Читать книгу Die Kleinbürger - Оноре де Бальзак - Страница 4

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»Das ist eine erhabene Stellung, die Sie, verehrter Herr, in diesem Kampfe zwischen dem privaten und dem öffentlichen Leben einnehmen. Und wäre ich auch nur hergekommen, um dieses Schauspiel zu sehen, so wäre mein Besuch nicht umsonst gewesen ... Was wollen Sie, an Ihrer Stelle würde ich ebenso handeln! ... Sie sind das Erhabenste, was Gott geschaffen hat: ein guter Mensch! Ein Bürger wie Jean-Jacques! O Frankreich, mein Vaterland, was könntest du werden, wenn du viele solche Bürger hättest! ... Ich habe die Ehre, mein Herr, Sie um Ihre Freundschaft zu bitten.«

»Was geht denn da vor?« rief Frau Phellion, die diese Szene durch das Fenster beobachtete, »der Vater und dieses Scheusal liegen sich in den Armen!«

Phellion und der Advokat traten jetzt heraus und gesellten sich zu der Familie im Garten.

»Mein lieber Felix,« sagte der alte Herr und wies auf la Peyrade, der sich vor Frau Phellion verbeugte, »du musst diesem würdigen jungen Manne sehr dankbar sein, er wird dir weit mehr nützen als schaden.«

Der Advokat ging fünf Minuten lang mit Frau Barniol und Frau Phellion unter den kahlen Linden auf und ab und gab ihnen, angesichts der schwierigen Umstände, die sich aus der politischen Hartnäckigkeit Phellions ergaben, Ratschläge, deren Ergebnis am Abende zutage treten sollten, und deren erste Wirkung darin bestand, die beiden Damen zu Verehrerinnen seiner Geschicklichkeit, seiner Offenheit und seiner unschätzbaren Fähigkeiten zu machen. Der Advokat wurde von der gesamten Familie bis an die Straßentür begleitet, und aller Augen folgten ihm, bis er um die Ecke der Rue du Faubourg-Saint-Jacques gebogen war. Frau Phellion nahm den Arm ihres Mannes, als sie in den Salon zurückkehrten und sagte zu ihm: »Aber sage mir, mein Lieber, willst du, ein so guter Vater, in deinem übertriebenen Zartgefühl, die beste Heirat, die unser Felix machen kann, scheitern lassen?«

»Die großen Männer des Altertums, meine Beste,« entgegnete Phellion, »solche wie Brutus und andere, waren niemals Väter, wenn es darauf ankam, sich als Bürger zu zeigen ... Das Bürgertum hat noch viel mehr als der Adel, an dessen Stelle zu treten es berufen ist, die Verpflichtung, das Beispiel erhabener Tugend zu geben. Herr von Saint-Hilaire dachte nicht an seinen verlorenen Arm, als er vor dem toten Turenne stand ... Wir müssen uns als würdig erweisen, und wir sollen das auf allen Stufen der sozialen Hierarchie tun. Durfte ich meiner Familie solche Grundsätze beibringen, um sie dann im gegebenen Moment selbst zu missachten? ... Nein, meine Liebe, weine heute, wenn du willst; morgen wirst du mir deine Achtung nicht verweigern! ...« sagte er zu seiner kleinen, dürren besseren Hälfte, die Tränen in den Augen hatte.

Diese großen Worte sprach er auf der Schwelle der Tür, über der angeschrieben stand: »Aurea mediocritas.«

»Ich hätte noch hinzusetzen können: ›et digna‹« fuhr Phellion fort und wies auf die Tafel; »aber diese beiden Worte hätten wie Selbstlob geklungen.«

»Lieber Vater,« sagte Marie-Theodor Phellion, der zukünftige Ingenieur der Wegebauverwaltung, als die ganze Familie wieder im Salon vereinigt war, »es scheint mir doch nicht gegen die Ehre zu verstoßen, wenn man seinen Entschluss bezüglich einer Wahl ändert, sofern das für das öffentliche Wohl ganz gleichgültig ist.«

»Gleichgültig, mein Sohn?« rief Phellion aus.

»Unter uns will ich dir sagen, und Felix ist derselben Ansicht: Herr Thuillier ist ein ganz unfähiger Mensch! Er versteht nichts! Herr Horace Bianchon aber, das ist ein tüchtiger Mann, er wird tausend Dinge für unsern Bezirk durchsetzen, Thuillier nicht eine! Und merke dir, mein Sohn, einen richtigen Entschluss persönlicher Interessen halber in einen falschen umändern, das heißt niederträchtig handeln, und wenn das auch den Augen der Menschen entgeht, die Strafe Gottes wird nicht ausbleiben. Ich fühle mich, oder ich glaube mich vor meinem Gewissen rein fühlen zu dürfen, und ich bin es euch schuldig, meiner Familie mein Andenken unbefleckt zu hinterlassen, deshalb wird mich auch nichts zu einer Änderung bestimmen können.«

»Ach, lieber Vater,« rief die kleine Frau Barniol aus und setzte sich mit einem Kissen auf Phellions Knie, »setze dich doch nicht gleich so aufs hohe Pferd! Es gibt doch so viele Dummköpfe und Nullen im Munizipalrat, und Frankreich lebt trotzdem weiter. Der brave Thuillier wird doch immer Ja sagen ... Bedenke, dass Celeste vielleicht mal fünfhunderttausend Franken haben wird.«

»Und wenn sie fünf Millionen hätte,« sagte Phellion, »und sie lägen hier vor mir, ... auch dann würde ich Thuillier noch nicht als Kandidaten vorschlagen, wenn ich es dem Andenken an den tugendreichsten aller Menschen schuldig bin, Horace Bianchon wählen zu lassen. Und aus der Himmelshöhe wird Popinot auf mich herabsehen und mir zustimmen! ...« rief Phellion aufgeregt aus. »Mit solchen Anschauungen erniedrigt man Frankreich und spricht das Verdammungsurteil über das Bürgertum.«

»Der Vater hat recht,« sagte Felix, der aus seiner tiefen Verträumtheit erwachte, »und er hat Anspruch auf unsre Achtung und unsre Liebe wie stets im Verlaufe seines ganzen bescheidenen, arbeitsreichen und ehrenhaften Lebens. Ich will auch mein Glück weder den Gewissensskrupeln einer edlen Seele noch einer Intrige zu verdanken haben; ich liebe Celeste wie meine eigenen Angehörigen, aber höher als alles dies steht mir die Ehre meines Vaters, und mit dem Augenblick, wo es sich bei ihm um eine Gewissensfrage handelt, ist die Sache für mich erledigt.«

Phellion, die Augen voller Tränen ging auf seinen Ältesten zu und umarmte ihn.

»Mein Sohn, mein lieber Sohn!« sagte er mit erstickter Stimme.

»Das sind alles Dummheiten«, sagte Frau Phellion leise zu Frau Barniol; »hilf mir beim Anziehen, das muss ein Ende haben; ich kenne deinen Vater, er hat sich in die Sache verbissen ... Für den Weg, den uns dieser brave, fromme junge Mann eben gezeigt hat, brauche ich deine Unterstützung, Theodor; halte dich bereit, mein Sohn.«

In diesem Augenblick brachte Genovefa dem alten Phellion einen Brief.

»Eine Einladung von den Thuilliers zum Diner, für meine Frau, mich und Felix«, sagte er.

Die glänzende verblüffende Idee des Armenadvokaten hatte die Thuilliers ebenso in Aufregung versetzt wie die Phellions; und Jerome war, ohne dass er seiner Schwester etwas anvertraute, denn er betrachtete das seinem Mephisto gegenüber als eine Ehrensache, ganz aufgeregt zu ihr kommen, um ihr zu sagen:

»Hör' mal, Kleine (mit dieser Benennung schmeichelte er sich immer in ihr Herz), wir werden heute große Gesellschaft zum Diner haben; ich gehe jetzt und lade Minards ein, also sorge für feines Essen; ich schicke auch Phellions eine Einladung; es geschieht etwas spät, aber bei ihnen braucht man sich nicht zu genieren ... Was Minards anlangt, so müssen wir ihnen etwas Sand in die Augen streuen, ich habe sie nötig.«

»Vier Minards, drei Phellions, vier Collevilles und wir, das sind dreizehn ...«

»La Peyrade ist der vierzehnte, und es wäre auch gut, Dutocq zu bitten, er kann uns nützlich sein; ich werde zu ihm hinaufgehen.«

»Was steckt denn da dahinter?« rief seine Schwester aus; »fünfzehn Personen zum Diner, da gehen mindestens vierzig Franken drauf!«

»Lass dir das nicht leid tun, Kleine, und sei vor allem liebenswürdig gegen unsern jungen Freund la Peyrade. Das ist ein Freund ... Davon wirst du dich noch überzeugen! ... Wenn du mich lieb hast, dann hüte ihn wie deinen Augapfel ...« Und er ließ Brigitte allein, die ganz verblüfft war.

›O ja, ich werde mich erst überzeugen!‹ sagte sie zu sich. ›Mit schönen Worten lasse ich mich nicht fangen! ... Er ist ein netter Junge, aber bevor ich ihn ins Herz schließe, muss ich ihn doch noch etwas genauer kennenlernen.‹

Als Thuillier Dutocq eingeladen hatte, begab er sich, nachdem er sich freigemacht hatte, nach der Rue des Magons-Sorbonne, in das Haus Minards, um die dicke Zélie zu bezaubern und das Ungewöhnliche der Einladung zu beschönigen. Minard hatte eins der großen, kostbaren Häuser erworben, welche die früheren kirchlichen Orden sich rings um die Sorbonne gebaut hatten, und als er die großen steinernen Stufen der Treppe hinaufstieg, deren schmiedeeisernes Geländer bewies, in wie hoher Blüte auch die Künste zweiten Ranges unter Ludwig XIII. standen, hatte Thuillier ein Gefühl des Neides, sowohl wegen des Hauses, als auch wegen der Stellung des Herrn Bürgermeisters.

Das große, zwischen Vorhof und Garten gelegene Wohnhaus zeichnete sich durch den gleichzeitig zierlichen und vornehmen Stil Ludwigs XIII. aus, der so eigenartig zwischen dem Ende der entarteten Renaissance und der Großartigkeit des frühen Stils Ludwig XIV. steht. Man sieht diesen Übergangsstil bei vielen Monumentalbauten. Das mächtige Ornament der Fassaden wie das an der Sorbonne, die nach den Regeln der griechischen Ordnungen hergestellten Säulen erscheinen zuerst bei diesen Bauwerken.

Ein ehemaliger Kleinhändler, ein erfolgreicher Schwindler, war der Nachfolger des kirchlichen Leiters einer Institution geworden, die einstmals das Economat genannt wurde, und die der Generalverwaltung des alten französischen Klerus unterstand, eine Gründung, die dem weitblickenden Genius Richelieus zu verdanken war. Der Name Thuillier öffnete diesem die Türen des Salons, in dem auf rotem Sammet mit Goldverzierungen inmitten kostbarer Chinoiserieen die arme Frau thronte, die mit ihrem ganzen Gewicht schwer auf der Brust der Prinzen und Prinzessinnen bei den populären Bällen im Schlosse lastete.

»Gibt das nicht der ›Karikatur‹ recht?« sagte eines Tages lächelnd eine Hofdame zu einer Herzogin, die einen Lachausbruch nicht zurückhalten konnte, als sie die aufgedonnerte Zélie erblickte, die mit Diamanten beladen, rot wie eine Klatschrose und in ein golddurchwirktes Kleid eingeschnürt, vorwärts rollte, wie eine Tonne in ihrem früheren Laden.

»Werden Sie mir vergeben können, schönste Frau,« sagte Thuillier, der sich heranschlängelte und dann die Pose Numero zwei seines Repertoirs von 1817 annahm, »dass ich diese Einladung auf meinem Schreibtisch liegen ließ, im Glauben, sie sei schon abgesandt? ... Sie war zu heute abend; komme ich etwa schon zu spät ...?«

Zélie sah ihren Mann an, der herantrat, um Thuillier zu begrüßen, und antwortete dann:

»Wir wollen eigentlich einen Landsitz besichtigen und dann ›auf gut Glück‹ in einem Restaurant speisen, aber wir werden darauf verzichten, und zwar um so lieber, als es, meiner Meinung nach, scheußlich gewöhnlich ist, am Sonntag aus Paris wegzufahren.«

»Wir wollen einen kleinen Tanz mit Klavierbegleitung für die Jugend veranstalten, wenn wir zahlreich genug sein werden, was ich annehme; ich habe die Zusage von Phellion, dessen Frau mit Frau Prou befreundet ist, dem Nachfolger ...« »Der Nachfolgerin« unterbrach ihn Frau Minard. »Ach gewiss!« erwiderte Thuillier, »es ist ja die Nachfolgerin, wie man Frau Bürgermeisterin sagt, des Fräuleins Lagrave, einer geborenen Barniol.« »Muss man Toilette machen?« fragte Frau Minard. »Aber nicht doch!« rief Thuillier aus, »meine Schwester würde schön mit mir schelten. Nein, nein, wir sind ja in Familie! Zur Zeit des Kaiserreichs, gnädige Frau, lernte man sich beim Tanzen kennen ... In dieser großen Zeit stellte man einen guten Tänzer ebenso hoch, wie einen guten Soldaten ... Heutzutage legt man mehr Wert auf das Materielle ...«

»Sprechen wir nicht über Politik«, sagte der Bürgermeister lächelnd. »Der König ist ein großer Mann, ich bin ein Bewunderer unsrer Zeit und der Verfassung, die wir uns gegeben haben. Der König weiß übrigens recht gut, was er tut, wenn er die Industrie sich entwickeln lässt: er kämpfte Leib an Leib mit England, und wir schädigen dieses mehr durch unsern fruchtbringenden Frieden, als es die Kriege der Kaiserzeit getan haben ...«

»Was für einen Deputierten würde Minard abgeben!« rief Zélie naiv aus; »er übt sich vor uns im Reden, und Sie werden uns bei der Wahl unterstützen, nicht wahr, Thuillier?«

»Sprechen wir nicht über Politik«, entgegnete Thuillier; »wir erwarten Sie um fünf Uhr ...« »Kommt der kleine Vinet auch?« fragte Minard; »der war doch sicher Celestes wegen erschienen.« »Der kann schon Trauer anlegen«, erwiderte Thuillier; »Brigitte will von ihm überhaupt nicht reden hören.«

Zélie und Minard wechselten einen Blick voller Zufriedenheit.

»Wenn man bedenkt, dass man sich unsres Sohnes wegen mit solchen Leuten gemein machen muss!« rief Zélie aus, als Thuillier, den der Bürgermeister hinausbegleitet hatte, auf der Treppe war. ›Ach, du willst Deputierter werden!‹ sagte Thuillier zu sich, als er die Treppe hinunter ging. ›Mit nichts haben diese Krämer genug! Mein Gott, was würde Napoleon sagen, wenn er die Regierung in den Händen dieser Leute sähe! ... Ich, ich bin doch wenigstens Verwaltungsbeamter! ... Was ist das für ein Konkurrent! Was wohl la Peyrade dazu sagen wird!‹

Der ehrgeizige Vizechef lud noch die Familie Laudigeois zum Abend ein und begab sich dann zu Colleville, um zu bitten, dass Celeste recht hübsche Toilette mache. Er fand Flavia ziemlich nachdenklich vor; sie zögerte mit der Zusage, aber Thuillier besiegte ihre Unentschlossenheit.

»Meine liebe alte und immer noch junge Freundin,« sagte er und fasste sie um die Taille, denn sie waren allein im Zimmer, »ich will kein Geheimnis vor Ihnen haben. Es handelt sich für mich um eine schwerwiegende Sache ... Ich will nicht mehr sagen, ich kann Sie nur bitten, ganz besonders liebenswürdig zu sein gegen einen jungen Mann ...«

»Gegen wen denn?«

»Gegen den jungen la Peyrade.«

»Und weshalb, Karl?«

»Mein Schicksal liegt in seiner Hand, und im übrigen ist er ein genialer Mensch. Oh, ich verstehe mich darauf ... Er hat so etwas!« sagte Thuillier und machte dabei die Bewegung eines Zahnarztes, der einen Backzahn auszieht. »Man muss ihn an uns fesseln, Flavia! ... Aber wir dürfen ihn durchaus nichts merken lassen und ihm nicht verraten, was für eine Macht wir ihm zutrauen ... Ich werde ihm gegenüber nach dem Grundsatz handeln: Zug um Zug.«

»Soll ich also ein bisschen mit ihm kokettieren?«

»Ja, aber nicht zu sehr, mein Engel«, erwiderte Thuillier mit geckenhafter Miene.

Und er entfernte sich, ohne zu merken, in welches Erstaunen Flavia versetzt worden war.

›Er ist eine Macht, dieser junge Mensch,‹ sagte sie sich. ›Nun, wir wollen abwarten.‹

Sie legte also ihren Haarschmuck von Marabufedern an und ihr hübsches grau- und rosafarbenes Kleid, das ihre zarten Schultern unter der schwarzen Mantille sehen ließ, und sorgte dafür, dass Celeste ihr kurzes seidenes Kleid mit einem Brustschleier und einer Halskrause in breiten Falten anzog, und machte ihr eine Frisur à la Berthe. Um viereinhalb Uhr war Theodosius schon auf dem Posten; er hatte eine nichtssagende, beinahe untertänige Miene aufgesetzt und redete mit süßer Stimme, als er zunächst mit Thuillier in den Garten ging.

»Mein lieber Freund, ich habe keinen Zweifel, dass Sie siegen werden, aber ich empfinde das Bedürfnis, Ihnen nochmals tiefstes Stillschweigen anzuempfehlen. Wenn man Sie heute abend irgend etwas fragt, besonders in bezug auf Celeste, so geben Sie ausweichende Antworten und lassen Sie den Frager im Ungewissen, das müssen Sie ja damals im Büro gelernt haben.«

»Einverstanden!« sagte Thuillier. »Aber wissen Sie irgend etwas Bestimmtes?«

»Sie werden schon sehen, was ich Ihnen für einen Nachtisch zurechtgemacht habe. Seien Sie vor allem recht anspruchslos. Da kommen die Minards, die muss ich mir kaufen ... Führen Sie sie hierher, und dann verschwinden Sie.«

Nach den Begrüßungen gab sich la Peyrade Mühe, neben dem Herrn Bürgermeister zu bleiben; und in einem geeigneten Moment nahm er ihn beiseite und sagte zu ihm:

»Herr Bürgermeister, ein Mann von Ihrer politischen Bedeutung kommt nicht hierher, um sich zu langweilen, wenn er nicht eine Absicht dabei hat; ich maße mir kein Urteil über Ihre Beweggründe an, wozu ich auch nicht das geringste Recht hätte, und es ist nicht meine Aufgabe hier, mich in die Angelegenheiten der Mächtigen dieser Erde zu mischen; aber vergeben Sie mir meine Vermessenheit und haben Sie die Güte, auf einen Rat zu hören, den ich Ihnen zu geben wage. Wenn ich Ihnen heute einen Dienst leiste, so sind Sie in einer Lage, dass Sie mir morgen zwei erweisen können; falls ich Ihnen also irgendwie von Nutzen sein kann, so spricht dabei für mich auch mein persönliches Interesse mit. Unser Freund Thuillier ist unglücklich darüber, dass er so gar nichts ist, und er hat sich in den Kopf gesetzt, etwas zu werden, eine Persönlichkeit in seinem Bezirk ...«

»Ei, ei!« sagte Minard.

»Oh, nichts Erhebliches; er möchte gern in den Munizipalrat gewählt werden. Ich weiß, dass Phellion, der die ganze Wichtigkeit eines solchen geleisteten Dienstes ahnt, sich vorgenommen hat, unsern lieben Freund als Kandidaten vorzuschlagen. Nun, vielleicht halten Sie es bei Ihren Absichten für nötig, ihm hierbei zuvorzukommen.

Die Wahl Thuilliers kann Ihnen nur nützlich ... ich wollte sagen angenehm sein; er wird seinen Platz im Munizipalrate ganz gut ausfüllen, es gibt dort welche, die noch weniger tüchtig sind, als er ... Und im übrigen, wenn er Ihnen eine solche Unterstützung zu verdanken hat, so wird er sicher alles mit Ihren Augen ansehen, er hält Sie ja für eine Leuchte der Stadtverwaltung ...«

»Ich danke Ihnen, mein Lieber«, sagte Minard; »Sie haben mir da einen Dienst erwiesen, für den ich gar nicht genug dankbar sein kann, und der mir beweist ...«

»Dass ich die Phellions nicht mag«, erwiderte la Peyrade und benutzte eine Pause, die der Bürgermeister machte, der Angst hatte, einen Gedanken auszusprechen, in dem der Advokat eine Geringschätzung sehen könnte; »ich hasse die Leute, die solch ein Wesen von ihrer Anständigkeit hermachen und edle Gefühle ausmünzen möchten.«

»Sie scheinen die Leute gut zu kennen,« sagte Minard, »das sind die richtigen Sykophanten! Das ganze Leben dieses Mannes seit zehn Jahren erklärt sich aus der Sehnsucht nach diesem Endchen roten Bandes«, fügte der Bürgermeister hinzu und zeigte auf sein Knopfloch.

»Nehmen Sie sich in acht!« sagte der Advokat, »sein Sohn liebt Celeste, und er spielt hier die Hauptrolle.«

»Ja, aber mein Sohn hat eine Rente von zwölftausend Franken für sich ...«

»Oh,« sagte der Advokat und richtete sich auf, »Fräulein Brigitte sagte neulich, dass sie das zum mindesten bei einem Bewerber um Celeste verlange. Außerdem werden Sie, bevor sechs Monate vergangen sind, erfahren, dass Thuillier ein Grundstück besitzt, das vierzigtausend Franken Rente abwirft.«

»Oh, verdammt, das konnte ich mir denken!« antwortete der Bürgermeister. »Also, er wird Mitglied des Munizipalrats werden.«

»Jedenfalls sagen Sie ihm nichts von mir«, sagte der Armenadvokat und beeilte sich, Frau Phellion zu begrüßen. »Nun, schönste Frau, ist es geglückt?« »Ich habe bis ein Uhr warten müssen, aber dieser vortreffliche, würdige Mann hat mich gar nicht erst ausreden lassen; er ist viel zu beschäftigt, um ein solches Amt annehmen zu können, und Phellion hat schon den Brief gelesen, worin der Doktor Bianchon ihm für seine guten Absichten dankt und ihm mitteilt, dass sein Kandidat Herr Thuillier ist. Er wird seinen ganzen Einfluss zu seinen Gunsten aufbieten und bittet meinen Mann, das gleiche zu tun.«

»Und was hat Ihr verehrungswürdiger Gatte gesagt?« »Ich habe meine Pflicht getan«, hat er geantwortet; »ich habe meine Überzeugung nicht verleugnet, und jetzt bin ich ganz und gar für Thuillier.«

»Nun, dann ist alles in Ordnung«, sagte la Peyrade. »Vergessen Sie meinen Besuch und schreiben Sie sich allein das Verdienst zu, diesen Gedanken gehabt zu haben.«

Und er begab sich zu Frau Colleville, indem er eine respektvolle Miene aufsetzte.

»Gnädige Frau,« sagte er, »haben Sie die Güte, den guten Papa Colleville zu mir zu bringen; es handelt sich um eine Überraschung für Thuillier, und er muss ins Vertrauen gezogen werden.«

Während la Peyrade sein Theater mit Colleville aufführte und ihn mit sehr geistvollen Scherzen von der Kandidatur in Kenntnis setzte, wobei er ihm erklärte, dass er sie im Familieninteresse unterstützen müsse, hörte Flavia im Salon folgendes Gespräch, das sie verblüffte, mit an:

»Ich möchte gern wissen, was sich die Herren Colleville und la Peyrade dort erzählen, dass sie so lachen!« sagte Frau Thuillier in ihrer törichten Art, während sie aus dem Fenster sah.

»Sie reden Dummheiten, wie es die Männer immer tun, wenn sie unter sich sind«, antwortete Fräulein Thuillier, die häufig mit einem Rest instinktiver Abneigung, wie sie alten Jungfern innewohnt, gegen die Männer loszog.

»Dazu ist er nicht fähig,« sagte Phellion würdevoll, »denn Herr de la Peyrade ist einer der tugendhaftesten jungen Leute, die mir begegnet sind. Sie wissen, wie hoch ich Felix stelle: nun, ich stelle ihn auf die gleiche Höhe, und außerdem wünschte ich meinem Sohne noch etwas von der edlen Frömmigkeit des Herrn Theodosius.«

»Er ist in der Tat ein verdienstvoller Mann, der seinen Weg machen wird«, sagte Minard. »Was mich anlangt, so ist ihm mein Beistand (ich wage nicht zu sagen meine Protektion) sicher ...«

»Er gibt mehr für Lampenöl als für Brot aus«, sagte Dutocq, »das weiß ich genau.«

»Seine Mutter, wenn er das Glück hat, sie noch zu besitzen, muss sehr stolz auf ihn sein«, sagte Frau Phellion.

»Er ist ein wahrer Schatz für uns,« fügte Thuillier hinzu, »und wenn Sie wüssten, wie bescheiden er ist! Er will gar nicht von sich reden machen.«

»Wofür ich einstehen kann,« bemerkte Dutocq, »das ist, dass kein junger Mann sein Elend vornehmer ertragen hat, und er hat es überwunden; aber wie er gelitten hat, das sieht man ihm an.«

»Ach, der arme junge Mensch!« rief Zélie aus; »so etwas tut mir so wehe! ...«

»Man kann ihm seine Geheimnisse und sein Vermögen anvertrauen,« sagte Thuillier, »und etwas besseres kann man heutzutage von einem Manne nicht sagen.«

»Es ist Colleville, der ihn zum Lachen reizt!« erklärte Dutocq.

In diesem Moment kamen Colleville und la Peyrade aus dem Garten zurück als die besten Freunde von der Welt.

»Meine Herren, die Suppe wie den König darf man nicht warten lassen: reichen Sie den Damen den Arm!«

Fünf Minuten nach dieser scherzhaften Aufforderung, die aus der Portierloge ihres Vaters stammte, hatte Brigitte die Genugtuung, um ihren Tisch die Hauptpersonen dieses Dramas versammelt zu sehen, die übrigens auch alle, mit Ausnahme des scheußlichen Cérizet, in ihrem Salon verkehrten. Das Bild dieser ehemaligen Säckenäherin würde vielleicht unvollständig sein, wenn die Beschreibung eines ihrer besten Diners unterbliebe. Die Figur der Bourgeoisköchin der Zeit von 1840 gehört übrigens zu den wichtigen Details der Sittengeschichte, und kluge Hausfrauen werden hierbei Belehrung finden können. Man kann nicht zwanzig Jahre lang leere Säcke genäht haben, ohne nach der Möglichkeit zu suchen, einige davon zu füllen. Brigitte besaß die besondere Eigenschaft, dass sie Sparsamkeit, der man sein Vermögen verdankt, mit dem Verständnis für notwendige Ausgaben zu vereinigen wusste. Ihre verhältnismäßig große Freigebigkeit, sobald es sich um ihren Bruder oder um Celeste handelte, stand im Gegensatz zu ihrem Geiz. Sie beklagte deshalb auch häufig, dass sie nicht geizig sei. Bei dem letzten Diner hatte sie erzählt, dass sie, nach einem Kampfe von zehn Minuten mit sich, und nachdem sie Höllenqualen ausgestanden hatte, schließlich zehn Franken einer armen Arbeiterin ihres Viertels geschenkt hatte, von der sie sicher wusste, dass sie seit zwei Tagen nichts gegessen hatte.

»Das Mitgefühl war stärker als die Vernunft«, sagte sie naiv.

Die Suppe war eine fast klare Bouillon; selbst bei solchen Gelegenheiten hatte die Köchin den Auftrag, dünne Bouillon zu kochen, denn da die Familie das Rindfleisch am nächsten und übernächsten Tag essen sollte, so war es um so besser, je weniger ausgekocht es auf dem Tisch kam; es wurde daher stets, wenn Thuillier es zu tranchieren begann, auf Brigittes Wink wieder abgetragen, die sagte:

»Ich glaube, es ist etwas zäh; also lass es sein, Thuillier, es wird es doch niemand essen, wir haben ja genug anderes!«

Neben der Bouillon wurden auch noch vier Schüsseln auf alten Rechauds, von denen die Versilberung abgegangen war, aufgetragen. Der erste Gang dieses Diners, des sogenannten Kandidatur-Diners, bestand aus zwei Enten mit Oliven, einer ziemlich großen Fleischpastete mit Klößchen, Aal à la Tartare und einem Kalbsfricandeau mit Chicorè-Gemüse. Das Hauptstück des zweiten Ganges war eine herrliche Gans mit Maronen gefüllt. Dazu ein Salat, ›de mâche‹ mit Scheiben von roten Rüben garniert, Cremetöpfen, gezuckerten Kohlrüben und einer Schüssel Makkaroni. Dieses Diner eines Portiers, der ein Hochzeitsfest feiert, kostete höchstens zwanzig Franken, und von dem, was übrigblieb, lebte das Haus noch zwei Tage; Brigitte aber sagte: »Ja, bei solchen Einladungen fliegt das Geld nur so weg ... es ist schrecklich!«

Der Tisch war von zwei abscheulichen vierarmigen Leuchtern aus versilbertem Kupfer erhellt, auf denen billige, sogenannte »Aurorakerzen« brannten. Das Tischzeug war von blendender Weiße, das alte Silber mit Fadenmuster ein väterliches Erbstück, das der alte Thuillier in der Revolutionszeit gekauft und in dem geheimen Restaurant benutzt hatte, das in seiner Dienstwohnung eingerichtet war, aber im Jahre 1816 ebenso wie in allen andern Ministerien, abgeschafft wurde. So passte das Essen zu dem Hause und zu den Thuilliers, die sich über diesen Zuschnitt nicht zu erheben vermochten. Die Minards, Colleville und la Peyrade wechselten einige lächelnde Blicke, die ihre gemeinsamen spöttischen, aber zurückgehaltenen Gedanken verrieten. Ihnen war der vornehmere Luxus bekannt, und die Minards verrieten ihre Hintergedanken deutlich genug, wenn sie die Einladung zu einem solchen Diner annahmen. La Peyrade, der neben Flavia saß, sagte leise zu ihr: »Gestehen Sie, dass es sehr nötig ist, den Leuten Lebensart beizubringen! Aber diese Minards! Was für eine scheußliche Geldgier! Ihr Kind wäre da für immer für Sie verloren; diese Parvenüs haben die Laster der alten Grandseigneurs, aber ohne deren Eleganz. Ihr Sohn mit seinen zwölftausend Franken Rente kann recht gut in jeder Familie eine Frau finden und braucht nicht hierher zu kommen und auf das Einscharren des Geldes zu spekulieren. Was ist das für ein Spaß, auf diesen Leuten zu spielen, wie auf einer Bassgeige oder einer Klarinette!«

Flavia hörte ihm lächelnd zu und zog auch ihren Fuß nicht zurück, den Theodosius leise mit den seinigen drückte.

»Damit ich Sie in Kenntnis von dem, was vorgeht, setzen kann,« sagte er, »wollen wir uns mit dem Pedal verständigen; seit heute morgen müssen Sie mich durch und durch kennen, ich bin kein Mann, der kleine Scherze macht ...«

In bezug auf geistige Überlegenheit war Flavia nicht verwöhnt; der kategorische und freie Ton Theodosius' blendete die Frau, mit der der gewandte Zauberkünstler in einen Kampf getreten war, wo es für sie nur ein Ja oder ein Nein gab. Man musste ihn rückhaltlos anerkennen oder ablehnen; und da sein Verhalten ein wohl berechnetes war, so verfolgte er mit freundlichen Blicken aber scharfer Aufmerksamkeit das Resultat seiner Bezauberung. Als der zweite Gang abgeräumt wurde, sagte Minard, der fürchtete, dass ihm Phellion zuvorkommen könnte, mit würdevoller Miene zu Thuillier:

»Mein lieber Thuillier, wenn ich Ihre Einladung angenommen habe, so geschah das, um Ihnen eine wichtige Mitteilung zu machen, die für Sie zu ehrenvoll ist, als dass ich nicht alle unsre Tischgenossen zu Zeugen dabei machen möchte.

Thuillier wurde bleich.

»Haben Sie etwa das Kreuz für mich bewilligt bekommen? ...« rief er aus, während er einen Blick von Theodosius auffing, dem er beweisen wollte, dass es ihm nicht an Schlauheit fehle.

»Das werden Sie eines schönen Tages auch bekommen«, erwiderte der Bürgermeister; »aber es handelt sich hier um etwas Bedeutenderes. Das Kreuz verdankt man der guten Meinung eines Ministers, während hier die Rede von einer andern Sache ist, von einer Wahl unter Zustimmung aller Ihrer Mitbürger. Mit einem Worte: eine ziemlich große Zahl von Wählern Ihres Bezirks haben ihr Auge auf Sie geworfen und wollen Sie mit ihrem Vertrauen beehren, indem sie Ihnen das Amt übertragen, den Bezirk im Munizipalrat von Paris zu vertreten, der, wie jedermann weiß, der Generalrat des Seinedepartements ist ...«

»Bravo!« rief Dutocq.

Jetzt erhob sich Phellion.

»Der Herr Bürgermeister ist mir zuvorgekommen,« sagte er bewegt, »aber es ist so schmeichelhaft für unsern Freund, der Gegenstand eifrigen Bemühens aller guten Bürger zugleich zu sein und die öffentliche Meinung der ganzen Hauptstadt auf seiner Seite zu haben, dass ich mich nicht beklagen kann, erst in zweiter Reihe zu Wort zu kommen, und im übrigen gebührt ja auch die Initiative der leitenden Stelle! ...« (Dabei verbeugte er sich respektvoll vor Minard.) »Ja, Herr Thuillier, mehrere Wähler desjenigen Teils des Bezirks, in dem sich auch meine bescheidenen Penaten befinden, haben die Absicht, Ihnen ein Mandat zu übertragen, aber bei Ihnen liegt der besondere Fall vor, dass auf Sie ein berühmter Mann hingewiesen hat ... (Sensation), ein Mann, in dem wir das Andenken an einen der edelsten Bewohner des Bezirks ehren wollten, der ihm zwanzig Jahre lang mit väterlicher Treue gedient hat; ich will hier von dem seligen Herrn Popinot sprechen, bei seinen Lebzeiten Rat am obersten Gerichtshof und unser Vertreter im Munizipalrat. Sein Neffe, der Doktor Bianchon, hat es, mit Rücksicht auf seine ihn ganz in Anspruch nehmende Tätigkeit, abgelehnt, die Pflichten, mit denen er belastet werden sollte, auf sich zu nehmen; aber indem er uns für die Ehre, die wir ihm erweisen wollten, dankte, hat er gleichzeitig, bemerken Sie das wohl, uns auf den Kandidaten des Herrn Bürgermeisters hingewiesen, als den nach seiner Meinung Fähigsten und mit Rücksicht auf seine frühere Tätigkeit Geeignetsten, das Amt eines Ädilen zu übernehmen! ...«

Und Phellion setzte sich wieder unter lärmendem Beifall.

»Auf deinen alten Freund kannst du rechnen, Thuillier«, sagte Colleville.

In diesem Augenblick wurden die Gäste durch das Schauspiel, das ihnen die alte Brigitte und Frau Thuillier boten, in Rührung versetzt. Brigitte, die bleich geworden war, als ob sie in Ohnmacht fallen wollte, rollten langsam, eine nach der andern, Tränen über die Backen, Tränen tiefster Glückseligkeit, und Frau Thuillier saß wie entgeistert da, mit starren Augen. Plötzlich sprang das alte Mädchen auf, stürzte in die Küche und schrie Josephine zu:

»Komm in den Keller! .. Wir brauchen den Wein hinter dem Holz!«

»Meine lieben Freunde,« sagte Thuillier gerührt, »das ist der schönste Tag meines Lebens, schöner noch, als es der Tag meiner Wahl sein wird, wenn ich einwilligen darf, dem Ruf meiner Mitbürger Folge zu leisten (Aber gewiss, gewiss!), denn ich fühle mich durch dreißig Jahre amtlichen Dienstes recht verbraucht, und Sie werden begreifen, dass ein Ehrenmann seine Kräfte und Fähigkeiten erst nachprüfen muss, bevor er das Amt eines Ädilen auf sich nimmt ...«

»Ich habe nichts anderes von Ihnen erwartet, Herr Thuillier«, rief Phellion aus. »Verzeihung, es ist das erstemal in meinem Leben, dass ich unterbreche, und noch dazu einen früheren Vorgesetzten; aber es gibt gewisse Umstände ...«

»Nehmen Sie an, nehmen Sie an!« schrie Zélie; »zum Donnerwetter, wir brauchen solche Leute wie Sie zum Regieren!«

»Fügen Sie sich, mein lieber Chef!« sagte Dutocq, »und es lebe der künftige Munizipalrat! ... Aber wir haben nichts zu trinken ...«

»Also abgemacht,« begann Minard wieder, »Sie sind unser Kandidat?«

»Sie haben eine zu hohe Meinung von mir«, erwiderte Thuillier.

»Unsinn!« rief Colleville; »ein Mann, der dreißig Jahre Galeerenarbeit im Finanzministerium hinter sich hat, ist ein Schatz für die Stadt!«

»Sie sind zu bescheiden,« sagte der junge Minard, »Ihre Tüchtigkeit ist uns allen wohlbekannt, man weiß auch jetzt noch davon im Finanzministerium ...«

»Also Sie haben es gewollt! ...« rief Thuillier aus.

»Der König wird mit dieser Wahl sehr zufrieden sein, das kann ich Ihnen versichern«, sagte Minard und warf sich in die Brust.

»Meine Herren,« sagte la Peyrade, »wollen Sie einem noch jungen Mitbewohner des Faubourg Saint-Jacques eine kleine, aber nicht unwichtige Bemerkung gestatten?«

Die allgemein anerkannte Bedeutung des Armenadvokaten bewirkte, dass alle schwiegen.

»Der Einfluss, den der Herr Bürgermeister in dem Nachbarbezirk und noch erheblich mehr in unserm besitzt, wo er ein so gutes Andenken hinterlassen hat; der des Herrn Phellion, der das Orakel, wir können das ruhig sagen,« bemerkte er, als er eine ablehnende Geste Phellions wahrnahm, »seiner Truppe ist; der nicht geringere, den Herr Colleville seinem freimütigen Wesen und seiner Liebenswürdigkeit verdankt; der des Herrn Gerichtsvollziehers des Friedensgerichts, der nicht unerheblich ist, und endlich das wenige, was ich in meiner bescheidenen Berufssphäre mit beitragen kann, sind eine Gewähr für den Erfolg: aber es handelt sich nicht bloß um den Erfolg! ... Wenn wir einen schnellen Sieg erringen wollen, müssen wir uns alle verpflichten, über die Kundgebung, die heute hier stattgefunden hat, das strengste Stillschweigen zu bewahren ... Wir würden sonst, ohne es zu wissen und ohne es zu wollen, Neid und andere Nebenwünsche erregen und uns Hindernisse schaffen, die wir dann zu überwinden hätten. Der Sinn der neuen politischen Gestaltung der sozialen Verhältnisse, ihre eigentliche Grundlage, ihre Erscheinungsformen und die Garantie für ihr Bestehen liegt darin, dass eine verhältnismäßige Beteiligung an der Regierung dem Mittelstande gewährt ist, auf dem in Wahrheit die Macht der modernen Gesellschaft beruht, und bei dem das moralische Gefühl, die edlen Gesinnungen und die erfolgreiche Arbeit zu Hause sind; aber wir dürfen uns nicht verhehlen, dass die Wahl, die sich auf fast alle Ämter erstreckt, das Verlangen nach Befriedigung des Ehrgeizes, die Sucht etwas zu bedeuten, bis in, gestatten Sie mir das Wort, niedrige gesellschaftliche Schichten vorgedrungen sind, die damit nicht hätten in Erregung versetzt werden dürfen. Einige sehen darin einen Vorzug, andere ein Übel; es kommt mir nicht zu, diese Frage entscheiden zu wollen in Gegenwart von Männern, vor deren geistiger Überlegenheit ich mich beuge; ich begnüge mich damit, sie aufzuwerfen, weil ich auf die Gefahr hinweisen will, die die Parteinahme für unsern Freund laufen kann. Unser ehrenwerter Vertreter im Munizipalrate ist erst vor acht Tagen gestorben, und schon haben sich Untergeordnete mit ihren ehrgeizigen Ansprüchen gemeldet. Man will sich um jeden Preis bemerkbar machen. Der Wahlaufruf wird vielleicht erst in einem Monat stattfinden. Wieviel Intrigen können bis dahin eingefädelt werden! ... Geben wir, ich beschwöre Sie, unsern Freund Thuillier nicht den Angriffen seiner Konkurrenten preis! Liefern wir ihn nicht der öffentlichen Diskussion aus, dieser modernen Harpyie, dem Sprachrohr der Verleumdung und des Neides, dem Vorwand für feindliche Gesinnungen, die alles herabsetzen, was groß, die alles beschmutzen, was achtungswert, die alles beschimpfen, was heilig ist; ... machen wir es wie der dritte Stand in der Kammer: bleiben wir stumm und stimmen wir ab !«

»Wie gut er spricht«, sagte Phellion zu seinem Nachbar Dutocq.

»Und wie inhaltreich! ...«

Der junge Minard war vor Neid grün und gelb worden.

»Das ist gut und richtig!« rief Minard.

»Einstimmig angenommen«, sagte Colleville; »meine Herren, wir sind Ehrenmänner, es genügt, dass wir über diesen Punkt im Einverständnis sind.«

»Wer das Ziel erreichen will, muss auch die Mittel dazu wollen«, sagte Phellion emphatisch. In diesem Moment erschien Fräulein Thuillier, gefolgt von ihren beiden Dienstboten; der Kellerschlüssel hing an ihrem Gürtel, und drei Flaschen Champagner, drei Flaschen alter Ermitage und eine Flasche Malaga wurden auf den Tisch gestellt; aber mit fast andächtiger Sorgsamkeit trug sie eine kleine Flasche, ähnlich einer bösen Fee, und setzte sie vor ihren Platz. Während der allgemeinen Fröhlichkeit, die dieser aus Dankbarkeit herbeigeschaffte Überfluss an guten Dingen verursachte, und den das arme Mädchen in ihrer Seligkeit mit einer Verschwendung austeilte, die ihre sonstige magere Gastfreundlichkeit, die sie alle vierzehn Tage entwickelte, Lügen strafte, erschien auf zahlreichen Schüsseln der Nachtisch: Studentenfutter in Hülle und Fülle, Orangenpyramiden, Konfekt, Eingemachtes aus der Tiefe ihrer Vorratsschränke, was alles, ohne diese besondere Veranlassung, nicht auf den Tisch gekommen wäre.

»Celeste, man soll eine Flasche Schnaps bringen, den mein Vater im Jahre 1802 gekauft hat; mach uns einen Orangensalat zurecht«, rief sie ihrer Schwägerin zu.

»Herr Phellion, machen Sie den Champagner auf; hier diese Flasche ist für Sie drei. – Herr Dutocq, nehmen Sie die hier! – Herr Colleville, Sie verstehen sich doch so gut darauf, die Korken springen zu lassen! ...«

Die beiden Dienstmädchen verteilten die Champagnergläser, und Bordeaux- und kleine Gläser; denn Josephine brachte auch noch drei Flaschen Bordeaux.

»Das ist ja der Kometenwein!« rief Thuillier aus. »Meine Herren, Sie haben meiner Schwester vollständig den Kopf verdreht.«

»Und abends gibts Punsch und Kuchen«, sagte sie. »Ich habe auch Tee aus der Apotheke holen lassen. Mein Gott, wenn ich geahnt hätte, dass es sich um eine Wahl handelt,« rief sie aus und sah ihre Schwägerin an, »dann hätte ich Puten gegeben ...«

Allgemeines Gelächter begrüßte diesen Ausspruch. »Oh, wir haben ja eine Gans gehabt«, sagte der junge Minard lächelnd.

»Heute geht es aus dem Vollen«, rief Frau Thuillier, als sie die kandierten Maronen und die Baisers erscheinen sah.

Fräulein Thuilliers Gesicht glühte; sie war prachtvoll anzuschauen, noch niemals hatte schwesterliche Liebe einen so glühenden Ausdruck gefunden.

»Für den, der sie kennt, ist das wirklich rührend!« rief Frau Colleville aus.

Die Gläser waren gefüllt, alle sahen sich an, man schien auf einen Toast zu warten, und la Peyrade sagte:

»Meine Herren, stoßen wir an auf etwas Erhabenes! ...

Alle waren erstaunt.

»Auf Fräulein Brigitte! ...«

Die ganze Gesellschaft erhob sich, man stieß an und rief: »Es lebe Fräulein Thuillier!« mit dem Überschwang wahren Empfindens, wie ihn der Enthusiasmus erzeugt.

»Meine Herren,« sagte Phellion, und las von einem mit Bleistift beschriebenem Zettel ab, »auf die Arbeit und auf den Glanz, die sich in der Person eines alten Kameraden von uns verkörpern, der ein Bürgermeister von Paris geworden ist, auf Herrn Minard und seine Gattin!«

Nach einer Pause von fünf Minuten, während der die Unterhaltung weiter ging, erhob sich Thuillier und sagte:

»Meine Herren, auf den König und das königliche Haus! ... Ich sage nichts weiter, denn damit ist alles gesagt.«

»Auf die Wahl meines Bruders!« sagte Fräulein Thuillier.

»Jetzt werden Sie sich amüsieren«, sagte la Peyrade leise zu Flavia.

Und er erhob sich:

»Auf die Damen! Auf das schöne Geschlecht, dem wir soviel Glück verdanken, abgesehen von unsern Müttern, unsern Schwestern und unsern Frauen!«

Dieser Toast rief allgemeine Heiterkeit hervor, und Colleville, schon etwas angeheitert, rief:

»Ach du Schuft! Du hast mir meinen Gedanken gestohlen!«

Der Herr Bürgermeister erhob sich jetzt, wobei tiefes Schweigen eintrat.

»Meine Herren, auf unsre Verfassung! Sie ist die Quelle der Macht und Größe des dynastischen Frankreichs!«

Die Flaschen verschwanden unter einstimmiger Bewunderung der erstaunlichen Qualität und Feinheit der Getränke.

Celeste Colleville sagte schüchtern:

»Liebe Mama, würden Sie mir gestatten, auch ein Hoch auszubringen?«

Das arme Kind hatte das starre Gesicht ihrer Patin bemerkt, der Herrin des Hauses, die man vergessen hatte, und deren Blick mit dem Ausdruck eines Hundes, der nicht weiß, welchem Herrn er gehorchen soll, von dem Gesicht ihrer schrecklichen Schwägerin bis zu dem Thuilliers über alle hinwegirrte, ohne an sich selbst zu denken; aber die Freude auf diesem Sklavenantlitz, das daran gewöhnt war, nicht mitzuzählen und seine Gedanken und Empfindungen zu unterdrücken, leuchtete nur, wie die bleiche Wintersonne durch den Nebel scheint: sie konnte nur schwer dieses schlaffe, verkümmerte Gesicht aufhellen. Die Gazehaube mit dunklen Blumen, die nachlässige Frisur, das karmeliterbraune Kleid, dessen Taille als einzigen Schmuck eine dicke goldene Kette aufwies, alles dies, ihre ganze Haltung, rührte die junge Celeste, die allein in der Welt den Wert dieser Frau zu schätzen wusste, die zum Schweigen verdammt war, die alles um sich her verstand, unter allem litt und sich mit sich selber und ihrem Gott trösten musste.

»Lassen Sie das gute Kind seinen kleinen Toast sprechen«, sagte la Peyrade zu Frau Colleville.

»Auf meine liebe Patin!« sagte das junge Mädchen und neigte ihr Glas respektvoll vor Frau Thuillier und reichte es ihr zum Anstoßen hin.

Die arme Frau sah ganz verstört, aber durch einen Tränenschleier, abwechselnd ihre Schwägerin und ihren Mann an; ihre Stellung innerhalb der Familie war so bekannt, und die unschuldige ehrerbietige Freundlichkeit, die ihrer Schwachheit erwiesen wurde, war etwas so Schönes, dass jeder Rührung empfand; alle Herren erhoben sich und verneigten sich vor Frau Thuillier.

»Ach, Celeste! Ich wünschte, ich könnte Ihnen ein Königreich zu Füßen legen!« sagte Felix Phellion zu ihr.

Der gute Phellion wischte sich eine Träne ab und selbst Dutocq war bewegt.

»Was für ein reizendes Kind!« sagte Fräulein Thuillier, die aufstand und ihre Schwägerin umarmte.

»Jetzt ist die Reihe an mir!« sagte Colleville und nahm eine Athletenpose an. »Passen Sie auf! Auf die Freundschaft! Ausgetrunken und frisch gefüllt! – Schön! Auf die Künste, den Schmuck des gesellschaftlichen Daseins! Ausgetrunken und frisch gefüllt! – Auf noch ein solches Fest am Tage nach der Wahl!«

»Was ist denn das für eine kleine Flasche? ...« fragte Dutocq Fräulein Thuillier.

»Das ist eine von meinen drei Flaschen Likör von Frau Amphoux; die zweite wird für Celestes Hochzeitstag aufgehoben, und die dritte für die Taufe ihres ersten Kindes.«

»Meine Schwester hat beinahe den Kopf verloren«, sagte Thuillier zu Colleville.

Das Diner wurde mit einem Toaste Thuilliers beendet, zu dem ihn Theodosius veranlasste, als der Malaga in den kleinen Gläsern wie eine Reihe Rubine erglänzte.

»Colleville, meine Herren, hat einen Toast auf ›die Freundschaft‹ ausgebracht; ich trinke mit diesem edlen Weine ›auf meine Freunde‹! ...«

Ein wütendes Hurra begrüßte diese Sentimentalität; aber als Dutocq zu Theodosius sagte:

»Es ist eine Sünde, einen solchen Malaga diesen Zungen gewöhnlichster Sorte vorzusetzen ...«, rief die Bürgermeisterin aus: »Ach, wenn man so was nachmachen könnte, mein Lieber,« und brachte durch die Art, wie sie den spanischen Wein ausschlürfte, das Glas zum Klingen, »was für ein Vermögen ließe sich damit machen! ...«

Zélie war auf der höchsten Stufe des Rotglühens angelangt; sie sah zum Erschrecken aus.

»Unseres ist bereits gemacht!« erwiderte Minard.

»Meinst du nicht auch,« sagte Brigitte zu Frau Thuillier, »dass wir den Kaffee lieber im Salon trinken?«

Frau Thuillier gab sich gehorsam den Anschein, als sei sie die Herrin des Hauses und erhob sich.

»Ach, Sie sind ein wahrer Zauberer«, sagte Flavia Colleville und nahm la Peyrades Arm, als sie aus dem Speisezimmer in den Salon gingen.

»Mir liegt nur daran,« entgegnete er, »Sie zu bezaubern; und glauben Sie mir, ich nehme damit nur Revanche; Sie sind heute bezaubernder als je!«

»Thuillier,« bemerkte sie, um dieser Diskussion aus dem Wege zu gehen, »Thuillier hält sich für einen Politiker!«

»Aber, Beste, der Hälfte der lächerlichen Erscheinungen in der Gesellschaft wird so etwas eingeredet; die Leute selbst sind daran unschuldiger als man denkt. Wie oft sieht man nicht in den Familien, dass der Mann, die Kinder und die Hausfreunde einer ganz dummen Mutter einreden, dass sie geistvoll, einer fünfzigjährigen, dass sie schön und jung sei! ... Daher diese für Unbeteiligte unbegreiflichen Verkehrtheiten. Solche Leute sind lächerlich eitel, weil ihre Mätresse sie anbetet, oder stolz auf ihre Reimkunst, weil andere dafür bezahlt werden, sie glauben zu machen, dass sie große Dichter seien. Jede Familie hat ihren bedeutenden Mann, und daher, wie in der Kammer, das allgemeine Dunkel trotz aller Leuchten Frankreichs ... Geistvolle Leute lachen darüber unter sich, das ist alles. Sie sind der Geist und die Schönheit dieser Kleinbürgergesellschaft; deshalb habe ich mich Ihnen anbetend geweiht; aber mein nächster Gedanke war, Sie hier herauszuziehen, denn ich habe Sie ernsthaft lieb und mit einem Gefühl, in dem mehr Freundschaft als Liebe enthalten ist, wenn auch viel Liebe sich dabei meldet«, fügte er hinzu und drückte sie im Schutze der Fensternische, in die er sie geführt hatte, ans Herz.

»Frau Phellion wird den Klavierpart übernehmen«, sagte Colleville; »heute muss alles tanzen: die Flasche, die Zwanzigsousstücke Brigittes und unsre kleinen Mädels! Ich werde meine Klarinette holen.«

Und er übergab seine leere Kaffeetasse seiner Frau, indem er darüber lächelte, dass er sie in so gutem Einvernehmen mit Theodosius sah.

»Was haben Sie denn mit meinem Manne gemacht?« fragte Flavia ihren Verführer.

»Müssen wir uns alle unsre Geheimnisse anvertrauen?«

»Haben Sie mich denn nicht lieb?« erwiderte sie und warf ihm einen Blick mit der koketten Verschmitztheit einer Frau zu, die sich beinahe schon entschieden hat.

»Oh, da Sie mir die Ihrigen anvertrauen,« begann er wieder und ließ sich zu der erregten Lustigkeit der Provenzalen hinreißen, die anscheinend so reizvoll und so natürlich ist, »will ich Ihnen doch nicht verhehlen, was mir das Herz bedrückt ...«

Er führte sie wieder in die Fensternische zurück und sagte lächelnd:

»Colleville, der gute Kerl, hat in mir die von diesen Kleinbürgern unterdrückte Künstlernatur erkannt, die vor ihnen sich schweigend verhalten muss, weil sie sich nicht verstanden, falsch beurteilt und zurückgestoßen sieht; aber er hat die Glut des heiligen Feuers, das mich verzehrt, verspürt. Ja, gewiss,« sagte er mit tiefster Überzeugung, »ich bin ein Künstler des Wortes, wie Berryer; ich könnte die Geschworenen zum Weinen bringen und selber dabei weinen, denn ich bin nervös wie ein Weib. Er, dem diese ganze Kleinbürgergesellschaft grässlich ist, hat sich also mit mir über sie lustig gemacht; wir haben zuerst gelacht, und als wir uns dann ernsthaft aussprachen, hat er gemerkt, dass ich ebenso klug bin wie er. Ich habe ihm meine Absicht, aus Thuillier etwas zu machen, mitgeteilt und habe durchblicken lassen, was für Vorteile er sich durch einen solchen politischen Strohmann verschaffen könne. ›Und sei es auch nur‹, habe ich ihm gesagt, ›damit Sie Herr von Colleville werden und Ihre reizende Frau auf den Platz bringen können, auf dem ich sie sehen möchte, in einer völlig gesicherten Lebenslage, in der Sie selbst sich zum Deputierten wählen lassen könnten; denn um das zu erreichen, worauf Sie Anspruch haben, genügt es, wenn Sie für einige Jahre in die Gegend der Hoch- oder Voralpen in irgendein kleines Nest ziehen, wo alle Sie gern haben werden, und wo Ihre Frau allen den Kopf verdrehen wird ... Und das‹, habe ich hinzugefügt, ›kann nicht fehlschlagen, besonders dann nicht, wenn Sie Ihre liebe Celeste einem Manne zur Frau geben, der imstande ist, sich eine einflussreiche Stellung in der Kammer zu verschaffen ...‹ Mit der Vernunft im Gewande des Scherzes erreicht man bei gewissen Naturen mehr als ohne dieses: daher sind Colleville und ich jetzt die besten Freunde von der Welt. Er hat bei Tisch sogar schon zu mir gesagt: ›Du Schuft, du hast mir meinen Toast weggenommen!‹ Heute abend noch werden wir auf Du und Du miteinander sein ... Dann werde ich ihn noch zu einem Fest mitnehmen, wo die Künstler, soweit sie verheiratet sind, sich immer kompromittieren, und das wird uns vielleicht zu noch intimeren Freunden machen, als er und Thuillier es sind, denn ich habe ihm außerdem erzählt, dass Thuillier vor Neid wegen der Rosette in seinem Knopfloch platzt ... Sie sehen, teuerste geliebte Frau, was man, von einer tiefen Empfindung beseelt, zu leisten vermag! Müsste mich Colleville nicht adoptieren, damit ich mit seinem Einverständnis bei Ihnen sein kann? ... Aber Sie, Sie könnten von mir verlangen, dass ich Aussätzige küssen, lebende Kröten verschlingen oder Brigitte verführen soll; ja, ich würde mein Herz von dieser langen Latte aufspießen lassen, wenn ich mich ihrer als Krücke bedienen müsste, um mich zu Ihren Füßen hinzuschleppen!«

»Heute morgen,« sagte sie, »haben Sie mir einen Schreck eingejagt ...«

»Und heute abend sind Sie über mich beruhigt! ... Ja, niemals wird Ihnen etwas Böses von meiner Seite widerfahren.«

»Ich gebe es zu, Sie sind wirklich ein ungewöhnlicher Mensch! ...«

»Ach nein; meine geringsten und meine heißesten Bemühungen sind nur der Reflex der Flamme, die Sie in meinem Herzen entzündet haben, und ich will Ihr Schwiegersohn werden, damit wir uns niemals zu trennen brauchen .. Meine Frau, mein Gott, die kann mir nichts anderes sein, als eine Maschine, um Kinder zu erzeugen; aber das erhabene Wesen, meine Gottheit, das wirst du sein«, flüsterte er ihr ins Ohr.

»Sie sind ein Teufel!« sagte sie mit einem Anflug von Schrecken.

»Nein, ich bin nur ein wenig Poet, wie alle meine Landsleute. Seien Sie gut, seien Sie meine Josephine! ... Morgen um zwei Uhr komme ich zu Ihnen; ich habe das heiße Verlangen, zu sehen, wo Sie schlafen, wie die Sachen in Ihren Zimmern stehen, die Perle in ihrer Muschel zu bewundern!«

Und er entfernte sich klugerweise nach diesem Worte, ohne eine Antwort abzuwarten.

Flavia, die in ihrem ganzen Liebesleben niemals die leidenschaftliche Sprache der Romane vernommen hatte, blieb wie gebannt zurück, aber mit einem Gefühl des Glücks und mit pochendem Herzen, und sie sagte sich, dass es sehr schwer sei, sich einem solchen Einfluss zu entziehen. Zum erstenmal hatte Theodosius ein neues Beinkleid angelegt, grauseidene Strümpfe und Escarpins, eine schwarzseidene Weste und eine schwarze Atlaskrawatte, in deren Knoten eine geschmackvoll gewählte Nadel glänzte. Er trug einen neuen modernen Rock und gelbe Handschuhe unter den weißen Manschetten; er war der einzige Mann mit guten Manieren und Haltung in diesem Salon, den die Gäste inzwischen unmerklich gefüllt hatten. Frau Pron, eine geborene Barniol, war mit zwei siebzehnjährigen Pensionärinnen erschienen, die ihrer mütterlichen Sorgfalt von Familien anvertraut waren, die in Bourbon und Martinique wohnten. Herr Pron, Professor der Rhetorik an einer von Geistlichen geleiteten Schule, gehörte zu der Klasse der Phellions; aber anstatt sich in oberflächlichen Phrasen und Erklärungen zu ergehen und immer als Vorbild zu glänzen, war er ein trockener Prinzipienmensch. Herr und Frau Pron, der Glanz des Salons Phellion, hatten ihren Empfangstag Montags; sie waren durch Barniols sehr eng mit den Phellions befreundet. Trotzdem er Professor war, tanzte der kleine Pron noch. Der gute Ruf des Instituts Lagrave, mit dem Herr und Frau Phellion zwanzig Jahre lang verbunden gewesen waren, war unter der Leitung des Fräuleins Barniol, der gewandtesten und ältesten der stellvertretenden Vorsteherinnen, noch gewachsen. Herr Pron hatte in dem Bezirk, der vom Boulevard Mont-Parnasse, dem Luxembourg und der Rue de Sèvres begrenzt wird, großen Einfluss. Sobald daher Phellion seinen Freund erblickte, nahm er ihn aus eigenem Antrieb unter den Arm, um ihn in einem Winkel in die Verschwörung Thuillier einzuweihen; nach einer Unterhaltung von zehn Minuten holten sie Thuillier, und die Fensternische, die sich gegenüber derjenigen befand, in der Flavia ihren Gedanken nachhing, vernahm eine Diskussion zu dritt, die der der drei Schweizer im »Wilhelm Tell« sicher nicht nachstand. »Sehen Sie nur,« sagte Theodosius, der wieder zu Flavia hingegangen war, »wie der ehrenwerte fleckenlose Phellion intrigiert! ... Geben Sie einem ehrlichen Mann einen zureichenden Grund an die Hand, und er wird sich ganz unbedenklich auf die unsaubersten Machenschaften einlassen; jetzt holt er sich den kleinen Pron zur Hilfe, und Pron wird mit ihm Schritt halten, alles im Interesse von Felix Phellion, der jetzt dort Ihre kleine Celeste belagert ... Gehen Sie doch hin und trennen Sie die beiden ... Sie stecken schon seit zehn Minuten zusammen, und der junge Minard umkreist sie wie eine wütende Bulldogge.«

Felix, noch tief bewegt von der edelmütigen Herzensregung Celestes, an die, außer Frau Thuillier, niemand mehr dachte, hatte in seiner Harmlosigkeit einen genialen Einfall, wie ihn die ehrliche Schlauheit echter Liebe erzeugt; aber er war kein Mann der Form; die Mathematik machte ihn, zerstreut. Er begab sich zur Frau Thuillier, da er sich dachte, dass Frau Thuillier Celeste an sich ziehen würde. Diese kluge Erwägung, die nicht auf tiefer Berechnung beruhte, war für Felix um so erfolgreicher, als der Advokat Minard, der Celeste nur ihrer Mitgift wegen begehrte, nicht gleich einen so glücklichen Gedanken hatte, und seinen Kaffee in Gesellschaft von Laudigeois, Barniol und Dutocq trank, die er im Auftrage seines Vaters, der mit einer Neuwahl der Kammer von 1842 rechnete, in eine politische Unterhaltung verwickelt hatte.

»Wer müsste Celeste nicht lieb haben!« sagte Felix zu Frau Thuillier.

»Das arme, liebe Kind, sie ist die Einzige auf der Welt, die mich lieb hat!« sagte die Sklavin, während sie ihre Tränen zurückhielt.

»Oh, nein, gnädige Frau, wir haben Sie doch, beide lieb!« erwiderte der Unschuldige lachend.

»Wovon sprechen Sie denn hier?« fragte Celeste, die zu ihrer Patin gekommen war.

»Mein Kind,« entgegnete das fromme Opferlamm, zog ihr Patenkind an sich und küsste es auf die Stirn, »er sagt, dass ihr beide mich lieb habt.«

»Seien Sie mir ob dieser Anmaßung nicht böse, mein Fräulein!« sagte der zukünftige Kandidat der Akademie der Wissenschaften leise, »und lassen Sie mich alles tun, um diese Absicht zu verwirklichen! ... Sehen Sie, ich bin nun einmal so, dass mich Ungerechtigkeit in tiefe Erregung versetzt! ... Ach, wie recht hat der Heiland gehabt, wenn er das Himmelreich den Sanftmütigen und den unschuldigen Lämmern verhieß! ... Wer Sie vorher nur geliebt hat, Celeste, der muss Sie um Ihrer edelmütigen Herzensregung bei Tische willen anbeten! Aber einen Märtyrer vermag eben nur die Unschuld zu trösten! ... Sie sind ein gütiges junges Mädchen, und Sie werden einmal als Frau der Stolz und das Glück Ihrer Familie werden. Glücklich der, der Ihr Gefallen erringen wird!«

»Aber liebste Patin, was sieht denn Herr Felix nur an mir? ...«

»Er weiß dich zu würdigen, mein Engel, und ich werde für Euch zu Gott beten ...«

»Wenn Sie wüssten, wie glücklich ich bin, dass mein Vater Herrn Thuillier einen Dienst erweisen kann ... und wie gern ich Ihrem Bruder nützlich sein möchte! ...«

»Also,« sagte Celeste, »haben Sie wohl die ganze Familie lieb?«

»Aber gewiss«, erwiderte Felix.

Die echte Liebe versteckt sich immer hinter dem Geheimnis der Schamhaftigkeit, selbst in ihrem Ausdruck, denn sie gibt sich schon von selbst zu erkennen; sie hält es nicht für nötig, wie die unechte Liebe, einen Brand zu entfachen, und wenn ein Beobachter in den Salon Thuillier hätte hineinblicken können, so würde er über den Vergleich der umfangreichen Vorbereitung, die Theodosius getroffen hatte, mit dem einfachen Vorgehen Felix' ein Buch schreiben können: Der eine repräsentierte die Natur, der andere die Gesellschaft; das Wahre und das Falsche standen einander gegenüber. Als sie bemerkte, wie ihrer entzückten Tochter die Glückseligkeit vom Gesichte abzulesen war, und wie das junge Mädchen von dem Gefühl, eine unausgesprochene Liebeserklärung verstehen zu können, verschönert wurde, fühlte Flavia einen Stich des Neides im Herzen; sie begab sich zu Celeste und sagte leise zu ihr:

»Du benimmst dich nicht passend, mein Kind, alle Leute sind auf dich aufmerksam geworden, und es ist kompromittierend, wenn du dich so lange Zeit mit Herrn Felix allein unterhältst, ohne dass du weißt, ob wir das billigen.«

»Aber, Mama, meine Patin war doch zugegen.«

»Ach, entschuldigen Sie, liebe Freundin,« sagte Frau Colleville, »ich hatte Sie garnicht bemerkt ...«

»Sie machen es wie alle Welt«, entgegnete dieser heilige Johannes Chrysostomos.

Dieses Wort traf Frau Colleville wie ein Pfeil mit einem Widerhaken; sie warf auf Felix einen Blick von oben herab und sagte zu Celeste: »Komm, setz dich hierher, mein Kind«, setzte sich selbst neben Frau Thuillier und wies ihrer Tochter einen Platz neben sich an.

»Und wenn ich mich totarbeiten soll,« sagte Felix zu Frau Thuillier, »ich muss Mitglied der Akademie der Wissenschaften werden, und ich werde auch irgendeine wichtige Entdeckung machen, damit ich ihre Hand auf Grund meiner Berühmtheit erhalte.«

»Ach,« sagte die arme Frau zu sich, »ich hätte solch einen stillen und freundlichen Gelehrten haben müssen; wie er ist! ... Dann hätte ich mich bei einem solchen Leben im Schatten in Ruhe entwickeln können ... Du hast das nicht gewollt, lieber Gott; aber füge wenigstens diese beiden Kinder zusammen und beschütze sie! Sie sind eins für das andere geschaffen.«

Und sie blieb in Nachdenken versunken, während sie den Höllenlärm mit anhörte, den ihre Schwägerin, dieses richtige Arbeitspferd, machte, die mit Hilfe der beiden Dienstboten den Tisch abdeckte, alles aus dem Speisezimmer herausräumte, damit die Tänzer und Tänzerinnen Platz hätten, und wie ein Kapitän auf der Kommandobrücke, der sich zum Kampfe anschickt, brüllte: »Ist noch genug Johannisbeersaft da? Es muss noch Mandelmilch besorgt werden«; oder: »das sind nicht genug Gläser und zu wenig Wein mit Wasser; nehmt die sechs Flaschen Landwein dazu, die ich eben heraufgeholt habe. Passt aber auf, dass Coffinet, der Portier, sich keine nimmt! ... Karoline, du bleibst am Büfett ... Wenn um ein Uhr noch getanzt wird, gibts noch Schinkenbrötchen. Aber dass mir nichts unnütz verschwendet wird! Pass ordentlich auf. Gebt mir den Besen her und sorgt, dass die Lampen gefüllt sind, und dass mir ja nichts zerbrochen wird. Was vom Nachtisch übriggeblieben ist, müsst ihr etwas zurechtmachen und aufs Büfett stellen ... Ob meine Schwägerin wohl daran denkt, ein bisschen zu helfen! Ich weiß nicht, was sie sich denkt, die Schlafmütze! ... Mein Gott, wie langsam sie ist! ... Nehmt die Stühle fort, dann ist mehr Platz.«

Der Salon war schon voll von den Barniols, den Collevilles, den Laudigeois, den Phellions und allen denen, die die Nachricht herbeigerufen hatte, dass ein kleiner Tanz bei den Thuilliers stattfinden sollte; sie war im Luxembourgbezirk zwischen zwei und vier Uhr, wo die Bourgeoisie ihren Spaziergang macht, verbreitet worden.

»Sind Sie fertig, Brigitte?« sagte Colleville und erschien im Speisezimmer; »es ist neun Uhr, und sie sind schon wie die Heringe im Salon zusammengepresst. Cardot mit Frau, Sohn, Tochter und seinem zukünftigen Schwiegersohn sind eben gekommen und mit ihnen der junge Staatsanwaltsgehilfe Vinet, und das Faubourg Saint-Antoine tritt auch eben an. Wollen wir nicht das Piano aus dem Salon hier hereinnehmen?«

Er gab das Signal, indem er seine Klarinette probierte, deren komische Töne mit einem Hurra im Salon begrüßt wurden.

Es wäre ziemlich überflüssig, einen Ball dieser Art zu beschreiben. Die Toiletten, die Gesichter, die Unterhaltung, alles stimmte überein. Auf stellenweise abgescheuerten und abgenutzten Tabletts wurden Gläser mit reinem, mit verdünntem Wein und mit Zuckerwasser herumgereicht. Die Tabletts mit Mandelmilch und Limonade erschienen nur in längeren Zwischenräumen. Für fünfundzwanzig Spieler waren fünf Spieltische aufgestellt. Achtzehn Tänzer und Tänzerinnen waren zugegen. Um ein Uhr morgens wurden Frau Thuillier, Fräulein Brigitte und Frau Phellion sowie der alte Phellion mit Gewalt zu einem Kontertanze, gemeinhin die »Boulangère« genannt, herangeholt, bei dem Dutocq mit einem Turbanschleier wie ein Kabyle erschien. Die Dienstboten, die ihre Herrschaften abholten, und die des Hauses bildeten die Zuschauer, und da dieser endlose Kontertanz eine Stunde dauerte, wollte man Brigitte im Triumphe herumtragen, als sie zum Souper rief; sie hielt es aber für nötig, erst noch schnell zwölf Flaschen alten Burgunder wegzuschließen. Man amüsierte sich, die alten wie die jungen Damen, so gut, dass Thuillier Gelegenheit nahm, zu sagen:

»Heute früh hatten wir wahrhaftig noch keine Ahnung, dass wir heute ein solches Fest feiern würden!«

»Man amüsiert sich niemals so gut,« sagte der Notar Cardot, »wie bei diesen improvisierten Bällen. Bleiben Sie mir vom Leibe mit den andern steifen Festlichkeiten!«

Diese Meinung ist ein Axiom der Bourgeoisie.

»Ach, was,« sagte Frau Minard, »was mich anlangt, ich liebe den Vater und die Mutter ...«

»Für Sie, gnädige Frau, gilt das nicht, bei Ihnen hat das Vergnügen ein auserlesenes Domizil gefunden«, sagte Dutocq.

Als die Boulangère zu Ende war, holte Theodosius Dutocq vom Büfett, wo er sich ein Schinkenbrötchen genommen hatte, und sagte zu ihm:

»Wir wollen aufbrechen, wir müssen morgen ganz früh bei Cérizet sein, um Näheres über die Sache, die uns beide angeht, zu hören; sie ist nicht so einfach, wie Cérizet meint.«

»Weshalb denn?« fragte Dutocq und aß sein Brötchen im Salon weiter.

»Kennen Sie denn die gesetzlichen Vorschriften nicht? ...«

»Ich kenne sie genügend, um zu wissen, welche Gefahr wir laufen können. Wenn der Notar das Haus haben will, das wir ihm weggeschnappt haben, dann hat er die Möglichkeit, es uns wieder wegzunehmen, er braucht sich bloß hinter einen der angemeldeten Gläubiger zu stecken. Auf Grund des geltenden Hypothekenrechts haben, wenn ein Haus auf Antrag eines Gläubigers subhastiert wird, und der Preis, zu dem es zugeschlagen wird, nicht alle Gläubigerforderungen deckt, die Gläubiger das Recht, nochmals ein höheres Gebot zu machen; und der Notar, einmal hereingefallen, wird sich dann eines Besseren besinnen.«

»Das verdient jedenfalls aufmerksam verfolgt zu werden«, sagte la Peyrade.

»Gut!« sagte der Gerichtsvollzieher, »wir wollen zu Cérizet gehen.«

Die Worte: »Wir wollen zu Cèrizet gehen« hatte der Advokat Minard gehört, der unmittelbar hinter den beiden Genossen herging; aber sie hatten keinen Sinn für ihn. Die beiden Männer standen ihm, seinem Wege und seinen Absichten so fern, dass er das Gesagte wohl hörte, aber nicht verstand.

»Das war einer der schönsten Tage unsres Lebens«, sagte Brigitte, als sie um halb drei Uhr morgens mit ihrem Bruder allein in dem leeren Salon war; »wie stolz kannst du sein, dass dich deine Mitbürger so auf den Schild gehoben haben ...!«

»Täusche dich nicht darüber, Brigitte, mein Kind, dass wir das alles nur einem Manne zu verdanken haben ...«

»Und wen?«

»Unserm Freunde la Peyrade.«

Nicht am nächsten Tage, sondern erst am übernächsten, dem Dienstag, konnten Dutocq und Theodosius Cérizet aufsuchen; der Gerichtsvollzieher hatte darauf aufmerksam gemacht, dass Cérizet am Sonntag und Montag nie zu Hause war, mit Rücksicht auf das vollständige Fernbleiben der Kundschaft an diesen beiden Tagen, an denen das Volk seinem Vergnügen nachgeht. Das Haus, nach dem sie ihre Schritte lenkten, war für das Aussehen des Faubourg Saint-Jacques besonders charakteristisch; und es ist ebenso von Wichtigkeit, es hier näher kennenzulernen, wie die Häuser Thuilliers und Phellions. Man weiß nicht, (und es ist wahr, man hat noch keine Kommission ernannt, um dieses Phänomen zu studieren), – man weiß weder wie noch weshalb die Pariser Bezirke, innerlich wie äußerlich, so verfallen und herunterkommen; wie die alten Sitze des Hofes und der Kirche, der Luxembourg und das Quartier Latin sich zu dem entwickeln konnten, was sie heute sind, trotz eines der schönsten Paläste der Welt, trotz der kühn geschwungenen Kuppel von Saint-Geneviève, der Mansards vom Val-de-Grâce und der Schönheit des botanischen Gartens. Man fragt sich, weshalb das Reizvolle aus dem Leben verschwindet; wie solche Häuser, wie die Vauquers, Phellions, Thuilliers, mit ihren Pensionaten, wie Pilze dort aus der Erde schießen konnten, wo so viele Bauten des Adels und der Kirche gestanden haben, und warum der Schmutz, die mit Unsauberkeit verbundenen Gewerbe und die arme Bevölkerung sich dieses erhöhten Platzes bemächtigen konnten, anstatt sich fern von einem so alten und vornehmen Stadtteil anzusiedeln ... Nachdem der Engel, der seine wohltätigen Fittiche über dieses Viertel ausgebreitet hatte, einmal verschwunden war, hat sich der Wucher unterster Sorte hier festgesetzt. Auf den Gerichtsrat Popinot war ein Cérizet gefolgt; und, merkwürdig und wohl zu beachten, vom sozialen Standpunkte aus war der Effekt ein durchaus nicht so sehr anderer. Popinot gab Darlehen, ohne Zinsen zu nehmen, und wusste sich in einen Verlust zu schicken; Cérizet hatte niemals Verluste und zwang die Unglücklichen, hart zu arbeiten und sparsam zu werden. Popinot verehrten die Armen, aber sie hassten auch Cérizet nicht. Er war das unterste Rad in der Maschine der Pariser Finanzwelt. Oben standen die Häuser Nucingen, Keller, du Tillet, Mongenod; etwas tiefer die Palmas, die Gigonnets, die Gobsecks; noch tiefer die Samanous, die Chaboisseaus, die Barbets; und am Ende, nach dem Pfandleihhause, dieser König der Wucherer, der seine Schlingen an den Straßenecken legte, um alle Arten von Elend, ohne dass ihm eine entging, abzufangen: die Firma Cérizet!

Bei der Erwähnung des Schnürrocks war schon von dem Loch dieses aus seiner Gründung und aus der sechsten Kammer wieder Aufgetauchten die Rede gewesen.

Das Haus war vom Salpeter angefressen, und seine Mauern, die eine übelriechende Feuchtigkeit ausschwitzten, zeigten überall breite Flecken von Schimmel. Es lag an der Ecke der Rue des Postes und der Rue des Poules, und sein Erdgeschoss war von einer Weinhandlung unterster Sorte eingenommen, einem grellrot roh angestrichenen Laden mit roten Schirtingvorhängen, einem bleiernen Schenktisch und schweren Eisenstangen.

Über der Tür zu einem hässlichen Gang hing eine abscheuliche Laterne mit der Inschrift: »Nachtlogis«. Die Mauern waren mit Eisenkreuzen überdeckt, die bewiesen, wie mangelhaft die Standfestigkeit dieses Gebäudes war, das dem Weinhändler gehörte. Außer dem Erdgeschoss bewohnte er noch das Zwischengeschoss. Die Witwe Poiret, eine geborene Michonneau, hielt hier ein Hotel garni im ersten, zweiten und dritten Stock, dessen Zimmer für die Benutzung durch Arbeiter und die ärmsten Studenten eingerichtet waren.

Cérizet hatte einen Raum im Erdgeschoss und einen im Zwischenstock inne, zu dem er über eine innere Treppe gelangte; der Zwischenstock erhielt sein Licht von einem scheußlichen, gepflasterten Hofe, aus dem mephitische Gerüche aufstiegen. Cérizet zahlte der Witwe Poiret für sein Frühstück und Mittagessen vierzig Franken monatlich; er hatte sich so, als ihr Pensionär, die Wirtin verpflichtet und ebenso den Weinhändler, dem er einen enormen Absatz in Wein und Schnaps verschaffte, ein Geschäft, das sich vor Tagesanbruch abwickelte. Cadenet machte sein Geschäft noch früher als Cérizet auf, der seine Tätigkeit am Dienstag im Sommer um drei, im Winter um fünf Uhr morgens begann.

Die Stunde, zu der die große Markthalle geöffnet wurde, in der viele seiner Klienten und Klientinnen ihre Beschäftigung hatten, war für seine üblen Geschäfte maßgebend. Deshalb hatte auch der edle Cadenet, mit Rücksicht darauf, dass er diese Kundschaft Cérizet zu verdanken hatte, ihm die beiden Räume für nur achtzig Franken jährlich vermietet und einen Mietkontrakt auf zwölf Jahre abgeschlossen, den nur Cérizet, ohne eine Abstandssumme zahlen zu müssen, alle Vierteljahre kündigen konnte. Cadenet brachte persönlich alle Tage eine Flasche ausgezeichneten Wein für das Mittagessen seines kostbaren Mieters herauf, und wenn Cerizet auf dem Trockenen saß, brauchte er nur zu seinem Freunde zu sagen: »Cadenet, borg mir doch hundert Taler«. Aber er gab sie ihm stets getreulich zurück.

Cadenet besaß, wie es hieß, den Beweis, dass die Witwe Poiret Cérizet zweitausend Franken anvertraut hatte, was das Aufblühen seines Geschäftes seit dem Tage erklären konnte, wo er sich in diesem Viertel mit seinen letzten tausend Franken unter der Protektion Dutocqs etabliert hatte. Cadenet, durch sein erfolgreiches Geschäft geldgierig geworden, hatte seinem Freunde Cérizet zu Beginn des Jahres zwanzigtausend Franken angeboten, aber Cérizet hatte es unter dem Vorwande abgelehnt, dass so etwas leicht der Anlass zur Feindschaft unter Freunden werden könnte.

»Ich könnte sie nur zu sechs Prozent nehmen,« sagte er zu Cadenet, »und Sie verdienen in Ihrem Geschäft mehr damit ... Später, wenn mal eine gute Sache sich bietet, können wir uns zusammentun; aber für so etwas sind fünfzigtausend Franken erforderlich; wenn Sie über eine solche Summe verfügen können, nun, dann ließe sich darüber reden ...«

Die Angelegenheit mit dem Hause hatte Cérizet Theodosius gebracht, nachdem er festgestellt hatte, dass sie drei, Frau Poiret, Cadenet und er, niemals hunderttausend Franken zusammenbringen konnten.

Der Mann, der diese Leihgeschäfte auf eine Woche machte, war in seinen Rumpelkammern vollkommen in Sicherheit, wo er nötigenfalls auch tätlichen Beistand gefunden hätte. An gewissen Tagen fanden sich bei ihm nicht weniger als sechzig bis achtzig Personen ein, ebensoviel Männer wie Frauen, die teils bei dem Weinhändler, teils im Gange auf den Treppenstufen, teils im Büro, in das der misstrauische Cérizet nicht mehr als sechs Personen zu gleicher Zeit hereinließ, warteten. Die zuerst Gekommenen kamen der Reihe nach dran, und da man nur seiner Nummer entsprechend vorgelassen wurde, schrieben der Weinhändler und sein Gehilfe die Nummern den Männern an den Hut, den Weibern auf den Rücken. Wie bei den Droschken auf den Halteplätzen verkaufte man die Vordernummern an die spätern. An manchen Tagen, wo man eilige Geschäfte in der Markthalle hatte, wurde eine Vordernummer mit einem Glas Schnaps und einem Sou bezahlt. Die erledigten Nummern riefen die nachfolgenden in Cérizets Büro, und wenn sich ein Streit erhob, machte Cadenet dem bald ein Ende mit den Worten:

»Wenn die Wache oder die Polizei geholt werden muss, was hilft euch das? Dann schließt ›er‹ die Bude.«

»Er«, damit bezeichnete er Cérizet. An manchen Tagen, wenn ein verzweifeltes unglückliches Weib, das zu Hause kein Brot hatte und ihre Kinder vor Hunger bleich werden sah, erschien, um sich zehn oder zwanzig Sous zu leihen, so fragte sie den Weinhändler oder seinen ersten Gehilfen: »Ist ›er‹ da?«

Und Cadenet, ein kleiner dicker Mann in blauem Anzug mit schwarzen Schutzärmeln, einer Küferschürze und einer Mütze auf dem Kopfe, erschien solchen armen Müttern wie ein Engel, wenn er antwortete:

»›Er‹ hat gesagt, dass Sie eine ehrliche Frau sind, und dass ich Ihnen vierzig Sous geben darf. Sie wissen, was Sie zu tun haben ...« Und, unglaublich, »er« wurde dafür gesegnet, wie man ehemals Popinot segnete.

Am Sonntagmorgen freilich, wenn man bezahlen musste, verfluchte man Cérizet; und mehr noch wurde er am Sonnabend verflucht, wenn man arbeiten musste, um den geliehenen Betrag mit den Zinsen zurückzuzahlen, Aber vom Dienstag bis zum Freitag jeder Woche war er die Vorsehung und der Gott.

Der Raum, in dem er sich aufhielt, früher die Küche des ersten Stocks, war ganz kahl, die geweißte Decke verräuchert. Die Wände, an denen entlang Bänke standen, und der Steinfußboden zogen die Feuchtigkeit bald an sich, bald schwitzten sie sie aus. An Stelle des Kamins, von dem nur noch der Rauchfang vorhanden war, hatte er einen eisernen Ofen aufgestellt, der mit Steinkohle geheizt wurde, wenn es kalt war. Unter dem Rauchfang befand sich ein Podest, der um einen halben Fuß höher als der Fußboden war und sechs Fuß im Geviert maß; auf ihm befanden sich ein Tisch im Werte von zwanzig Sous und ein hölzerner Sessel mit einem zerrissenen grünen Lederkissen. Dahinter hatte Cérizet die Wand mit Schiffsplanken verkleidet. Neben sich hatte er einen kleinen Wandschirm aus weißem Holz, um sich gegen den Zug vom Fenster oder der Tür her zu schützen; dieser zweiteilige Wandschirm ließ aber die Ofenwärme zu ihm heranströmen. Das Fenster war innen mit riesigen Läden versehen, die mit Eisenblech beschlagen und mit einer eisernen Stange gesichert waren. Auch die Tür hatte den gleichen Schutz.

Im Hintergrunde des Zimmers, in einer Ecke, befand sich eine Wendeltreppe, die aus irgendeinem abgebrochenen Lagerraum herstammte und von Cadenet in der Rue Chapon gekauft worden war; die hatte er in den Fußboden des Zwischenstocks eingelassen. Um jede Verbindung mit dem ersten Stock unmöglich zu machen, hatte Cérizet verlangt, dass die Tür des Zwischengeschosses, die auf den Treppenabsatz führte, zugemauert werde. So glich seine Wohnung einer Festung. Sein oberes Zimmer war nur mit einem Teppich für zwanzig Franken, einem Schülerbett, einer Kommode, zwei Stühlen, einem Sessel und einer eisernen Kassette in Form eines Schreibtisches von vortrefflicher Schlosserarbeit, einem Gelegenheitskauf, ausgestattet. Er rasierte sich vor dem Kaminspiegel; er besaß außerdem zwei Bettbezüge aus Schirting, sechs Hemden aus Perkai und das übrige dem Entsprechende. Ein- oder zweimal hatte Cadenet Cérizet wie einen eleganten Herrn gekleidet gesehen; er hatte nämlich in der untersten Schublade der Kommode eine vollständige Verkleidung verborgen, in der er in die Oper gehen und Gesellschaften besuchen konnte, ohne erkannt zu werden; wäre ihm nicht seine Stimme bekannt gewesen, so hätte Cadenet ihn gefragt: »Was steht zu Ihren Diensten?«

Was an diesem Manne »seinen Kindern« am besten gefiel, das waren seine Gemütlichkeit und seine Antworten; er redete ihre Sprache. Cadenet, seine beiden Gehilfen und Cérizet, die inmitten des fürchterlichsten Elends ihr Leben verbrachten, bewahrten den Gleichmut der Leichenträger gegenüber den Erben, der alten Gardesergeanten angesichts der Toten; wenn sie den Schrei des Hungers und der Verzweiflung hörten, so jammerten sie ebenso wenig wie die Chirurgen beim Stöhnen ihrer Kranken in den Hospitälern, und wie die Soldaten und die Wärter machten sie nichtssagende Redensarten, wie: »Habt Geduld und ein bisschen Mut! Was nützt es euch, wenn ihr verzweifelt? Und wenn ihr euch umbringt, was dann? ... Man gewöhnt sich an alles; nur etwas Vernunft, usw.«

Obwohl Cérizet so vorsichtig war, das für seine morgendlichen Geschäfte erforderliche Geld in dem doppelten Boden des Sessels, auf dem er saß, versteckt zu halten, nicht mehr als hundert Franken auf einmal herauszunehmen, die er in seine Hosentaschen steckte, und neuen Vorrat nur zwischen zwei Schüben seiner Kunden herauszuholen, während die Tür geschlossen blieb und erst wieder geöffnet wurde, wenn er seine Taschen untersucht hatte, so war für ihn von den mannigfachen Verzweifelten, die von allen Seiten zu dieser Geldquelle zusammenströmten, doch nichts zu befürchten. Es gibt ohne Zweifel recht viele Arten, auf die man sich als ehrlich oder tugendhaft erweisen kann. Der Mensch mag vor seinem Gewissen schuldig sein, er mag es offensichtlich an Zartgefühl haben fehlen lassen und gegen die Vorschriften der Ehre gesündigt haben: damit verfällt er noch nicht der allgemeinen Missachtung; er mag direkt ehrlos gehandelt haben und vor das Zuchtpolizeigericht gezogen worden sein: damit kommt er noch nicht vor das Schwurgericht; aber wenn er selbst von diesem verurteilt und der Ehrenrechte beraubt worden ist, so kann er selbst im Bagno geachtet werden, wenn er nicht gegen die Verbrecherehre handelt, die darin besteht, dass man kein Denunziant ist, ehrlich teilt und die gleiche Gefahr mit den andern auf sich nimmt. Nun, diese letzte Sorte von Ehrenhaftigkeit, die vielleicht nur das Ergebnis der Berechnung und der Notwendigkeit ist, die aber dem danach Handelnden noch eine gewisse Möglichkeit bietet, sich großherzig zu zeigen und sich zu bessern, sie herrschte absolut zwischen Cérizet und seiner Kundschaft. Cérizet irrte sich niemals, und seine Armen ebensowenig; es gab auf beiden Seiten in bezug auf Kapital und Zinsen niemals Streit. Mehrfach hatte Cérizet, der übrigens ein Kind des Volkes war, von einer Woche zur andern einen unabsichtlichen Irrtum zugunsten einer armen Familie berichtigt, die ihn gar nicht gemerkt hatte. Daher galt er zwar als ein Hund, aber als ein anständiger Hund, und sein Wort inmitten dieser Schmerzensstadt als heilig. Als eine Frau gestorben war, die ihm dreißig Franken schuldete, sagte er zu den Versammelten:

»Das ist mein Gewinn, und da flucht ihr noch auf mich! Und trotzdem werde ich ihre Kleinen nicht darum schikanieren! ... Und Cadenet hat ihnen noch zu essen und Wein gebracht.«

Seit diesem hübschen Zuge, der übrigens auf kluger Berechnung beruhte, sagte man von ihm in beiden Faubourgs:

»Er ist doch kein schlechter Mensch! ...«

Das Geldleihen auf eine Woche, wie es Cérizet betrieb, ist verhältnismäßig keine so schlimme Plage, wie das Verpfänden auf dem Pfandleihhause. Cérizet gab am Dienstag zehn Franken unter der Bedingung her, dass er am Sonntagmorgen zwölf zurückerhielt. In fünf Wochen verdoppelte er auf diese Weise sein Kapital, aber es gab auch viele Abweichungen. Seine Gefälligkeit bestand darin, ab und zu nur elf Franken fünfzig Centimes zurückzufordern; die Zinsen blieb man schuldig. Und wenn er einem kleinen Fruchthändler fünfzig Franken gegen die Rückzahlung von sechzig, oder einem Lohgerber hundert gegen die von hundertzwanzig lieh, so war das ein Risiko.

Die Kleinbürger

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