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Vorwort
Оглавление»Wie kommt es eigentlich, dass Sie in Ihrem Alter mit 64 Jahren und am Ende ihrer beruflichen Tätigkeit als Allgemeinarzt noch diese Weiterbildung machen?« So wurde ich von der Prüfungskommission der Bayerischen Landesärztekammer im Februar dieses Jahres nach erfolgreichem Abschluss meiner fünfjährigen Ausbildung in tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie gefragt. Auf meine Antwort, »Ich möchte wissen, warum wir so ticken, wie wir ticken und was wir tun können, wenn es nicht mehr klappt«, registrierte ich zustimmendes Schmunzeln.
Allzu oft erlebte ich mich als Hausarzt bei der Begleitung meiner Patienten in Grenzsituationen, in denen ich gerne mehr über die inneren und seelischen Zusammenhänge der Erkrankungen gewusst hätte. Dabei beschäftigten mich vor allem die Fragen, wie wir einerseits die Behandlung optimieren und andererseits wie wir unsere Patienten im Umgang mit ihrer Krankheit unterstützen können. Trotz vieler segensreicher, wissenschaftlicher und medizinischer Fortschritte in der Diagnostik und Behandlung körperlicher und psychischer Erkrankungen erkannte ich immer deutlicher, wie hochkomplex das ›Wunder Mensch‹ funktioniert und wir immer wieder vor neuen Fragen und Herausforderungen stehen, die mit unserer ›ärztlichen Kunst‹ alleine nicht zu beantworten und zu bewältigen sind.
Meiner Neugier und meinem Bedürfnis nach tieferem Verständnis der menschlichen Entwicklung folgend, besuchte ich vor zehn Jahren mein erstes Traumseminar bei Ortrud Grön. Hier war ich sozusagen mitten im ›Operationssaal‹ der Traumarbeit und konnte miterleben, wie behutsam, aber auch klar, unmissverständlich und konsequent Ortrud Grön die Träume im Dialog mit dem Träumer bearbeitet. Es geht im Wesentlichen darum, sich mit der Gleichnissprache des Traumes vertraut zu machen. Gleichnis bedeutet hier konkret, dass es zu allen Phänomenen der materiellen Welt eine Entsprechung in unserer seelisch-geistigen Entwicklung gibt. So wie z. B. der Baum die Sonne zum Wachsen braucht, so benötigen wir in uns einen Harmonisierungsprozess, der uns die Energie für gesundes, kreatives Leben gibt. Ein knorriger Baum ohne Blätter gleicht deshalb einem anderen seelisch-geistigem Zustand in uns als ein lichtdurchfluteter Laubbaum, dessen gesunde Blätter sich dem Windspiel hingeben. Dass es sich beim Verständnis der Gleichnisse wirklich um Arbeit handelt, die erlernbar ist, und nicht um Deutungen, beeindruckte mich dermaßen, dass ich mich bei Ortrud Grön in Traumarbeit weiterbildete und mittlerweile zu ihrem Ausbildungsteam gehöre.
Ortrud Grön befasste sich im Laufe von 50 Jahren bei der Analyse von Tausenden von Träumen mit der Evolution und ihren Gesetzmäßigkeiten. Über die konventionelle Traumanalyse mit freier Assoziation hinausgehend, hat sie die für ihre Traumarbeit spezifischen Zusammenhänge von Evolution und unserer seelisch-geistigen Entwicklung konstatiert. In den vier Basiskräften der Natur, Wasser, Luft, Erde und Sonne, liegen wertvolle Hinweise auf unser Potenzial im Fühlen, Denken, Handeln und in unserer Suche nach Harmonie. Es gilt, das Wesentliche des Traumes, seine Bilder, Szenen, Pflanzen, Tiere und alle möglichen Phänomene dieser Welt zu erkunden und zu klären. Wie in der Medizin gilt auch hier der Leitsatz: ›Man muss viel wissen, um wenig zu tun!‹ Je größer der Erfahrungsschatz eines Arztes ist, desto gezielter und rascher kann er sich an das Krankheitsbild heranarbeiten, um die korrekte Diagnose und die dazu passende Therapie zu finden. Dasselbe gilt für die Traumarbeit. Je genauer wir den Inhalt eines Gleichnisses verstehen, umso klarer wird uns gespiegelt, welchem Geist unser Denken, Fühlen und Verhalten entspricht. Der Traum konfrontiert uns mit unserer inneren Wirklichkeit, damit wir lernen, unsere subjektive Identität mit ihren Beziehungen zu unseren Mitmenschen zu erkennen. Wir kommen unseren tiefsten, unbewussten Überzeugungen und Ängsten auf die Spur. Dabei erscheinen unsere ungelösten inneren Widersprüche, Verletzlichkeiten und Entwicklungsdefizite. Wir erleben im Traum, ob und wie wir uns mit einem »falschen Selbst« (Winnicott) durch den Alltag mogeln. In den Träumen stecken Lösungsmöglichkeiten für ein – im Sinne der Salutogenese – gesundes und zufriedenes Leben.
Seit nun zehn Jahren intensiver Arbeit mit Träumen (den eigenen und denen vieler Patienten) entwickelte ich immer mehr Respekt und Staunen vor den Träumen und den in ihnen liegenden Hilfsangeboten für gelingendes Leben. Gleichzeitig wuchs mein Mut, mich an die Arbeit mit Träumen heranzuwagen. Als wesentliches und hilfreichstes Element der Traumarbeit nach Ortrud Grön erscheint mir ihre spezielle Kunst des am Gleichnis orientierten Fragens. Je näher wir der Bedeutung eines Gleichnisses kommen, umso präziser und feinfühliger können wir empathisch relevante Fragen stellen, mit denen der Patient selbst die für ihn stimmigen Antworten finden kann. Und ich kann sagen, dass mir diese Art von Traumarbeit aufgrund ihrer Effektivität immer mehr Freude bereitet.
So bin ich zuversichtlich, dass Sie durch dieses Buch Gelegenheit haben werden, die Kostbarkeit der Gleichnissprache in den Träumen zu entdecken. Wie der Naturwissenschaftler die der Natur immanenten Gesetze nicht erfinden, sondern allenfalls entdecken kann, so bemüht sich Ortrud Grön, die in den Bildern und Szenen eines Traumes steckenden Inhalte als Gleichnisse unserer seelisch-geistigen Reifung zu entdecken und zu verstehen. Sie macht uns speziell in diesem Buch darauf aufmerksam, dass in der Natur alle Gesetzmäßigkeiten vorhanden sind, um zu mehr Lebendigkeit zu kommen. Die Natur lebt und führt es uns in unseren Träumen vor, wie wir lernen können, mit mehr Leichtigkeit und Zufriedenheit durch das Leben zu gehen. In Grenzsituationen unseres Lebens, aber auch bei längerer Unzufriedenheit oder unklaren Krankheitssymptomen, kann durch diese Traumarbeit bisher unbekanntes, in uns schlummerndes, individuelles, authentisches Lösungspotenzial erschlossen werden. Letztendlich geht es darum, mit sich selbst, mit unseren Mitmenschen und unserer Umwelt achtsam und mit mehr Liebe und Respekt umzugehen. Dann, so würde ich jetzt sagen, ticken wir richtig!
Dr. med. Karl-Wilhelm Deiß
Seeshaupt, im Juni 2017