen gehabt hatte, zu Thuillier, mit dem er im Garten nach den Folgen des Frostes sah, sagen könnte:

»Sie sind viel geistreicher, als Sie glauben!«

Und er hatte zur Antwort bekommen:

»In jeder andern Laufbahn, mein lieber Theodosius, hätte ich sehr viel erreicht, aber der Sturz des Kaisers hat mir den Hals gebrochen.«

»Es ist noch nicht zu spät«, hatte der junge Advokat gesagt. »Was hat denn eigentlich Colleville, dieser Hanswurst, getan, dass er das Kreuz erhalten hat?«

Damit hatte de la Peyrade einen wunden Punkt berührt, den Thuillier vor allen Augen verbarg, und zwar so, dass selbst seine Schwester nichts davon wusste; aber der junge Mann, in dessen Interesse es lag, das Wesen dieser Bourgeois zu studieren, hatte den heimlichen Neid, der am Herzen des ehemaligen Vizechefs nagte, geahnt.

»Wenn Sie, der Sie so erfahren sind, mir die Ehre erweisen wollen, meinem Rat zu folgen«, hatte der Philantrop hinzugefügt, »und vor allem niemals mit jemandem von unsrer Abmachung zu sprechen, selbst nicht mit Ihrer vortrefflichen Schwester, wenn ich nicht meine Zustimmung gebe, so verpflichte ich mich, Ihnen den Orden unter dem Beifall des ganzen Viertels zu verschaffen.«

»Oh, wenn wir das erreichen könnten!« hatte Thuillier ausgerufen; »Sie wissen nicht, was ich dann für Sie tun könnte ...«

Das mag erklären, weshalb Thuillier sich so in die Brust warf, als Theodosius eben die Kühnheit gehabt hatte, ihm seine Ansicht unterzuschieben.

In der Kunst – und Molière hat wohl die Heuchelei zur Höhe der Kunst erhoben, indem er Tartüff für immer zum Komödiantentypus gemacht hat – gibt es einen Höhepunkt der Vollkommenheit, bis zu dem das Talent nicht heranreicht, sondern allein das Genie. Zwischen den Werken der Genies und denen der Talente besteht nur ein geringer Unterschied, und nur geniale Menschen können diesen Unterschied empfinden, der Raphael von Correggio, Tizian von Rubens trennt. Ja noch mehr: der Durchschnittsmensch lässt sich täuschen. Denn das Zeichen des Genies ist gewissermaßen die Leichtigkeit, mit der das Werk geschaffen zu sein scheint. Es muss, mit einem Wort, auf den ersten Anblick ganz einfach erscheinen, weil es immer ganz natürlich, selbst bei den erhabensten Sujets, ist.

Viele Bauernweiber halten ihr Kind ebenso wie die berühmte Dresdener Madonna. Nun, bei einem Mann von der Fähigkeit Theodosius' war der Gipfel der Kunst, dass man nachher von ihm sagen musste: »Jeder wäre darauf hereingefallen!« Er sah also im Salon Thuillier einen Zwist aufkeimen, er verstand Collevilles ziemlich klarsehende Natur und das kritische Wesen des Künstlers, der seinen Beruf verfehlt hat. Der Advokat wusste, dass er Colleville missfiel, der, infolge von Umständen, die zu berichten überflüssig wäre, Grund hatte, an die Geheimwissenschaft der Anagramme zu glauben. Bei keinem seiner Anagramme hatte er sich getäuscht. Man hatte sich auf dem Amte über ihn mokiert, als er, auf die Frage nach Minards Anagramm, verkündet hatte: »Ich werde ein großes Vermögen zusammenraffen,« und zehn Jahre später hatte sich das Anagramm bestätigt. Theodosius' Anagramm war fatal. Das seiner Frau hatte ihn erschreckt, und niemals hatte er es laut werden lassen, denn Flavia-Minard-Colleville ergab: »Die alte C***, ein beschimpfter Name, stiehlt.«

Mehrmals bereits hatte Theodosius dem jovialen Sekretär der Stadtverwaltung sich nähern wollen, war aber immer einer kühlen, bei einem so entgegenkommenden Manne wenig natürlicher Abweisung begegnet. In dem Augenblick, wo die Bouillottepartie beendet war, zog Colleville Thuillier in eine Fensternische und sagte zu ihm:

»Du lässt diesen Advokaten hier bei dir zu festen Fuß fassen, er hat heute abend das große Wort geführt.«

»Ich danke dir, lieber Freund, ein Mann, der gewarnt ist, ist so klug wie zweie«, antwortete Thuillier, während er sich heimlich über Colleville lustig machte.

Theodosius, der in diesem Augenblick gerade mit Frau Colleville plauderte, hatte seinen Blick auf die beiden Freunde gerichtet, und mit dem Ahnungsvermögen, das die Frauen zu gebrauchen verstehen, wenn sie wissen wollen, ob und in welcher Weise von ihnen die Rede ist, merkte er, dass Colleville ihm bei dem schwachen unbedeutenden Thuillier zu schaden versuchte.

»Gnädige Frau,« sagte er leise zu der fromm gewordenen Dame, »glauben Sie mir, wenn hier jemand imstande ist, Sie richtig zu würdigen, so bin ich es. Wenn man Sie ansieht, so möchte man sagen: eine Perle, die in den Schmutz gefallen ist; Sie sind noch nicht zweiundvierzig Jahr alt, denn eine Frau ist so alt, wie sie aussieht, und viele Frauen von dreißig Jahren, die nicht an Sie heranreichen, würden glücklich sein, wenn sie eine solche Figur hätten und ein so entzückendes Gesicht, das von der Liebe erzählt, die niemals die Sehnsucht Ihres Herzens zu befriedigen vermocht hat. Sie haben sich Gott zugewendet, ich weiß es, und ich empfinde zu viel Mitgefühl, als dass ich etwas anderes für Sie zu sein begehrte als Ihr Freund; aber Sie haben das nur getan, weil Sie niemals einen Ihrer Würdigen gefunden haben. Gewiss, geliebt sind Sie worden, aber Sie haben nie empfunden, dass man Sie anbetete, ich habe das geahnt ... Und Ihr Mann hier hat niemals verstanden, Ihnen eine Ihres Wertes würdige Stellung zu verschaffen; er hasst mich, als ob er fürchtete, dass ich Sie liebe, und will mich daran hindern, Ihnen zu sagen, dass ich eine Möglichkeit gefunden zu haben glaube, Sie in eine Sphäre zu bringen, die Ihrer Bestimmung entspricht ...

Nein, gnädige Frau«, sagte er laut und erhob sich, »nicht der Abbé Gondrin wird dieses Jahr in der Fastenzeit in unsrer bescheidenen Kirche Saint-Jaques du Haut-Pas predigen, sondern Herr d'Estival, ein Landsmann von mir, der sich dem Predigerberuf aus Mitgefühl für die Armen geweiht hat, und Sie werden da einen der weihevollsten Redner, die ich kenne, zu hören bekommen, einen Priester, der zwar kein sehr angenehmes Äußere hat, aber was für eine Seele! ...«

»Mein Wunsch wird also erfüllt werden,« sagte die arme Frau Thuillier; »ich habe die berühmten Prediger nie verstehen können!«

Ein Lächeln erschien auf Fräulein Thuilliers Lippen und auf denen mehrerer anderen.

»Sie befassen sich zu sehr mit theologischen Erklärungen, das ist schon lange meine Ansicht«, sagte Theodosius; »aber ich spreche niemals über Religion, und ohne Frau Colleville ...«

»Gibt es denn in der Theologie Erklärungen?« fragte der Mathematikprofessor naiv und geradezu.

»Ich will nicht annehmen,« erwiderte Theodosius und sah Felix Phellion an, »dass Sie diese Frage im Ernst gestellt haben.«

»Felix,« sagte der alte Phellion und kam schwerfällig seinem Sohn zu Hilfe, als er auf Frau Thuilliers blassem Gesicht einen schmerzlichen Ausdruck wahrnahm, »Felix unterscheidet bei der Religion zwei Kategorien: er betrachtet sie einmal vom menschlichen und einmal vom göttlichen Standpunkt, von dem der Tradition und dem der Begründung aus.«

»Was für eine ketzerische Ansicht, Herr Phellion!« entgegnete Theodosius; »die Religion ist eine Einheit; sie verlangt vor allem den Glauben.«

Durch diese Phrase festgenagelt, sah der alte Phellion seine Frau an:

»Es ist Zeit, meine Liebe ...«

Und er zeigte auf die Uhr.

»Oh, Herr Felix,« sagte Celeste leise zu dem offenherzigen Mathematiker, »können Sie nicht, wie Pascal und Bossuet, gleichzeitig ein Gelehrter und fromm sein? ...«

Mit den Phellions brachen auch Collevilles auf, und es blieben bald nur noch Dutocq, Theodosius und die Thuilliers zurück.

Die Schmeicheleien, die Theodosius Flavia zugeflüstert hatte, waren zwar lauter Gemeinplätze; aber es muss im Interesse dieser Erzählung bemerkt werden, dass der Advokat sich so sehr als möglich auf dem geistigen Niveau dieser vulgären Leute hielt; er schwamm in ihrem Wasser und redete ihre Sprache. Sein Maler war Pierre Grassou und nicht Joseph Bridau; sein Buch »Paul und Virginie«. Der größte lebende Dichter war für ihn Casimir Delavigne; in seinen Augen war der Zweck der Kunst vor allem die Nützlichkeit. Parmentier, »der Schöpfer des Kartoffelbaus« galt ihm mehr als dreißig Rafaels; der Mann mit dem kleinen blauen Mantel war für ihn »eine barmherzige Schwester«. Diese Ausdrücke Thuilliers wiederholte er zuweilen.

»Der junge Felix Phellion«, sagte er, »ist der typische Universitätsgelehrte unserer Zeit, das Produkt einer Wissenschaft, die Gott beiseite geschoben hat. Mein Gott, wo kommen wir hin! Nur die Religion kann Frankreich retten, denn nur die Furcht vor der Hölle schützt uns vor dem Hausdiebstahl, der fortwährend vorkommt und der die sichersten Vermögen aufzehrt. Sie alle haben einen heimlichen Krieg im Schoß der Familie«. Nach dieser geschickten Tirade, die lebhaften Eindruck auf Brigitte machte, empfahl er sich in Begleitung von Dutocq, nachdem er den drei Thuilliers gute Nacht gewünscht hatte.

»Das ist ein sehr begabter junger Mensch!« sagte Thuillier in feierlichem Tone.

»Ja, wahrhaftig«, erwiderte Brigitte und löschte die Lampe aus.

»Und er besitzt Religion«, sagte Frau Thuillier, die sich zuerst entfernte.

»Lieber Herr,« sagte Phellion zu Colleville, als sie die Gegend der Bergbauschule erreichten, nachdem er sich überzeugt hatte, dass sie allein in der Straße waren, »ich habe die Gewohnheit, mich von andern belehren zu lassen, aber es ist mir unmöglich, zu übersehen, dass dieser junge Advokat bei unsern Freunden, den Thuilliers, sehr herrisch auftritt.«

»Meiner Meinung nach,« entgegnete Colleville, der mit Phellion hinter seiner Frau, Celeste und Frau Phellion ging, die sich alle drei dicht aneinander drängten, »ist er ein Jesuit, und ich liebe diese Leute nicht ... Auch der beste von ihnen taugt nichts. Ein Jesuit, das bedeutet für mich Betrug, und zwar Betrug, um zu betrügen; sie betrügen aus Freude am Betruge, und, wie man sagt, um nicht aus der Übung zu kommen. Das ist meine Ansicht, und ich schlucke sie nicht hinunter.«

»Ich verstehe Sie, Herr Colleville«, erwiderte Phellion und reichten ihm den Arm.

»Nein, Herr Phellion,« bemerkte Flavia mit leiser hoher Stimme, »Sie verstehen Colleville nicht, aber ich weiß recht gut, was er sagen will, und er täte besser, nicht weiter zu sprechen ... So etwas kann man nicht auf der Straße behandeln, um elf Uhr, und in Gegenwart eines jungen Mädchens‹«.

»Du hast Recht, liebe Frau«, sagte Colleville.

Als sie die Rue des Deux-Eglises erreicht hatten, in die Phellion einbiegen musste, wünschte man sich gute Nacht. Felix Phellion sagte noch zu Colleville:

»Herr Colleville, Ihr Sohn Franz könnte in die Polytechnische Schule aufgenommen werden, wenn er viel Nachhilfestunden nehmen würde; ich bin bereit, ihn so weit zu bringen, dass er in diesem Jahre das Examen bestehen kann.«

»Das würde ich gewiss nicht ablehnen! Ich danke Ihnen; lieber Freund«, sagte Colleville; »wir sprechen noch darüber.«

»Gut!« sagte Phellion zu seinem Sohne.

»Das hast du geschickt gemacht!« rief die Mutter.

»Was meint ihr denn damit?« fragte Felix.

»Nun, du hast sehr geschickt Celestes Eltern den Hof gemacht.«

»Ich will nie wieder ein Problem lösen, wenn ich daran gedacht habe!« rief der junge Professor aus; »ich habe, wenn ich mit den jungen Collevilles plauderte, bemerkt, dass Franz eine Begabung für Mathematik besitzt, und ich habe mich für verpflichtet gehalten, seinem Vater das mitzuteilen.«

»Schön, mein Sohn!« wiederholte Phellion, »ich möchte dich auch nicht anders haben, als du bist. Meine Wünsche sind erhört worden, ich habe einen braven, ehrenhaften Sohn, der alle bürgerlichen und persönlichen Tugenden besitzt, die man von ihm verlangen kann.«

Als Celeste zu Bett gegangen war, sagte Frau Colleville zu ihrem Manne:

»Colleville, sprich dich doch nicht so rücksichtslos über Leute aus, die du nicht genau kennst. Wenn du Jesuiten sagst, dann meinst du Priester, das weiß ich; tu mir doch den Gefallen und behalte deine Ansichten über Religion für dich, wenn deine Tochter zugegen ist. Wir dürfen wohl unser Seelenheil verkaufen, aber nicht das unserer Kinder. Möchtest du, dass deine Tochter ein Geschöpf ohne Religion sei? ... Wir sind jetzt von allen Leuten abhängig, mein Engel, wir haben vier Kinder zu versorgen; willst du behaupten, dass du nie in die Lage kommen wirst, den einen oder den andern nötig zu haben? Mach dir doch keine Feinde; du hast ja sonst keine, du bist ein guter Kerl; dank dieser Eigenschaft, mit der du die Leute direkt bezaubern kannst, haben wir uns noch immer ziemlich gut herausgezogen! ...«

»Genug, genug!« sagte Colleville, der seinen Rock über einen Stuhl hängte und seine Krawatte abnahm; »ich habe unrecht, und du hast recht, meine Schönste.«

»Bei der ersten Gelegenheit, du dickes Schaf,« sagte die schlaue Hausmutter und klopfte ihrem Mann auf die Backen, »wirst du versuchen, dem kleinen Advokaten eine Liebenswürdigkeit zu sagen; das ist ein Schlaukopf, den müssen wir für uns gewinnen. Er spielt Komödie? ... Schön, spiel du auch mit ihm Komödie; tu, als ob du ihm glaubst, und wenn er begabt ist und Zukunftsaussichten hat, dann mach ihn dir zum Freunde. Meinst du, dass ich dich noch lange als Stadtsekretär sehen möchte?«

»Kommen Sie her, Frau Colleville,« sagte der ehemalige Klarinettist der Komischen Oper und schlug sich aufs Knie, um anzuzeigen, wo seine Frau sich hinsetzen solle, »wärmen Sie sich die kleinen Füße, und plaudern wir noch ein bisschen ... Wenn ich dich ansehe, dann bin ich immer mehr davon überzeugt, dass die Jugend der Frauen in ihrer Figur liegt ...«

»Und in ihrem Herzen ...«

»In dem einen, wie in dem andern,« erwiderte Colleville, »eine leichte Gestalt und ein schweres Herz ...«

»Nein, du Schöps ... ein tiefes.«

»Wie hübsch das ist, dass du dir deinen weißen Teint erhalten hast, ohne dass du dick geworden bist! ... Gott, was hast du für zarte Knochen ... Höre, Flavia, und wenn ich mein Leben noch einmal von vorn anfangen sollte, ich möchte keine andere Frau haben als dich.«

»Du weißt auch ganz genau, dass ich dich immer lieber als ›die Andern‹ gehabt habe ... Ach, was ist das für ein Unglück, dass Monseigneur gestorben ist. Weißt du, was ich für dich gern gehabt hätte?«

»Nein.«

»Eine Stellung bei der Stadt mit zwölftausend Franken Gehalt, so etwas wie Kassierer bei der städtischen oder der Kasse von Poissy, oder Geschäftsführer.«

»Das würde mir alles gut passen.«

»Nun, vielleicht könnte dieses Scheusal von Advokat etwas für uns tun; er ist ein großer Intrigant: wir müssen Rücksicht auf ihn nehmen ... Ich werde bei ihm mal auf den Busch klopfen ... lass mich nur machen ... und vor allem störe ihm sein Spiel bei den Thuilliers nicht ...«

Theodosius hatte den wunden Punkt in Flavia Collevilles Herzen berührt, und das verdient eine Erläuterung, zu der wohl eine Analyse des weiblichen Empfindens erforderlich ist.

Mit vierzig Jahren verspüren die Frauen und besonders die, die von der vergifteten Frucht der Leidenschaft gekostet haben, ein tiefes Angstgefühl; sie merken, dass es zweierlei Tod gibt: den körperlichen und den seelischen. Teilt man die Frauen in zwei Kategorien, indem man, vulgär gesprochen, die Tugendhaften und die Schuldigen unterscheidet, so kann man sagen, dass sie von diesem gefährlichen Alter an Schreckliches zu leiden haben. Tugendhaft, aber in ihrem natürlichen Verlangen unbefriedigt, sei es, dass sie ihr Begehren im Herzen oder dass sie es vor dem Altar Gottes begraben haben, können sie sich nicht ohne Erschrecken eingestehen, dass für sie alles zu Ende ist. Dieses Gefühl kann so eigenartige und so fürchterliche Wirkungen hervorbringen, dass sich hieraus ihr Apostatentum erklären lässt, das zuweilen die Welt in Erstaunen und Schrecken versetzt. Sind sie schuldig, so geraten sie in eine Schwindel erregende Lage, die oft zum Irrsinn oder zum Tode führt, die aber auch in eine Leidenschaft von gleicher Gewalt umschlagen kann.

Das Dilemma einer solchen Krisis ist dieses: Entweder haben sie das Glück kennengelernt und ein tugendhaftes Leben geführt und können nun nicht anders, als diese von Glut geschwängerte Luft einatmen und sich in dieser duftenden Atmosphäre, wo die Schmeicheleien wie Liebkosungen wirken, bewegen; wie sollen sie dem widerstehen? Oder, was ein noch merkwürdigeres und selteneres Phänomen ist, sie haben auf der Suche nach dem fliehenden Glück nur schnell schal gewordene Freuden gefunden, aber sie haben, von der trügerischen Befriedigung der Eitelkeit gepeitscht, die wilde Jagd fortgesetzt und sich an dieses Spiel geklammert wie der Spieler an sein System, denn diese letzten Tage ihrer Schönheit sind für sie der letzte Einsatz des verzweifelten Hazardeurs.

»Sie sind geliebt, aber nicht angebetet worden!«

Dieses Wort Theodosius, von einem Blicke begleitet, der, wenn auch nicht in ihrem Herzen, so doch in ihrem Leben gelesen hatte, war die Lösung eines Rätsels, und Flavia fühlte sich durchschaut.

Der Advokat hatte nur einige Ideen wiedergegeben, die in der Literatur schon trivial geworden waren; aber was kommt es darauf an, aus welcher Fabrik die Reitpeitsche herstammt und was für eine Sorte es ist, wenn sie nur die empfindliche Stelle des Rassepferdes trifft! Das poetische Gefühl lag in Flavias Innerem und nicht in dem, was ihr Theodosius vorgesungen hatte, ebenso wie das Brausen nicht in der Flut steckt, wenn sie es auch erzeugt.

Ein junger Offizier, zwei nichtssagende Männer, ein unbeholfener kleiner Jüngling und der gute Colleville, das waren ihre traurigen Versuchsobjekte. Einmal in ihrem Leben hatte Frau Colleville von Glück geträumt, aber empfinden hatte sie es noch nicht können; dann hatte der Tod allzu schnell die einzige Neigung, bei der Flavia wirkliche Seligkeit empfunden hatte, vernichtet. Seit zwei Jahren vernahm sie die göttliche Stimme der Religion, die ihr verkündete, dass weder in der Kirche, noch in der menschlichen Gesellschaft von Glück und von Liebe die Rede ist, sondern von Pflicht und Resignation; dass für diese beiden großen Mächte das Glück in der Befriedigung ruht, die die Erfüllung mühseliger, schwer zu erfüllender Pflichten erzeugt, und dass die Belohnung nicht in dieser Welt erfolgt. Aber sie hörte noch eine andere laute Stimme in ihrem Innern, und da die Religion nur eine Maske für sie war, die sie notgedrungen vorbinden musste, und nicht auf wirklicher Bekehrung beruhte, und weil sie sie nicht ablegte, da sie in ihr ein Hilfsmittel erblickte, und ihre falsche oder wahre Frömmigkeit nur ein äußerliches Kleid war, das sie ihren Zukunftshoffnungen anpasste, so blieb sie in der Kirche, wie auf einer Bank im Walde an einem Kreuzwege, wo man die Aufschriften des Wegweisers liest, und mit dem Gefühl, dass bald die Nacht kommt, die Entscheidung dem Zufall überlässt.

So wurde auch ihre Wissbegier lebhaft erregt, als Theodosius ihr ihre den andern verborgene Lage klar machte, ohne dabei Ansprüche für sich geltend zu machen, sondern indem er sich allein an ihr inneres Empfinden wandte und ihr die Verwirklichung von Luftschlössern verhieß, die sich für sie schon sieben- oder achtmal in nichts aufgelöst hatten.

Seit Beginn des Winters hatte sie gemerkt, dass sie heimlich von Theodosius beobachtet und studiert wurde. Mehr als einmal hatte sie ihr graues Moiréekleid, ihre schwarzen Spitzen und ihren Kopfschmuck von mit Spitzen garnierten Blumen angelegt, um sich vorteilhaft zeigen zu können, und die Männer wissen immer recht gut, ob man für sie Toilette gemacht hat. Der grässliche Beau der Kaiserzeit hatte sich in faden Schmeicheleien erschöpft, aber der Provenzale hatte mit einem verständnisvollen Blick tausendmal mehr gesagt.

Von einem Sonntag zum andern hatte Flavia auf eine Erklärung gewartet; sie sagte sich:

»Er weiß, dass ich nichts habe, und er selbst besitzt keinen Heller! Vielleicht ist er wirklich fromm.«

Theodosius wollte nichts überstürzen, und wie ein geschickter Musiker hatte er sich die Stelle seiner Partitur angestrichen, wo er das Zeichen zum vollen Einsatz geben wollte. Als er merkte, dass Colleville ihn bei Thuillier verdächtigte, hatte er, nach geschickter Vorbereitung während drei bis vier Monaten, die er auf das Studium Flavias verwandt hatte, seine Ladung abgeschossen, und es war ihm damit ebenso geglückt, wie am Morgen mit Thuillier.

Als er sich zu Bett legte, sagte er sich:

»Die Frau habe ich gewonnen, der Mann kann mich nicht leiden; jetzt, in diesem Augenblick werden sie sich zanken, aber ich werde der Stärkere sein, denn sie macht mit ihrem Manne, was sie will.«

Darin hatte sich der Provenzale allerdings getäuscht, denn es hatte nicht den geringsten Streit gegeben, und während er das zu sich sagte, schlief Colleville bereits neben seiner kleinen, süßen Flavia, welche dachte: ›Theodosius ist ein überlegener Mensch.‹

Bei vielen Männern wird ebenso wie bei la Peyrade, die Überlegenheit durch die Kühnheit oder die Schwierigkeit des Unternehmens erzeugt; die Anstrengungen, die sie machen, straffen ihre Muskeln, und sie verbrauchen außerordentlich viel Kraft; dann, nach dem Erfolge oder dem Misslingen, ist alle Welt erstaunt, sie klein, elend oder erschöpft zu sehen. Nachdem er den beiden Personen, von denen das Geschick Celestes abhing, eine Wissbegierde eingeimpft hatte, die fieberhaft werden musste, spielte Theodosius den Beschäftigten: fünf bis sechs Tage hindurch war er von früh bis abends abwesend, so dass er Flavia erst dann wiedersah, als ihre Begierde einen Höhepunkt erreicht hatte, wo man alle Schicklichkeit beiseite setzt, und dass er den alten Beau zwang, zu ihm zu kommen.

Am nächsten Sonntag war er ziemlich sicher, Frau Colleville in der Kirche zu finden; sie traten auch beide in demselben Augenblick heraus, trafen sich in der Rue des Deux-Eglises, und Theodosius bot Flavia den Arm, die ihn auch annahm und ihre Tochter mit ihrem Bruder Anatole vorausgehen ließ. Dieses jüngste Kind, das jetzt zwölf Jahre alt war, sollte in das Seminar eintreten und war in Barniols Institut in Halbpension, wo es den Elementarunterricht erhielt, und der Schwiegersohn Phellions hatte natürlich den Preis für die Halbpension mit Rücksicht auf die erhoffte Verbindung zwischen Phellion und Celeste ermäßigt.

»Haben Sie mir die Ehre und die Gunst erwiesen, über das, was ich Ihnen neulich so unbeholfen sagte, nachzudenken?« fragte der Advokat mit einschmeichelndem Ton die hübsche Fromme und drückte ihren Arm ebenso zärtlich wie stark an sein Herz, denn er schien sich zu bezwingen, um im Widerstreit mit seinem Empfinden respektvoll zu erscheinen. »Täuschen Sie sich nicht über meine Absichten«, fuhr er fort, als Frau Colleville ihm einen Blick zuwarf, wie ihn die Frauen, die die hohe Schule der Leidenschaft durchgemacht haben, zu schleudern verstehen, und dessen Ausdruck ebensogut eine strenge Zurückweisung wie eine geheime Übereinstimmung der Gefühle bedeuten kann. »Ich liebe Sie, wie man ein schönes Wesen liebt, das im Kampf mit dem Unglück steht; die christliche Nächstenliebe umfasst die Starken wie die Schwachen, und ihr Schatz gehört allen. Zart, reizend, elegant wie Sie sind, geschaffen, die Zierde der vornehmsten Gesellschaft zu sein, welcher Mann kann Sie anschauen ohne das tiefste Mitgefühl im Herzen, dass Sie unter diesen widerwärtigen Kleinbürgern leben müssen, die nichts von Ihnen verstehen, nicht einmal den aristokratischen Reiz einer Ihrer Haltungen oder eines Ihrer Blicke oder eines der einschmeichelnden Laute Ihrer Stimme! Ach ... wenn ich reich wäre! Ach, wenn ich Einfluss hätte! Ihr Mann, der gewiss ein guter Kerl ist, müsste Generalsteuereinnehmer werden, und Sie würden ihn dann zum Deputierten machen! Aber ich, ein armer Ehrgeiziger, dessen erste Pflicht ist, seinen Ehrgeiz zu zügeln, da ich die letzte Nummer in dem Beutel der Familienlotterie bin, ich kann Ihnen nur meinen Arm anbieten, nicht mein Herz. Ich erhoffe alles für mich von einer reichen Heirat, und seien Sie überzeugt, dass ich meine Frau nicht nur glücklich, sondern zu eine der ersten Frauen des Landes machen würde, wenn sie mir die Mittel gewährte, vorwärts zu kommen ... – Es ist schönes Wetter, machen wir einen Spaziergang durch den Luxembourgpark«, fuhr er fort, als sie an die Rue d'Enfer gelangt waren, an die Ecke des Hauses der Frau Colleville, dem gegenüber ein Durchgang nach dem Garten über die Treppe eines kleinen Hauses führt, dem letzten Rest des berühmten Karthäuserklosters.

Das Anschmiegen des Armes, der auf seinem lag, verkündete ihm das stillschweigende Einverständnis Flavias, und da sie es verdiente, dass er ihr die Ehre eines gewissen Zwanges erwies, so zog er sie schnell mit sich fort, indem er hinzufügte:

»Kommen Sie! Wir werden nicht immer einen so günstigen Moment abpassen können. Oh,« sagte er »Ihr Mann hat uns gesehen, er steht am Fenster; gehen wir langsamer ...«

»Sie haben von Herrn Colleville nichts zu befürchten,« sagte Flavia lächelnd, »er lässt mir vollkommene Freiheit in allem, was ich tue.«

»Ach, Sie sind wirklich die Frau, von der ich immer geträumt habe«, rief der Provenzale mit einer Ekstase und einer Betonung aus, wie sie Seelen in Brand setzen und nur aus dem Munde eines Südländers laut werden können. »Verzeihung, gnädige Frau«, sagte er, indem er sich besann und aus einer höheren Welt zu dem vertriebenen Engel zurückzukehren schien, den er mit frommen Blicken ansah; »Verzeihung, ich muss wieder auf das, was ich sagte, zurückkommen ... Aber, wie soll man kein Mitgefühl mit Schmerzen haben, die man selber empfindet, wenn man sieht, dass sie das Schicksal eines Wesens sind, dem das Leben nur Freude und Glück bescheren dürfte! ... Sie erdulden dasselbe wie ich, ich bin ebensowenig an meinem Platze wie Sie an dem Ihrigen: das gleiche Schicksal macht uns zu Bruder und Schwester! Ach, meine teure Flavia, der erste Tag, an dem es mir vergönnt war, Sie zu erblicken, das war der letzte Sonntag des Septembers i838 ... Sie waren so schön; ich werde Sie immer vor mir sehen, in diesem einfachen Mousselinedelaine-Kleide mit der Garnitur des Tartans irgendeines schottischen Clans! ... An diesem Tage habe ich mich gefragt: ›Was will diese Frau bei den Thuilliers, und vor allem, warum hat sie ein Verhältnis mit einem Menschen wie Thuillier gehabt?‹«

»Mein Herr!« ... sagte Flavia, erschreckt über die Wendung, die der Provenzale plötzlich dem Gespräche gab.

»Oh, ich weiß alles!« rief er achselzuckend aus; »Und mir ist auch alles erklärlich ... und ich achte Sie deshalb nicht geringer. Lassen Sie gut sein, Hässliche und Bucklige begehen solche Sünden nicht ... Sie aber, Sie müssen auch den Nutzen aus Ihrem Fehltritt ziehen können, und dabei will ich Ihnen helfen! Celeste wird einmal sehr reich sein, und auf dieser Grundlage ruht Ihre ganze Zukunft; Sie können nur einen Schwiegersohn haben, seien Sie klug genug, ihn richtig auszuwählen. Ein Ehrgeiziger würde es zum Minister bringen können, aber er würde Sie demütigen, Sie schikanieren und Ihre Tochter unglücklich machen; und verliert er sein Vermögen, dann wird er sicher kein neues erwerben. Ja, gewiss, ich liebe Sie mit grenzenloser Zuneigung; Sie sind über der Masse kleinlicher Bedenken, über die die Dummköpfe stolpern, erhaben. Verstehen wir uns. ..«

Flavia war verblüfft; aber sie hatte trotzdem Verständnis für die ungewöhnliche Freimütigkeit dieser Sprache und sagte sich: ›Er hält nicht hinterm Berge mit seiner Ansicht! ...‹ Aber sie musste sich gestehen, dass sie noch niemals von jemandem so tief in Erregung versetzt worden war wie von diesem jungen Manne.

»Ich begreife nicht, Herr de la Peyrade, woher Sie diese irrige Ansicht über meine Vergangenheit haben, und mit welchem Rechte Sie ...

»Oh, Verzeihung, gnädige Frau,« unterbrach sie der Provenzale so kühl, dass es fast verächtlich klang, »ich habe geträumt. Ich habe mir gesagt: ›Alles dies ist sie‹, aber ich sehe, ich stoße auf Vorurteile. Ich weiß jetzt, warum Sie für immer in Ihrem vierten Stock dort oben in der Rue d'Enfer bleiben werden.«

Und er begleitete diese Worte mit einer energischen Handbewegung, indem er auf die Fenster der Collevilleschen Wohnung zeigte, die man von der Allee des Luxembourgparks, in der sie allein waren, sehen konnte, dieses riesigen Ackerfeldes, das schon von so vielen jungen ehrgeizigen Menschen bebaut worden war.

»Ich habe freimütig gesprochen, und ich erwartete von Ihnen das gleiche; ich habe mein Leben gefristet, die Rechte studiert und mein Examen in Paris gemacht, alles mit einem Kapital von zweitausend Franken, und ich habe die Stadt durch die Barriere d'Italie betreten mit fünfhundert Franken in der Tasche; aber ich habe mir dabei zugeschworen wie einer meiner Landsleute, eines Tages einer der ersten Männer meines Vaterlandes zu werden ... Und der Mann, der sich oft sein Essen aus den Körben zusammengesucht hat, in die die Restaurateure ihre Überreste werfen und die sie um sechs Uhr morgens vor der Tür ausschütten, wenn die Kleinhöker sie nicht haben wollen, solch ein Mann wird von keinem Mittel ... vor dem man nicht erröten muss, zurückschrecken. – Halten Sie mich etwa für einen Volksfreund? ...« sagte er lächelnd; »man muss ein Sprachrohr für sein Renommee haben; das kann man sich nicht mit geflüsterten Worten machen; ... und ohne Ruf, was kann die Begabung erreichen? Der Advokat der Armen wird einmal der Advokat der Reichen werden ... Habe ich Sie nun genügend in mein Innerstes blicken lassen? öffnen Sie mir Ihr Herz ... Sagen Sie zu mir: ›Wir wollen Freunde sein‹, und wir werden alle eines Tages glücklich werden ...«

»Mein Gott, warum bin ich hierher gekommen? Warum habe ich Ihnen den Arm gegeben? ...« rief Flavia aus.

»Weil das Ihr Schicksal ist!« erwiderte er. »Ach meine teure, heißgeliebte Flavia,« fuhr er fort und presste ihren Arm an sein Herz, »haben Sie von mir allgemeine Redensarten erwartet? ... Wir sind Bruder und Schwester, ... das ist alles.«

Und er führte sie auf den Weg nach der Rue d'Enfer zurück.

Flavia verspürte auf dem Grunde der Befriedigung, die die Frauen bei heftigen Gemütsbewegungen empfinden, ein Gefühl der Angst, und sie hielt es für das Erschrecken, das eine neue Liebesleidenschaft hervorruft; aber sie war beglückt und hüllte sich in tiefes Schweigen.

»Woran denken Sie?« fragte Theodosius mitten auf dem Wege.

»An alles, was Sie eben zu mir gesagt haben«, antwortete sie.

»In unserm Alter«, entgegnete er, »hält man sich doch nicht mit Vorreden auf; wir sind keine Kinder mehr und befinden uns beide in einer Situation, wo man sich verständigen muss. Seien Sie aber jedenfalls überzeugt,« fügte er hinzu, als sie an die Rue d'Enfer gelangt waren, »dass ich Ihnen ganz gehöre.«

Und er verbeugte sich tief vor ihr.

»Nun sind die Eisen im Feuer«, sagte er zu sich und blickte seinem betäubten Opfer nach.

Als er nach Hause zurückkehrte, fand Theodosius auf dem Treppenabsatze eine Persönlichkeit vor, die gewissermaßen ein unterseeisches Dasein in unserer Erzählung führt, und die sich mit einer unterirdischen Kirche vergleichen lässt, über der sich die Fassade eines Palastes erhebt. Der Anblick dieses Mannes, der zuerst vergeblich bei Theodosius geklingelt hatte, und nun eben bei Dutocq klingelte, ließ den provenzalischen Advokaten erschauern, aber nur innerlich, denn nichts an seinem Äußeren verriet seine tiefe Erregung. Dieser Mann war jener Cérizet, von dem Dutocq schon bei den Thuilliers als von seinem Sekretär gesprochen hatte.

Cérizet, der noch nicht achtunddreißig Jahr alt war, sah aus wie ein Mann von fünfzig, so sehr gealtert war er infolge alles dessen, was einen Menschen alt macht. Sein Kopf und sein Haar ließen einen gelblichen Schädel sehen, den eine durch ihre Entfärbung rötlich schimmernde Perücke nur mangelhaft bedeckte; sein blasses, welkes, übermäßig rohes Gesicht erschien um so scheußlicher, als er eine zerfressene Nase hatte, die aber noch nicht so völlig zerstört war, dass er die Möglichkeit gehabt hätte, sie durch eine künstliche zu ersetzen: von ihrer Wurzel an der Stirn bis zu den Nasenlöchern hatte diese Nase noch ihre natürliche Gestalt; aber die Krankheit hatte die äußeren Nasenflügel zerfressen und nur zwei Löcher von merkwürdiger Form übriggelassen, die die Aussprache beeinträchtigten und die Worte entstellten. Die ursprünglich schönen Augen waren durch Elend jeder Art und durch um die Ohren geschlagene Nächte geschwächt, an den Rändern gerötet und zeigten tiefe Entstellungen; ihr Blick hätte, wenn ein Ausdruck von Bosheit hineingelegt würde, selbst Richtern oder Verbrechern, kurz, Leuten die vor nichts erschrecken, Angst einflößen können.

Der zahnlose Mund, der noch einige schwarze Stummel aufwies, hatte einen drohenden Ausdruck und ließ hier und da einen schaumigen Speichel sehen, der aber nicht auf die blassen schmalen Lippen trat. Cérizet, ein kleiner, mehr vertrockneter als magerer Mann, suchte für sein hässliches Gesicht durch seine Kleidung zu entschädigen, und wenn diese Kleidung auch keine gute war, so hielt er sie doch in sauberem Stande, was aber ihre Schäbigkeit vielleicht noch deutlicher hervortreten ließ. Alles an ihm erschien zweifelhaft wie sein Alter, seine Sprache, sein Blick. Es war nicht zu erkennen, ob er achtunddreißig oder sechzig Jahr alt war, ob seine blaue, verblasste, aber eng anliegende Hose bald wieder modern sein würde, oder der Mode des Jahres 1835 entsprach. Seine abgetretenen, aber sorgfältig geputzten, dreimal geflickten Stiefel, die einst elegant waren, hatten vielleicht die Teppiche eines Ministers unter sich gehabt. Sein Überrock mit Schnüren, durch Regengüsse verwaschen, dessen Knöpfe ihren Grund durch den Überzug indiskret durchblicken ließen, zeigte in seinem Schnitt noch etwas von seiner früheren Eleganz. Die seidene hohe Krawatte ließ glücklicherweise die Wäsche nicht sehen, war aber hinten von den Zinken der Schnalle zerrissen, und die Seide hatte von der Fettigkeit, die die Perücke absonderte, einen andern Glanz erhalten. Die Weste mochte wohl, als sie neu war, sauber ausgesehen haben, es war aber ein Exemplar der Sorte, die zu vier Franken aus den Beständen der Händler mit fertigen Kleidungsstücken verkauft wird. Alles war sorgfältig abgebürstet, ebenso wie der glänzende verbeulte seidene Hut. Und alles passte zueinander und zu den schwarzen Handschuhen an den Händen dieses subalternen Mephistos, dessen Lebenslauf ein paar Worte gewidmet sein sollen.

Er war ein Künstler auf dem Gebiete des Bösen, der zuerst mit dem Bösen Glück gehabt hatte und der, durch den ersten Erfolg getäuscht, fortfuhr, Niederträchtigkeiten anzuzetteln, ohne die Grenzen des Strafgesetzes zu überschreiten. Nachdem er durch Verrat an seinem Herrn Leiter einer Druckerei geworden war, wurde er als Herausgeber eines liberalen Blattes verurteilt; und in der Provinz war er dann unter der Restauration einer der »schwarzen Männer« der königlichen Regierung und der »unglückliche« Cérizet, ganz wie der unglückliche Chauvet und wie der heldenmütige Mercier. Diesem Rufe verdankte er im Jahre 1830 seine Ernennung zum Unterpräfekten; sechs Monate später wurde er abgesetzt; aber er behauptete, er wäre, ohne dass man ihn gehört hätte, verurteilt worden, und machte solchen Lärm, dass er unter dem Ministerium Casimir Perier Leiter einer vom Ministerium bezahlten antirepublikanischen Zeitung wurde. Er verließ diese Stellung, um sich Geschäften zu widmen, worunter sich auch eine der übelsten Gründungen befand, die zur Untersuchung vor das Zuchtpolizeigericht gezogen wurde, und wobei er die Verurteilung zu schwerer Strafe stolz auf sich nahm, indem er erklärte, sie sei nur ein Racheakt der republikanischen Partei, die es ihm nicht verzeihen könne, dass er ihr so scharfe Schläge in seinem Blatte beigebracht hatte, und die nun eine Wunde mit zehn anderen vergelte. Seine Gefängnisstrafe hatte er in einem Krankenhause verbracht. Die Regierung schämte sich schließlich eines Mannes, der aus dem Findelhause stammte, und dessen wüstes Leben und schmutzige Geschäfte, die er mit einem früheren Bankier, namens Claparon, zusammen machte, ihn schließlich der vollauf verdienten Verachtung preisgegeben hatten. Daher hatte Cérizet, der auf der sozialen Leiter von Stufe zu Stufe bis ans unterste Ende gelangt war, noch einen Rest von Mitleid nötig, um die Stelle eines Sekretärs bei dem Gerichtsvollzieher Dutocq zu erhalten. Aber in der Tiefe seines Elends träumte dieser Mensch von Rache, und da er nichts mehr zu verlieren hatte, so war ihm jedes Mittel dazu recht. Dutocq und er waren durch ihren üblen Lebenswandel miteinander verbunden. In ihrem Stadtviertel war Cérizet für Dutocq, was der Jagdhund für den Jäger ist. Cérizet, mit allen Nöten des Elends vertraut, trieb den Rinnsteinwucher, den man Darlehn auf eine kurze Woche nennt; er hatte damit begonnen, mit Dutocq Halbpart zu machen, und der ehemalige Pariser Gassenjunge, der der Bankier der Straßenhändler geworden war, der Geldleiher der Handwagen, war der nagende Wurm zweier Faubourgs.

»Nun,« sagte Cérizet, als Dutocq seine Tür öffnete, »da Theodosius zurück ist, können wir zu ihm gehen.«

Und der Armenadvokat ließ die beiden Männer vorangehen.

Die Drei durchschritten ein kleines Zimmer mit glänzend gebohnten Fliesen, auf die die untergehende Sonne ihren rötlichen Schein warf, wenn sie zwischen den Perkalvorhängen hindurchschien, und das einen einfachen runden Nussbaumtisch und ein Nussbaumbüfett enthielt, auf dem eine Lampe stand. Von da gelangten sie in einen kleinen Salon mit roten Vorhängen und Mahagonimöbeln, die mit rotem Utrechter Plüsch bezogen waren; an der den Fenstern gegenüberliegenden Wand befand sich eine Bibliothek mit juristischen Büchern. Auf dem Kamin stand eine gewöhnliche Garnitur: eine Uhr mit vier Säulen aus Mahagoni und Leuchter unter Glas. Das Arbeitszimmer, in dem sich die drei Freunde vor ein Steinkohlenfeuer setzten, war das übliche Arbeitszimmer eines jungen Advokaten; es enthielt einen Schreibtisch, einen Armsessel, schmale grünseidene Vorhänge an den Fenstern, einen grünen Teppich, einen Aktenbock und ein Ruhebett, über dem ein elfenbeinerner Christus auf Sammetgrund hing. Das Schlafzimmer, die Küche und der übrige Teil der Wohnung gingen nach dem Hofe hinaus.

»Nun,« sagte Cérizet, »wie stehts? Kommen wir vorwärts?«

»Aber gewiss«, antwortete Theodosius.

»Gestehen Sie zu,« rief Dutocq, »dass ich da eine ausgezeichnete Idee gehabt habe? Indem ich mir ein Mittel ausgedacht habe, um diesen Schwachkopf von Thuillier hineinzulegen ...«

»Ja, aber ich bin auch nicht zurückgeblieben«, rief Cérizet; »ich werde Ihnen heute die Fäden in die Hand geben, wie wir der alten Jungfer beikommen und sie dann wie einen Kreisel gehen lassen können ... Wir dürfen uns nicht darüber täuschen! Fräulein Thuillier bedeutet hierbei für uns alles: haben wir sie auf unsrer Seite, dann ist die Sache gewonnen ... Reden wir nicht lange, aber deutlich, wie es sich für kluge Männer gehört. Mein früherer Sozius Claparon ist, wie Sie wissen, ein Dummkopf, und er wird sein ganzes Leben das, was er immer gewesen ist, bleiben: ein Strohmann. Augenblicklich dient er als Strohmann einem Pariser Notar, der sich mit Unternehmern zusammengetan hat, und die, der Notar wie die Maurermeister, pleite sind. Und Claparon sitzt in der Patsche; er hat noch niemals Bankerott gemacht, aber alles muss mal einen Anfang haben; augenblicklich hält er sich bei mir, in meinem Loch in der Rue des Poules, versteckt, wo ihn kein Mensch finden kann. Mein Claparon ist wütend, er hat keinen Heller; nun befindet sich unter den fünf oder sechs Häusern, die verkauft werden sollen, ein wahres Prachtstück von Haus, ganz aus echtem Stein gebaut, in der Gegend der Madeleinekirche – eine Fassade wie die Schale einer Netzmelone, mit entzückenden Skulpturen – das aber, da es noch nicht ganz fertig ist, für höchstens hunderttausend Franken weggehen wird; bei einer Anzahlung von fünfundzwanzigtausend Franken kann man in zwei Jahren hiervon eine Rente von etwa zehntausend Franken haben. Wer dieses Grundstück Fräulein Thuillier verschafft, der kann alles von ihr verlangen, wobei man ihr zu verstehen geben muss, dass sich ein ebensolcher Gelegenheitskauf alle Jahre finden wird. Eitle Menschen fängt man damit, dass man ihrer Eigenliebe schmeichelt, oder ihnen droht, Geizige damit, dass man ihren Geldbeutel attakiert oder ihn füllt. Und da, alles erwogen, für die Thuilliers arbeiten bedeutet, für uns arbeiten, so muss man sie bei dieser Sache verdienen lassen.«

»Und der Notar,« sagte Dutocq, »warum lässt der sich das entgehen?«

»Der Notar, mein lieber Junge? Der ist ja gerade unser Glück! Er ist genötigt, seine Stelle zu verkaufen, da er auch sonst ruiniert ist, und hat sich dieses Stückchen aus dem Rest des Kuchens vorbehalten. Weil er diesen Esel von Claparon für ehrlich hält, hat er ihn beauftragt, einen vorgeschobenen Käufer für ihn zu finden; denn er muss ebenso vertrauensvoll wie klug sein. Wir werden ihn nun glauben lassen, dass Fräulein Thuillier ein anständiges Fräulein ist, das dem armen Claparon ihren Namen leihen will, und so werden sie alle beide hineingelegt werden, Claparon und der Notar. Ich bin dieses kleine Geschenk meinem lieben Claparon schuldig, der mir damals bei der Gründungsgeschichte alle Schuld aufgebürdet hat, wo wir von Couture betrogen wurden, in dessen Haut zu stecken ich Ihnen nicht wünschen möchte!«, sagte er, und ein Strahl teuflischen Hasses brach aus seinen trüben Augen. »Ich habe gesprochen, meine hohen Herren!« fügte er mit lauter Stimme hinzu, die ganz durch die Löcher seiner Nase drang, und nahm eine theatralische Haltung an, denn in einer der Zeiten seines äußersten Elends war er auch Schauspieler gewesen.

Als er seine Darlegung beendet hatte, klingelte es an der Tür, und la Peyrade erhob sich, um zu öffnen.

»Sind Sie immer noch mit ihm zufrieden?« sagte Cérizet zu Dutocq. »Er macht mir einen so merkwürdigen Eindruck ..., ich verstehe mich doch auf Verräterei.«

»Er ist so vollkommen in unsern Händen,« sagte Dutocq, »dass ich mir nicht die Mühe nehme, ihn zu beobachten; aber, unter uns gesagt, ich hielt ihn nicht für so klug, wie er ist. Wir hatten geglaubt, auf ein Rennpferd einen Mann gesetzt zu haben, der nicht reiten kann, und jetzt zeigt sichs, dass der Kerl ein alter Jockey ist! So stehts ...«

»Er mag sich in acht nehmen!« sagte Cérizet dumpf, »ich kann ihn umblasen wie ein Kartenhaus. Aber Sie, Papa Dutocq, Sie können ihn ja bei der Arbeit sehen und ihn jeden Augenblick beobachten; passen Sie auf ihn auf! Übrigens habe ich eine Möglichkeit, ihm auf den Zahn zu fühlen, ich werde ihm von Claparon den Vorschlag machen lassen, sich unsrer zu entledigen, und dann werden wir ja sehen ...«

»Das wäre nicht übel«, sagte Dutocq, »du bist nicht blöde.«

»Man versteht sein Handwerk, das ist alles!« sagte Cérizet.

Diese Worte wurden leise gesprochen, während Theodosius bis zur Tür ging und wieder zurückkam. Cérizet musterte alles im Arbeitszimmer, als der Advokat wieder erschien.

»Es ist Thuillier,« sagte Theodosius, »ich erwartete seinen Besuch; er ist im Salon ... Er braucht Cérizets Überrock nicht zu sehen,« fügte er lächelnd hinzu, »diese Schnüre da würden ihn beunruhigen.«

»Bah! Du empfängst arme Leute, das ist doch dein Beruf ... Brauchst du Geld?« fuhr Cérizet fort und holte hundert Franken aus der Hosentasche. »Nimm, nimm, das wird dir gut tun.«

Und er legte den Stapel auf den Kamin.

»Übrigens«, sagte Dutocq, »können wir uns ja auch durch das Schlafzimmer entfernen.«

»Also adieu«, sagte der Provenzale und öffnete ihnen die Tapetentür, die von dem Arbeitszimmer ins Schlafzimmer führte. »Treten Sie ein, mein verehrter Herr Thuillier«, rief er dem alten Beau zu. Und als er ihn in der Tür des Arbeitszimmers erscheinen sah, begleitete er seine beiden Genossen durch das Schlaf- und Ankleidezimmer und die Küche, deren Tür auf den Hausflur ging.

»In sechs Monaten musst du Celestes Mann und aus aller Not sein ... Du bist doch ein glücklicher Mensch, du, du hast nicht auf der Anklagebank vor dem Zuchtpolizeigericht gesessen, zweimal ... wie ich! Das erstemal im Jahre 1825 in einem Tendenzprozesse, ... wegen einer Reihe von Artikeln, die ich nicht geschrieben hatte, und das zweitemal wegen der Gewinne aus der Gründungsgeschichte, die uns vor der Nase weggeschnappt wurden! Aber nun Feuer dahinter, verdammt noch mal! Dutocq und ich, wir haben jeder unsre fünfundzwanzigtausend Franken verflucht nötig; also viel Glück, mein Lieber!« schloss er und reichte Theodosius die Hand, indem er sie prüfend drückte. Der Provenzale reichte Cérizet die Rechte und drückte ihm aufs wärmste die Hand.

»Sei überzeugt, mein Junge, dass ich unter keinen Umständen jemals vergessen werde, aus welcher Lage du mir herausgeholfen und mich in den Sattel gesetzt hast ... Ich bin euer Angelhaken, aber ihr lasst mir einen schönen Anteil an der Beute, und ich müsste ja niederträchtiger als ein Sträfling, der sich als Spion anbietet, sein, wenn ich nicht offenes Spiel spielen würde.«

Sobald die Tür geschlossen war, sah Cérizet durchs Schlüsselloch, um Theodosius' Gesicht zu beobachten; aber der Provenzale hatte sich schon umgewandt, um zu Thuillier zurückzueilen, und sein misstrauischer Genosse konnte nicht sehen, welchen Ausdruck seine Physiognomie angenommen hatte.

Es war weder Widerwille noch Ärger, sondern Freude, was sich jetzt auf seinem unbeobachteten Gesichte malte. Theodosius sah, wie die Chancen des Erfolges sich immer günstiger für ihn gestalteten, und er schmeichelte sich mit dem Gedanken, dass er sich von seinen üblen Helfershelfern, obwohl er ihnen alles verdankte, schon würde losmachen können. Das Elend hat, besonders in Paris, unergründliche schmutzige Tiefen, und wenn ein darin Versunkener wieder an die Oberfläche kommt, so bringt er an seinem Körper und an seinen Kleidern die Spuren des Schmutzes mit herauf. Cérizet, Theodosius' früherer wohlhabender Freund und Beschützer, war der Schmutzfleck, der noch an dem Provenzalen haftete, und der alte Gründungsschwindler ahnte, dass dieser ihn sich würde abbürsten wollen, wenn er in eine Sphäre gelangte, wo ein anständiges Aussehen Bedingung war.

»Mein lieber Theodosius,« sagte Thuillier, »wir haben Sie jeden Tag in dieser Woche erwartet, und jeden Abend haben wir unsre Erwartung getäuscht gesehen. Aber diesen Sonntag haben wir unser Diner, und meine Schwester und meine Frau haben mich beauftragt, Sie dazu zu bitten ...«

»Ich hatte so viel zu tun,« sagte Theodosius, »dass ich für niemanden, wer es auch sei, auch nur zwei Minuten übrig hatte, selbst nicht für Sie, den ich doch zu meinen Freunden rechne, und mit dem ich zu reden hatte ...«

»Wie? Denken Sie denn wirklich ernsthaft an das, worüber Sie mit mir gesprochen haben?« unterbrach Thuillier Theodosius.

»Wenn Sie nicht gekommen wären, damit wir uns darüber verständigen, dann würde ich Sie nicht so hochschätzen, wie ich es tue«, entgegnete la Peyrade lächelnd. »Sie waren doch Vizechef, Sie werden also doch wohl noch ein wenig Ehrgeiz haben, und der ist bei Ihnen nur allzu berechtigt! Hören Sie! Unter uns gesagt, wenn man sieht, wie dieser Minard, ein vergoldeter Hohlkopf, zu Hofe geht und sich in den Tuilerien breit macht; wie Popinot auf dem Wege ist, Minister zu werden; ... und Sie, ein Mann, der die Geschäfte der Verwaltung am Schnürchen hat, ein Mann mit dreißigjähriger Erfahrung, der unter sechs Regierungen gedient hat, Sie sollen sich damit begnügen, in der Stille Ihre Rosen zu züchten? Oh, nein! ... Ich rede offen, mein lieber Thuillier, ich will Sie in die Höhe bringen, weil Sie mich dann mit emporziehen ... Also hören Sie meinen Plan. Aus unserm Bezirk soll ein Mitglied des Magistrats gewählt werden, und das sollen Sie sein! ... Und,« sagte er mit Nachdruck, »das werden Sie sein! Dann werden Sie eines Tages zum Deputierten des Bezirks gewählt werden, sobald die Kammer neu gewählt wird, was ja nicht mehr lange dauern kann ... Die Stimmen, die Sie zum Mitglied der Stadtverwaltung gewählt haben, werden Ihnen auch bei der Deputiertenwahl treu bleiben, verlassen Sie sich dabei auf mich ...«

»Aber wie wollen Sie das zustande bringen?« rief Thuillier aus, fasziniert von dieser Aussicht.

»Das werden Sie schon erfahren; aber Sie müssen mich diese langwierige und schwierige Sache allein durchführen lassen; wenn Sie irgend etwas verlauten lassen von dem, was in dieser Angelegenheit besprochen, eingefädelt und zwischen uns verabredet wird, dann lasse ich Sie im Stich und sage: gehorsamer Diener!«

»Oh, Sie können auf das absolute Schweigen eines früheren Vizechefs rechnen; was sind mir für Geheimnisse anvertraut worden ...«

»Schön! Aber es handelt sich auch darum, dass die Sache vor Ihrer Frau, Ihrer Schwester und den Collevilles geheim bleibt.«

»Nicht ein Wimpernzucken soll etwas verraten«, sagte Thuillier und nahm eine undurchdringliche Miene an.

»Gut!« erwiderte la Peyrade, »ich werde Sie auf die Probe stellen. Aber um gewählt werden zu können, muss man den Zensus bezahlen, und das tun Sie nicht.«

»Verzeihung, für die Munizipalwahl genügt das, was ich zahle: zwei Franken und sechsundachtzig Centimes.«

»Gewiss; aber für die Kammerdeputierten beträgt der Zensus fünfhundert Franken, und wir haben damit keine Zeit zu verlieren, denn man muss nachweisen, dass man schon ein Jahr lang so eingeschätzt ist.«

»Teufel noch mal!« sagte Thuillier, »binnen eines Jahres auf fünfhundert Franken zu kommen ...«

»Spätestens Ende Juli werden Sie zahlen müssen; aber meine Ergebenheit geht so weit, dass ich Ihnen das Geheimnis eines Geschäftes anvertrauen will, bei dem Sie sich dreißig- bis vierzigtausend Franken Rente mit einem Kapital von höchstens hundertfünfzigtausend Franken verschaffen können. Nun leitet bei Ihnen seit langer Zeit Ihre Schwester die Geldgeschäfte; ich bin weit entfernt davon, das zu missbilligen; sie besitzt, wie man sagt, die beste Urteilsfähigkeit; wir müssen also damit beginnen, dass ich mir die Zuneigung und Freundschaft Fräulein Brigittes erwerbe, indem ich ihr diese Kapitalsanlage vorschlage, und zwar aus folgendem Grunde: wenn Fräulein Thuillier mir nicht unbedingtes Vertrauen schenkt, würde es ein Hin- und Hergezerre geben; daher müssen Sie Ihrer Schwester nahelegen, dass Sie das Grundstück auf Ihren Namen eintragen lässt. Das ist viel wirksamer, als wenn dieser Vorschlag von mir ausginge. Im übrigen werden Sie ja beide die Sachen prüfen. Was nun meine Schritte anlangt, die ich tun will, um Sie in die städtische Verwaltung zu bringen, so sind es diese: Phellion verfügt über den vierten Teil der Stimmen seines Stadtviertels, er und Laudigeois wohnen hier seit dreißig Jahren, man hört auf sie wie auf ein Orakel. Ein Freund von mir verfügt über ein zweites Viertel, und der Pfarrer von Saint-Jacques, der infolge seines vortrefflichen Charakters einen gewissen Einfluss hat, auch über einige Stimmen. Dutocq, der ebenso wie der Friedensrichter Beziehungen zu den Bewohnern des Bezirks hat, wird mir behilflich sein, zumal da es sich nicht um mich selber handelt; und schließlich bedeutet Colleville, als Stadtsekretär, auch ein Viertel der Stimmen.«

»Aber Sie haben ja ganz recht,« rief Thuillier aus, »dann bin ich ja gewählt!«

»Glauben Sie?« sagte la Peyrade mit beißender Ironie; »gehen Sie nur mal zu Ihrem Freunde Colleville und bitten Sie ihn um seine Unterstützung; Sie werden schon sehen, was er sagen wird ... Bei Wahlangelegenheiten erlangt kein Kandidat den Sieg durch sich selbst, sondern nur durch seine Freunde. Niemals darf man selbst etwas für sich verlangen, man muss sich bitten lassen, eine Kandidatur anzunehmen, man muss jeden Ehrgeiz ableugnen.« »La Peyrade,« rief Thuillier, erhob sich und drückte dem jungen Advokaten die Hand, »Sie sind ein sehr kluger Mann.«

»Nicht so klug wie Sie, aber ich besitze einige Fähigkeiten«, erwiderte der Provenzale lächelnd.

»Aber wie soll ich mich gegen Sie erkenntlich zeigen, wenn wir siegen?« fragte Thuillier naiv.

»Also hören Sie ... Sie werden mich vielleicht für anmaßend halten; bedenken Sie aber, dass ein tiefes Gefühl mich rechtfertigt, und dass dieses Gefühl mir Mut gemacht hat, alles dies in die Wege zu leiten! Ich liebe, und ich will mich Ihnen anvertrauen.«

»Aber wen denn?« sagte Thuillier.

»Ihre teure kleine Celeste,« erwiderte la Peyrade, »und diese Liebe bürgt Ihnen für meine Hingebung, denn was täte ich nicht alles für meinen ›Schwiegervater‹! Es ist das ja Egoismus, ich arbeite ja für mich ...«

»Still!« rief Thuillier erschreckt.

»Ja, mein lieber Freund,« sagte la Peyrade und fasste ihn um die Taille, »hätte ich nicht Flavia auf meiner Seite und wüsste ich nicht alles, würde ich dann mit Ihnen davon gesprochen haben? Nur bitte ich, noch abzuwarten; sprechen Sie noch kein Wort mit ihr darüber. Hören Sie mich an: ich bin aus dem Holz, aus dem Minister geschnitzt werden, und ich will Celeste erst besitzen, wenn ich sie mir verdient habe; Sie sollen mir Ihre Hand erst an dem Abend des Tages zusagen, an dem sich in der Wählerliste so viele Stimmen auf Ihren Namen vereinigt haben, dass Sie Deputierter von Paris werden. Dazu aber muss man schwerer wiegen als Minard: Minard muss also beiseite geschoben werden, Sie müssen das, worauf sich Ihr Einfluss gründet, in der Hand festhalten, und um das zu erreichen, machen Sie Celeste zu einem Preis, um den wir alle kämpfen ... Frau Colleville, Sie und ich, wir werden eines Tages wichtige Persönlichkeiten sein. Glauben Sie übrigens nicht, dass ich ein Geldinteresse habe: ich will Celeste ohne Vermögen haben, nur mit ihren Aussichten ... Mit Ihnen zusammen zu leben, Celeste im Schoße Ihrer Familie zu lassen, das ist meine Absicht ... Sie sehen, ich spreche ohne Hintergedanken. Was Sie anlangt, so werden Sie sechs Monate nach Ihrer Wahl zum Rat der städtischen Verwaltung das Kreuz haben, und sobald Sie Deputierter sind, werden Sie sich zum Offizier der Ehrenlegion ernennen lassen ... Ihre Kammerreden, nun, die werden wir zusammen verfassen! Vielleicht wird es nötig sein, dass Sie ein ernstes Buch über eine Materie auf halb moralischem, halb politischem Gebiet schreiben, zum Beispiel über Wohltätigkeitseinrichtungen von einem höheren Gesichtspunkte aus, oder über die Reform der Pfandleihhäuser, bei denen schwere Missbräuche eingerissen sind. Dann bringen wir neben Ihrem Namen ein kleines Bild von Ihnen ... Das wird gut wirken, besonders in unserm Viertel. Ich habe Ihnen gesagt: ›Sie können das Kreuz haben und Mitglied der Behörde des Seinedepartements werden‹. Vertrauen Sie mir, denken Sie nicht daran, mich in Ihre Familie aufzunehmen, bevor Sie nicht das Ordensband im Knopfloch haben und erst an dem Tage, an dem Sie Ihren Sitz in der Kammer eingenommen haben. Aber ich werde noch mehr tun: ich werde Ihnen ein Einkommen von vierzigtausend Franken verschaffen ...« »Schon für jeden einzelnen dieser drei Punkte sollen Sie unsere Celeste haben!«

»Ach, was ist das für eine Perle!« sagte la Peyrade und hob die Augen zum Himmel, »ich gestehe meine Schwäche, dass ich jeden Tag für sie zu Gott bete ... Sie ist so entzückend, das hat sie jedenfalls von Ihnen ... Mir brauchen Sie übrigens keine Vorsichtsmaßregeln anzuempfehlen! Dutocq hat mir alles mitgeteilt. Also auf heute abend! Ich muss jetzt zu Phellion, um für Sie zu wirken. Selbstverständlich denken Sie für Celeste nicht im entferntesten an mich ... sonst würden Sie mir Hals und Beine brechen. Also tiefstes Schweigen darüber, selbst gegen Flavia! Warten Sie ab, bis sie mit Ihnen davon anfängt. Phellion wird Sie schon heute abend um Ihre Zustimmung zu seinem Projekt, Sie als Kandidaten aufzustellen, bestürmen.«

»Heute abend?« sagte Thuillier.

»Heute abend,« erwiderte la Peyrade, »vorausgesetzt, dass ich ihn zu Hause treffe.«

Thuillier ging fort und sagte zu sich: ›Das ist ein hervorragender Mensch! Immer verstehen wir uns ausgezeichnet, und, wahrhaftig, wir können nur schwer einen besseren Mann für Celeste finden; sie werden mit uns zusammen leben, das bedeutet viel, und er ist ein braver Junge, ein guter Mensch ...‹

Bei Naturen von der geistigen Beschaffenheit Thuilliers spielen Nebenumstände für ihr Urteil die gleiche wichtige Rolle, wie die Hauptsache. Theodosius hatte die gewinnendste Liebenswürdigkeit entfaltet.

Das Haus, wohin Theodosius seine Schritte bald danach lenkte, war seit fünfundzwanzig Jahren das »hoc erat in votis« Phellions; gleichzeitig gehörte es ebensosehr zu Phellion, wie die Schnüre an Cérizets Überrock ein für diesen charakteristisches Abzeichen waren.

Das an ein großes Haus angeklebte Gebäude hatte nur die Tiefe eines Zimmers, etwa zwanzig Fuß, und besaß an jeder Ecke eine Art einfenstrigen Pavillon. Sein Hauptvorzug war ein Garten, etwa hundertachzig Fuß breit und länger als die ganze Fassade des Vorhofes, in dem sich eine Gruppe von Lindenbäumen befand. Der Hof war neben dem einen Pavillon nach der Straße zu durch zwei Gitter abgeschlossen, zwischen denen sich eine kleine zweiflügelige Tür öffnete. Dieser aus Bruchsteinen und Mörtel aufgeführte Bau war zwei Stockwerke hoch, gelb angestrichen, hatte grüne Jalousien und im Erdgeschoss Fensterläden von gleicher Farbe. Im Erdgeschoss des nach dem Hofe zu gelegenen Pavillons befand sich die Küche, und die Köchin, eine starke dicke Person, versah, unterstützt von zwei riesigen Hunden, gleichzeitig die Geschäfte einer Portiersfrau. Die Fassade, die von fünf Fenstern und den um sechs Fuß vorspringenden Pavillons gebildet wurde, war im echten Stile Phellion gehalten. Über der Tür war eine Marmortafel eingelassen, auf der in goldenen Lettern zu lesen stand: »Aurea mediocritas«. Über einer an der Fassade angemalten Sonnenuhr stand der weise Spruch angeschrieben: »Umbra mea vita, sic«!

Die Fensterbrüstungen waren kürzlich aus rotem Languedoc-Marmor neu hergestellt worden, der sich in einem Marmorgeschäft vorgefunden hatte. Im Hintergrunde des Gartens war eine bunt bemalte Statue aufgestellt, die die Passanten für eine ein Kind nährende Amme zu halten pflegten. Im Erdgeschoss lagen nur ein Salon und ein Speisezimmer, getrennt durch eine schmale Treppe, deren Absatz ein Vorzimmer bildete. An den Salon stieß noch ein kleiner Raum, der Phellion als Arbeitszimmer diente.

Im ersten Stock lagen die Zimmer der beiden Ehegatten und das des jungen Professors, darüber die Kinderzimmer und die der Dienstboten; Phellion hatte sich, mit Rücksicht auf sein Alter und das seiner Frau, einen männlichen Dienstboten, einen Jungen von fünfzehn Jahren zugelegt, zumal seitdem sein Sohn durch seinen Unterricht bekannt geworden war. Wenn man durch den Hof kam, befanden sich links kleine Kammern zum Aufbewahren des Brennholzes, in denen der frühere Besitzer den Portier untergebracht hatte. Phellions warteten anscheinend die Verheiratung ihres Sohnes, des Professors ab, um sich auch noch diese letzte Annehmlichkeit zu leisten. Dieses Grundstück, auf das Phellions schon längst ein Auge geworfen hatten, hatte sie im Jahre 1831 achtzehntausend Franken gekostet. Vom Hofe war das Haus durch ein Balustrade aus Hausteinen getrennt, mit einem Dach von Hohlziegeln und mit Fliesen ausgelegt. An dieser kleinen Mauer von Brusthöhe zog sich eine Hecke von bengalischen Rosen hin, und in ihrer Mitte befand sich eine Holzlattentür, die gegenüber der geschlossenen Tür nach der Straße hin lag.

Wer die Sackgasse des Feuillantines kennt, wird wissen, dass das Haus Phellions, das rechtwinklig zur Chaussee steht, direkt nach Süden blickt und gegen Norden durch die riesige Brandmauer, an die es sich anlehnt, geschützt ist. Die Kuppel des Pantheons und die der Kirche Val-de Grâce gleichen von hier aus zwei Riesen und sind so nahe gerückt, dass man sich in dem Garten wie in einem Engpasse bewegt. Im übrigen gibt es keinen stilleren Ort als die Sackgasse des Feuillantines. Hierher hatte sich der unbekannte erhabene Bürger zurückgezogen und genoss die Annehmlichkeiten des Ruhestandes, nachdem er dem Vaterlande seine Schuld durch seine Arbeit im Finanzministerium bezahlt, und sich nach sechsunddreißigjähriger Dienstzeit als Sekretär zur Ruhe gesetzt hatte. Im Jahre 1832 hatte er sein Bataillon der Nationalgarde bei dem Angriff von Saint-Merri geführt, aber seine Nachbarn sahen Tränen in seinen Augen bei dem Gedanken, dass er auf irregeleitete Franzosen schießen lassen solle. Die Affäre war schon entschieden, als die Legion im Laufschritt über die Notre-Dame-Brücke heranrückte, nachdem sie einen Umweg über den Quai aux Fleurs gemacht hatte. Diese rühmenswerte Verzögerung hatte ihm die Achtung seines Bezirks eingetragen, ihn aber die Verleihung des Ordens der Ehrenlegion gekostet; der Oberst hatte laut erklärt, dass man vor dem Feinde nicht Erwägungen anstellen dürfe, ein Wort, das Louis-Philippe zu der Nationalgarde von Metz geäußert hatte. Trotzdem erhielten Phellions bürgerlichen Tugenden und das große Ansehen, das er in seinem Stadtviertel genoss, ihn seit acht Jahren in seiner Stellung als Bataillonskommandeur. Da er jetzt dicht an sechzig war und den Zeitpunkt heranrücken sah, wo er den Degen und den Offizierskragen ablegen musste, so hoffte er, dass der König die Gnade haben würde, ihn durch die Verleihung der Ehrenlegion für seine Dienste zu belohnen.

Die Wahrheit zwingt uns zu sagen, trotz des Schattens, den eine solche Schwäche auf einen so edlen Charakter wirft, dass der Kommandant Phellion sich bei den Empfängen in den Tuilerien auf die Fußspitzen stellte; er drängte sich vor und warf dem Bürgerkönig, wenn er an seinem Tische speiste, verführerische Blicke zu; aber trotz seiner heimlichen Bemühungen war er von dem Könige seiner Wahl noch nicht bemerkt worden. Der ehrenwerte Mann hatte schon mehr als einmal daran gedacht, aber sich noch nicht entschließen können, Minard zu bitten, ihn bei seinen geheimen ehrgeizigen Wünschen zu unterstützen.

Phellion, der Mann des passiven Gehorsams, war ein Stoiker in bezug auf seine Pflicht und von eherner Festigkeit in allem, wo es sich um seine Überzeugung handelte. Um sein Bild auch nach der körperlichen Seite hin zu vervollständigen, so sei gesagt, dass Phellion mit seinen neunundfünfzig Jahren, um einen Bourgeoisausdruck zu gebrauchen, »stark geworden« war; sein ausdruckloses pockennarbiges Gesicht war wie ein Vollmond, so dass seine früher zu dicken Lippen nicht mehr auffielen. Seine schwach gewordenen Augen hatten hinter den Brillengläsern nicht mehr den Ausdruck hellblauer Unschuld, der zum Lachen gereizt hatte; seine weißen Haare verbreiteten über das, was zwölf Jahre früher kindisch und lächerlich an ihm erschien, eine gewisse Würde. Die Zeit, die Gesichter mit feinen zarten Zügen so unheilvoll verändert, verschönert solche, die in der Jugend eine grobe plumpe Form hatten; das war auch bei Phellion der Fall. Er benutzte die Musse seines Alters dazu, einen Abriss der Geschichte Frankreichs zu verfassen; er hatte schon vorher einige Bücher geschrieben, die von der Universität anerkannt waren.

Als la Peyrade erschien, war die Familie vollzählig versammelt; Frau Barniol hatte ihrer Mutter eben über ihre Kinder, die ein leichtes Unwohlsein hatten, berichtet. Der Ingenieurschüler verbrachte diesen Tag zu Hause. Alle waren sonntäglich gekleidet und saßen am Kamin des holzgetäfelten Salons, der grau in grau gemalt war, auf billigen Holzsesseln; sie erschraken, als Genovefa, die Köchin, die Persönlichkeit anmeldete, über die sie gerade in bezug auf Celeste sprachen, die Felix Phellion so sehr liebte, dass er zur Messe gegangen war, um sie dort zu sehen. Der gelehrte Mathematiker hatte sich noch am heutigen Morgen diese Mühe gemacht, und man neckte ihn in wohlwollender Weise damit, mit dem heimlichen Wunsche, dass Celeste und ihre Eltern erkennen möchten, welch ein kostbarer Schatz ihnen hier geboten wurde.

»Ach, die Thuilliers scheinen mir an diesem sehr gefährlichen Menschen einen Narren gefressen zu haben«, sagte Frau Phellion; »heute morgen ist er sogar Arm in Arm mit Frau Colleville nach dem Luxembourggarten gegangen.«

»Dieser Advokat hat etwas Unheilverkündendes an sich«, rief Felix Phellion; »es sollte mich nicht wundern, wenn er ein Verbrechen begangen hätte.«

»Du gehst zu weit«, sagte der alte Phellion; »er ist aber ein leiblicher Vetter Tartuffes, dieser unsterblichen Figur, die von unserm ehrenwerten Molière in Bronze gegossen worden ist, denn die Grundlage von Molières Genie, Kinder, waren Ehrenhaftigkeit und Vaterlandsliebe.«

Gerade bei dieser Bemerkung war Genovefa eingetreten und hatte gesagt:

»Da ist Herr de la Peyrade, er möchte den Herrn sprechen.«

»Mich?« rief Herr Phellion. »Bitten Sie ihn, einzutreten!« setzte er hinzu mit einer Feierlichkeit, die bei solchen kleinlichen Anlässen etwas Lächerliches hatte, die aber stets seiner Familie imponierte, in der er wie ein König behandelt wurde.

Phellion, seine beiden Söhne, seine Frau und seine Tochter erhoben sich und erwiderten die Rundverbeugung des Advokaten.

»Welchem Anlass verdanken wir die Ehre Ihres Besuches?« sagte Phellion ernst.

»Ihrer bedeutenden Stellung in diesem Bezirk, mein verehrter Herr Phellion, und einer öffentlichen Angelegenheit«, erwiderte Theodosius.

»Dann wollen wir in mein Arbeitszimmer gehen«, sagte Phellion.

»Nein, nein, mein Lieber,« sagte die dürre Frau Phellion, eine kleine Frau, platt wie eine Scholle, deren Gesicht den Ausdruck gewollter Strenge festhielt, mit der sie in den Pensionaten jungen Leuten Musikunterricht erteilte, »wir lassen euch hier allein.«

Ein Pianino von Erard, das dem Kamin gegenüber zwischen zwei Fenstern stand, wies auf die Ansprüche hin, die ständig an die Virtuosin gestellt wurden.

»Sollte ich die unglückliche Veranlassung sein, Sie in die Flucht zu jagen?« sagte Theodosius lächelnd und liebenswürdig zu Mutter und Tochter. »Sie haben hier ja einen entzückenden Zufluchtsort,« fuhr er fort, »es fehlt nur noch eine hübsche Schwiegertochter, damit Sie den Rest Ihrer Tage in dieser ›aurea mediocritas‹, nach dem Worte des römischen Dichters, inmitten der Freuden des Familienlebens verbringen können. Ihr bisheriger Lebenswandel verdient eine solche Belohnung, denn, nach allem was man mir gesagt hat, sind Sie, mein verehrter Herr Phellion, zugleich ein guter Bürger und ein Patriarch ...«

»Mein werter Herr,« sagte Phellion verlegen, »ich habe meine Pflicht getan, das ist alles.«

Als Theodosius das Wort »Schwiegertochter« aussprach, sah Frau Barniol, die ihrer Mutter wie ein Wassertropfen dem andern glich, Frau Phellion und Felix an, als wollte sie sagen: ›Sollten wir uns getäuscht haben?‹

Der Wunsch, sich über diese Bemerkung auszusprechen, veranlasste die vier Menschen, sich in den Garten zurückzuziehen, denn es war im März 1840, wenigstens in Paris, schönes Wetter.

»Herr Kommandant,« sagte Theodosius, als er mit dem ehrenwerten Bürger allein war, der sich bei dieser Anrede immer geschmeichelt fühlte, »ich komme, um mit Ihnen über die Wahlen zureden.«

»Ach, richtig, wir haben ja zum Munizipalrat zu wählen«, unterbrach ihn Phellion.

»Und ich störe Ihre Sonntagsruhe wegen einer Kandidatur; aber vielleicht entfernen wir uns damit nicht aus dem Kreise der Familie.«

Es war für Phellion unmöglich, mehr er selber zu sein, als Theodosius in diesem Augenblick Phellion war.

»Sie dürfen kein Wort weiter sagen«, erwiderte Phellion, indem er eine Pause benutzte, die Theodosius gemacht hatte, um die Wirkung seiner Worte abzuwarten; »meine Wahl ist getroffen.«

»Dann haben wir also denselben Gedanken gehabt!« rief Theodosius, »gute Menschen finden sich ebenso, wie geistvolle Menschen ...«

»Ich glaube nicht, dass das diesmal der Fall ist«, entgegnete Phellion. »Unser Bezirk kann für den Munizipalrat den ausgezeichnetsten Mann präsentieren, wie der bedeutendste aller Richter einer war, nämlich der selige Herr Popinot, der verstorbene Rat am Obergericht. Als es sich darum handelte, ihn zu ersetzen, wohnte sein Neffe, sein Nachfolger in seinem wohltätigen Tun, noch nicht in unserm Viertel; inzwischen hat er aber das Haus in der Rue de la Montagne-Sainte-Geneviève, in dem sein Onkel wohnte, gekauft und bezogen; er ist Arzt an der polytechnischen Schule und an einem unsrer Krankenhäuser; er ist eine Zierde unseres Bezirks; und aus diesem Grunde, und um das Andenken des Onkels in der Person des Neffen zu ehren, haben einige Einwohner des Bezirks und ich beschlossen, die Kandidatur des Doktors Horace Bianchon aufzustellen, der, wie Sie wissen, Mitglied der Akademie der, Wissenschaften und einer der jungen Sterne der berühmten Pariser Schule ist ... Ein Mann ist in unsern Augen nicht bloß deshalb bedeutend, weil er berühmt ist, und der selige Rat Popinot war, nach meiner Ansicht, fast ein zweiter heiliger Vincent de Paula.« »Ein Arzt ist aber kein Verwaltungsbeamter,« erwiderte Theodosius, »und außerdem bitte ich um Ihre Stimme für einen Mann, bei dem Ihre wichtigsten Interessen verlangen, eine Vorliebe zum Opfer zu bringen, die übrigens für die öffentlichen Angelegenheiten völlig unwichtig ist.«

»Wie, mein Herr?« rief Phellion aus, erhob sich und nahm eine Haltung an wie Lafeu in dem Stück ›le Glorieux‹, »Sollten Sie mich so niedrig einschätzen, dass Sie glauben, persönliche Interessen könnten jemals einen Einfluss auf meine politische Überzeugung haben? Sobald es sich um öffentliche Angelegenheiten handelt, bin ich Bürger, nichts mehr und nichts weniger.«

Theodosius amüsierte sich heimlich über den Kampf, der sich nun bald zwischen dem Vater und dem Bürger entspinnen würde.

»Verpflichten Sie sich nicht sich selbst gegenüber, ich beschwöre Sie,« sagte la Peyrade, »denn es handelt sich um das Glück Ihres teuren Felix.«

»Was wollen Sie damit sagen? ...« fragte Phellion und blieb mitten im Zimmer stehen, indem er seine Hand von rechts nach links in seine Weste schob, wobei er eine Geste des berühmten Odilon Barrot nachmachte.

»Ich komme ja wegen unsres gemeinsamen Freundes, des würdigen und ausgezeichneten Herrn Thuillier, dessen bestimmender Einfluss auf das Schicksal der schönen Celeste Colleville Ihnen genügend bekannt sein dürfte; und wenn, wie ich annehme, Ihr Sohn, ein junger Mann, auf den jede Familie stolz sein kann, und dessen Verdienste unbestreitbar sind, eine Heirat mit Celeste anstrebt, eine in jeder Beziehung passende Partie, so könnten Sie nichts besseres tun, als sich Thuilliers ewige Dankbarkeit damit zu verdienen, dass Sie Ihren würdigen Freund Ihren Mitbürgern in Vorschlag bringen ... Was mich anlangt, so glaubte ich, obwohl ich erst kurze Zeit in dem Bezirk wohne, dank dem Einfluss, den mir einige den Armen erwiesene Wohltaten verschafft haben, von mir aus diesen Schritt tun zu dürfen; aber wenn man der Sache der Armen dient, so fällt das nur wenig bei den Höchstbesteuerten ins Gewicht, und außerdem würde ein solches Hervortreten nur wenig zu meiner bescheidenen Lebensführung passen. Ich habe mich dem Dienste der Niedrigen gewidmet, verehrter Herr; ebenso wie der selige Rat Popinot, dieser erhabene Mann; wie Sie sagten, und wenn ich nicht einen in gewissem Sinne frommen Beruf hätte, mit dem sich die Verpflichtungen des Ehelebens schlecht vereinigen lassen, so würde ich wünschen und mich in zweiter Linie berufen fühlen, in den Dienst des Höchsten, der Kirche zu treten ... Ich mache nicht von mir reden, wie die falschen Philanthropen; ich schreibe nicht, ich handele, denn ich bin ein Mann, der sich ganz einfach der christlichen Nächstenliebe gewidmet hat. Ich habe den ehrgeizigen Wunsch unsres Freundes Thuillier zu ahnen geglaubt, und ich wollte zu dem Glück zweier Wesen, die füreinander geschaffen sind, mit beitragen, indem ich Ihnen zeige, womit Sie sich einen Zugang zu dem etwas kühlen Herzen Thuilliers verschaffen können.«

Durch diese wundervoll vorgetragene Tirade geriet Phellion in Verwirrung; er war verführt und ergriffen, aber er blieb Phellion, ging geradeswegs auf den Advokaten zu und reichte ihm die Hand, deren Druck la Peyrade erwiderte.

Es war ein Händedruck, wie er im August des Jahres 1830 zwischen der Bürgerschaft und den kommenden Männern gewechselt wurde.

»Mein werter Herr,« sagte der Kommandant bewegt, »ich habe Sie falsch beurteilt. Was Sie mir anzuvertrauen die Güte hatten, das bleibt hier begraben! ...« Dabei zeigte er auf sein Herz. »Sie sind einer der Männer, von denen es wenige gibt, die Einen aber mit den Übelständen, die übrigens von unsern sozialen Verhältnissen bedingt sind, aussöhnen können. Das Gute ist so selten, dass es unsrer schwachen Natur entspricht, wenn wir dem Anschein nicht trauen. Sie haben in mir einen Freund gewonnen, wenn Sie mir gestatten wollen, mir diese ehrenvolle Bezeichnung Ihnen gegenüber beizulegen ... Aber Sie sollen auch mich kennenlernen, mein Herr: ich würde meine Selbstachtung einbüßen, wenn ich Thuillier als Kandidat vorschlüge. Nein, mein Sohn darf sein Glück nicht einer schlechten Handlung seines Vaters zu verdanken haben ... Ich werde von meinem Kandidaten nicht abgehen, weil es das Interesse meines Sohnes verlangt ... So fasse ich die sittlichen Pflichten auf, mein Herr!«

La Peyrade zog sein Taschentuch heraus, rieb sich die Augen und brachte eine Träne hervor; dann reichte er Phellion die Hand, wandte seinen Kopf ab und sagte:

Die Kleinbürger

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