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Die Schlacht
ОглавлениеEs war August. Seit drei Tagen marschierten wir. Immer nach Westen, der untergehenden Sonne zu. Ein Zug von meiner Kompanie war zwei- bis dreihundert Meter voraus. Gleich hinterher kam die Spitzenkompanie, dann der Vortrupp und in noch weiterem Abstande der Haupttrupp. Deutlich schallte das Gerassel der Feldartillerie und ihrer Protzwagen. Wenn man einmal Zeit hatte, sich umzuschauen, sah man nichts als eine riesige, langgestreckte, lebendige Kolonne, die im Atmen auf- und niederging, als ob sich ein ungeheurer, schmaler Tausendfüßler auf der staubigen Landstraße herwälze. Auch in der Flanke gingen Leute. Bald liefen sie im Feld, bald quer über Ackerland und Wiesen, dann wieder durch niederes, verzotteltes Gebüsch oder auch durch lichten Wald. Die armen Teufel schwitzten mächtig.
Wir marschierten vier Mann tief und hielten schön Vordermann, damit wenigstens etwas frische Luft durch die Reihen streichen konnte. Von Zeit zu Zeit kam der Alte an die Seite ‘rangesprengt und rief: „Rechts ‘ran! Rechts ‘ran!“ Und kaum hatte er‘s gerufen, und kaum hatten wir uns so dicht als möglich an den Straßengraben gedrückt, da sauste auch schon so ‘n großes, graugestrichenes Teufelskind von Kriegsauto durch, Hie und da hoben die Herren Hauptleute die Hand an den Helm, und dann sagte irgendeiner: „Da war‘n gewiss Generalstäbler drin!“
Sonst wurde wenig geredet. Wir hatten genug mit dem Marschieren zu tun. Die Vorderen liefen mit ihren langen Beinen frei weg, wie Ochsen, wenn sie den Metzger sehen, und wir Hinteren mussten doppelte Schritte machen, um ihnen am Gelenke zu bleiben. Dazu brannte die Sonne wie noch nie; der Tornister wurde immer schwerer, und der Schweiß rann in hundert Bächlein den Rücken hinunter. Zwar hatten wir an der Montur drei Knöpfe auf und die Ärmel bis zum Ellenbogen zurückgekrempelt. Aber ‘s nützte nur wenig. Es lag einfach etwas in der Luft, das einen müd machte. Der kleine Frankfurter wollte singen. Da kam er schön an. Der Zinkerich gab ihm mit der geballten Faust einen ziemlichen Knuff in die Seite und sagte, der Gesangverein Hühnertod habe aufgehört, er solle stramm Vordermann halten und nicht so krumm dahergehen wie eine besoffene Ente, das sei viel gescheiter. So musste der kleine Frankfurter still sein.
Es passierte nichts. Nur, dass wir einmal von links her durch den Wald deutlich einen Flieger surren hörten. Doch vor lauter Bäumen sahen wir ihn nicht. Erst als Rast gemacht wurde, kam ein wenig Leben in die Bude. Die Berliner steckten ihre Struppköpfe zusammen und rissen Witze, doch wurde heute nicht so viel gelacht wie sonst. Die meisten hatten was zurechtzuknobeln, den Sand aus den Stiefeln zu schütteln, die Fußlappen anders zu legen, die Tornisterriemen enger zu schnallen oder sonst etwas.
Der Holsteiner hatte keinen Tabak mehr. Ich langte ihm auf einen Augenblick meinen Burrus hinüber. Aber er gab mir das Päckchen nicht wieder zurück. Er sagte, es hätt‘ es ihm einer gestohlen. Aber das ist purer Schwindel. Ich leihe dem Kerl nichts mehr.
Dann ging‘s weiter. Alle halbe Stunde kamen wir durch irgendein Dorf. Eins sah aus wie das andere, ländlich, schändlich, dreckig, speckig, die Misthaufen schier vor der Haustür. Die Dorfhühner sind so unsagbar dumm und wollen einem um alles in der Welt nicht ausweichen. Mit ängstlichem Geglucker und Gegackser flattern sie in unsern Reihen herum. Zinkerich hat bei dieser Gelegenheit schon zweien den Kragen abgedreht. Ich kann‘s beschwören. Die eine trägt Zinkerich selber, die andere der Feldwebelschreiber. Das gibt heute Abend eine gute Suppe.
Vom vielen Marschieren und von der vielen Sommerhitze läuft einem die Galle ins Blut. Man möchte die ganze Welt zusammentreten! Die Wut steigt. Wenn man sie nur an jemand auslassen dürfte! Wenn doch nur die Franzosen kämen! Aber die richtigen Franzosen, die mit Flinten und Geschützen, nicht diese alten, verrunzelten Bauern, die wie ein Häuflein Unglück am Wege stehen und schweigend Wasser, Brot und Apfel bringen, soviel man haben will. Das Wasser schmeckt gut, besser als das bei uns daheim.
Hie und da sehn wir auch Mädchen. Manche verstecken sich schnell hinter den Fenstervorhängen. Manche genieren sich aber nicht, sondern zeigen sich von allen Seiten. Sie sind sehr schön. Der Seiltänzer, der ein wenig Französisch kann und immer so ‘n pfiffiges Gesicht macht, hat zu einer hinübergerufen, er möchte gern bei ihr schlafen für eine Nacht. Sie lachte und sagte: „Nach dem Kriege vielleicht.“ Da ist der lange, freche Kerl still geworden und meinte: „Ja, wer weiß, ob wir wiederkommen?“ Wir waren aber schon ‘ne Strecke weiter, und ich weiß nicht, ob die Französin den Satz zu Ende gehört hat.
Gegen Abend stießen wir auf Truppen von uns, die am Abkochen waren. Sie lagen auf beiden Seiten der Straße, zum Teil auch weiter, im Wald drin. Unsere Flankengänger wurden eingezogen.
Wir mussten eine Stunde weiter. Dann kam der Befehl, links abzuschwenken. Wir bogen in ein riesiges Haferfeld ein, setzten die Gewehre zusammen, legten die Tornister auf den Boden und schnallten die Zeltbahnen ab. Es dauerte gar nicht lange, da standen die braunen Zelte so hübsch ausgerichtet in ihren Reihen wie sonst auf dem grünen Rasen vorm Straßburger Glacis draußen.
Nach Stroh brauchte nicht lange gesucht zu werden. Mit unsern Seitengewehren säbelten wir einfach den Hafer nieder, der schon ordentlich gelb war. Unterdessen war unser Korporalschaftsführer mit zwei Mann zum Fouragewagen. Als die mit genügend Fressalien zurückkamen, wurde abgekocht und gegessen. Einige von uns hatten einen Bach gefunden. Dort wurden die Kochgeschirre sauber gemacht und die Hemden und die Socken gewaschen.
Allmählich kam die Nachtkühle.
Ein Signal klang über das Lager hin, und was nicht schon lag, griff nach den Mänteln und kroch unter. Einige blieben stumm bei den Kochgräben am Feuer sitzen. Sie mussten nachher auf Wache.
Dicht neben mir im Zelt lag ein dicker Sergeant, der im Herbst zur Schutzmannschaft hätte abgehen sollen. Er war sonst ein harter Bruder, dem zehn Pfarrer das Fell nicht weich machen konnten, aber jetzt lag er bald auf dem Rücken, bald auf der Seite und schnupfte verdächtig. Er schlief diese Nacht keine Minute, und am andern Tag war er der erste von unserer Truppe, der fiel.
Rechts von mir hatte sich der Holsteiner zusammengeringelt und tat, als ob er schnarche. Ich gab ihm einen Stupf und sagte: „Du bist ein Schuft.“ Er sagte: „Das weiß ich wohl, aber der Tabak ist mir wirklich gestohlen worden.“ Ich sagte: „Das glaubt dir der stärkste Mann nicht.“ Er sagte: „Du bist ein ausgewachsenes Kamel, mit dir lässt sich nicht reden!“ Dann kehrten wir uns zornig den Rücken und schliefen ein.
Als ich aufwachte, schnatterte ich vor Kälte. Gleich griff ich nach der Uhr. Sie hat nämlich ein Zifferblatt, von dem man auch im Dunkel die Zeit ablesen kann. Sie darf das schon, denn sie ist nicht billig gewesen; ich habe zweiunddreißig Mark blechen müssen. Dafür kann man was Ordentliches verlangen. Es war dreiviertel zwei.
Ich lüpfte das Zelttuch ein wenig. Es war eine schlechte, dicke Luft da herin. Zwölf junge Soldaten sind kein Rosengarten. Der Mond stand am Himmel, hell und klar. Sterne sah man nur wenig. Wolken hingen davor.
Ich wickelte mich dichter in den Mantel und wollte weiterschlafen. Ich konnte nicht. Ich musste immer wieder daran denken, dass uns der Hauptmann am Abend gesagt hatte: „Kameraden, morgen kommt‘s zur Schlacht!“ Ich dachte: wie wird‘s dir dabei ergehen? Wirst du keine Angst haben? Nein, das nicht, komme was wolle, deinen Leuten darfst du keine Schande machen, du musst zeigen, dass Murks in dir ist. Dann dachte ich wieder: wenn du nur keine Kugel in den Bauch bekommst, alles andre muss dir egal sein!
Hernach fing ich ein zweites Mal zu sinnieren an. Es fuhr mir durch den Kopf, so ‘n Krieg ist eigentlich eine verwunderliche Sache. Wenn nicht Krieg wäre, würde man sagen, er ist verrückt. Noch vor kurzer Zeit hat kein Mensch auch nur im Ernst daran gedacht, und nun ist er da wie der Blitz aus heiterm Himmel, und wir liegen heut im fremden Land auf Haberstroh und müssen morgen wieder marschieren und die Franzosen zusammenschießen.
Der Kugler Franz sagt immer, sie hätten‘s um uns verdient, und man sollte nur alles zusammenstechen und keinem keinen Pardon geben, und wenn er erst so ‘nen heringsschwänzigen Engländer an die Gurgel bekäme, dem wollte er das Rückenmark schon lang ziehen.
Ich hab ihm dagegengehalten: „Es sind aber Menschen wie wir, und sie haben auch Vater und Mutter und Bruder und Schwester und Frauen, Kinder und Freunde daheim, oder was meinst du?“
Da hat er geschwiegen und mich nur groß von obenher angeschaut. Denn er kann das, er ist zehn Zentimeter länger als ich. Aber eine Stunde später hat er gesagt: „In der Zeitung steht, der Franzos ist unser Erbfeind, und das haben wir auch in der Schul‘ so gelernt. Und was die Zeitung schreibt, und was der Schulmeister sagt, das ist also wahr und kein Schwindel, und wenn ich einen Franzosen treff‘, steck‘ ich ihm ‘s Messer mittenmank in den Arsch.“
Der Kugler Franz ist freilich ein Wilder. Und der älteste Bruder, den er hat, der ist noch viel wilder. Aber der sitzt auf zwei Jahr im Käfig, weil er auf der Hegenheimer Kilbe im Rausch einen erstochen hat. Wenn er jetzt da bei uns herunt wäre, könnte er stechen so viel er wollte und brauchte keine Angst vorm Käfig zu haben. Und knallen könnte er auch.
Ich verscheuchte diese dummen Gedanken und sagte mir: „Schlaf doch, morgen kannst du‘s brauchen.“ Eben, als ich überm zweiten Einnicken war, schoss es von draußen. Ich stützte den Kopf in die Hand und horchte. Auch der Sergeant richtete sich auf. Dem Schall nach waren es zweierlei Gewehre. Die Schüsse folgten sich schneller, wurden stärker und zogen sich nach unserer Seite hin. Nach einer Weile sagte der Sergeant: „Das wird ein Gefecht!“ In allen Zelten wachten sie auf, und eine verdatterte Stimme fragte: „Sind wir überfallen?“
„Nein, wir sind nicht überfallen. Es wird sich da draußen ein kleines Vorpostengeplänkel angesponnen haben.“ Doch kaum fünf Minuten nach dieser tröstlichen Antwort blies es Alarm. Gleich gingen wir an die Gewehre. Nur den Seiltänzer mussten wir erst wachrütteln. Der lag im Traum bei seiner jungen Französin.
Nach einer Viertelstunde kam der Befehl durch: Kompanie soll sich marschfertig halten! An Kaffee war nicht zu denken. Feueranzünden, Zigarrenrauchen wurde verboten, selbst das bisschen Glut, das in den Kochgräben unter der Asche glimmte, musste ausgetreten werden. Man hörte nichts als leise, gedämpfte Kommandorufe und das schwere Atmen bereitstehender Kolonnen. Von irgendher schollen Marschtritte. Schwere Artillerie fuhr über die Felder. Man fühlte leise den Boden zittern. Die Schlacht wachte auf.
Unsere Kompanie, die erste, schwenkte in Viererreihen geschlossen rechts ein. Es ging durch das niedergetretene Feld hindurch, die Straße hinüber. Im Glieds vor mir marschierte der Sergeant. Nach etwa fünf Minuten überquerten wir einen Feldweg. Da sahen wir ein paar dunkle Klumpen auf dem Boden liegen. Der Holsteiner, der schon in aller Herrgottsfrühe sein Maul nicht halten konnte, fragte: „Was ist das, Herr Sergeant?“ Der trat ein wenig aus der Reihe heraus, um besser schauen zu können. Doch bevor er sagen konnte: „Es sind Tote!“ da kam schon der eiserne Tod geflogen und zerriss ihm die Sergeantenstirn. Er fiel mir rücklings in die Arme. Ich musste stehen bleiben mit der Last. Die andern aber marschierten weiter. Der zweite Zugführer, ein Leutnant, ließ seine Laterne aufzucken und sagte dann: „Mensch, was stehen Sie hier? Legen Sie den Mann nieder; die Sanitäter werden ihn schon finden, und machen Sie, dass Sie in Ihr Glied hineinkommen! Marsch!“
Ich tat, wie geheißen. Es ist aber gut, dass es noch Nacht und dunkel war und mir niemand ins Gesicht schauen konnte.
In der Ferne tauchte ein schwacher Streifen auf, der Bahndamm. Von dort schossen hie und da Feuerstrahlen. Der Hauptmann stieg vom Pferde und rief nach seinem Burschen. Dann ließ er uns stillstehen und ging mit dem Oberleutnant und den beiden Zugführern voraus.
Diese kamen nach einer Weile wieder und gaben den Unteroffizieren mit verhaltenen Stimmen Befehle.
Wir mussten laden, sichern und dann ausschwärmen. Die Richtung wurde auf den Bahndamm zu genommen. Das Gewehr im Arm gingen wir langsam vorwärts, genauso, wie‘s uns auf dem Exerzierplatz eingelernt worden war, prompt mit zwei Schritt Abstand. Einige von uns wurden zittrig und ungeduldig und fragten, wann sie endlich schießen dürften. Die Antwort wurde gegeben: erst wenn das Kommando dazu kommt.
Wir sahen noch immer nichts vom Feinde, trotzdem wir ihm einige hundert Meter näher gekommen waren. Nur das harte, unregelmäßige Geprassel des Gewehrfeuers und kleine Lichtblitze verrieten ihn. Einige von uns wurden getroffen und fielen. Einer schrie: „O heilige Mutter Gottes, hilf mir! Steh mir bei, jetzt und in Ewigkeit, Amen!“ Das ging einem durch Mark und Bein. Man bekam Angst.
Plötzlich hieß es: „Hinlegen! Schützenfeuer! Visier 600.“ Ganz mechanisch warfen wir uns hin und knallten die ersten Schüsse hinaus. Aber, mein Gott, was sollte man zielen? Es war ja so dunkel, dass man unmöglich Kimme und Korn sehen konnte, sondern aufs Geratewohl nach dem Bahndamm hinschoss. Nach einigen Minuten hieß es: „Sprung auf, marsch marsch!“ und wir sprangen auf und rannten, bis wieder das Kommando: „Hinlegen!“ kam.
Es war nichts Schönes! Im Gegenteil, es war eine verfluchte Hetze. Wir schwitzten trotz der Morgenkühle rechtschaffen. Es fing zu tagen an. Zwar vom Feinde sahen wir außer dem Aufblitzen seiner Schüsse noch immer nichts, aber der Damm, hinter dem die Schützen lagen, trat deutlich heraus.
Wir mochten etwa dreihundert Meter davon entfernt sein. Einige Minuten durften wir uns verschnaufen, aber dann mussten wir rennen, was wir nur rennen konnten, was das Herz nur hergab, bis an den Fuß des Bahndammes. Kaum hatten wir zu diesem Sprung angesetzt, da fingen die französischen Maschinengewehre zu spielen an. Es war ein fürchterliches Getöse, ein Geschrei, Geböller und Gelärme sondergleichen, durch das wir hindurchbrechen mussten. Der erste, der aufsprang, war unser Hauptmann. Da gab es keine Sekunde Zögern. Fort war er wie der Satan.
Der Damm mochte sechs Meter hoch sein. Das war unser Glück. Dadurch waren beim Sturm die meisten Kugeln über uns hinweggegangen, und jetzt gar wirkte er als Kugelfang, denn die Franzosen lagen dahinter und trauten sich nicht an den diesseitigen Rand.
Unterdessen wandelte sich Dämmerung in helllichten Tag. Die ersten Strahlen der Sonne schienen her.
Vorsichtig krochen zwei Mann von uns den Damm hinauf, steckten die Helme ans Gewehr und hoben sie in die Höhe. Der Erfolg war hörbar. Rasendes Schnellfeuer setzte ein. Jetzt krochen auch wir andern hinauf. Einige wurden beherzter. Sie legten die Gewehre auf und schauten hinüber.
Nun geschah etwas Unerwartetes: wie auf Verabredung hörten die Franzosen mit Schießen auf; auch von unserer Seite fiel kein einziger Schuss mehr. Da lag Feind am Feinde, nur durch vier Eisenbahnschienen getrennt, so nah, dass einer genau den andern erkennen konnte. Das mochte etwa eine Viertelstunde dauern.
Keine der beiden Parteien fand den Mut, der andern mit der blanken Waffe auf den Leib zu rücken. Inzwischen kam der Seiltänzer zurück, der auf eigene Faust einen Streifgang der Bahn entlang genommen hatte. Er meldete dem Hauptmann, etwa fünf Minuten weiter unten sei eine Unterführung, ein ziemlich breiter Graben. Wenn man das bisschen Wasser nicht scheue, könnte man wohl mit einigen Leuten unten durchkriechen und den Franzosen in die Flanke fallen.
Der Hauptmann besann sich nicht lange, sondern ordnete unauffällig einen Zugführer mit zwölf Mann ab; der Seiltänzer musste den Weg zeigen. Und richtig, kaum waren zehn Minuten ins Land gegangen, da setzte von links ein wahnsinniges Geschieße ein. Die schmissen Patronen heraus, so viel sie nur konnten. Die Franzosen machten verwunderte Gesichter, als sie so heftig von der Seite bestrichen wurden, und ihr Führer mochte wohl meinen, wir hätten Verstärkungen erhalten. Er ließ das Signal zum Rückzug geben. Was zurückkriechen konnte, machte sich auf die Beine; nur einige Beherzte blieben liegen und feuerten gegen unsere Linie, um eine Verfolgung zu verhindern. Wir aber, als wir sahen, dass die Feinde zurückgingen, nicht faul, setzten uns auf einen Schrei unseres Hauptmanns in Trab und rückten mit dem Bajonett der weichenden Linie nach.
Der Kugler Franz war einer der ersten. Überm Laufen sah ich noch, wie er einen Franzosen zusammenstach. Aber keine Sekunde später wälzte er sich selber auf dem Boden. Einer der Schützen, die zurückgeblieben waren, hatte ihn aufs Korn genommen. Sonst weiß ich mich an nichts mehr zu erinnern. Denn gleich darauf stolperte ich im Springen und fiel mit dem Gesicht in eine fette Drecklache, in der ich fast erstickte. Langsam rappelte ich mich auf und wischte mir mit dem Armelaufschlag den Schmutz aus den Augen. An mein Taschentuch dachte ich in der Aufregung gar nicht.
Es dauerte eine schöne Weile, bis ich wieder klar in die Welt sah und wusste, woran ich war. Weit und breit sah ich von meiner Kompanie nichts mehr. Nur in den Wiesen lagen ein paar Franzosen auf dem Gesicht. Einer lebte noch. Ich drehte ihn um, so dass er besser schnaufen konnte.
Weiter vorn schaute ein Kirchturm aus den Bäumen. Ich dachte, wo eine Kirche ist, muss auch ein Dorf sein, und wenn dort ein Dorf ist, ist meine Kompanie sicher hineingegangen, oder zum wenigsten kann man erfahren, wo die Brüder stecken. Als ich so langsam vorwärtshinkte, denn das linke Bein tat mir meineidisch weh, und an ein paar dicken Büschen vorbeikam, krochen auf einmal zwei von meiner Korporalschaft heraus und sagten: „Bist du verwundet, dass du so hinkst? Komm, wir wollen dich nach dem Verbandsplatz bringen! Es sind hoffentlich keine Franzosen mehr da?“ Ich sagte: „Nein, ich bin nicht verwundet, sondern habe mir nur den Fuß ein wenig übertreten. Aber wo kommt ihr zwei her?“ Sie sagten: „IJa, weißt du, als wir so vorwärts rannten,, den Franzosen nach, als die Kugeln so mörderlich pfiffen und es bald da einen umschlug und bald dort, da ist‘s uns doch ein wenig anders ums Herz geworden, und das hat aufs Gedärm gezogen, und wir konnten nicht anders und mussten in das Gebüsch rein und ein wenig die Hosen umwenden.“ Ich sagte: „Ihr seid ja saubere Burschen, und das kann noch schön werden. Der Alte wird euch sicher einen Staucher verpassen. Kommt nur mit und helfet die Truppe suchen, sonst schimpfen sie euch noch Hemdscheißer und Ausreißer.“
So gingen wir selbdritt dem Kirchturm in den Bäumen zu. Den Weg konnten wir nicht verfehlen, auch wenn wir das Dorf nicht gesehen hätten. Die Toten und die verwundeten Soldaten, die in ihren Schmerzen wimmerten und schrien, waren Wegweiser genug. Kurz vorm Dorf trafen wir auf den Hauptteil der Kompanie. Die Leute hatten unter einem schönen Nußbaum Rast gemacht und ruhten sich von dem blutigen Morgen aus. Wir meldeten uns beim Alten zurück und kriegten, wie ich prophezeit hatte, einen gehörigen Nasenputzer weg, voll Rotz und voll Kotz. Der Alte sagte, wenn das noch einmal vorkäme, dass einer zurückbliebe, ließe er ihn drei Stunden an den Baum binden oder zwei Tag lang kein Essen geben. Es war ihm aber nicht Ernst damit; er sagte es nur, damit alle hübsch beieinander blieben und sich keiner in irgendeine Weltgegend verliefe.
Ich schaute, wo der Holsteiner sich hinpraktiziert hatte, setzte mich neben ihn und fragte, wo die andern seien. Er sagte: „Die sind von den hinteren Gärten her ins Dorf gegangen. Weißt du, von der Straße her darf man nicht rein; weiß der Teufel, ob da nicht so Luders in den Kellern sitzen und uns wie Fleckziegen abschießen. Die Franzosen sind zurück, so schnell sie konnten. Weißt du, der Alte hat vorhin gesagt, sie würden von beiden Flügeln unserer Division umfasst und ausgequetscht wie eine Zitrone. Und ich glaub‘s bald auch, schau nur, wie sie da in der Landschaft umherliegen.“ Während er mir dies alles erzählte, hatte er sich seine englische Pfeife gestopft und zu rauchen angefangen. Und der Rauch, der da so unschuldsvoll zum blauen Himmel stieg, roch verdammt nach meinem gestohlenen Burrus, und ich sagte das dem Gauner ins Gesicht hinein. Er lachte nur und sagte: „Mach‘s anders, wenn‘s kannst, maßleidiger Christ! Hier sind meine Taschen; prüfe sie aus und schau, ob du was findest!“
Es ging keine Viertelstunde, da kamen Unsere aus dem Kaff zurück. Sie sagten, von der andern Seite seien die Bayern hineingekommen, und die würden schon reine Arbeit machen. Ein Bauer hätte zur Scheuer ‘raus geschossen, da hätten sie ihn einfach an die Wand gestellt und „ratsch!“ aus sei‘s gewesen. Wir mussten antreten zum Appell, und aller Namen wurden verlesen. Wer hier war, rief laut: „Hier!“ Wer fehlte, wurde aufgeschrieben. Im Ganzen mangelten elf Mann. Davon waren fünf tot, das wussten wir bestimmt: der dicke Sergeant, der lustige Seiltänzer, der bei dem Mädchen hatte schlafen wollen, der Kugler Franz und zwei Rheinländer, die ich nur vom Sehen kannte. Nach dem Appell durften wir uns eine Stunde hinlegen und ruhen. Ich ging zum Pflasterkasten und ließ mir mein Fußgelenk mit Kampfersprit einreiben.
Gegen elf Uhr mittags kam ein Motorfahrer angeschnäuzt, der zu unserm Hauptmann wollte und von der Feldwache hierher gewiesen worden war. Kaum war er fort und der Benzingestank ein wenig vergangen, da scholl schon das Kommando: „Fertig machen! An die Gewehre!“ Wir mussten den Weg, den wir am Morgen gemacht hatten, zurück und dann nach links in die Reben hinein. Überall waren die Sanitäter an der Arbeit. Sie lasen die Verwundeten auf und trugen die Toten weg, damit wir ihnen nicht mehr ins erstarrte Gesicht zu schauen brauchten. Ganze Wagen voll fuhren sie aus den Feldern weg. Das war eine traurige Sommerfrucht.
Vier Stunden marschierten wir zwischen Hügeln hin, auf denen viele kleine, rotdächige Winzerhäuschen standen, die wie große Tropfen rotes Blut aus den mageren Reben herausquollen. Bald ging es bergauf, bald ging es bergab. Unterhaltung gab es genug. Wir brauchten nur auf die Kanonenschläge zu horchen, die dumpf aus der Ebene herüberschallten, und auf das freche Geschnatter der Maschinengewehre, die daherredeten wie kecke, ungeratene Kinder, die nie den Mund halten wollen. In langen Zügen strebten wir einer Erhöhung zu, die die ganze Stellung beherrschte. Oben auf dem Gipfel durften wir‘s uns bequem machen. Was von den Offizieren da war, stand vorn, wo man einen freien Blick hatte, und beschaute das Kampffeld mit Ferngläsern.
Es war ein herrlicher Sommertag, so schön, wie ich bisher noch keinen gesehen hatte. Die Glut der Sonne war hier oben nicht mehr so fühlbar; ein leichter Wind ging und nahm alle Angst und alle Sorge mit sich. Fern schien eine blaue, hohe Bergkette, und ein kleiner Fluss zog sich in lieblichen Windungen dahin, der deutschen Heimat zu. Und hie und da tauchte im Blau ein übermütiges Wölklein auf und segelte fort, ein unverzagter Himmelsflieger.
Vor uns lag eine ansehnliche Ebene. Sie war ohne Sträucher, ohne Bäume; nichts als Sand bedeckte sie. Dabei war sie platt wie ein Tanzsaal und leicht zu überschauen wie ein Schachbrett. Zum gegenseitigen Hinschlachten hätte kein besserer Platz gefunden werden können. Wie zum Hohn lag die goldene Sonne darauf.
Vom Feind sah man nicht viel. In der Ferne, kaum mehr zu erkennen, dehnten sich lange, dunkle Linien, das waren wohl Schützengräben oder Sandwälle. Hie und da sprangen Schützenlinien auf und schoben sich mit großer Schnelligkeit vorwärts. Von rechts marschierte Infanterie in geschlossenen Kolonnen heran. Man konnte schon am Abstande die einzelnen Regimenter, Bataillone und Kompanien unterscheiden.
Nach zwei Stunden mussten wir vom Hügel herunter. Ein Flieger war über uns hinweggeflogen und hatte unseren Aufenthalt erkundet. Und kaum waren wir sechs-, achthundert Meter weg, so sausten auch schon die ersten französischen Schrapnelle in die Weingärten hinter uns, dass krachend die getroffenen Rebhölzer umherflogen.
Das Marschieren bergabwärts fiel uns viel beschwerlicher als das Marschieren bergaufwärts. Dazu kam noch, dass sich der Magen meldete, der seit dem vorigen Tage nichts mehr gegessen hatte. Aus diesem Grunde ging‘s nicht in so raschem Tempo vorwärts, als es der Herr Hauptmann wohl gerne gehabt hätte, und es setzte ein Hallo nach dem andern. Jeder von den Unteroffizieren bekam eins ausgetunkt: wir seien samt und sonders eine schlappe Bande. Wir haben aber nachher gezeigt, dass wir keine schlappe Bande waren!
Bei einer Wegkreuzung löste sich unsere Kompanie vom Bataillon ab und kam auf einen schmalen Waldweg, während die übrigen Kompanien auf der Hauptstraße weitermarschierten. Auf einer schattigen Lichtung ließ uns der Hauptmann einen Kreis bilden und sagte: „Leute, ich habe eine Aufgabe bekommen, bei der‘s den höchsten Einsatz gilt. Eine französische Batterie, die von unserer Artillerie nicht niedergezwungen werden konnte, muss von uns Infanteristen im Sturm genommen werden. Ich hoffe, dass jeder von euch sein Bestes leistet. Ja, ich fordere es. Und wenn ich in diesem Kampf fallen werde, so bewahrt eurem Hauptmann ein gutes Angedenken. Und wenn ich je ein böses Wort zu euch gesprochen, so nehmt‘s mir nicht übel, sondern denkt, dass ich auch nur ein Mensch mit menschlichen Fehlern bin. Und nun vorwärts und Gott befohlen!“
Nach dieser Rede war uns allen, glaube ich, ganz wunderlich. Und mancher hätte lautaus geheult, wenn er gedurft hätte. Auch ich hatte salziges Wasser in den Augen und sah von dem weiteren Wege nichts mehr als ein paar Lichtflecke seitwärts auf dem grünen Moos. Es war die Sonne, die uns auf unserm Todesgang leuchtete.
Lange bevor wir aus dem Walde kamen, hörten wir die französischen Geschütze. Ich war mit noch zweien vorausgeschickt, ob auch alles sicher sei, und als wir am Waldrand standen und vorsichtig durch die niederen Buschstauden hinausäugten, sahen wir zu unserer Überraschung die feindliche Batterie kaum zweihundert Meter von uns entfernt hinter einem niedrigen Erdwerk stehen. Die Kanoniere an den sechs Geschützen waren in voller Tätigkeit. Ein großer Mensch, der den engen Rock abgeworfen hatte und in Hemdsärmeln dastand, wischte eben ein Rohr aus. Er war ganz schwarz an den Händen. Andere luden und brachten Granaten und Kartuschen von den Munitionswagen, die etwas weiter hinten standen. Ein junger Offizier saß an einem Telefonkasten und rief von dort aus mit aufgeregter Stimme Befehle in die Batterie. Weiter vorn lag faul rothösige Infanterie auf dem Bauche und schaute gerade aus. Die Seite nach uns zu aber lag ungeschützt und ohne Bedeckungsmannschaften.
Das war so wichtig, dass ich gleich einen Mann mit Meldung zum Hauptmann zurückschickte. Mit dem andern blieb ich auf der Lauer liegen und vertiefte mich so in diese Beschäftigung, dass ich ganz erschrocken auffuhr, als mich jemand mit dem Fuße stieß. Es war mein Zugführer. „Aufstehen,“ sagte er, „es wird gestürmt!“ Ich erhob mich und schaute um. Da stand in drei Reihen hintereinander die ganze Kompanie und schaute mit gierigen Augen zu den armen Franzosen hinüber, die alle sterben mussten.
Die Bajonette waren aufgepflanzt. Der Hauptmann hob den Degen: „Leise vorwärts und alles überrennen. Es wird kein Pardon gegeben! Marsch! Marsch!“ Auf hundert Meter waren wir heran, ehe die Franzosen etwas von dem Überfall merkten. Das Gedröhne ihrer Geschütze verschlang das Geräusch unserer Schritte. Aber dann stieg ein achtzigfältiger Schrei zum Himmel. Die Infanteristen kamen gar nicht zum Schießen; sie rannten über Kopf und Hals davon. Wir nichts als drauf. Ein Geschütz von den sechsen hatte noch zu wenden vermocht und jagte uns zwei Ladungen Kartätschen entgegen, die fürchterliche Lücken rissen.
Aber dann waren wir ran am Feinde. Die Kolben flogen durch die Luft und klatschten breiig nieder; Todesschreie schallten; Glühluft schlug mir ins Gesicht, und Flüche und Verwünschungen hüllten mich ein wie ein Mantel des Satans.
Es war die Hölle!
Ich rannte auf den langen, hemdsärmligen Menschen zu, der breitbeinig, unbewegt wie ein Bild aus Stein in Abwehrstellung stand. Aber noch eh‘ ich ihm mein Bajonett in den Leib jagte, traf mich ein schwerer Schlag seiner Wischerstange. Feuer und Blut sprang mir ins Auge; Feuer und Blut sprang mir zum Herzen; ich sah den Tod, wie er mir meterweise meine Gedärme zum Leibe herausriss und mit der rauchenden Last über die hüpfenden Felder rannte. Dann versank alles. Ich wurde ohnmächtig.
Als ich wieder zu mir kam, war der Tag zu Ende. Ein letzter roter Strahl der Sonne leuchtete. Mir zur Seite schlief der Holsteiner. Die Kartätsche hatte ihm beide Füße genommen.
Ich habe geweint und gejammert. Das gesamte Elend des Erdkreises fasste mich an. Wie ein kleines, kleines Kind hab ich nach Mutter und Heimat geschrien.
Zwei Sanitäter kamen und trugen mich hinaus in die Nacht.