Читать книгу Das Bildnis des Dorian Gray - Оскар Уайльд, Oscar Wilde, F. H. Cornish - Страница 7

Drittes Kapitel

Оглавление

Am nächsten Tag um halb eins schlenderte Lord Henry Wotton von Curzon Street nach Albany, um seinen Onkel, Lord Fermor, zu besuchen. Lord Fermor war ein ebenso humorvoller wie rauhbeiniger, alter Junggeselle, den die Welt selbstsüchtig nannte, weil sie keinen sonderlichen Nutzen von ihm zog, während die Gesellschaft ihn für freigebig erklärte, weil er die Leute fütterte, die ihm Spass machten. Sein Vater war englischer Botschafter in Madrid gewesen, als Isabella noch jung und von Prim keine Rede war, hatte aber in einem Anfall von Verärgerung den diplomatischen Dienst verlassen, als man ihm den Botschafterposten in Paris nicht anbot, auf den er mit Rücksicht auf seine Geburt, seine Trägheit, das gute Englisch seiner Berichte und seine hemmungslose Vergnügungssucht den vollsten Anspruch zu haben glaubte. Der Sohn, der seines Vaters Sekretär gewesen war, hatte mit ihm demissioniert, etwas vorschnell, wie damals gemeint wurde; und als ein paar Monate darauf seines Vaters Titel auf ihn überging, widmete er sich voll und ganz dem ernsten Studium der hohen aristokratischen Kunst des absoluten Nichtstund. Er besass zwei grosse Stadtpaläste, zog es aber vor, möbliert zu wohnen, da es weniger Umstände machte, und ass meist in seinem Klub. Er gab sich ein wenig mit der Verwaltung seiner Kohlengruben in Mittelengland ab, wobei er als Entschuldigung für diese industrielle Neigung geltend machte, Kohle zu besitzen, habe wenigstens den Vorteil, dass es einen Gentleman instandsetze, sich den anständigen Luxus von Holz für den eigenen Herd zu leisten. Politisch war er konservativ, ausser wenn die Konservativen am Ruder waren, in welchem Fall er sie als eine Bande von Radikalen zu beschimpfen pflegte. Er war ein Held für seinen Kammerdiener, der ihn tyrannisierte, und ein Schrecken für die meisten seiner Angehörigen, die er seinerseits tyrannisierte. Nur England konnte ihn hervorgebracht haben, und er behauptete stets, das Land ginge vor die Hunde. Seine Grundsätze waren veraltet, aber seine Vorurteile hatten Hand und Fuss.

Als Lord Henry eintrat, fand er seinen Onkel in einem derben Jagdanzug sitzend, eine Manilazigarre rauchend und über der Times brummend. „Na, Harry,“ sagte der alte Herr, „welcher Wind hat dich so zeitig hergeweht? Ich dachte, ihr Dandies stündet nie vor zwei auf und wärt nicht vor fünf sichtbar.“

„Reine Familienliebe, ich versichere dir, Onkel George. Ich möchte etwas aus dir herausbekommen.“

„Geld wahrscheinlich“, sagte Lord Fermor mit einem sauren Gesicht. „Na, setz dich und erzähl mir die Sache. Heutzutage bilden sich die jungen Leute ein, Geld sei alles.“

„Ja,“ murmelte Lord Henry und brachte seine Knopflochblume in Ordnung, „und wenn sie älter werden, dann wissen sie’s. Aber ich brauche kein Geld. Nur Leute, die ihre Rechnungen zahlen, brauchen das, Onkel George, und ich zahle meine nie. Kredit ist das Kapital eines jüngeren Sohnes, und man lebt prächtig davon. Ausserdem suche ich mir immer Dartmoors Lieferanten aus, und die Folge ist, dass sie mich nie behelligen. Was ich brauche, ist eine Auskunft: keine nützliche natürlich; eine ganz unnütze.“

„Nun, ich kann dir alles erzählen, was in einem englischen Blaubuch steht, Harry, obgleich diese Kerls heute einen Haufen Unsinn schreiben. Als ich in der Diplomatie war, stand es viel besser. Aber ich höre, man lässt die Leute jetzt auf Grund von Prüfungen zu. Ich bitte dich, was kann man da erwarten? Prüfungen sind nichts als Humbug von A bis Z. Ist einer ein Gentleman, so weiss er genug, und ist er keiner, so ist ihm Wissen nur schädlich.“

„Herr Dorian Gray gehört nicht zu den Blaubüchern, Onkel George“, sagte Lord Henry nachlässig.

„Herr Dorian Gray? Wer ist das?“ fragte Lord Fermor und zog seine buschigen weissen Brauen zusammen.

„Das möchte ich gerade erfahren, Onkel George. Das heisst, wer er ist, weiss ich. Er ist der Enkel des verstorbenen Lord Kelso. Seine Muter war eine Devereur — Lady Margaret Devereux. Du sollst mir sagen, was du von ihr weisst. Wie sah sie aus? Wen hat sie geheiratet? Du hast zu deiner Zeit so ungefähr die ganze Welt gekannt, vielleicht war sie darunter. Herr Gray interessiert mich augenblicklich lebhaft. Ich habe ihn eben erst kennengelernt.“

„Der Enkel von Kelso!“ wiederholte der alte Herr, „der Enkel von Kelso! . . . Natürlich . . . Ich habe seine Mutter genau gekannt. Ich glaube, ich war bei ihrer Taufe. Sie war ein wunderschönes Mädchen, diese Margaret Devereux, und brachte alle Männer zur Raserei, indem sie mit einem bettelarmen jungen Laffen durchging, einem reinen Niemand, einem kleinen Leutnant in einem Infanterieregiment oder so was Ähnlichem. Ich erinnere mich an die ganze Geschichte, als sei’s gestern gewesen. Der arme Teufel fiel in einem Duell in Spa ein paar Monate nach der Hochzeit. Es gab ein hässliches Gerede darüber. Man sagte, Kelso habe irgendeinen schuftigen Glücsritter, einen belgischen Rohling, angestiftet, seinen Schwiegersohn öffentlich zu beleidigen — ihn dafür bezahlt, ja, mit Geld bezahlt — und Dass der Schurke seinen Mann abgestochen habe, wie man ein Huhn absticht. Die Sache wurde vertuscht, aber, potz Blitz! Kelso ass eine ganze Weile danach sein Hammelkotelett im Klub allein. Er brachte damals seine Tochter zurück, hat man mir erzählt, aber sie sprach nie mehr ein Wort mit ihm. Ja, ja, es war ein übler Handel. Das Mädel starb noch im selben Jahr. Also hat sie einen Sohn hinterlassen? Das hatte ich vergessen. Wie sieht der Junge aus? Wenn er seiner Mutter gleicht, so muss er ein hübscher Kerl sein.“

„Mehr als hübsch“, sagte Lord Henry.

„Ich hoffe, er kommt in die richtigen Hände“, fuhr der alte Mann fort. „Er müsste einen ganzen Haufen Geld zu erwarten haben, wenn Kelso sich anständig gegen ihn benommen hat. Seine Mutter hatte auch Geld. Sie hat das ganze Selbysche Vermogen geerbt, durch ihren Grossvater mütterlicherseits. Der hasste den alten Kelso und hielt ihn für einen gemeinen Hund. Und das war er auch. Einmal, als ich in Madrid war, kam er hin. Weiss Gott, ich habe mich für ihn geschämt. Die Königin hat mich gefragt, wer der englische Baron sei, der immer mit den Kutschern über den Fahrpreis stritte. Es hat ordentliches Aufsehen erregt. Ich konnte mich einen Monat lang nicht mehr bei Hofe blicken lassen. Ich hoffe, er hat seinen Enkel besser behandelt als die Droschenkutscher.“

„Ich weiss nicht“, antwortete Lord Henry. „Aber ich glaube, der Junge wird gut daran sein. Er ist noch nicht grossjährig. Schloss Selby gehört ihm, das weiss ich. Er hat es mir erzählt. Und . . . seine Mutter war sehr schön? . . .

„Margaret Devereux war eins der bezauberndsten Geschöpfe, die ich je gesehen habe, Harry. Was in aller Welt sie bewogen hat, so zu handeln, wie sie es tat, habe ich nie begriffen. Sie hätte jeden Mann heiraten können, den sie mochte. Carlington war ganz vernarrt in sie. Aber sie war romantisch wie alle Weiber aus dieser Familie. An den Männern war nicht viel dran, aber weiss Gott, die Weiber, die waren prachtvoll. Carlington hat auf den Knien vor ihr gelegen. Hat es mir selbst erzählt. Sie hat ihn bloss ausgelacht, und doch gab es damals kein Mädchen in London, das nicht hinter ihm her war. Übrigens, weil wir von dummen Heiraten reden, was hat mir dein Vater da für einen Unsinn erzählt, dass Dartmoor eine Amerikanerin heiraten will? Sind englische Mädels nicht gut genug für ihn?“

„Es ist eben modern, Amerikanerinnen zu heiraten, Onkel George.“

„Ich wette auf englische Frauen gegen die ganze Welt, Harry“, und Lord Fermor schlug mit der Faust auf den Tisch.

„Die Amerikanerin ist jetzt Favorit.“

„Sie hält nicht, was sie verspricht, höre ich“, brummte sein Onkel.

„Eine lange Verlobung erschöpft sie, aber in einem Hindernisrennen ist sie prima. Sie siegt im Sturm. Ich glaube nicht, dass Dartmoor noch zu retten ist.“

„Was sind ihre Leute?“ grollte der alte Herr. „Hat sie überhaupt welche?“

Lord Henry schüttelte den Kopf. „Amerikanerinnen haben ein solches Geschick, ihre Abstammung zu verheimlichen, wie Engländerinnen, ihre Vergangenheit zu verbergen“, sagte er, indem er sich zu gehen anschickte.

„Vermutlich Konservenfabrikanten von Schweinefleisch oder so was?“

„Ich hoffe, Onkel George, ich hoffe es für Dartmoor. Es heisst, Konservenmachen, und gar von Schweinefleisch, sei nach der Politik das einträglichste Geschäft in Amerika.“

„Ist sie hübsch?“

„Sie benimmt sich, als ob sie eine Schönheit wäre. Die meisten Amerikanerinnen tun das. Es ist das Geheimnis ihres Erfolgs.“

„Warum können diese amerikanischen Weiber nicht im eigenen Lande bleiben? Sie erzählen uns beständig, es sei das Paradies für Frauen.“

„Ist es auch. Das ist der Grund, warum sie, wie Eva, es so eilig haben, herauszukommen“, sagte Lord Henry. „Leb wohl, Onkel George. Ich komme zu spät zum Mittagessen, wenn ich jetzt nicht gehe. Danke schon für deine Auskunft. Ich erfahre immer gern alles über meine neuen Freunde und nichts über meine alten.“

„Wo isst du zu Mittag, Harry?“

„Bei Tante Agatha. Ich habe mich und Herrn Gray zu Tisch gebeten. Er ist ihr neuester Protégé.“

„Hm! Sag deiner Tante Agatha, Harry, sie solle mich künftig mit ihren Wohltätigkeitsaufrufen in Ruhe lassen. Ich habe sie satt. Weiss der Kuckuck, die gute Frau bildet sich ein, ich hätte nichts zu tun, als Schecks für ihre albernen Schrullen zu schreiben.“

„Schon recht, Onkel George. Ich werde es ihr sagen, aber es wird nicht die geringste Wirkung tun. Philanthropische Leute verlieren jeden Sinn für Menschlichkeit. Es gehört zu ihnen. Man kann sie daran erkennen.“

Der alte Mann knurrte zustimmend und schellte nach seinem Diener. Lord Henry ging durch den niederen Torbogen nach Burlington Street und wandte sich dann in die Richtung von Berkeley Square.

Also das war die Geschichte von Dorian Grays Abstammung. So grob sie ihm erzählt worden war, sie hatte ihn doch gepackt durch die sonderbare, beinahe moderne Romantik, die darin lag. Eine wunderschöne Frau, die alles für eine tolle Leidenschaft wagt. Ein paar wilde Wochen Glück, die ein scheussliches, meuchlerisches Verbrechen kurz abschneidet. Monate stummer Qual und dann ein Kind, in Schmerzen geboren. Die Mutter durch den Tod entrissen, der Knabe der Einsamkeit und der Tyrannei eines alten lieblosen Mannes überlassen. Ja; es war ein interessanter Hintergrund. Es gab dem Jungen Relief, rundete ihn ab sozusagen. Hinter allem Vollkommenen auf der Welt steht etwas Tragisches. Welten müssen in Wehen liegen, soll die ärmste Blume blühen. . . . Und wie reizend war er gestern beim Abendessen gewesen, als er mit erstaunten Augen und freudig erschrockenen Lippen ihm im Klub gegenübergesessen hatte, indes die roten Kerzenschatten das erwachende Wunder seines Gesichts mit Rosenschimmer übergossen hatten. Zu ihm sprechen war wie das Spielen auf einer kostbaren Geige. Er antwortete auf jede Berührung, jedes Zittern des Bogens . . . Es lag etwas grauenvoll Berückendes in dem Ausüben eines Einflusses, etwas, womit sich keine andere Tätigkeit vergleichen konnte. Seine Seele in eine anmutige Form zu giessen und dort augenblickslang verweilen zu lassen; die eigenen geistigen Anschauungen im Widerhall zu vernehmen, verstärkt durch das Feuer der Leidenschaft und der Jugend; seine Natur auf eine andere zu übertragen, als sei sie eine feine Flüssigkeit oder ein seltsamer Duft: darin lag wirklich Genuss — vielleicht der feinste, der uns in einer so beschränkten und vulgären Zeit wie der unseren geblieben war, dieser Zeit grobsinnlicher Vergnügungen und grobsinnlicher Zwecke . . . Und er war ein wundervoller Typus, dieser Jüngling, den er durch einen so sonderbaren Zufal in Basils Atelier getroffen hatte, oder konnte jedenfalls zu einem wundervollen Typus geschaffen werden. Sein waren Anmut und die weisse Reinheit des Knabenalters und solche Schönheit, wie sie alte griechische Marmorbilder für uns bewahrt haben. Es gab nichts, was man nicht aus ihm machen konnte. Man konnte einen Titanen aus ihm machen oder ein Spielzeug. Wie schade, dass auch solche Schönheit zu welken bestimmt war! . . . Und Basil? Wie merkwürdig war auch er vom psychologischen Standpunkt aus! Eine neue Kunstweise, eine neue Einstellung zum Leben, auf unbegreifliche Art hervorgerufen durch die blosse sichtbare Gegenwart eines Menschen, dem all dies ganz unbewusst war; die schweigende Gottheit, die im dämmernden Hain wohnte und ungesehen durch die Landschaft schritt und nun plötzlich hervortrat wie eine Dryade, furchtlos und herrlich, weil in seiner suchenden Seele die wunderbare Vision erwacht war, der allein sich die Wunder enthüllen; so dass gleichsam die Umrisse und Muster der Dinge sich verfeinern und symbolische Bedeutung erhalten, als wären sie selbst Muster von anderen und vollkommeneren Formen, deren Schatten sie Leben verleihen: wie seltsam war das alles! Er erinnerte sich an etwas Ähnliches aus der Geschichte. War es nicht Plato, jener Künstler im Denken, der es zuerst analysiert hatte? Hatte es nicht Buonarotti in den farbigen Marmor einer Sonettenreihe gemeisselt? Aber in unserem Jahrhundert war es seltsam . . . Ja; er wollte versuchen, Dorian Gray das zu sein, was der Jüngling unbewusst dem Maler war, der das wundervolle Bildnis geschaffen hatte. Er wollte versuchen, ihn zu beherrschen — hatte es zur Hälfte schon getan. Er wollte sich diesen wunderbaren Geist unterwerfen. Es war etwas Faszinierendes in diesem Sohn der Liebe und des Todes.

Plötzlich hielt er inne und sah zu den Häusern hinauf. Er merkte, dass er das Haus seiner Tante schon ein gutes Stück hinter sich gelassen hatte, lächelte über sich selbst und kehrte um. Als er die etwas düstere Halle betrat, sagte ihm Der Diener, dass die Herrschaften schon bei Tisch seien. Er gab einem Lakaien Hut und Stock und ging ins Esszimmer.

„Spät wie gewöhnlich, Harry“, rief seine Tante kopfschüttelnd.

Er erfand eine billige Ausrede, setzte sich auf den leeren Stuhl neben sie und blickte um den Tisch, wer sonst da sei. Dorian grüsste vom anderen Tischende schüchtern zu ihm hinüber, während ein freudiges Erröten sich in seine Wangen stahl. Ihm gegenüber sass die Herzogin von Harley, eine ebenso gutherzige wie frohlaunige Dame, geliebt von allen, die sie kannten, von jenen stattlichen architektonischen Formen, die bei Frauen, welche nicht Herzoginnen sind, von den zeitgenössischen Geschichtsschreibern als Beleibtheit bezeichnet wird. Zu ihrer Rechten sass Sir Thomas Burdon, ein radikaler Abgordneter, der im öffentlichen Leben seinem Führer, im Privatleben den besten Köchen zu folgen pflegte, mit den Konservativen speiste und mit den Liberalen dachte, wie eine weise und wohlbekannte Regel empfiehlt. Der Platz zu ihrer Linken wurde von Herrn Erskine von Treadley eingenommen, einem alten Herrn von grosser Feinheit und Bildung, der jedoch die schlechte Gewohnheit des Schweigens angenommen hatte, weil er, wie er Lady Agatha einmal erklärte, alles, was er zu sagen gehabt, vor seinem dreissigsten Jahr gesagt habe. Seine eigene Tischnachbarin war Frau Vandeleur, eine der ältesten Freundinnen seiner Tante und eine vollendete Heilige unter den Frauen, aber so entsetzlich geschmacklos, dass sie einen an ein schlecht gebundenes Gebetbuch ermahnte. Zum Glück für ihn sass an ihrer anderen Seite Lord Faudel, eine sehr gescheite bejahrte Mittelmässigkeit, kahl wie eine ministerielle Erklärung im Unterhaus, und mit diesem sprach sie in jenem tiefernsten Ton, welcher, wie er selbst einmal gesagt hatte, der einzige unverzeihliche Fehler ist, in den alle wirklich guten Menschen verfallen und dem keiner von ihnen je völlig entgeht.

„Wir reden eben über den armen Dartmoor, Lord Henry“, rief die Herzogin und nickte ihm über den Tisch herzlich zu. „Glauben Sie wirklich, dass er jenes berückende Frauenzimmer heiraten wird?“

„Ich glaube, sie ist entschlossen, ihm ihre Hand anzutragen, Herzogin.“

Wie schrecklich!“ rief Lady Agatha aus. „Es müsste wirklich jemand eingreifen.“

„Ich weiss aus guter Quelle, dass ihr Vater ein amerikanisches Gemischtwarenlager führt“, sagte Sir Thomas Burdon mit hochnäsigem Ausdruck.

,,Mein Onkel hat schon Konservenfabrikation vermutet, Sir Thomas.“

„Gemischtwaren! Was sind amerikanische Gemischtwaren?“ fragte betont die Herzogin und hob verwundert die grossen Hände.

„Amerikanische Romane“, antwortete Lord Henry und nahm sich eine Wachtel.

Die Herzogin sah verblüfft aus.

„Achten Sie nicht auf ihn, meine Liebe“, flüsterte Lady Agatha. „Er meint nichts von dem, was er sagt.“

,,Als Amerika entdeckt wurde“, sagte der radikale Abgeordnete und begann ein paar langweilige Tatsachen aufzuzählen. Wie alle Leute, die einen Gegenstand zu erschöpfen suchen, erschöpfte er seine Zuhörer. Die Herzogin seufzte und machte von ihrem Vorrecht, Gespräche zu unterbrechen, Gebrauch. Ich wollte wahrhaftig, es wäre nie entdeckt worden!“ rief sie aus. „Weiss der Himmel, unsere Mädchen haben heutzutage keine Aussichten mehr. Es ist wirklich ungerecht.“

„Vielleicht ist im Grunde Amerika noch unentdeckt,“ sagte Herr Erskine, „ich möchte sagen, es sei eben erst erahnt.“

„Oh! Aber ich habe Proben von den Bewohnerinnen gesehen“, antwortete die Herzogin unbestimmt. „Ich muss gestehen, dass die meisten ausnehmend hübsch sind. Und obendrein ziehen sie sich gut an. Sie beziehen alles aus Paris. Ich wollte, ich könnte es mir leisten.“

„Es heisst, wenn gute Amerikaner sterben, kommen sie nach Paris“, grinste Sir Thomas, der über einen reichen Vorrat von abgelegten Wissen verfügte.

„Wirklich! Und wo kommen die schlechten Amerikaner hin, wenn sie sterben?“ erkundigte sich die Herzogin.

„Nach Amerika“, murmelte Lord Henry.

Sir Thomas runzelte die Stirn. „Ich fürchte, Ihr Neffe hat Vorurteile gegen jenes grosse Land“, sagte er zu Lady Agatha. „Ich habe es von einem Ende zum anderen bereist, in Sonderwagen, die mir die Eisenbahndirektionen zur Verfügung stellten. Sie sind in solchen Dingen von bewunderungswürdiger Höflichkeit. Ich versichere Ihnen, diese Fahrt wirkt geradezu erzieherisch.“

„Aber müssen wir wirklich Chikago sehen, um erzogen zu sein?“ fragte Herr Erskine in klagendem Ton. „Ich fühle mich der Reise nicht gewachsen.“

Sir Thomas winkte ab. „Herr Erskine von Treadley hat die Welt auf seinen Bücherbrettern. Wir praktischen Leute ziehen vor, die Dinge zu sehen, statt davon zu lesen. Die Amerikaner sind ein ungemein interessantes Volk. Sie sind absolut vernünftig. Ich glaube, das ist ihr unterscheidendes Merkmal. Ja, Herr Erskine, ein absolut vernünftiges Volk. Ich versichere Ihnen, es gibt nichts Unsinniges an einem Amerikaner.“

„Wie entsetzlich!“ rief Lord Henry. „Ich vertrage rohe Kraft, aber rohe Vernunft ist ganz unerträglich. Es liegt etwas Unfaires in ihrer Anwendung. Sie ist ein Faustschlag unterhalb des Geistes.“

„Ich verstehe Sie nicht!“ versetzte Sir Thomas mit rotem Kopf.

„Aber ich, Lord Henry“, sagte Herr Erskine lächelnd.

„Paradoxe mögen in ihrer Art schön und gut sein . . .“ wollte der Baron wieder anfangen.

„War das ein Paradox?“ fragte Herr Erskine. „Ich hatte es nicht gemerkt. Nun vielleicht war es eins. Aber die Art der Paradoxe ist die Art der Wahrheit. Um die Wirklichkeit auf die Probe zu stellen, müssen wir sie seiltanzen sehen. Erst wenn die Wahrheiten Akrobaten werden, können wir sie beurteilen.“

„Lieber Gott!“ sagte Lady Agatha, „wie ihr Männer redet! Ich schwöre, ich kann nicht einmal herausfinden, wovon eigentlich die Rede ist. Übrigens, Harry, ich bin ganz böse auf dich. Warum versuchst du, unseren netten Herrn Gray zu überreden, das East End im Stich zu lassen? Ich versichere dir, er wäre dort ganz unschätzbar. Die armen Leute wären entzückt von seinem Spiel.“

,,Er soll mir vorspielen“, rief Lord Henry lächeind und blickte nach dem unteren Tischende, wo ein strahlender Blick ihm antwortete.

„Aber dort unten in Whitechapel ist das Volk so unglücklich“, fuhr Lady Agatha fort.

„Ich kann mit allem mitfühlen, nur nicht mit dem Unglück“, sagte Lord Henry achselzuckend. „Es ist zu hässlich, zu grausig, zu niederdrückend. Es liegt etwas Krankhaftes in diesem modernen Mitgefühl mit dem Leiden. Mitführen sollte man mit dem Glanz, der Schönheit, dem Jubel des Lebens. Je weniger man seine Wunden berührt, desto besser.“

„Jedoch das East End ist ein sehr wichtiges Problem“, bemerkte Sir Thomas mit ernstem Kopfschütteln.

„Durchaus“, antwortete der junge Lord. „Es ist das Problem der Sklaverei, und wir versuchen es zu lösen, indem wir die Sklaven amüsieren.“

Der Politiker sah ihn scharf an. „Welche Veränderung schlagen Sie also vor“ fragte er.

Lord Henry lachte. „Ich wünsche in England gar nichts zu verändern als das Wetter“, antwortete er. „Ich begnüge mich mit philosophischer Betrachtung. Aber da das neunzehnte Jahrhundert durch einen übertriebenen Verbrauch von Mitgefühl bankrott geworden ist, möchte ich vorschlagen, dass wir uns an die Wissenschaft wenden, damit sie uns den Kopf zurechtsetzt. Der Vorzug der Gefühle ist, dass sie uns in die Irre führen, und der Vorzug der Wissenschaft, dass sie nicht gefühlvoll ist.“

„Aber wir haben so schwere Verantwortungen“, wagte Frau Vandeleur schüchtern zu bemerken.

„Furchtbar schwere“, stimmte Lady Agatha ein.

Lord Henry sah zu Herrn Erskine hinüber. „Die Menschheit nimmt sich zu ernst. Das ist die wahre Erbsünde. Hätte der Höhlenmensch zu lachen verstanden, die Weltgeschichte wäre anders ausgefallen.“

„Sie beruhigen mich wirklich“, zwitscherte die Herzogin. „Wenn ich Ihre liebe Tante besuchte, bin ich mir immer so schuldbewusst vorgekommen, weil ich mich nicht für das East End interessiere. In Zukunft werde ich imstande sein, ihr ohne Erröten ins Gesicht zu sehen.“

„Erröten ist sehr kleidsam, Herzogin“, bemerkte Lord Henry.

„Nur wenn man jung ist“, antwortete sie. „Wenn eine alte Frau wie ich errötet, so ist es ein sehr schlechtes Zeichen. Ach, Lord Henry, ich wollte, Sie würden mir sagen, wie man wieder jung werden kann.“

Er dachte einen Augenblick nach. Können Sie sich an eine grosse Torheit erinnern, die Sie in Ihrer Jugend begingen, Herzogin?“ fragte er und sah sie über den Tisch an.

„Ich fürchte, an sehr viele“, rief sie.

„Dann begehen Sie sie noch einmal“, sagte er ernst. „Um seine Jugend wiederzuerlangen, braucht man nur seine Torheiten zu wiederholen.“

„Eine reizende Theorie!“ rief sie aus. „Ich muss sie in die Praxis umsetzen.“

„Eine gefährliche Theorie!“ kam es von Sir Thomas‘ gepressten Lippen. Lady Agatha schüttelte den Kopf, musste aber doch lachen. Herr Erskine hörte aufmerksam zu.

„Ja,“ fuhr er fort, „das ist eines der grossen Geheimnisse des Lebens. Heutzutage sterben die meisten Menschen an einer Art schleichender Vernunft und entdecken erst, wenn es zu spät ist, dass die einzigen Dinge, die man nie bereut, unsere Torheiten sind.“

Gelächter lief um den Tisch.

Er spielte mit dem Gedanken und verbiss sich; in ihn; warf ihn in die Luft und wandte und drehte ihn; liess ihn entschlüpfen und fing ihn wieder; gab ihm die Farben der Phantasie und die Flügel des Paradoxons. Das Lob der Torheit verwandelte sich, je länger er sprach, in eine Philosophie, und die Philosophie selbst wurde jung und horchte auf die tolle Melodie der Lust, nahm von ihr das weinbefleckte Gewand und den Efeukranz und tanzte bacchantengleich über die Höhen des Lebens, während sie den langsamen Silen seiner Nüchternheit wegen verspottete. Die Wirklichkeit floh vor ihr wie ein erschrecktes Wild. Ihre weissen Füsse traten die riesige Weinpresse, an der der weise Omar sitzt, bis der quellende Traubensaft in purpurnen Wellen um ihre nackten Glieder stieg oder in rotem Schaum über die schwarzen, tropfenden Seiten des Fasses zu Boden rann. Es war eine glänzende Improvisation. Er fühlte, dass die Augen Dorian Grays an ihm hingen, und das Bewusstsein, unter seinen Zuhörern einen zu haben, dessen Seele er in seinen Bann zwingen wollte, schien seinem Geist Kühnheit und seiner Bildkraft Feuer zu verleihen. Er war sprühend, phantastisch, unverantwortlich. Er riss seine Hörer hin und sie folgten lachend seiner Pfeife. Dorian Gray wandte die Augen nicht von ihm, sondern sass wie verzaubert, während ein Lächeln um das andere über seine Lippen glitt und das Erstaunen schwer in seinen dunkelnden Augen wuchs.

Endlich trat, in die Tracht der Gegenwart eingeschnürt, die Wirklichkeit in Gestalt eines Dieners ins Zimmer, um der Herzogin zu melden, dass ihr Wagen bereitstünde. Sie rang in scherzhafter Verzweiflung die Hände. „Wie ärgerlich!“ rief sie. „Ich muss gehen. Ich muss meinen Mann vom Klub abholen, um ihn in eine dumme Versammlung in den Willis-Sälen zu bringen, wo er den Vorsitz führen soll. Wenn ich zu spät komme, wird er sicher wütend sein, und mit diesem Hut darf ich mich keiner Szene aussetzen. Er ist viel zu zart. Ein hartes Wort würde ihn verderben. Nein, ich muss gehen, liebe Agatha. Leben Sie wohl, Lord Henry, Sie sind ganz entzückend und entsetzlich demoralisierend. Ich weiss wirklich nicht, was ich zu Ihren Ansichten sagen soll. Sie müssen nächstens einmal kommen und mit uns zu Abend essen. Dienstag? Sind Sie Dienstag frei?“

„Für Sie würde ich allen anderen Leuten absagen, Herzogin“, antwortete Lord Henry mit einer Verbeugung.

„Oh! Das ist sehr nett und sehr unrecht von Ihnen“, rief sie, „also kommen Sie sicher“; und sie rauschte aus dem Zimmer, von Lady Agatha und den anderen Damen gefolgt.

AIs Lord Henry sich wieder gesetzt hatte, ging Herr Erskine zu ihm hinüber und, sich auf einen Stuhl neben ihm niederlassend, legte er ihm die Hand auf den Arm.

„Sie sprechen besser als zehn Bücher,“ sagte er, „warum schreiben Sie keins?“

„Ich lese zu gern Bücher, als dass ich Lust hätte, welche zu schreiben, Herr Erskine. Gewiss, ich würde gern einen Roman schreiben, etwas, das ebenso bunt wäre wie ein Perserteppich und ebenso unwirklich. Aber es gibt in England kein Publikum für alles, was nicht Zeitung, Fibel und Konversationslexikon ist. Von allen Völkern der Welt haben die Engländer am wenigstens Gefühl für die Schönheit der Literatur.“

„Ich fürchte, Sie haben recht“, antwortete Herr Erskine. Ich selbst pflegte literarischen Ehrgeiz zu haben, aber ich habe ihn schon seit langem aufgegeben. Und jetzt, mein lieber junger Freund — wenn Sie mir erlauben wollen, Sie so zu nennen — darf ich fragen, ob Sie wirklich alles im Ernst meinten, was Sie uns heute mittag gesagt haben?“

„Ich habe ganz vergessen, was ich gesagt habe“, lächelte Lord Henry. „War es sehr schlimm?“

„Sehr. In der Tat halte ich Sie für sehr gefährlich, und wenn unserer guten Herzogin etwas Menschliches zustösst, so werden wir Sie alle für den Hauptverantwortlichen ansehen. Aber ich möchte gerne mit Ihnen über das Leben sprechen. Die Generation, in die ich hineingeboren wurde, war langweilig. Wenn Sie einmal Londons müde sind, so kommen Sie zu mir nach Treadley und erläutern mir Ihre Philosophie der Freude bei einem herrlichen Burgunder, den ich glücklicherweise besitze.“

„Mit dem grössten Vergnügen. In Treadley vorsprechen zu dürfen ist eine Auszeichnung. Es hat den vollkommensten Gastgeber und die vollkommenste Bibliothek.“

„Sie werden sie vervollständigen“, antwortete der alte Herr mit höflicher Verbeugung. „Und jetzt muss ich mich von Ihrer trefflichen Tante verabschieden. Ich werde im Athenäum erwartet. Es ist die Stunde, wo wir dort schlafen.“

„Alle, Herr Erskine?“

„Alle vierzig, in vierzig Lehnstühlen. Wir proben für eine englische Akademie nach berühmtem Muster.“

Lord Henry lachte und erhob sich. „Ich gehe nach dem Part“, rief er.

An der Türe berührte Dorian Gray seinen Arm. ,,Wollen Sie mich mitnehmen?“ sagte er leise.

„Aber ich dachte, Sie hätten Basil Hallward versprochen, zu ihm zu kommen“, antwortete Lord Henry.

„Ich möchte lieber mit Ihnen kommen; ja, ich fühle, ich muss mit Ihnen kommen. Bitte, sagen Sie nicht nein. Und Sie versprechen mir, die ganze Zeit zu mir zu reden? Niemand spricht so wundervoll wie Sie.“

„Oh, ich habe heute gerade genug gesprochen“, sagte Lord Henry lächelnd. „Jetzt will ich nichts, als dem Leben zuschauen. Sie können kommen und mit mir zuschauen, wenn Sie Lust haben.“

Das Bildnis des Dorian Gray

Подняться наверх