Читать книгу Das Bildnis des Dorian Gray - Оскар Уайльд, Oscar Wilde, F. H. Cornish - Страница 6

Zweites Kapitel

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Als sie eintraten, sahen sie Dorian Gray. Er sass am Klavier mit dem Rücken zu ihnen und blätterte in einem Band von Schumanns „Waldszenen“. „Die musst du mir leihen, Basil“, rief er. „Ich möchte sie lernen. Sie sind einfach entzückend.“

„Das hängt ganz davon ab, wie du heute Modell stehst, Dorian.“

„Oh, ich habe das Modellstehen satt, und ich brauche kein Bildnis in Lebensgrosse von mir“, antwortete der Jüngling und drehte sich auf dem Musikstuhl in einer eigenwilligen, übermütigen Weise um. Als er Lord Henrys ansichtig wurde, glitt ein leichtes Erröten einen Augenblick lang über seine Wangen, und er sprang auf. „Ich bitte um Verzeihung, Basil, aber ich wusste nicht, dass du Besuch hattest.“

„Das ist Lord Henry Wotton, Dorian, ein alter Oxforder Studienfreund. Ich habe ihm gerade erzählt, was für ein glänzendes Modell du bist, und jetzt hast du alles verdorben.“

„Aber nicht mein Vergnügen, Ihnen zu begegnen, Herr Gray“, sagte Lord Henry mit einem Schritt auf ihn zu und reichte ihm die Hand. „Meine Tante hat zu mir oft von Ihnen gesprochen, Sie gehören zu ihren Bevorzugten und, ich, fürchte, auch zu ihren Opfern.“

„Ich stehe jetzt in Lady Agathes schwarzem Buch“, antwortete Dorian mit komisch zerknirschtem Ausdruck. „Ich versprach, letzten Dienstag mit ihr in einen Klub in Whitechapel zu gehen, und ich habe es wirklich ganz vergessen. Wir hätten ein Duett miteinander spielen sollen — drei Duette, glaube ich. Ich weiss nicht, was sie mir sagen wird. Ich habe viel zu viel Angst, um hinzugehen.“

„Oh, ich werde sie mit meiner Tante versöhnen. Sie ist ganz entzückt von Ihnen. Und ich glaube, es war wirklich nicht schlimm, dass Sie nicht dort waren. Das Publikum hat wahrscheinlich gedacht, es sei ein Duett. Wenn Tante Agatha sich ans Klavier setzt, macht sie genug Lärm für zwei.“

„Das ist abscheulich gegen sie und nicht sehr nett gegen mich“, antwortete Dorian lachend.

Lord Henry sah ihn an. Ja, er war sicherlich wunderbar schön, mit seinen feingeschwungenen Scharlachlippen, seinen kühnen, blauen Augen und seinem goldblonden Kraushaar. In seinem Gesicht war etwas, was einem sofort Vertrauen einflösste. Die ganze Offenheit der Jugend lag darin und ihre ganze leidenschaftliche Reinheit. Man fühlte, dass er sich von der Welt unbefleckt bewahrt hatte. Kein Wunder, dass Basil Hallward ihn vergötterte.

„Sie sind zu reizend, um sich mit Philanthropie zu befassen, Herr Gray, viel zu reizend.“ Und Lord Henry warf sich auf den Diwan und öffnete seine Zigarettendose.

Der Maler hatte inzwischen eifrig seine Farben gemischt und seine Pinsel vorbereitet. Er sah gequält aus, und als er Lord Henrys letzte Bemerkung hörte, warf er ihm einen Blick zu, zögerte ein wenig und sagte dann: „Harry, ich möchte dieses Bild heute fertig malen. Würdest du es arg unhöflich von mir finden, wenn ich dich bäte, zu gehen?“

Lord Henry lächelte und blickte Dorian Gray an. „Soll ich gehen, Herr Gray?“ fragte er.

„Oh, bitte nicht, Lord Henry. Ich sehe, dass Basil wieder mal brummiger Laune ist; und ich kann ihn nicht ertragen, wenn er brummt. Ausserdem möchte ich, dass Sie mir sagen, warum ich mich nicht mit Philanthropie befassen soll.“

„Ich weiss nicht, ob ich Ihnen das sagen werde, Herr Gray. Es ist ein so langweiliger Gegenstand, dass man unbedingt ernsthaft darüber sprechen müsste. Aber ich werde sicher nicht fortlaufen, jetzt, wo Sie mich gebeten haben, zu bleiben. Du hast doch ernstlich nichts dagegen, Basil, nicht wahr? Du hast mir oft gesagt, es sei dir lieb, wenn deine Modelle jemanden zum Plaudern haben.“

Hallward biss sich auf die Lippen. „Wenn Dorian es wünscht, musst du natürlich bleiben. Dorians Launen find Befehle für jedermann, ausser für ihn selbst.“

Lord Henry griff nach Hut und Handschuhen. „Du drängst mich zwar sehr, Basil, aber ich fürchte, ich muss gehen. Ich habe einem Bekannten versprochen, ihn im Orleans zu treffen. Leben Sie wohl, Herr Gray. Besuchen Sie mich einmal nachmittags in der Eurzon Street. Um fünf Uhr finden Sie mich fast immer zu Hause. Schreiben Sie mir, wann Sie kommen. Es täte mir leid, Sie zu verfehlen.“

„Basil,“ rief Dorian Gray, „wenn Lord Henry Wotton geht, werde ich auch gehen. Du machst nie den Mund auf, während du malst, und es ist entsetzlich langweilig, auf einem Podium zu stehen und ein liebenswürdiges Gesicht zu schneiden. Bitte ihn zu bleiben. Ich bestehe darauf.“

„Bleib, Harry, Dorian zuliebe und mir zuliebe“, sagte Hallward, ohne den Blick von der Leinwand zu wenden. „Es ist ganz richtig, ich spreche nie während der Arbeit und höre nicht einmal zu, und es muss schrecklich eintönig für meine unglücklichen Modelle sein. Ich bitte dich zu bleiben.“

„Aber was wird aus meinem Bekannten im Orleans?“

Der Maler lachte. „Ich glaube nicht, dass dies Schwierigkeiten machen wird. Setz’ dich wieder, Harry. Und jetzt, Dorian, stell’ dich auf das Podium und mach’ nicht zu viel Bewegungen und achte nicht auf das, was Lord Henry sagt. Er hat einen sehr schlechten Einfluss auf alle seine Freunde, mich allein ausgenommen.“

Dorian Gray bestieg die Estrade mit der Miene eines jungen griechischen Märtyrers und machte ein Schmollgesicht gegen Lord Henry, für den er geradezu eine Vorliebe gefasst hatte. Er war so ganz anders als Basil. Sie bildeten einen wundervollen Gegensatz. Und er hatte eine so schöne Stimme. Nach einer kleinen Weile sagte er zu ihm: „Haben Sie wirklich einen schlechten Einfluss, Lord Henry? So schlecht, wie Basil sagt?“

„Es gibt keinen guten Einfluss, Herr Gray. Jeder Einfluss ist unmoralisch — unmoralisch vom wissenschaftlichen Gesichtspunkte aus.“

„Warum?“

„Weil einen Menschen beeinflussen so viel ist, wie ihm die eigene Seele geben. Er denkt nicht mehr seine natürlichen Gedanken, er glüht nicht mehr in seinen natürlichen Leidenschaften. Seine Tugenden haben für ihn keine Wirklichkeit. Seine Sünden, wenn es so etwas wie Sünden gibt, sind geliehen. Er wird Echo einer fremden Musik, Darsteller einer Rolle, die nicht für ihn geschrieben wurde. Ziel des Lebens ist Entwicklung des Selbst. Die eigene Natur vollkommen zu verwirklichen — das ist es, wofür jeder von uns geboren wurde. Aber heutzutage haben die Menschen Angst vor sich. Sie haben die höchsten aller Pflichten, die Pflicht gegen das eigene Selbst, vergessen. Natürlich sind sie wohltätig. Sie füttern den Hungrigen und kleiden den Bettler. Aber ihre eigenen Seelen hungern und frieren. Es ist kein Mut mehr in unserer Rasse. Vielleicht war er nie wirklich darin. Furcht vor der Gesellschaft, der Grundlage der Moral — Furcht vor Gott, dem Geheimnis der Religion —, das sind die zwei Dinge, die uns beherrschen. Und doch —“

„Dreh’ deinen Kopf ein wenig mehr nach rechts, Dorian, wie ein braver Bub“, sagte der Maler, ganz in die Arbeit vertieft und nichts bemerkend, als dass ein Ausdruck in des Jünglings Gesicht getreten war, den er dort noch nie gesehen hatte.

„Und doch,“ fuhr Lord Henry fort mit seiner leisen, melodischen Stimme und jener anmutigen Handbewegung, die so bezeichnend für ihn war und die ihm schon als Schulknaben eigen gewesen war, „ich glaube, wenn ein Mensch sein Leben voll und ganz auslebte, jedem Gefühl Gestalt, jedem Gedanken Ausdruck, jedem Traum Verwirklichung gebend — ich glaube, die Welt würde einen solchen frischen Antrieb von Freude gewinnen, dass wir alle Krankheiten des Mittelalters vergessen und zum hellenischen Ideal zurückkehren würden — ja vielleicht zu etwas Schönerem und Reinerem als selbst das hellenische Ideal gewesen ist. Aber auch der Tapferste unter uns hat Angst vor sich. Die Selbstverstümmelung der Wilden lebt tragisch fort in der Selbstverleugnung, die unser Leben entstellt. Wir werden gestraft für unsere Entsagungen. Jeder Trieb, den wir zu ersticken suchen, brütet in unserer Seele und vergiftet uns. Der Leib sündigt einmal und ist dann mit seiner Sünde fertig, denn Tun ist eine Art Reinigung. Nichts bleibt zurück als die Erinnerung an eine Lust oder der Luxus eines Bedauerns. Das einzige Mittel, eine Versuchung loszuwerden, ist, ihr nachzugeben. Widerstehe ihr, und deine Seele wird krank vor Sehnsucht nach den Dingen, die sie sich versagt hat, vor Verlangen nach allem, was ihre ungeheuerlichen Gesetze ungeheuer und ungesetzlich gemacht haben. Man hat gesagt, die grossen Ereignisse der Welt gingen im Gehirn vor sich. Aber es ist im Gehirn, und nur im Gehirn, wo die grossen Sünden der Welt Ereignis werden. Sie, Herr Gray, Sie selbst mit Ihrem rosenroten Mund und Ihrer rosenweissen Jugend, Sie haben Leidenschaften empfunden, die Sie mit Furcht erfüllt haben, Gedanken, die Sie erschrecken liessen, Träume in Schlaf und Wachen, deren blosse Erinnerung Ihre Wangen mit Erröten färben würde —“

„Hören Sie auf!“ stammelte Dorian Gray, „hören Sie auf! Sie verwirren mich. Ich weiss nicht, was ich sagen soll. Es gibt eine Antwort auf all das, aber ich kann sie nicht finden. Sprechen Sie nicht. Lassen Sie mich nachdenken. Oder besser, laffen Sie mich versuchen, nicht nachzudenken.“

Fast zehn Minuten lang stand er so, unbeweglich, mit geöffneten Lippen und einem seltsamen Glanz in den Augen. Er war sich dunkel bewusst, dass ganz neue Einflüsse in ihm arbeiteten. Und doch war ihm, als gingen sie im Grunde aus ihm selbst hervor. Die wenigen Worte, die Basils Freund zu ihm gesprochen hatte — zufällige Worte, kein Zweifel, und keck parador — hatten eine geheime Saite berührt, die nie vorher berührt worden war, die er aber jetzt in rätselhaften Schlägen schwingen und zittern fühlte.

Musik hatte ihn so erregt. Musik hatte ihn oft verwirrt. Aber Musik war Dumpfheit des Gefühls. Was sie in uns schuf war nicht etwa eine neue Welt, sondern ein zweites Chaos. Worte! Nichts als Worte! Wie furchtbar waren sie! Wie klar, wie lebendig, wie grausam! Man konnte ihnen nicht entrinnen. Und doch, welche feine Magie lag in ihnen! War es nicht, als vermochten sie dem Gestaltlosen Gestalt zu geben und ihre Melodie in sich selbst zu tragen, süss wie die der Viola oder der Laute. Nichts als Worte! Was war wirklicher als Worte?

Ja; es hatte Dinge in seiner Kindheit gegeben, die er nicht verstanden hatte. Jetzt verstand er sie. Das ganze Leben wurde plötzlich feuerfarben. Es schien ihm, er sei durch Feuer gegangen. Warum hatte er es nicht gewusst?

Mit seinem feinen Lächeln beobachtete Lord Henry ihn. Er kannte genau den psychologischen Moment, wann er schweigen musste. Er war ganz Aufmerksamkeit. Der plötzliche Eindruck, den seine Worte hervorgerufen hatten, überraschte ihn. Ein Buch fiel ihm ein, das er mit sechzehn Jahren gelesen, das ihm damals viel enthüllt hatte, was er nicht wusste, und er fragte sich, ob Dorian etwas Ahnliches erlebe. Er hatte lediglich einen Pfeil ins Blaue geschossen. Hatte er ins Schwarze getroffen? Wie faszinierend der Junge war!

Hallward malte und malte mit seinem wunderbar kühnen Strich, der jene echte Feinheit und vollendete Zartheit hatte, die, in der Kunst wenigstens, nur aus der Stärke kommt. Er hatte das Schweigen nicht einmal bemerkt.

„Basil, ich bin müde“, rief Dorian Gray auf einmal. „Ich muss hinaus und im Garten sitzen. Die Luft ist drükkend hier.“

„Mein lieber Junge, das tut mir leid. Wenn ich male, kann ich an nichts andres denken. Aber du bist nie besser Modell gestanden. Du warst vollkommen still. Und ich habe den Zug eingefangen, den ich brauchte — die halbgeöffneten Lippen und den Glanz in den Augen. Ich weiss nicht, was dir Harry vorerzählt hat, aber er hat jedenfalls den wunderbarsten Ausdruck in dein Gesicht gebracht. Wahrscheinlich hat er dir Komplimente gemacht. Du darfst ihm nicht ein Wort glauben.“

„Er hat mir alles andere als Komplimente gemacht. Vielleicht ist das der Grund, warum ich ihm kein Wort glaube.“

„Sie wissen, dass Sie jedes Wort glauben“, sagte Lord Henry und sah ihn mit seinen verträumten, schmachtenden Augen an. „Ich will mit Ihnen in den Garten hinausgehen. Es ist schrecklich heiss im Atelier. Basil, lass uns irgendein eisgekühltes Getränk bringen, etwas mit Erdbeeren darin.“

„Gewiss, Harry. Klingle nur, bitte, und wenn Parker kommt, werde ich ihm sagen, was du möchtest. Ich muss noch diesen Hintergrund fertig malen, ich komme euch dann nach. Halte Dorian nicht zu lange zurück. Ich war nie in besserer Verfassung zum Malen als heute. Dieses Bild wird mein Meisterwerk. Es ist es schon, so wie es jetzt dasteht.“

Lord Henry ging in den Garten hinaus und fand Dorian Gray mit dem Gesicht in die grossen, kühlen Fliederblüten vergraben und ihren Duft wie Wein fieberisch einsaugend. Er ging ganz nahe an ihn heran und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Sie haben recht, das zu tun“, murmelte er. „Nichts vermag die Seele zu heilen als die Sinne, sowie nichts die Sinne heilen kann als die Seele.“

Der Jüngling schrak zusammen und trat einen Schritt zurück. Er war barhäuptig, und die Blätter hatten seine rebellischen Locken durcheinandergebracht und ihre goldenen Fäden verwirrt. Ein Ausdruck von Furcht war in seinen Augen, wie ihn Menschen haben, die unversehens geweckt werden. Seine fein geschwungenen Nasenflügel bebten, und ein verborgener Nerv erschütterte den Scharlach seiner Lippen und liess ein Zittern darauf zurück.

„Ja,“ fuhr Lord Henry fort, „das ist eines der grossen Geheimnisse des Lebens — die Seele durch die Sinne zu heilen und die Sinne durch die Seele. Sie sind ein wunderbares Wesen. Sie wissen mehr, als Sie ahnen, gerade wie Sie weniger wissen, als Sie möchten.“

Dorian Gray runzelte die Stirne und wandte den Kopf ab. Er konnte nicht anders, als sich zu dem schlanken, anmutigen jungen Manne hingezogen fühlen, der neben ihm stand. Sein romantisches Gesicht mit der Olivenhaut und dem müden Ausdruck fesselte ihn. Es war etwas in seiner leisen, wohlklingenden Stimme, dem man einfach nicht widerstehen konnte. Selbst seine kühlen, weissen, blumenhaften Hände hatten einen eigenen Zauber. Sie bewegten sich, während er redete, wie Musik und schienen eine besondere Sprache zu haben. Aber er fürchtete sich vor ihm und schämte sich doch dieser Furcht. Warum war es einem Fremden überlassen geblieben, ihn sich selbst zu enthüllen? Er kannte Basil Hallward seit Monaten, aber diese Freundschaft hatte nichts in ihm verändert. Und nun war auf einmal jemand in sein Leben getreten, der ihm das Geheimnis des Lebens offenbart zu haben schien. Und doch, wovor sich fürchten? Er war kein Schulknabe und kein Mädchen. Es war sinnlos, Furcht zu haben.

„Setzen wir uns doch in den Schatten“, sagte Lord Henry. Parker hat die Getränke gebracht, und wenn Sie noch länger in dieser prallen Sonne bleiben, so werden Sie sich den Teint verderben, und Basil wird Sie nie mehr malen. Sie dürfen sich wirklich keinen Sonnenbrand holen. Es stünde Ihnen nicht.“

„Was läge daran?“ rief Dorian Gray lachend, indem er sich auf die Bank am Gartenende niederliess.

„Es sollte Ihnen alles daran liegen, Herr Gray.

„Warum?“

„Weil Sie die wundervollste Jugend haben, und Jugend das einzige ist, was zu haben sich lohnt.“

„Ich empfinde das nicht, Lord Henry.“

„Nein, heute empfinden Sie es noch nicht. Später einmal, wenn Sie alt und runzlig und hässlich sein werden, wenn das Denken Ihre Stirn gefurcht und die Leidenschaft mit ihrer höllischen Glut Ihre Lippen gebrandmarkt hat, werden Sie es furchtbar empfinden. Heute bezaubern Sie die Welt, wohin immer Sie gehen. Wird es stets so sein? . . . Sie haben ein wunderbar schönes Gesicht, Herr Gray. Runzeln Sie nicht die Stirne. Es ist wahr. Und Schönheit ist eine Form von Genie — ja etwas Höheres als Genie, da sie keiner Erklärung bedarf. Sie ist eine der grössten Tatsachen dieser Welt, wie das Sonnenlicht oder der Frühling oder im dunklen Wasser das Spiegelbild jener Silberschale, die wir Mund nennen. Sie kann nicht in Frage gestellt werden. Sie hat das göttliche Recht der Herrschaft. Sie macht Fürsten aus allen, die sie besitzen. Sie lächeln? Ah, wenn Sie sie erst verloren haben, werden Sie nicht mehr lächeln. . . . Es heisst manchmal, Schönheit sei nur oberflächlich wie das Denken. Für mich ist Schönheit das Wunder der Wunder. Nur seichte Leute urteilen nicht nach dem Schein. Das wahre Mysterium des Lebens ist das Sichtbare, nicht das Unsichtbare . . . Ja, Herr Gray, die Götter sind gnädig gegen Sie gewesen. Aber was die Götter geben, nehmen sie rasch zurück. Sie haben nur ein paar Jahre, in denen Sie wirklich, voll und vollkommen, leben können. Wenn Ihre Jugend dahingeht, wird Ihre Schönheit mit vergehen, und dann werden Sie plötzlich entdecken, dass keine Triumphe mehr für Sie da sind, oder Sie werden sich mit jenen niedrigen Triumphen begnügen müssen, welche die Erinnerung an Ihre Vergangenheit bitterer machen wird, als Niederlagen. Jeder Monat bringt, indem er hinschwindet, Sie etwas Furchtbarem näher. Die Zeit ist eifersüchtig auf Sie und führt Krieg gegen Ihre Lilien und Rosen. Sie werden gelb werden, hohlwangig und stumpfäugig. Sie werden grauenvoll leiden . . . Ah! Werden Sie sich Ihrer Jugend bewusst, solang’ sie Ihnen gehört. Verschwenden Sie nicht das Gold Ihrer Tage, indem Sie den Langweiligen zuhören, hoffnungslos Missgeborene zu bessern suchen oder Ihr Leben an Unwissende, Gewöhnliche und Gemeine wegschenken. Das sind die krankhaften Ziele, die verkehrten Ideen unserer Zeit. Leben Sie! Leben Sie das wundervolle Leben, das in Ihnen ist! Lassen Sie sich nichts entgehen! Seien Sie immer auf der Suche nach neuen Sensationen. Fürchten Sie sich vor nichts . . . Ein neuer Hedonismus, das ist es, was unser Jahrhundert braucht. Sie könnten sein sichtbares Symbol sein. Mit einer Persönlichkeit wie der Ihren darf man alles. Die Welt gehört Ihnen für einen Lenz . . . Den Augenblick, als ich Sie traf, sah ich, dass es Ihnen noch nicht zum Bewusstsein gekommen ist, was Sie wirklich sind, was Sie sein könnten. Aber es war so viel in Ihnen, was mich entzückte, dass ich fühlte, ich müsse Ihnen etwas über Ihr wirkliches Selbst sagen. Ich dachte, wie ewig schade es wäre, wenn Sie verschwendet würden. Denn Ihre Jugend wird ja nur so kurz dauern — so schrecklich kurz. Die gewöhnlichen Wiesenblumen verwelken, aber sie blühen wieder. Der Goldregen wird nächsten Juni gerade so gelb sein wie heute. In einem Monat wird die Clematis mit purpurnen Sternen besät sein, und Jahr um Jahr wird die grüne Nacht ihrer Blätter die Purpursterne umgeben. Aber wir erhalten nie unsere Jugend zurück. Der Pulsschlag der Freude, der mit zwanzig in uns klopft, wird träge. Unsere Glieder versagen, unsere Sinne sterben ab. Wir degenerieren zu abscheulichen Puppen, gespenstich heimgesucht von der Erinnerung an die Leidenschaften, die wir zu sehr gefürchtet hatten, und die erlesenen Versuchungen, denen wir nicht den Mut hatten zu unterliegen. Jugend! Jugend! Es gibt tatsächlich nichts in der Welt als Jugend!“

Dorian Gray hörte zu, mit offenen Augen und staunender Seele. Der Fliederzweig glitt aus seiner Hand auf den Kies. Eine bepelzte Biene kam und umsurrte ihn einen Augenblick. Dann begann sie rings über den besternten. ovalen Ball mit den winzigen Blüten zu klettern. Er beobachtete sie mit jenem sonderbaren Interesse an den alltäglichsten Dingen, das, wir zu entwickeln suchen, wenn Dinge von hoher Bedeutung uns erschrecken, oder wenn wir durch ein neues Gefühl erregt werden, für das wir keinen Ausdruck finden können, oder wenn ein Gedanke, der uns erstarren macht, plötzlich unser Hirn bestürmt und Eintritt verlangt. Nach einiger Zeit flog die Biene fort. Er sah sie in den gefleckten Becher einer erotischen Winde kriechen. Die Blume schien zu erzittern und schwankte dann leise hin und her.

Plötzlich erschien der Maler in der Ateliertür und winkte ihnen lebhaft, hineinzukommen. Sie sahen einander an und lächelten.

„Ich warte“, rief er. „Kommt doch schnell. Das Licht ist fabelhaft, und Ihr könnt Eure Getränke mitbringen.“

Sie standen auf und schlenderten zusammen den Gartenweg hinunter. Zwei grünweisse Schmetterlinge flatterten an ihnen vorüber, und im Birnbaum an der Ecke des Gartens begann eine Amsel zu singen.

„Sie freuen sich, mich getroffen zu haben, Herr Gray“, sagte Lord Henry und blickte ihm voll ins Gesicht.

„Ja, ich freue mich jetzt! Wer weiss, ob ich mich immer freuen werde?“

„Immer! Das ist ein schreckliches Wort. Es macht mich schaudern, wenn ich es nur höre. Die Frauen gebrauchen es so gern. Sie verderben jedes Erlebnis durch den Versuch, es ewig dauern zu machen. Ausserdem ist es ein Wort, das nichts bedeutet. Zwischen einer Laune und einer lebenslänglichen Leidenschaft besteht nur der Unterschied, dass die Laune ein bisschen länger dauert.“

Als sie ins Atelier traten, legte Dorian Gray seine Hand auf Lord Henrys Arm. „Dann lassen Sie unsere Freundschaft eine Laune sein“, sagte er leise und errötete über seine eigene Kühnheit. Darauf schritt er rasch zur Estrade und nahm seine Stellung wieder ein.

Lord Henry warf sich in einen bequemen Rohrsessel und beobachtete ihn. Das Aufsetzen und Hinwischen des Pinsels auf der Leinwand bildete das einzige Geräusch, das die Stille unterbrach, ausser wenn von Zeit zu Zeit Hallward zurücktrat, um sein Werk aus der Entfernung zu betrachten. In den schrägen Strahlen, die durch die offene Glastür hereinströmten, tanzten goldene Sonnenstäubchen. Der schwere Duft der Rosen schien über allem zu brüten.

Nach einer Viertelstunde etwa hörte Hallward zu malen auf und schaute erst Dorian Gray, dann das Bild lange an, während er stirnrunzelnd am Stiel seines riesigen Pinsels kaute. „Es ist ganz fertig“, rief er endlich, beugte sich nieder und schrieb mit grossen roten Buchstaben seinen Namen in die linke Ecke der Leinwand.

Lord Henry kam herüber und betrachtete das Bild. Es war zweifellos ein wunderbares Kunstwerk, und wunderbar ähnlich dazu.

„Mein lieber Junge, ich beglückwünsche dich von ganzem Herzen“, sagte er. „Es ist das schönste Bildnis unserer Zeit. Herr Gray, kommen Sie her und sehen Sie selbst.“

Der Jüngling fuhr auf wie aus einem Traum. „Ist es wirklich fertig?“ fragte er leise und stieg von dem Podium herunter.

„Ganz fertig“, sagte der Maler. „Und du hast heute prachtvoll gestanden. Ich bin dir wirklich ungemein dankbar.“

„Das hast du ausschliesslich mir zu verdanken“, fiel Lord Henry ein. „Nicht wahr, Herr Gray?“

Dorian gab keine Antwort, sondern schritt versunken vor das Bild und hob den Blick. Als er es sah, erschrak er, und seine Wangen färbten sich augenblickslang mit der Röte der Freude. Ein entzückter Ausdruck kam in seine Augen, als habe er sich zum erstenmal erkannt. Er stand regungslos und verwundert, dunkel fühlend, dass Basil zu ihm sprach, aber unfähig, den Sinn seiner Worte zu fassen. Das Bewusstsein seiner Schönheit kam wie eine Offenbarung über ihn. Er hatte es nie zuvor empfunden. Basil Hallwards schwärmerisches Lob war ihm nur als reizende freundschaftliche Übertreibung erschienen. Er hatte es angehört, hatte gelacht und es zuletzt vergessen. Es hatte sein Wesen nicht beeinflusst. Dann war Lord Henry Wotton gekommen mit seiner seltsamen Hymne auf die Jugend, der furchtbaren Warnung vor ihrer Vergänglichkeit. Das hate ihn damals erregt, und nun, wie er dastand und auf den Schatten seiner eigenen Holdseligkeit starrte, durchblitzte ihn die ganze Wahrheit jener Schilderung. Ja, der Tag würde kommen, wo sein Gesicht faltig und verschrumpft, seine Augen stumpf und glanzlos, seine Gestalt gebrochen und entstellt sein würde. Das warme Rot würde von seinen Lippen weichen, das Gold sich fortstehlen von seinem Haar. Jenes Leben, das seine Seele formen würde, es würde seinen Körper zeichnen. Er würde hässlich werden, erschreckend, und ein Greuel.

Als er daran dachte, durchzuckte ihn ein scharfer Schmerz wie ein Messerstich und liess alle zarten Fibern seiner Natur erbeben. Seine Augen wurden tief wie Amethyste, und über sie regte sich ein Schleier von Tränen. Es war ihm, als hätte eine eisige Hand sein Herz berührt.

„Gefällt es dir nicht?“ rief Hallward endlich, ein wenig gekränkt durch des Jünglings Schweigen, dessen Bedeutung er nicht begriff.

„Natürlich gefällt es ihm“, sagte Lord Henry. „Wem sollte es nicht gefallen? Es ist eines der grössten Werke der modernen Kunst. Ich gebe dir jeden Preis dafür, den du verlangen magst. Ich muss es haben.“

„Es ist nicht mein Eigentum, Harry.“

„Wessen Eigentum ist es denn?“

„Dorians natürlich“, antwortete der Maler.

„Der Glückspilz.“

„Wie traurig!“ flüsterte Dorian, indes seine Augen immer noch unverwandt an seinem Bilde hingen. „Wie traurig! Ich werde alt werden und scheusslich und entsetzlich. Aber dies Bild wird immer jung bleiben. Es wird niemals älter sein als eben dieser Junitag . . . Wär’ es doch umgekehrt! Wenn ich ewig jung bliebe und das Bild altern müsste! Dafür — dafür — gäbe ich alles! Ja, es gibt nichts auf der Welt, das ich nicht dafür gäbe! Meine Seele gäbe ich dafür!“

„Du wärst schwerlich einverstanden mit solchem Tausch, Basil“, rief Lord Henry lachend. „Es wäre etwas hart gegen deine Arbeit!“

„Ich wäre ganz entschieden dagegen, Harry“, sagte Hallward.

Dorian Gray wandte sich und sah ihn an. „Ich glaube dir das, Basil. Du liebst deine Kunst mehr als deine Freunde. Ich bin dir nicht mehr als eine grüne Bronzefigur. Vielleicht nicht einmal so viel.“

Der Maler starrte ihn verblüfft an. Es sah Dorian so gar nicht ähnlich, so zu sprechen. Was war geschehen? Er schien geradezu erregt zu sein. Sein Gesicht war gerötet, und seine Wangen glühten.

„Ja,“ fuhr er fort, „ich bin dir weniger als dein elfenbeinerner Hermes oder dein silberner Faun. Sie wirst du immer lieben. Aber wie lange mich? Bis ich die ersten Runzeln habe, vermute ich. Ich weiss jetzt, wenn man seine Schönheit verliert, sie mag gross oder klein sein, so verliert man alles. Dein Bild hat es mich gelehrt. Lord Henry Wotton hat ganz recht. Jugend ist das einzige, was zu haben sich lohnt. Wenn ich merke, dass ich alt werde, so werde ich mich töten.“

Hallward erbleichte und griff nach seiner Hand. „Dorian! Dorian!“ rief er, „sprich doch nicht so. Ich habe nie einen solchen Freund gehabt wie dich und werde nie einen haben. Du bist doch nicht eifersüchtig auf leblose Dinge? — du, der herrlicher ist als sie alle!“

„Ich bin eifersüchtig auf alles, dessen Schönheit nicht stirbt. Ich bin eifersüchtig auf das Bildnis, das du von mir gemacht hast. Warum darf es behalten, was ich verlieren muss? Jeder Augenblick, der dahin geht, nimmt mir etwas und gibt es ihm. Oh, dass es doch umgekehrt wäre! Dass das Bild sich wandelte und ich ewig bleiben könnte, was ich heute bin! Warum hast du es gemalt? Es wird mich eines Tages verhöhnen — grausam verhöhnen!“ Heisse Tränen stiegen in seine Augen; er riss seine Hand los, warf sich auf den Diwan und vergrub sein Gesicht in die Kissen, als wolle er beten.

„Das ist dein Werk, Harry“, sagte der Maler bitter.

Lord Henry zuckte die Achseln. „Es ist der wirkliche Dorian Gray — das ist alles.“

„Nein.“

„Ist er es nicht, was habe ich damit zu schaffen?“

„Du hättest fortgehen sollen, als ich dich bat“, murmelte er.

„Ich blieb, als du mich batest“, war die Antwort.

„Harry, ich kann nicht mit meinen beiden besten Freunden auf einmal streiten, aber er und du, ihr habt beide bewirkt, dass mir das schönste Werk verhasst geworden ist, das ich je gemacht habe, und ich will es vernichten. Was ist es mehr als Farbe und Leinwand? Es soll nicht zwischen uns drei kommen und unser Leben zerstören.“

Dorian Gray hob den goldlockigen Kopf vom Kissen und sah ihm mit blassem Antlitz und feuchten Augen zu, wie er zum Zeichentisch ging, der unter dem hohen verhängten Fenster stand. Was wollte er dort? Seine Finger tasteten unter dem Haufen von Blechtuben und trocknen Pinseln, als suchten sie etwas. Ja, sie suchten das lange Palettemesser mit seiner dünnen Klinge von biegsamem Stahl. Endlich hatte er es gefunden. Er schickte sich an, die Leinwand zu zerschneiden.

Mit einem erstickten Schluchzen schnellte der Jüngling vom Lager, war mit einem Satz bei Hallward, entriss ihm das Messer und schleuderte es in die äusserste Ecke des Ateliers. „Nicht, Basil, nicht!“ schrie er. „Es wäre Mord!“

„Es freut mich, dass du mein Werk endlich zu schätzen beginnst, Dorian“, sagte der Maler kalt, als er sich von seinem Erstaunen erholt hatte. „Ich hatte es nicht mehr erwartet.“

„Es schätzen? Ich bin verliebt in dein Bild, Basil. Es ist ein Stück von mir selbst. Ich fühle das.“

„Nun, sobald du trocken bist, sollst du gefirnisst und eins gerahmt und nach Hause geschickt werden. Dann kannst du mit dir machen, was du willst.“ Und er ging durch das Zimmer und klingelte nach Tee. „Du trinkst doch Tee mit mir, Dorian? Und du auch, Harry? Oder hast du etwas gegen so einfache Genüsse einzuwenden?“

„Oh, mir geht nichts über einfache Genüsse“, sagte Lord Henry. „Sie sind die letzte Zuflucht der Komplizierten. Aber ich bin nicht für Szenen, ausser auf dem Theater. Was seid ihr für Narren, alle beide! Ich frage mich, wer vom Menschen als einem vernünftigen Tier gesprochen hat. Es war die voreiligste Definition, die je gemacht wurde. Der Mensch ist vieles, nur nicht vernünftig. Eigentlich bin ich froh, dass er es nicht ist: aber ich wollte doch ihr Leute tätet über das Bild nicht zanken. Du solltest es lieber mir überlassen, Basil. Dieser dumme Junge wünscht es sich in Wirklichkeit gar nicht und ich sehr.“

„Wenn du es einem anderen als mir gibst, Basil, so verzeihe ich’s dir im Leben nicht!“ rief Dorian Gray; „und ich erlaube niemand, mich einen dummen Jungen zu nennen.“

„Du weisst, dass das Bild dir gehört, Dorian. Es war für dich bestimmt, ehe es noch da war.“

„Und Sie wissen, dass Sie ein klein wenig dumm gewesen sind, Herr Gray, und dass Sie im Grunde nichts dagegen haben, wenn man Sie daran erinnert, wie ausserordentlich jung Sie noch sind.“

„Heute morgen hätte ich sehr viel dagegen gehabt, Lord Henry.“

„Ah heute morgen! Seitdem haben Sie gelebt.“

Es klopfe, und der Diener trat mit einem vollen Teebrett ein, das er auf ein japanisches Tischchen setzte. Tassen klirrten, und ein georgischer Samowar zischte. Ein Boy drachte zwei runde Porzellanschüsseln. Dorian Gray ging zum Tischen und goss den Tee ein. Die beiden Männer näherten sich langsam und sahen nach, was unter den Deckeln war.

„Gehen wir heute abend ins Theater“, sagte Lord Henry. „Irgendwo wird schon etwas los sein. Ich habe versprochen, bei White zu Abend zu essen, aber nur mit einem alten Freund, also kann ich ihm telegraphieren, ich sei krank oder verhindert infolge einer nachträglichen Verabredung. Ich finde, das wäre eine hübsche Ausrede: sie hätte den überwältigenden Reiz der Naivität.“

„Es ist so lästig, seine schwarzen Sachen anziehen zu müssen“, brummte Hallward. „Und wenn man sie an hat, sind sie so greulich.“

„Ja,“ antwortete Lord Henry träumerisch, „die Tracht des neunzehnten Jahrhunderts ist abscheulich. Sie ist so düster, so niederdrückend. Das einzige Farbelement, das dem modernen Leben geblieben ist, ist die Sünde.“

„Du solltest wirklich nicht solche Dinge vor Dorian sagen, Harry.“

„Vor welchem Dorian? Dem, der uns Tee einschenkt, oder dem auf dem Bilde?“

„Vor keinem von beiden.“

„Ich möchte gern mit Ihnen ins Theater gehen, Lord Henry“, sagte der Jüngling.

„Dann kommen Sie nur; und du kommst doch auch, Basil, nicht wahr?“

„Ich kann wirklich nicht. Ich möchte lieber nicht. Ich habe eine Unmenge zu arbeiten.“

„Nun, dann werden wir beide allein gehen, Herr Gray.“

„Das möchte ich schrecklich gern.“

„Der Maler biss sich auf die Lippen und ging, die Teetasse in der Hand, zum Bild hinüber. „Ich werde bei dem wahren Dorian Gray bleiben“, sagte er traurig.

„Ist es der wahre Dorian?“ fragte das Original des Bildes, zu ihm tretend. „Bin ich wirklich so?“

„Ja; du bist ganz so.“

„Wie wunderbar, Basil!“

„Wenigstens in deiner äusseren Erscheinung. Aber es wird sich niemals ändern“, seufzte Hallward. „Das ist doch etwas.“

„Was für ein Wesen die Menschen mit der Treue machen!“ rief Lord Henry, aus. „Dabei ist sie sogar in der Liebe nur eine physiologische Frage. Sie hat nichts mit unserem Willen zu tun. Junge Männer möchten treu sein, und sind es nicht; alte Männer möchten treulos sein, und können es nicht: das ist alles, was sich darüber sagen lässt.“

„Geh nicht ins Theater heute abend, Dorian“, sagte Hallward. „Bleib und iss mit mir zu Nacht.“

„Ich kann nicht, Bafil.“

„Warum?“

„Weil ich Lord Henry. Wotton versprochen habe, mit ihm zu gehen.“

„Du wirst bei ihm nicht gewinnen, wenn du deine Versprechen hältst. Er bricht die seinen immer. Ich bitte dich, nicht zu gehen.“

Dorian Gray lachte und schüttelte den Kopf.

„Ich beschwöre dich.“

Der Jüngling zögerte und sah zu Lord Henry hinüber, der sie vom Teetisch aus mit einem amüsierten Lächeln beobachtete.

„Ich muss gehen, Basil“, antwortete er.

„Gut“, sagte Hallward; und er ging hinüber und stellte seine Tasse auf das Teebrett. „Es ist ziemlich spät, und da du dich umkleiden musst, ist es besser, du verlierst keine Zeit. Guten Abend, Harry. Guten Abend, Dorian. Komm mich bald besuchen. Komm morgen.“

„Gewiss.“

„Du wirst es nicht vergessen?“

„Natürlich nicht“, rief Dorian.

„Und . . . Harry?“

„Ja, Basil?“

„Erinnere dich, um was ich dich bat, als wir heut vormittag im Garten waren.“

„Ich habe es vergessen.“

„Ich verlasse mich auf dich.“

„Ich wollte, ich könnte mich auf mich selbst verlassen“, sagte Lord Henry lachend. „Kommen Sie, Herr Gray, mein Wagen wartet draussen, und ich kann Sie an Ihrer Wohnung absetzen. Guten Abend, Basil. Es war ein höchst interessanter Nachmittag.“

Als die Tür sich hinter ihnen schloss, warf sich der Maler auf ein Sofa, und ein schmerzlicher Ausdruck trat in sein Gesicht.

Das Bildnis des Dorian Gray

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