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Geleitwort

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Als ich vor zehn Jahren das Geleitwort zu Ortrud Gröns Standardwerk Pflück dir den Traum vom Baum der Erkenntnis schreiben durfte, nahm ich an, dass es sich dabei um eine Art abschließender Bilanz ihrer jahrzehntelangen Erfahrungen mit der Erarbeitung von Träumen der Patienten ihrer bekannten und renommierten Herz-Kreislauf-Klinik »Lauterbacher Mühle« handeln sollte. Ich beneidete sie um den Mut, mit dem sie sich damals im Alter von 81 Jahren an ein derart aufwändiges Projekt wagte. Der Erfolg gab ihr jedoch recht. Das Buch erzielte nicht nur Auflagen, die für derartige Sachbücher eher selten sind, sondern fand auch sehr viel positive Resonanz in den Medien. Die ZEIT berichtete ausführlich mit Titelbild im ZEITmagazin. Ortrud Grön war Gast in verschiedenen Talkshows im Fernsehen und wurde häufig im deutschen und österreichischen Fernsehen und verschiedenen Hörfunkprogrammen interviewt und hielt zahlreiche Vorträge und Seminare. Heute zeigt sich, dass dieses Buch für sie damals wohl nicht der krönende Abschluss ihrer Entwicklung in der Arbeit mit Träumen war, sondern eher der Ansporn, sich noch intensiver und systematischer mit der Weiterentwicklung ihrer Traumarbeit zu befassen. Unter anderem folgten 2008 ein Buch mit Weisheiten aus Träumen (Leben ist eine Kuh, die dauern ihr Euter füllt), das biografisch geprägte Buch Ich habe einen Traum (2009), das sie gemeinsam mit zwei Redakteuren des ZEITmagazins, Christoph Amend und Tillmann Prüfer, schrieb, und 2014 das Werk Der Sündenfall – eine andere Sichtweise auf Naturgleichnisse der Bibel, in dem sie sich kritisch mit theologischen Auslegungen der Bibel auseinandersetzt, in denen die Gleichnisse auf bloße sozial-ethische Parabeln reduziert werden.

Für Ortrud Grön sind die Träume »die Werkstatt des geistigen Lebens«. Die Bedeutung des Träumens sei darin zu sehen, dass sich in den Träumen unsere Schwierigkeiten zu reifen erkennen lassen. Dies bedeutet aber auch, dass Träume einen Sinn haben müssen, d. h. eine inhaltliche Bedeutung, die sich auf den ersten Blick nicht erschließt. Sie geht in ihrem neuen Buch daher vor allem auf die Frage ein, wie sich die Natur in uns selbst wiederholt und wie sich in unserer geistigen Entwicklung und unserem Reifeprozess auch die Gesetze der Natur widerspiegeln. Die Schriftstellerin Ulla Hahn sagt dazu in einem Kommentar zu Gröns Standardwerk Pflück dir den Traum vom Baum der Erkenntnis: »Der Traum nutzt die Entwicklung der Evolution als Gleichnis für die Entwicklung des Menschen«.

In ihrem neuen Buch geht es ihr vor allem um die Entschlüsselung dieser gleichnishaften bzw. metaphorischen Bedeutung der Trauminhalte. »Träume nutzen alle Bilder der Welt als Metaphern, um unser Leben zu spiegeln« (Ortrud Grön). Bei dieser Gleichsetzung von Gleichnisdenken und Metaphernbildung nimmt sie Bezug auf Aristoteles, der in seiner Rhetorik auf die besondere Eignung der Metapher verweist, um sich etwas »vor Augen zu führen«, indem man Beseeltes für Unbeseeltes verwende, um sich die Dinge in »Wirksamkeit« (energeia) zu vergegenwärtigen und ähnlich wie in der Philosophie das Ähnliche in weit auseinanderliegenden Dingen zu erkennen. Er verwendet in diesem Zusammenhang auch schon den Begriff des Gleichnisses und betont: »Es ist aber auch das Gleichnis eine Metapher; denn der Unterschied zwischen beiden ist nur gering«. Dass sich die Phänomene und Gesetze der Natur geistig nicht anders erfassen lassen als in Form von Metaphern oder Gleichnissen, spiegelt sich auch in den Lehrbüchern der Naturwissenschaften wider, bis hin zur Physik und zur Kosmologie. Wahrscheinlich ist die Fähigkeit zum Denken in Gleichnissen bzw. Metaphern evolutionär bedingt und somit ein Merkmal der geistigen Reifung des Menschen. Nach Karl Eibl besteht die evolutionäre Bedeutung dieser Fähigkeit darin, dass sie einen Beitrag zur Strukturierung unseres Denkens leistet, indem sie es uns ermöglichen, »Strukturen vertrauter Bereiche auf (noch) unvertraute Bereiche zu übertragen.« Aus dieser Perspektive lässt sich der Ansatz von Ortrud Grön gut nachvollziehen, die Traumbilder als naturbezogene, gleichnishafte bzw. metaphorische Versinnbildlichungen geistiger Strukturen und Prozesse zu verstehen, die uns auf den ersten Blick unvertraut erscheinen. Dieser Ansatz lässt sich in der praktischen Traumarbeit gut prüfen und ist nicht in gleichem Maß von komplizierten psychologischen Erklärungsmustern abhängig, wie es beispielsweise in den psychoanalytischen Theorien zur Traumsymbolik der Fall ist.

Des Weiteren geht Ortrud Grön hier wesentlich ausführlicher als in früheren Veröffentlichungen auf den spirituellen Bezug ihrer Traumarbeit ein. Dass sie sich diesbezüglich lange im Zwiespalt befand, hat sie nie in Abrede gestellt. Stets trieb sie die Sorge um, dass sie sich damit im wissenschaftlichen Diskurs einer Kritik stellen müsste, die eine öffentliche Anerkennung ihrer Arbeit infrage stellen könnte. Jetzt erläutert sie ausführlich, weshalb es aus ihrer Sicht unsinnig wäre, ein unüberwindbares Nebeneinander von geistiger und materieller Welt zu postulieren, und betont ausdrücklich, dass es »keine Welt des Stofflichen gebe, die nicht ihre Entsprechung auf spiritueller Ebene« habe; »Der schöpferische Geist des Lebens (habe) die Natur erschaffen, damit wir die Gesetze erkennen, durch die allein wir die Schönheit von Leben auch in uns selbst erkennen können«. Die Entwicklung des Geistigen und der Natur unterliege daher denselben evolutionären Gesetzen und basiere auf denselben Grundprinzipien. In der gleichnishaften, metaphorischen Bedeutung der Traumbilder fänden beide Seiten eine gemeinsame Sprache.

Ortrud Gröns Befürchtung, sich mit einem Bekenntnis zur Spiritualität möglicherweise ins Abseits des naturwissenschaftlichen Diskurses zu begeben, erscheint mir unbegründet. Sie zitiert selbst renommierte Philosophen und Naturwissenschaftler, die sich klar zu ihrer spirituellen Überzeugung bekennen. Aber auch in der Psychotherapie hat die Spiritualität stark an Bedeutung gewonnen, weil sie alle wichtigen Grundthemen des Lebens berührt. Henning Freund und Werner Gross haben dazu im vergangenen Jahr Ergebnisse umfangreicher Umfragen bei Ausbildungsinstituten für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten in Deutschland durchgeführt und festgestellt, dass die Mehrzahl der Institute der Integration den religiösen, spirituellen und existenziellen Fragen besondere Bedeutung beimisst und diese Themen auch in den Lehrplan aufgenommen hat, wobei nicht nur auf die salutogenetische Relevanz dieser Themen eingegangen wird, sondern auch ausführlich erläutert wird, wie wichtig die Berücksichtigung des religiös-weltanschaulichen Hintergrunds sowohl des Patienten als auch des Therapeuten für die psychotherapeutische Arbeit und die Auseinandersetzung mit existenziellen Fragen sei.

Ortrud Grön weist darauf hin, dass die Entwicklung zur Selbstbefreiung nie zu Ende sei. Ihre eigene Entwicklung auf diesem Weg war äußerst beschwerlich, weil er geprägt war durch starke Belastungen in der Herkunftsfamilie, schwierige Lebenssituationen und die enormen Anforderungen, die sich für sie aus der Gründung, dem Aufbau und der Leitung ihrer Herz-Kreislauf-Klinik ergaben. Dieses neue Buch markiert einen weiteren Meilenstein auf ihrem ganz persönlichen Weg zur Selbstbefreiung und liefert einen unverzichtbaren Beitrag zum tieferen Verständnis ihrer Arbeit mit Träumen.

Prof. Dr. phil. Uwe Tewes

Lüneburg, im Juni 2017

Traum und Evolution

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