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Trommel, Trömmel, Ochsenkopf
ОглавлениеIrgendwo im südlichen Deutschland liegt eine Stadt, schön gehoben auf Hügel und Bergeshöh und schön gesenkt ins Tal, mit Türmen und lustigen Fahnen darauf und mit einem Bier, das unter Brüdern nicht zu verachten ist.
In dieser Stadt nun lebten bis vor kurzem, lachten, liebten und weinten bis vor kurzem drei Menschen. Der eine hieß Trömmel, der andere hieß Trommel, der dritte hieß Ochsenkopf. In Wahrheit hieß dieser Letztgenannte nicht Ochsenkopf, sondern ganz anders, aber man gab ihm überall, wo er hin» kam und wo er bekannt war, diesen Namen aus dem Tierreich.
Selbstverständlich wohnten außer Trömmel, Trommel und Ochsenkopf noch viele andere höchst respektierliche Leute in dieser Stadt, nicht nur unsere drei. Aber die leuchten doch aus all den anderen heraus wie Sterne aus einem frostklaren Winter» Himmel.
Sie hausten in einem Gebäude, das vor etlichen hundert Jahren einmal ein stolzes Königsschlosslein gewesen sein mochte. Aber jetzt stellte es weiter nichts mehr vor als eine ödgeratene Kaserne in einem ab» gelegenen Stadtwinkel. Merkwürdigkeiten hatte es keine aufzuweisen, ausgenommen eine Reihe hoher, seltsam geformter Fenster, deren Oberlichter von vielen Fliegenschissen schier blind waren, und einen viereckigen, beinahe preußisch ausgemessenen Kasernenhof voller Exerziersand und voller kleiner Kiesel; von denselben strammen Kieseln, auch Zehentöter genannt, ohne die ein echter, rechter deutscher Kasernenhof einmal nicht auszudenken ist.
In diesem degradierten Königsschloss lag die erste Kompanie eines Infanterieregiments. Ich will dessen Name und Nummer nicht nennen. Ich kann aber verraten, dass es ein braves Regiment war, das sich schon anno siebzig geschlagen hatte auf Teufel komm raus und das keinem Feind niemals nicht aus dem Weg ging.
Ich kann auch verraten, dass die Fahne dieses Regiments eigentlich gar keine Fahne mehr war, sondern nur noch eine schlanke Stange mit seidenen Fetzen daran. Aber das eiserne Kreuz, das der Fahnenadler in gekrümmten Klauen hielt, machte, dass der Herr Fähnrich so leicht und so anmutig daherging, als schwang‘ ich ein junges Mädchen im Arme. Wenn an hohen Tagen die Fahne zur Parade durch die Stadt geführt wurde, präsentierten alle Posten. Und alle die eiligen Menschen blieben stehen und zogen den Hut davor. Und die es nicht taten, hätten allen Grund gehabt, es zu tun; denn es war wirklich eine tapfere, unvergleichliche Fahne.
Ja, alle Ehre, die Kompanie, die so allein und vergessen in dem zusammengefallenen, verrunzelten Königsschlössel lag, wo nichts mehr an die einst wogende Pracht erinnerte als ein paar rotblühende Geranienstöcke auf den Gesimsen, war die Fahnenkompanie oder, wie man‘s mancherorts auch nennt, die Ehrenkompanie. Trommel, der lange, war der Fahnenträger daraus. Ein Kerl, ganz nach dem Herzen der Frauen gewachsen: groß, breit, stark und so stiernackig, dass ich mit ihm keinen Gang hätt‘ aufnehmen mögen.
Ochsenkopf war der Hauptmann daraus und Trommel sein Bursch. Wie bereits gesagt wurde, hieß Ochsenkopf eigentlich nicht Ochsenkopf, sondern ganz anders. Niemand kann mit Bestimmtheit erklären, wieso dieser Scheltname so mistelartig mit dem braven Hauptmann verwachsen und ihm ein so bösartiges Relief verleihen konnte; denn im Grunde genommen war Ochsenkopf trotz seiner Beleibtheit ein höchst ungefährlicher und fideler Mensch. Ich gebe gern zu, dass, wenn er im Zorne war, seine Augen ein wenig mehr aus den Augenhöhlen herausquollen, als das bei anderen Menschen gemeiniglich üblich ist. Ich gebe auch zu, dass in solchen Fällen auf seiner Stirne neben den Zornesadern auch ein paar kleine, höchst verdächtige Hörner zu wachsen anfingen. Aber, streng genommen, hätte dies alles doch niemals zu dem despektierlichen Namen berechtigt.
Aber der Herr Hauptmann war jahrelang in Südwest bei der Schutztruppe gewesen und hatte von dort außer einem kleinen Spinnerich die nicht ganz kavaliermäßige Gewohnheit mitgebracht, seine beinschlenkernden Musketiere Ochsenköpfe zu nennen, sofern sie etwas verbockten oder nicht ganz sachgemäß nach Wunsch machten, insbesondere, wenn sie beim
„Parademarsch in Zügen,
der Teufel soll dich kriegen!“
die Richtung verdarben oder nicht punktgenau Fühlung und Vordermann hielten. So war der Schimpfname vom vielen Gebrauche schließlich an seinem Erzeuger als Name hängen geblieben, so wie eine Klette am Hosenbein, wenn man nebenan ins Gesträuche geht, ums Wasser abzuschlagen.
Der kleine, dicke Hauptmann wusste wohl, dass seine braven Musketiere ihn Ochsenkopf benamsten. Aber heimlich lachte er dazu wie zu einem Scherz; denn er war wirklich ein vortrefflicher Herr, der Spaß und Ernst voneinander zu trennen verstand und in diesem einen Punkt ganz dem lieben Herrgott nachschlug. Alle Achtung, er war wirklich ein Mensch und ein Soldat, wie er besser in keinem Buch und in keiner Zeitung steht und in hundert Jahren nicht auslöscht.
Trömmel dagegen war eine bösere Nummer, sozusagen der Kompanie-Idiot. Schon im ersten Jahre fiel er wegen seiner Säbelbeine, die auch einem ungeübten Auge deutlich erkennbar waren, und wegen seiner geradezu skandalösen Begriffsstutzigkeit bei jeder Gelegenheit auf und zauberte verschiedene sehr kräftige Donnerwetter an den Militärhimmel.
Im zweiten Jahre gelang es endlich den fortgesetzten Bemühungen des Feldwebels, durchzusetzen, dass das Schmerzenskind der Kompanie und aller Rekrutenunteroffiziere als Pferdepfleger zum Hauptmann abkommandiert wurde.
Wider aller Erwarten fand sich Trömmel glänzend zurecht in seiner neuen Stellung. Er putzte die beiden Gäule seines Hauptmanns nach allen Regeln militärischer Stallkunst. Er erzielte jeden Morgen die vorgeschriebene Strichzahl, hielt Sattel und Lederzeug, Stall und Heuboden tadellos in Ordnung und fand dabei noch Zeit, vom Hof aus zuweilen der blonden Minna, die im ersten Stock des Vorderhauses hantierte, einen verliebten Blick zuzuwerfen. Sein Vorgänger hatte ihm Anweisung gegeben, sich die niedliche Köchin recht warm zu halten, da sie einen ausgezeichneten Gulasch koche und über solche Vorräte von Schinken und allerlei Hartwurstarten verfüge, dass einem schon beim bloßen Nennen das Wasser im Munde zusammenliefe, und die so ungemessen groß seien, dass sie sich auch mit bestem Willen nicht gänzlich erschöpfen und aufessen ließen.
Die sonstige Beschäftigung Trömmels bestand darin, stundenlang vor dem bunten Reservemann zu stehen, den er sich auf die Innenwand seiner Spindtüre genagelt hatte. An jedem Sonntagmorgen schnitt er mit seinem Taschenmesser feierlich und fein säuberlich die vorgezeichnete verflossene Woche heraus. Wie ein Kind freute er sich, als die beiden Stiefel weg waren. Noch mehr freute er sich, als schließlich die festen, schöngefügten Schenkel schwanden und zuletzt sogar der breite Rumpf merklich abnahm und sich ausbog wie der Mond im letzten Viertel. Unten in den Briefen, die er an seine Mutter schrieb, die hoch oben in einem Schwarzwalddörflein wohnte, stand jedes Mal neben dem breit ausgeladenen Namensschnörkel der bedeutsame Zusatz: „Liebe Mutter! nur noch soundso viel Täglein, dann hat Reserve Ruh!“ oder: „noch soundso viel Täglein, dann wickelt sich die eisgraue Reserve Stroh um die Zehen!“
Und je weiter sich der Sommer ins Land hinein schmiegte, je höher und anmaßender die Blütenrispen in den saftgrünen Matten aufschossen — Trömmel sah sie jedes Mal genau und mit Vergnügen an, wenn er an freien Sonntagnachmittagen mit Minna aus dem ersten Stock am Walltore vorbei durch die Seufzerallee nach dem Akazienwäldchen spazierte — desto mehr schmolzen die „Täglein“ zusammen. Immer deutlicher trat dem jungen Burschen die Heimat vor Augen. Das machte ihn froh und sicher.
Nichts störte und beschwerte seine Zukunftshoffnungen. Auch die dicken Kriegswolken, die der Krater europäischer Politik immer schwärzer und drohender aus seinen verstopften und verfahrenen Löchern auszuspeien begann, bekümmerten ihn nicht. Es hatte nun schon so oft geraucht und gezündelt in den Zeitungen, und noch nie war etwas daraus geworden. Außerdem wusste Trömmel nicht, was er sich eigentlich unter einem Kriege vorstellen solle. Deshalb ließ er sich trotz Tat und Geschrei nicht aus seiner Ruhe bringen.
Selbst der Trubel der Mobilmachung, das allgemeine Gehetze und Gejäste verwirrte ihn nicht. Erst als er Minna, aus deren blauen Augen das blanke Wasser schoss, zum dritten- und letzten Mal die Hand gab, wurde ihm merkwürdig ums Herz. Dieses Gefühl schwand wieder, als er seiner Kompanie nachtrabte, die an der Spitze des Regimentes mit Musik und wehender Fahne zum Bahnhof zog.
Es ging zu, wie in einem riesigen Ameisenhaufen. Ganz schwarz und lebendig sahen die Bürgersteige aus. Auf allen Ballonen standen die Leute, aus allen Fenstern winkten sie. Dicke, glatzköpfige Herren teilten Zigarren und Zigaretten aus. Junge, duftige Mädchen warfen Blumen herunter. Laute Rufe stiegen zum Himmel, der sich von all dem unbewegt in fleckenloser Bläue wölbte.
Die Soldaten, die ausmarschierten, waren so still wie dieser blaue Himmel. Sie sangen keine Lieder. Hart im Marschtakt fielen die Füße aufs Pflaster. Und die bunten Blumen, die oben aus den stählernen Gewehrläufen oder aus den Luftlöchern der Helme herausschauten, blieben ebenso stumm wie das Schicksal. Nur bei jedem Schritte nickten sie und wiegten sich mit.
Nun lag das Regiment schon Monate in Feindesland. Der brave, rundliche Hauptmann Ochsenkopf war merklich magerer geworden und hatte zu dem einen Kosenamen, den er seinen Musketieren anhängte, unzählige neue hinzu erfinden müssen, um die Maschine immer im regelrechten Gang zu halten.
Trommel, der Fahnenträger, hatte die Fahne durch manches sieggekrönte Gefecht getragen und ging noch viel stolzer daher, seit sein Stangenadler ein zweites Eisernes in den Klauen schwang. Auch hatte er sich einen blonden Kriegsbart wachsen lassen, der ihm trefflich zu Gesichte stand. Samstags, wenn er freie Zeit hatte und seinen gewohnten Feldpostbrief nach Hause schrieb, Pflegte er zwei bis drei Härlein des rotblonden Gesträuches auszuraufen und sie fein säuberlich und mit großer Sorgfalt zwischen unbeschriebene Blätter zu legen, damit sie sich ja stattlich ausnahmen und denen daheim, vor allem seinem Bräutlein, gehörig in die Augen stachen.
Trömmel, der Unverwüstliche, konnte noch keine Wangenhaare streicheln, obwohl er‘s um sein Leben gern getan hätte; aber er wusste nun wenigstens und hatte es am eigenen Leibe erfahren, was ein Krieg sei. Eine elende Schinderei war‘s, ein fortwährendes Müdesein und Kohldampfschieben, gar nicht so schön und so unterhaltsam, wie man‘s wohl in illustrierten Zeitschriften abgebildet sah, die sich hie und da in die Schützengräben verirrten und ihrer Geschminktheit wegen jedes Mal ein kräftiges Lachen auslösten. Zwar im Gefechte selbst war Trömmel noch nie gewesen. Er hatte mit den beiden Hauptmannsgäulen stets bei der Bagage zurückbleiben müssen, wenn die Knallerei losging. Das wurmte ihn; denn gar zu gerne hätte er Minna heimberichtet, wie eigentlich eine Schlacht „ganz vorne“ aussieht.
Die Gelegenheit dazu kam. Nach dem ersten brausenden Ansturm der deutschen Heere auf das Herz Frankreichs war ein vorsichtiger Stillstand eingetreten. Flüsse, freundliche Täler wurden als Grenze gesetzt; hohe, unwegsame Berge, dichte Wälder, schwierige Moräste schoben sich als Schutzwälle ein, die Feind vom Feinde trennten. Ein Graben, Spaten und Schaufeln auf Leben und Tod setzte ein. Durch Wiesen und Felder ringelte sich wie tückische Schlangenbrut das Gewirre der Schützengräben. Berge und Rebhänge sahen aus, wie vom Aussatz zerfressen. Die Soldaten bauten Erdhöhlen, lauerten Tag und Nacht und schossen Tod und Verderben aus dem Hinterhalt.
Mit der Zeit ging diese Art der Beschäftigung auf die Nerven. Es ist einmal nicht Soldatenart, ewig am gleichen Punkt zu hocken. Man merkte schon gar nicht mehr auf, wenn das Gewehrfeuer prasselte; man erwachte höchstens, wenn die schwere Artillerie konzertierte, wenn sich eine Granate nach der andern mit tollem Brausen in den Himmel schwang, und wenn auf der Gegenseite platzende Schrapnelle sich wie duftige Blumenmuster auf dem Himmelsvorhang abzeichneten. Sonst gähnte man wohl und faulenzte den lieben, langen Tag, das heißt, nur insoweit, als man nicht schnatterte und fror.
Auch Trömmel hatte viel übrige Zeit. Seine Briefe an Minna wurden länger und sehnsüchtiger. An Weihnachten, so schrieb er, würde er wohl bei ihr daheim sein und von ihrem gelben, verzuckerten Streuselkuchen essen.
Weihnachten kam. Trömmel war nicht daheim bei seiner Minna, konnte nicht von ihrem Streuselkuchen essen, konnte ihr nicht die fürwitzigen, lieblich verwegenen Nackenhaare zählen, derweil sie lachend auf seinem Schoße saß. Trübselig hockte er bei seinen Kameraden in der Erdhöhle und starrte in die drei Lichter auf dem schmächtigen Tännlein, das eine verwegene Patrouille den Herren Feinden vor der Nase weggeputzt hatte. Als die alten deutschen Weihnachtslieder gesungen wurden, musste er unversehens hinaus ins Dunkle gehen und weinen.
Es weinten an diesem Abend auch noch andere Herzen, und viele sagten, sie könnten das faule Liegen nicht länger ertragen, sie möchten feindwärts vorstürmen und reinpfeffern, damit bald Friede würde.
Das mochte der Kaiser wohl gespürt haben in seinem Kaiserzelt. Denn des andern Morgens, nachdem er sich gestrählt und seinen Kaffee getrunken hatte, trat er nachdenklich heraus und schaute die Wetterwolken an, die windgetrieben westwärts jagten; dann strich er sich ein paarmal seinen kaiserlichen Schnauz aufwärts, deutete auf einen Punkt in der Landschaft und sagte energisch zu den Herren seiner Umgebung: „Sehen Sie, meine Herren, das dort ist der Punkt, an dem angesetzt werden muss! Da tüchtig mit unseren Haubitzen und Mörsern hineingebummert, dann ein oder zwei Regimenter Infanterie hineingeschmissen! Das reißt gleich ein solches Loch, dass die da drüben das Feuer im Schwarzwald brennen sehen!“
Die Herren vom Generalstab überlegten eine Weile, hoben die graubehandschuhten Hände an die Mützen und meinten dann ebenfalls, dass dort der richtige Punkt sei zum Ansetzen. Von ihnen erfuhr es der General des betreffenden Armeekorps, und von diesem erfuhren es die Obersten der Regimenter, und keine Stunde später wusste es auch der Hauptmann Ochsenkopf. Der sagte es im Vertrauen seinen beiden Leutnants, und als um elf Uhr mittags die Gulaschkanone anfuhr und gleichzeitig ein Granatengeheule sondergleichen einsetzte, wussten auch alle Mannschaften, was die Glocke geschlagen hatte, und wo der Punkt war, den der Kaiser gezeigt hatte und auf den hier rein alles ankam. Nur Trömmel, ganz im Banne eines Briefes, den ihm die Feldpost am Morgen gebracht, wusste nichts.
Er machte darum auch ein stark verwundertes Gesicht, als Punkt zwölf Uhr ein lauter Pfiff schrillte und wie mit einem Schlage die weite, ausgedehnte deutsche Linie vorspritzte. Das ging schnell! Zwölf Uhr sieben Minuten war der erste feindliche Schützengraben trotz der vielen Verhaue, Wolfsgruben und Drahthindernisse stürmender Hand genommen.
Das Blut der Toten und der Verwundeten färbte den weißen Schnee heftiger als ein Beet glanzroter Tulpen die Frühlingserde.
Zwölf Uhr dreizehn Minuten fiel der zweite Graben, fünf Minuten später der dritte. Die letzten verfügbaren Mannschaften wurden zum Sturme angesetzt, um die feindliche Hauptstellung zu überrennen und hinter ihr festen Fuß zu fassen. Hei, wie klang da die Luft von den Zurufen der Chargen!
Hei, wie knasselten, prasselten, rasselten da die Maschinengewehre! Hei, wie flogen da die sehnigen Musketierbeine über den blankgefrorenen Boden hin! Diesem deutschen Anprall und dieser deutschen Wucht konnten selbst die tapfersten Franzosenherzen nicht widerstehen. Was vom Feinde noch laufen konnte, zog sich durch die Gräben fluchtartig zurück, dem schützenden Flusse zu.
Mittlerweilen brachen ansehnliche französische Verstärkungen aus den Uferwäldern hervor. Aber der deutsche Oberst hatte nicht geschlafen, sondern seine scharfen Luchsaugen um und um gehen lassen und die neue Gefahr gerade noch rechtzeitig entdeckt, ,um befehlen zu können: ,Der Herr Major geht mit den ersten beiden Kompanien seines Bataillons dreihundert Meter vor und hält das Terrain unter allen Umständen, bis hier die Einschanzung vollendet ist!‘
Doch als der Herr Major den Degen ziehen und sich, wie befohlen, an die Spitze der beiden Kompanien stellen wollte, zersprang zwanzig Meter über ihm in der Luft ein französisches Schrapnell und schlug des erprobten Kriegers Seele für immer in den fremden Boden hinein. Aber es gab kein Zögern. An des Gefallenen Stelle trat behände der Hauptmann Ochsenkopf. Laut und deutlich schallte seine Stimme: „Die beiden Kompanien hören auf mein Kommando! Leute, vorwärts! Marsch, marsch!“
Man muss sich vorstellen, dass das keine vollen zwei Kompanien mehr waren. Der Sturm hatte fürchterliche Lücken gerissen, und so trabten in Begleitung unseres Hauptmanns höchstens noch an die hundert Mannen ins Blachfeld. Allen voran der Fahnenträger. Das riss die ganze Linie mit. An der angewiesenen Stelle hauten sich die Mannschaften hin in Schnee und Dreck und gaben Salvenfeuer. Die Franzosen, die in dichten Kolonnen herankamen, stutzten. Diese Gewehre da vorne, die eine so blutige Sprache führten, machten einen dicken Strich durch die Rechnung der Welschen. Ihr Gegenangriff wurde wenigstens für eine Zeitlang aufgehalten; sie mussten ausschwärmen und sprungweise vorgehen, und in derweilen holten diese verflixten Deutschen ihre gesamten Verstärkungen heran. Man kannte das!
„En avant! en avant“„ schrien die französischen Offiziere. „En avant! en avant!“ gellten die Hörner der Hornisten, wirbelten die Trommeln. Aber die Münder der deutschen Gewehre brüllten ein unerschütterliches: „Zurück da! zurück da!“
Und wer diese Sprache nicht verstand oder nicht verstehen wollte und nach vorwärts strebte, der lag gar bald tot auf der toten Erde und rührte sich nicht mehr.
Der deutsche Oberst hinten in seinem Graben war zufrieden und sagte: „Die da vorn machen gute Arbeit. Sie halten mir die Rothosen noch zehn Minuten lang vom Leibe.
Bis dahin ist neue Munition hier und neues Maschinengewehr und neues Neun-Zentimeter-Geschütz und dann wirft mich hier kein Teufel mehr raus, es sei denn die dicke Berta selber!“
Vorne aber dachte der Hauptmann Ochsenkopf: ‚Wenn‘s noch zehn Minuten dauert, sind wir verschnudert und verkudert und können mit den Würmern zu Abend essen. Von meinen Leuten hat keiner mehr mehr als zehn simplige Patronen. Das kann heiter werden!‘ Der bärtige Trommel, der die Fahne mit seinem Leibe deckte und schier in den Boden hineinschlupfte, wenn die Schrapnelle mit ihrem neidischen Altweibergesürf über ihn hinwegsausten, kaute ein Streichholz zwischen den Zähnen, damit wenigstens die Zeit verging; denn der arme Bursche hatte kein Gewehr, mit dem er schießen und sich auf diese Weise Kurzweil machen konnte. Und ein Lied fiel ihm ein, das er einmal irgendwo von einem Bänkelsänger gehört hatte, und ohne es zu wollen, kamen ihm mitten im Kugelsausen unversehens die Worte auf die Lippen:
Jetzt geht der Marsch ins Feld
zu Wasser und zu Lande.
Wir dienen nicht um Geld.
Wenn die großen Nationen schlafen,
müssen wir schildern und wachen,
dazu sind wir bestellt!
Der König trägt die Kron‘,
in der einen Hand das Szepter,
so sitzt er auf dem Thron,
in der andern, andern Hand
das blanke, blanke Schwert.
Das bedeutet keinen Frieden, keine Einigkeit,
keine Gnad‘ und kein Pardon.
Soldat, du junges Mut,
du bist so hochgeborn,
hast immer frohen Mut.
Drum wenn die Kugeln sausen,
so darf es dir nicht grausen.
Wers Glück hat, kommt davon,
wer Angst hat, springt davon!
Während er diesen Worten zum zweiten Male nachdachte, kam von hinten her klar und deutlich das Signal zum Retirieren. Auch Ochsenkopf hörte es mit breiten Ohren und kommandierte gleichsam zum Trotz noch einmal und noch einmal und noch einmal „Salvenfeuer!“ und dann: „Kehrt! Zurück marsch, marsch!“
Der Befehl wurde mit soldatischer Genauigkeit ausgeführt. Aber da hatten die Franzosen ein gutes Ziel, und ihr Gewehrfeuer keuchte und schnob, schnurrte und schrie wie ein hungriger Tiger, wenn er ein saftiges Füllen sieht, das ihm davonlaufen will.
Viele von denen, die auf Befehl den Franzosen wegliefen, liefen dem Tod in die Arme, auch Trommel und Ochsenkopf. Von beiden Kompanien kamen nur noch vierzig Mann zurück zur eroberten Stellung. Aber die Aufgabe war glänzend gelöst: der Gegner war genügend lange Zeit hingehalten worden. Der Oberst lachte, wenn er den schönen Erfolg überdachte; doch mitten im Lachen flog ein dunkler Schatten über sein gemütliches Männergesicht, und er fragte die Zurückgekehrten: „Aber, Kinder, wo habt ihr die Fahne gelassen?“ Das war ein Schlag ins Kontor! Beim Zurückgehen hatte jeder genug auf sich zu achten gehabt, und keinem war es aufgefallen, dass Trommel, der Fahnenträger, schon nach den ersten fünf Schritten an der Seite des Hauptmanns mit diesem getroffen niederstürzte.
Fünf Freiwillige meldeten sich und wollten die Fahne zurückholen. Aber keiner kam wieder. Einen jeden traf die Todeskugel. Die Franzosen, nach südländischer Art durch die erlittene Schlappe aufs äußerste erbittert, passten auf wie Haftenmacher und ließen keine Seele vor.
Als alle gewaltsamen Versuche gescheitert waren, ließ der Oberst ein weißes Tuch an einen Gewehrschaft binden und den Franzosen einen kurzfristigen Waffenstillstand anbieten, um die beiderseitigen Toten und Verwundeten zu bergen. Doch die Welschen gingen nicht darauf ein. Ob sie wohl von der Fahne wussten?
Es war vier Uhr nachmittags geworden, und die feindliche Linie hatte sich wegen des genauen Feuers der deutschen Geschütze und Maschinengewehre noch keinen Meter näher heranschieben können. Aus Zorn darüber, und um sich Luft zu machen, ließen sie ihre gesamte verfügbare Artillerie spielen, und das war nicht wenig. Mitten in diesem Heidenlärm kam Trömmel dahergegangen, mit einem Kaffeetablett in den Händen. Sein Alter hielt auf Genauigkeit und Pünktlichkeit und war gewöhnt, auch im Gefechte, auch im vordersten Schützengraben seinen Nachmittagskaffee zu trinken. Heute freilich brauchte er keinen mehr, heute hatte er den Tod eingetrunken, und Trömmel, die treue, alte Burschenseele, hatte sich eine Mühe umsonst gemacht.
Als man ihm das sagte, ließ er vor Schrecken und vor Verwunderung sein Aufwarteblech fallen, so dass Tasse und Topf zu Boden stürzten und klirrend zerbrachen. Dann sagte er leise zum Feldwebel, der ihm den ganzen Vorgang expliziert hatte: „Ich will hinaus und meinen Hauptmann holen!“ Der Feldwebel antwortete: „Nein, bleib hier, Trömmel, was willst du auch ausrichten? Bleib hier, sonst gibt's ein neues Unglück!“
Aber Trömmel hörte diese Rede nicht mehr. Er nahm einen stolzen Gang, wie man einen solchen an ihm noch niemals gesehen hatte und trat über den neuausgebauten Graben hinaus. Er achtete nicht, dass ihn tausend feindliche Schützen aufs Korn nahmen; er achtete nicht, dass ihn tausend feindliche Kugeln wütend umpfiffen. Er sah nur seinen guten, dicken Hauptmann Ochsenkopf vor sich, wie der im Todesweh nach ihm verlangte. Er kam auch unbeschädigt bis zu der Stelle, wo der Hauptmann lag; aber als er sich niederbückte, schlugen ihm zwei Kugeln auf einmal ins treue Herz.
Trömmel kam nicht wieder. Die Fahne und die Leichen konnten erst geborgen werden, als die Nacht das Blutfeld auslöschte.
Der Zufall und die Macht des Kaisers fügten es, dass Trömmel, Trommel und Ochsenkopf zueinander ins gleiche Grab gelegt wurden. Da liegen sie nun im Tode vereinigt und hören wie ein Brausen von Geisterstimmen die blutgetränkten Wasser der Mosel dem Muttermeere zufluten.
Sonne und Mond scheinen in ihr junges Grab hinein, und Gottes Sterne bleiben als Wächter nächtelang stehen, denn sie haben die braven, toten Soldaten gern.
Gott geb ihnen allen selige Urständ!