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Kapitel 1 Das Stipendiumkind
ОглавлениеIch kam an einem verregneten Septembermorgen in London an, mit Gänsehaut unter meinem dicken Schal und der Wollstrumpfhose, die Augen ungläubig aufgerissen beim Anblick des unerbittlichen Graus. Bis heute scheint mir London eine Stadt zu sein, die auf unerklärliche Weise ins Grau verliebt ist und es entschlossen in all seinen freudlosen Varianten feiert. Wohin ich damals auch sah, überall starrte sie mich an, diese unendliche Parade von Grautönen. Graue Gebäude, grauer Himmel, graue Straßen. Alles grau.
September 1995. Wie unzählige Migranten vor ihnen hatten meine Eltern ihr Leben in Nigeria aufgegeben und waren mit ihrer jungen Familie nach Großbritannien aufgebrochen. Ich war fünf Jahre alt, meine beiden älteren Schwestern S. und C. waren acht und neun. Ich weiß von diesen ersten Monaten hauptsächlich das, was mir meine Eltern seither erzählt haben, während ich in meinem eigenen Gedächtnis fast nur halb erinnerte, blasse Bruchstücke finde: ein Muster, einen Geschmack, einen Geruch. Meine Schwestern, meine Mutter und ich kamen zuerst, mein Vater konnte uns erst etwas später folgen. Das bedeutete, dass meine Mutter im ersten halben Jahr die wenig beneidenswerte Aufgabe hatte, allein mit drei kleinen Kindern über die Runden zu kommen, während sie versuchte, sich in einem unbekannten und zuweilen unbarmherzigen System zurechtzufinden. Wir vier verbrachten die erste Zeit in einer kleinen Sozialwohnung mit nur einem Schlafzimmer. Der verblasste rosafarbene Teppich war an vielen Stellen von Tausenden Schritten ausgetreten und grau. Obwohl nicht unbedingt auf die Güte von anderen Menschen angewiesen, profitierten wir doch von ihr. Ein älterer Cousin überließ uns zeitweise seine Wohnung mit dem rosa Teppichboden und schlüpfte selbst bei einem Freund unter, damit wir uns erst einmal in Ruhe zurechtfinden konnten. Er war es auch, der eines Abends einsprang und sich um C. und mich kümmerte, nachdem S. einen so schweren Asthmaanfall erlitten hatte, dass meine Mutter mit ihr in die nächste Notaufnahme rasen musste. Als sie Stunden später erschöpft nach Hause kam, wartete eine frisch zubereitete Lasagne auf sie, und ihre beiden gut gesättigten Töchter hatten von dem Drama des Abends nichts mitbekommen. Dann gab es im Schulbüro eine Person, die Mitleid mit meiner Mutter hatte. Denn so lange ihre drei Kinder nicht alle einen Platz an derselben Schule hatten, musste sie jede ihrer Töchter morgens zu einer anderen Grundschule bringen. Diese Person schob uns geschickt auf der Warteliste nach oben, sodass meine Mutter bald nur noch einen Weg zur Schule hatte und nicht mehr drei.
Schließlich zogen wir zu fünft in eine etwas größere Sozialwohnung, ein paar Kilometer von unserem ersten Wohnsitz entfernt. Das Geld war immer noch knapp, aber mit der Erfindungsgabe, die migrantischen Familien mit kleinem Budget eigen zu sein scheint, machten wir diese kleine Mietwohnung im Laufe der Jahre zu unserer eigenen. Meine akribisch haushaltende Mutter verwandelte die auf dem örtlichen Markt gekauften Stoffe in geschwungene, raumhohe Vorhänge und stellte liebevoll gepflegte Pflanzen in jede Ecke der Wohnung. Mein Vater wurde angehalten, unser Badezimmer in Sonnengelb zu streichen und Regale im pastellrosa Schlafzimmer aufzustellen, das S. und ich uns teilten (C. hatte als Älteste ein Zimmer für sich allein).
Nach und nach sammelten wir die verschiedenen Dinge des Familienalltags an, bis schließlich auf jeder Oberfläche dekorative Keramikgefäße und Fotos von Schülerinnen mit Zahnlücken standen. Jedes Jahr bestanden meine Eltern darauf, diese Fotos zu kaufen. Ich erinnere mich noch gut, wie stolz wir waren, als wir es uns endlich leisten konnten, die Teppichböden durch Laminat zu ersetzen, das, wie meine Mutter betonte, viel einfacher zu reinigen sei.
Es ist nicht leicht, genau zu sagen, wie viel Geld »genug« ist, da »genug« ein subjektiver Wert ist. Aber Tatsache ist, dass wir in diesen Anfangsjahren nicht genug Geld hatten. Erst als Erwachsene erfuhr ich von meinem Vater, wie sehr es ihn geärgert hatte, dass meine Eltern mir die zu klein gewordenen Schulschuhe nicht ersetzen konnten, woraufhin ich fröhlich posaunt hatte, wir seien »arm wie Kirchenmäuse« (eine Vorstellung, die ich sicher aufregender fand als meine Eltern und die sich in meiner kindlichen Phantasie mit einem Hauch Dickens’scher Romantik verband).
Dennoch fühlte ich mich in meiner Kindheit reichlich beschenkt, ja sogar reich. In den Sommerferien spielten meine Schwestern und ich stundenlang draußen, hüpften über Ritzen im Bürgersteig und schwangen uns von den Ästen der überwucherten Weide, die stoisch in der Mitte unseres Grundstücks stand und sich offenbar mit ihrem Schicksal als provisorisches Klettergerüst abgefunden hatte. Wir fuhren abwechselnd mit dem rosafarbenen Fahrrad, das unsere Eltern uns gekauft hatten, zählten unser Kleingeld für die Ausflüge in den Tante-Emma-Laden an der Ecke, rechneten auf dem Weg aus, wie viele Maoams wir damit kaufen könnten, und sangen auf dem Rückweg das Werbelied aus dem Fernsehen. Wenn es kühl und herbstlich wurde, eilte ich von der Schule nach Hause zu den ofenfrischen Würstchen in Blätterteig und dem süßen Tee, die mich erwarteten und die ich verschlang, während ich mir Als die Tiere den Wald verließen ansah. Die Freude grenzte fast an Wahnsinn, als ich an einem Weihnachtsmorgen ein sorgfältig verpacktes Päckchen öffnete und darin die Spiceworld-Kassette fand, deren Hülle im anschließenden Getümmel prompt zerbrach. Oder der Familienurlaub in einem Wohnwagen am Meer, wo wir eines Abends einfach chinesisches Essen zum Mitnehmen bestellten und dann schläfrig und gesättigt vom Hoisin-Geschmack dem prasselnden Regen draußen zuhörten.
Jung und unbeschwert wie ich war, bemerkte ich die Drogendealer nicht, die sich bei uns im Treppenhaus herumtrieben, wo sie, wie mir mein Vater versichert, nachts regelmäßig anzutreffen waren.
Ich war zehn Jahre alt, als Damilola Taylor, ein nigerianischer Junge im gleichen Alter wie ich, in einer Peckham-Siedlung auf so gewaltsame und abscheuliche Weise erstochen wurde, dass es monatelang die Schlagzeilen beherrschte. Ein Kind, umgebracht von zwei anderen, Danny und Ricky Preddie: Alle drei Namen sollten zum Synonym für die Gefahren des Lebens in den Vierteln mit Sozialwohnungen werden. Schon damals fiel mir auf, dass diese Geschichte die Aufmerksamkeit meiner Eltern zu beherrschen schien und dass sie vorübergehend verstummten, wenn in den Sieben-Uhr-Nachrichten davon die Rede war. Erst jetzt, wo ich älter bin, beginne ich zu verstehen, warum. Wie meine Eltern hatten auch Damilolas Eltern, auf der Suche nach dem sagenumwobenen »besseren Leben«, Nigeria in Richtung Großbritannien verlassen, wo ihnen ihr Kind in einer Wohnsiedlung, nur wenige Kilometer von unserer entfernt, aufs Grausamste entrissen wurde. Das Bild, das monatelang nach Damilolas Tod in den Abendnachrichten und auf den Zeitungsseiten zu sehen war – ein Schulfoto, auf dem er süß in die Kamera lächelt –, hätte auch auf dem Kaminsims meiner Familie stehen können.
Doch im Laufe der Jahre verbesserte sich die Lage für uns langsam, und meine Eltern arbeiteten unermüdlich daran, unser Leben komfortabler zu gestalten. Ich war zehn, als wir uns endlich ein Auto leisten konnten. Mein Vater überraschte uns damit. Eines Nachmittags kam er nach Hause, führte uns auf den Balkon und zeigte nach unten, wo ein Toyota stand. Ein Gebrauchtwagen, der nun – unglaublich! – uns gehörte. Zuvor waren mir Autofahrten wie ein erhabener Luxus vorgekommen, der nur sehr selten vorkam. Nur manchmal eine Mitfahrgelegenheit bei Freundinnen oder eine Fahrt mit dem Minicab, wenn der Einkauf im Supermarkt zu schwer war, um mit dem Bus nach Hause getragen zu werden. Den Rest des Nachmittags fuhr mein Vater uns in der Gegend herum, und noch monatelang half ich ihm vor lauter Begeisterung sonntagnachmittags beim Waschen unseres neuen Autos.
Unsere Eltern sorgten dafür, dass meine Schwestern und ich immer alles hatten, was wir brauchten – und erfüllten uns auch die meisten Wünsche: eine neue Schultasche und Schreibsachen am Anfang des Schuljahres, die neueste CD oder die metallicblauen Rollerblades, die mein ganzer Stolz wurden. Wir waren immer – wirklich immer – topgestylt, denn meine Mutter betrachtete unsere Erscheinung als eine Erweiterung ihrer eigenen und verpasste uns sofort einen strategischen Ellbogenstoß, wenn sie sah, dass wir nachlässig waren. Unter ihrer Anleitung fing ich an, mir jeden Morgen vor der Schule ein frisches Hemd zu bügeln. Diese Angewohnheit behielt ich bis zur Universität bei, warf sie dann allerdings schnell über Bord. In meiner Kindheit bekam ich nacheinander Klavier-, Geigen-, Gymnastik- und Tennisstunden, kostengünstig dank verschiedener gemeinnütziger Organisationen, die meine Mutter aufgetan hatte. Ich gab sie allesamt kurzerhand wieder auf.
Aber so sehr meine Eltern auch versuchten, das Thema Geld in unserem Leben nicht zu einem Thema werden zu lassen, so sehr spürte ich von klein auf, dass es eines war. Wände haben Ohren, wie das Sprichwort besagt. Wenn es um Geld ging, entging mir nicht, unter welchem Druck meine Eltern standen. Sie hatten für drei Töchter zu sorgen, die einen endlosen Kreislauf von Wünschen und Bedürfnissen durchliefen. Ich bemerkte alles: die Art und Weise, wie meine Mutter über die Preise für Obst im Supermarkt schimpfte oder mit welchem Stirnrunzeln sie den Gaszähler um 20 Pfund auffüllte, weil die Menge ungewöhnlich schnell aufgebraucht war. Wenn ich meine Eltern zum Wocheneinkauf in den Supermarkt begleitete, achtete ich genau darauf, was auf dem Bildschirm an der Kasse erschien, und suchte in ihrem Gesicht nach einer Reaktion, wenn die Summe unerwartet hoch war. Mir war schmerzlich bewusst, wie Geld funktioniert und dass es nicht unerschöpflich ist. Ich hatte zwar die gleichen Wünsche nach neuen Kleidern und Spielsachen wie die meisten Kinder, fühlte mich aber schrecklich schuldig, wenn meine Eltern zu viel Geld ausgeben mussten für etwas, was ich haben wollte (oder, schlimmer noch, brauchte). So lernte ich früh, selbst zu unterscheiden zwischen dem, was ich mir wünschte, und dem, was meine Eltern sich meiner Ansicht nach leisten konnten. Ich war nie ein Kind, das um einen Nintendo oder ein teures Paar Turnschuhe bettelt, weil ich intuitiv wusste, dass diese Dinge unsere Mittel überstiegen.
Manchmal hörte ich spät in der Nacht meine Eltern über Geld sprechen. Das leise Summen ihrer angespannten Stimmen drang durch die Wand meines Schlafzimmers, während ich angestrengt zu verstehen versuchte, was sie sagten. In meiner Gegenwart schalteten sie oft auf Yoruba um, wenn sie ihre privaten Gespräche führten, und obwohl ich ihre Worte nicht ganz genau verstehen konnte, verriet schon allein ihre Körpersprache, dass es um Geldsorgen ging. Für mich lautete die wesentliche Botschaft, die ich in mich aufnahm: Geld ist etwas, mit dem wir uns herumschlagen, was wir drehen und wenden müssen, ein Widersacher, vor dem wir auf der Hut sein sollten, damit er uns nicht überrumpelt und in Gefahr bringt.
Die Beziehung unserer Eltern zu Geld prägt – wenig überraschenderweise – auch unser eigenes Verhältnis dazu. Von ihnen lernen wir den Umgang mit Geld – oder auch nicht. Wir verinnerlichen ihre Überzeugungen, Verhaltensweisen und Ängste genauso sicher, wie wir ihre Gene erben. Dies nennen Psychologen »finanzielle Sozialisation«, den Prozess, durch den wir unser begriffliches und emotionales Verständnis von Geld aufbauen. Vielleicht bist du in einem Haushalt aufgewachsen, in dem nie über Geld gesprochen wurde, und es ist dir bis heute ein unerklärliches Rätsel. Du hast weder gelernt, wie es funktioniert, noch welches die wichtigsten Finanzkonzepte sind. Dir wurden am Abendbrottisch, zwischen der Aufforderung, mit geschlossenem Mund zu kauen und nicht mit dem Essen zu spielen, keine elterlichen Weisheiten über Budgets und Sparen vermittelt. Vielleicht haben deine Eltern dich mit teuren Geschenken und Spielsachen überhäuft, um dir ihre Liebe zu zeigen, und jetzt, als erwachsener Mensch, zeigst auch du deinen Liebsten auf diese Weise deine Zuneigung. Das macht dich im besten Fall zu einem großzügigen und spendablen Menschen, im schlimmsten Fall zu einer Person, die von den Menschen in ihrer Umgebung leicht ausgenutzt wird. Vielleicht war das Geld in deiner Kindheit knapp, aber deine Eltern sahen sich gezwungen, den Schein zu wahren, und jetzt kreist auch deine Beziehung zum Geld darum, wie du nach außen hin erscheinst. Du machst mit der Kreditkarte haufenweise Schulden, kaufst teure Kleidung und Urlaube, die sich für auf Instagram geteilte Fotos eignen, weil dir deine finanzielle Realität im Grunde weniger wichtig ist als die Frage, für wie wohlhabend du von anderen gehalten wirst. Das Verhältnis unserer Eltern zu Geld wird sehr oft zu unserem eigenen, auch wenn sich diese Einflüsse manchmal eher schemenhaft zeigen – denke nur an das Kind aus ärmlichen Verhältnissen, das später zum Millionär wird und Geld für Extravagantes ausgibt, weil das endlich möglich ist (nur um dann als »neureich« abgetan zu werden). In meinem Fall verlief das Muster ziemlich linear; die Vorsicht meiner Eltern legte den Grundstein für eine ähnliche Skepsis in mir. Ich entwickelte eine unterschwellige Ängstlichkeit dem Geld gegenüber. Die wirkte sich allerdings erst viele Jahre später aus, als ich selbst über meine Finanzen entscheiden konnte.
Ich war ein unglaublich aufgewecktes Kind, was vielleicht etwas prahlerisch klingen würde, wenn diese Tatsache nicht den Rest meiner Kindheit bestimmt hätte. Mit drei Jahren lernte ich lesen, fasziniert von meinen älteren Schwestern. Sie beherrschten etwas, was mir wie der coolste Zaubertrick der Welt vorkam. Ich drängte meine Mutter, mir auch das Lesen beizubringen. Nachdem ich mit fünf Jahren in London angekommen war, hörten meine Eltern oft von den Lehrern, dass es in meinem Fall nicht darum ging, ob ich lesen konnte, sondern welche Bücher ich noch nicht gelesen hatte. Immer wieder wurden mir in der Schule Bücher vorgelegt, die ich zu Hause schon gelesen hatte.
Ich war durchgehend die beste Schülerin in meiner Klasse und für mein Alter so weit fortgeschritten, dass eine besonders gewagte Lehrerin mich gelegentlich die Arbeiten meiner Mitschüler korrigieren ließ, wenn ich mit meinen eigenen fertig war (auch wenn dies, um ehrlich zu sein, wohl mehr über den Personalmangel aussagt, mit dem sie konfrontiert war, als über meine Intelligenz).
Außerdem machte mir das Lernen tatsächlich Spaß. Ich habe es sogar geliebt. Ich las in den Nachrichten von Wunderkindern, die vorzeitig ihr Abitur gemacht hatten, und fragte mich, ob ich das auch schaffen könnte. Ich träumte mit der gleichen Inbrunst, mit der Kinder auf einen Brief aus Hogwarts warten, davon, dass ich eines Tages auf die Begabtenschule eingeladen werden würde. Ich war fleißig und akribisch und klug genug, um zu erkennen, wie klug ich war, und sonnte mich im warmen Lob von Lehrern und Eltern gleichermaßen. Ein bisschen altklug war ich vermutlich auch.
Und ich hatte das Glück, dass meine Eltern ein reges Interesse an meiner Bildung hatten. Sie betrachteten die Schule als eine von vielen Möglichkeiten für meine Schwestern und mich, unser Potenzial voll auszuschöpfen. Während meine Mutter uns Französisch beibrachte und Lehrbücher aus der örtlichen Bibliothek auslieh, damit sie und ich gemeinsam Spanisch lernen konnten, kümmerte sich mein Vater um meine Ausbildung in Mathematik und perfektionierte geschickt ein System mit geringem Aufwand und hohem Nutzen. Er gab mir Übungsaufgaben, die ich ausfüllte (wobei ich die Zeit stoppte) und bewertete (ebenfalls selbst, indem ich die Antworten hinten im Buch nachschlug). Dann meldete ich ihm mein Ergebnis, damit er mir gratulieren konnte, bevor ich mich an die nächste Aufgabe machte. Mir war nie klar, dass die zusätzliche Arbeit zu Hause einem bestimmten Zweck diente – ich war streberhaft genug, um Freude an der Leistung um der Leistung willen zu haben –, aber ich weiß jetzt, dass für meine Eltern viel auf dem Spiel stand. Sie wussten, dass ich als Schwarze, im Ausland geborene Migrantin in Großbritannien nur dann Chancen auf Erfolg haben würde, wenn ich eine makellose Schulbildung vorweisen konnte. Sie achteten darauf, mir nie die Last dieser Realität aufzubürden. Stattdessen wurde meinen Schwestern und mir einfach klargemacht, dass schlechte Noten in unserem Haushalt keine Chance hatten. Meine Eltern trieben unsere Lehrer und Lehrerinnen ebenso an, wie sie uns antrieben, denn sie waren besorgt darüber, wie leicht Schwarze Kinder in der Schule übersehen werden. Das sollte auf keinen Fall unser Schicksal sein. (Unzählige Studien haben gezeigt, dass Schwarze Schüler mit größerer Wahrscheinlichkeit bestraft oder ausgeschlossen werden als ihre weißen Mitschüler, und die Lehrer neigen außerdem dazu, ihnen schlechtere Noten zu prophezeien als die, die sie tatsächlich erreichen.)[1] Ein alter Familienwitz besagt, dass alle Lehrer, die meine Schwestern und mich je unterrichtet haben, meine Eltern schnell zu fürchten lernten. Denn die zögerten nicht, einen geharnischten Brief zu schreiben oder gegebenenfalls persönlich in der Schule zu erscheinen, wenn sie den Eindruck hatten, ein Aspekt unserer pädagogischen Bedürfnisse werde nicht erfüllt. Leider gab es unzählige derartige Vorfälle.
Als ich etwa neun oder zehn Jahre alt war, wurden einige Freundinnen und ich dabei erwischt, wie wir im Unterricht Zettel weiterreichten – ein seltener Fall von Fehlverhalten meinerseits. Auf verschiedenen Zetteln hatten wir kindliche Beschwerden aufgeschrieben. Sie reichten von der vermeintlichen Bevorzugung der Jungen in unserer Klasse durch einen unserer männlichen Lehrer bis hin zu meiner vehementen Kritik am ungepflegten Äußeren und dem »schlechten Kaffeeatem« einer anderen Lehrkraft. Zusammen mit den anderen Übeltäterinnen bekam ich allerhand Schwierigkeiten. Uns wurden die Spielprivilegien entzogen, und wir mussten für den Rest der Woche allein zu Mittag essen. Unsere Eltern wurden informiert.
Aber eine Lehrerin, Mrs Leighton, berüchtigt für ihre offensichtliche Verachtung der Kinder, die sie unterrichtete, begann mich im Besonderen herauszugreifen und hinterhältige Bemerkungen zu machen, wann immer wir uns begegneten. Nach einigen Tagen bemerkten meine Eltern, dass ich nachmittags immer niedergeschlagener aus der Schule kam, und schließlich bekamen sie den Grund dafür heraus. Beschämt und unter Tränen erzählte ich, was geschehen war – und meine Eltern schritten sofort zur Tat. Der folgende Brief, der mich immer noch schockiert, wurde noch am selben Abend verfasst und an den Schulleiter meiner Schule gerichtet.
Sehr geehrter Mr Levine,
das Sekretariat hat uns über einen Vorfall in dieser Woche informiert, bei dem Otegha und einige Freundinnen im Unterricht Zettel ausgetauscht haben. Am kommenden Freitag wird es ein Treffen mit ihrem Klassenlehrer geben, um die Angelegenheit zu besprechen.
In der Zwischenzeit möchten wir Ihnen einige von Oteghas Erfahrungen in der Schule in dieser Woche mitteilen:
1. Am Dienstag, den 28., wurde Otegha von Mrs Leighton verbal angegriffen, angeblich als Reaktion auf den oben erwähnten Vorfall. Sie sagte: »Deine arroganten Eltern haben gesagt, wir würden dich nicht angemessen fordern.« Es handelt sich um eine direkte Anspielung auf eine Bitte, die wir vor vielen Monaten an Oteghas Klassenlehrer, Mr Stevens, gerichtet haben (und nicht an Mrs Leighton, die wir gar nicht kennen!). Diese Bitte wurde während eines Gesprächs über Oteghas Leistungen geäußert und war Teil einer vertraulichen Überprüfung ihrer Fortschritte und schulischen Leistungen. Wir denken, dass wir für diese Bitte nicht verurteilt werden sollten. Uns wurde auch nie mitgeteilt, dass unsere Bitte unangemessen sei. Wir haben sie in der Überzeugung geäußert, dass das Bestreben, den schulischen Fortschritt und die Leistungen unserer Tochter – oder jedes anderen Schulkindes – zu verbessern, keinen ungerechtfertigten Zynismus auslösen sollte. Offenbar ist aber genau dies der Fall, und unsere Bitte wurde zum Auslöser für einen verbalen Angriff auf Otegha, wie der Ausdruck »Deine arroganten Eltern« andeutet.
2. Später an demselben Tag griff Mrs Leighton Otegha erneut verbal an und bezeichnete sie als »doppelzüngig«. Wir glauben, dass diese abfällige Bemerkung, die Otegha später in Tränen ausbrechen ließ, völlig ungerechtfertigt ist. Wie die oben erwähnte Bemerkung ist auch diese geschmacklos und Teil einer vorsätzlichen Handlung.
3. Am nächsten Tag, Mittwoch, den 29., setzte Mrs Leighton ihre Angriffe auf Otegha fort und beschlagnahmte das Abzeichen, das Otegha als Mitglied des Schulrats erhalten hatte.
Es ist uns nicht bekannt, in welcher Eigenschaft sie so gehandelt hat. Wir sind jedoch der Meinung, dass Mrs Leightons Vorgehen, selbst wenn es im Zusammenhang mit dem Vorfall steht, in den Otegha zuvor verwickelt war, voreilig und ihre Taktik einschüchternd war. Schließlich wurde die Angelegenheit weder mit uns besprochen noch geklärt. Außerdem hat nicht Mrs Leighton Otegha in den Schulvorstand berufen – sie wurde von ihren Mitschülern demokratisch gewählt! Es gibt bestimmt einen weniger traumatisierenden und einschüchternden Weg, ihr das Amt als Klassensprecherin zu entziehen, sollte das beschlossen sein. Mrs Leighton setzte ihre verbalen Angriffe fort und sagte zu Otegha: »Du hältst dich wohl für eine kleine Göttin.«
4. Am selben Mittwoch, kurz bevor die Klasse zum Schwimmunterricht aufbrechen sollte, teilte Mrs Leighton Otegha mit, sie dürfe nicht mitgehen. Hätte Mr Stevens nicht eingegriffen, wäre Otegha bis zur Unterwerfung schikaniert worden.
Wir sind bereit, die Bezeichnung »arrogante Eltern« als böswilligen und unverschämten Unsinn abzutun. Wir nehmen es hin und betrachten es als Risiko von Eltern in der Erziehung eines Kindes. Wir sind jedoch nicht bereit, weitere verbale Angriffe, Einschüchterungen und Schikane durch eine Erwachsene und Lehrerin wie Mrs Leighton oder durch irgendeine andere Lehrkraft hinzunehmen. Unserer Ansicht nach hat Otegha ein Recht auf eine faire Behandlung, die mit unserem Wunsch nach emotionaler Stabilität, Wohlbefinden und Sicherheit in der Schule vereinbar ist.
Wir bitten Sie dringend, diese Situation zu klären.
Unten auf dem zweiseitigen Schreiben standen die sorgfältigen Unterschriften meiner Eltern, und am nächsten Morgen übergab mein Vater das Schreiben persönlich im Schulbüro, von wo aus es den Schulleiter erreichte, der auf einen sofortigen Termin bestand. Bis zum Mittag war ich wieder Mitglied des Schulrates, und Mrs Leighton hat mich nie wieder belästigt.
Im Nachhinein ist es offensichtlich, dass sie meine Eltern und damit auch mich zu »hochnäsig« fand und beschlossen hatte, uns persönlich in die Schranken zu verweisen. Zu ihrem Pech hatte sie den Ehrgeiz meiner Eltern für ihre Töchter unterschätzt. Das Mantra »Bildung, Bildung, Bildung«, das Tony Blair bei seiner Machtübernahme 1997 erstmals aussprach, wiederholten meine Eltern häufig. Sie freuten sich darüber, dass ihr Glaube an die Kraft guter Bildung in einem der prägnantesten politischen Schlagworte jener Zeit zusammengefasst wurde.
Als es an der Zeit war, mich für eine weiterführende Schule anzumelden, setzte sich meine älteste Schwester für mich ein, was in die Familiengeschichte eingegangen ist. Sie überredete meine Eltern, mich nicht auf die örtliche staatliche Schule zu schicken, auf die C. selbst ging und wo ich ihrer Meinung nach nicht ausreichend gefordert werden würde. Stattdessen sollten sie mich auf eine Privatschule schicken, und zwar auf eine elitäre und sehr begehrte Mädchenschule mitten im Barbican. Dorthin gingen Töchter von Bank- und Kanzleiangestellten, zeitweise sogar die Tochter eines Premierministers.
Als ich einige Wochen später die Hochglanzbroschüre der Schule ansah, erwachte in mir der brennende Wunsch, an dieser Schule aufgenommen zu werden. Es sah aus wie im Paradies. Ich blätterte durch die Seiten, auf denen das Engagement der Schule für akademische Spitzenleistungen und ihre hervorragenden Prüfungsergebnisse beschrieben wurden, las die Beschreibung der umfangreichen Ausstattung (Schwimmbad, Tennisplätze, Turnhalle), sah die Bilder von lachenden Mädchen, die mal bei wissenschaftlichen Experimenten, mal in Aktion auf dem Sportplatz gezeigt wurden, bis ich zur diskreten Angabe der Schulgebühren auf den allerletzten Seiten gelangte: 3000 Pfund pro Semester. Wie um alles in der Welt sollten wir uns das leisten? Ich wusste, dass meine Familie nicht so viel Geld hatte. Vorsichtig sprach ich meine Eltern darauf an. Sie sagten, ich solle mir keine Sorgen machen, wenn ich die Aufnahmeprüfungen bestünde, würden sie »einen Weg finden«. Auf meine Nachfrage meinten sie, ich würde vielleicht ein Stipendium oder zumindest eine Teilfinanzierung bekommen, und sie könnten dann die Differenz übernehmen. Aber ich war immer noch beunruhigt. Nie zuvor hatte ich mir etwas so sehr gewünscht, aber die Chance, dass es tatsächlich klappen würde, schien mir gering bis gar nicht vorhanden.
Auf dem Weg zu den Aufnahmeprüfungen im Herbst versuchte meine Mutter mich zu beruhigen, als wir uns dem imposanten grauen Gebäude näherten, einem Betonbau in der Tradition des Brutalismus, der an diesem Tag anscheinend darauf ausgerichtet war, mich einzuschüchtern.
»Es ist nicht wichtig, okay? Geh einfach da rein und tu dein Bestes.«
Sie spürte meine Nervosität. Meine sonst so zuversichtliche Art wurde gedämpft durch den Ernst der Lage und die Horden quatschenden Mädchen, die alle garantiert klüger und besser vorbereitet waren als ich und die mit größerer Wahrscheinlichkeit zugelassen würden. Sie überließ mich den lächelnden Oberstufenschülerinnen, die zum Aushelfen angeheuert worden waren (wie viel älter sie schon aussahen – und wie selbstbewusst!), und gab mir einen Abschiedskuss.
Die erste Arbeit, Englisch, lief ganz gut, obwohl ich mich hinterher ärgerte, dass meine Bemühungen beim kreativen Schreiben ins Prosaische abgeglitten waren. Während wir darauf warteten, zur zweiten Prüfung aufgerufen zu werden, wurde ich jedoch immer angespannter, und meine Nerven bildeten einen schmerzhaften Knoten im Magen. Als die Matheklausur kam – damals mein stärkstes Fach, auf das ich alle Hoffnung gesetzt hatte –, war ich völlig am Ende. Ich ging die Fragen im Eiltempo durch und gab die Arbeit eine halbe Stunde früher ab, anstatt die Zeit zu nutzen, um meine Antworten noch einmal zu überprüfen, wie uns die Aufsicht führende Lehrkraft immer wieder geraten hatte. Ich legte meinen Kopf auf den Tisch und schloss die Augen. Nur das schien den Schmerz zu lindern. Als meine Mutter mich mittags abholte, war ich noch unglücklicher und entmutigter als zuvor und wollte nicht darüber sprechen, wie es gelaufen war. Ich hatte es vermasselt, das wusste ich. Sie drängte mich nicht, und wir sprachen nicht mehr über die Prüfungen oder die Schule.
Monate später, an einem hellen, den Frühling verheißenden Samstagmorgen, rutschte ein Stapel Post durch unseren Briefkasten auf den Boden. Als meine Mutter sie aufhob, erkannte sie auf einem der Umschläge das Wappen der Schule. Später erzählte sie mir, dass schlechte Nachrichten meist in kleinen, gute Nachrichten in großen Umschlägen stecken. Sie hielt den Atem an. Das königliche Abzeichen der Schule prangte auf einem dicken braunen DIN-A4-Umschlag. Wie durch ein Wunder befand sich darin ein förmliches Annahmeschreiben und das Angebot eines vollen akademischen Stipendiums. Ich hatte es unter die besten sechzehn der etwa fünfhundert teilnehmenden Mädchen geschafft und hatte mich damit für ein Stipendium qualifiziert, das die gesamten Schulgebühren für die nächsten sieben Jahre bis zur Oberstufe abdecken würde. Meine Mutter brach in hemmungslose Freude aus. So hatte und habe ich sie nie zuvor oder danach erlebt. Sie schrie erst ungläubig, dann vor Freude, dann wieder ungläubig. Ich wiederum hatte an diesem klaren Frühlingstag keine Ahnung, wie sehr sich mein Leben soeben verändert hatte.
An meinem ersten Tag in der neuen Schule lernte ich Mary kennen, ein ziemlich hochnäsiges Mädchen, das, wie ich später erfuhr, die Tochter eines berühmten Journalisten war. Auf dem Weg zur ersten Schulversammlung in die Haupthalle unterhielten wir uns höflich. »Wohnst du in Islington?« Nein. »Hampstead?« Nein. »Wo dann?« In Elephant and Castle. »Wo ist das?« Im Süden Londons. Sie schaute verwirrt, rümpfte die Nase und erklärte, sie sei noch nie südlich der Themse gewesen.
Ich weiß nicht, wie wir beiden elfjährigen Mädchen auf das Thema Reinigungskräfte gekommen sind, aber es war so, und ich erklärte ihr, dass meine Familie keine Reinigungskraft beschäftigte.
»Soll das heißen, ihr habt keine Putzfrau?«, fragte sie ungläubig, als hätte ich ihr gesagt, das Haus, in dem ich wohne, habe weder Dach noch Wände.
Ich starrte sie an und wusste nicht, was ich antworten sollte. Bis zu diesem Moment war es mir nicht einmal in den Sinn gekommen, dass Menschen Reinigungskräfte haben können. Ich kannte auch niemanden, bei dem das der Fall war.
»Wir machen selbst sauber«, sagte ich achselzuckend und drehte mich um und folgte den anderen Mädchen in den Flur.
In den Wochen vor dem ersten Schultag hatten meine Mutter und ich John Lewis besucht, den offiziellen Uniformlieferanten der Schule (er hatte diese Aufgabe kurz zuvor von Harrods übernommen). Wir gaben ein kleines Vermögen aus – 405 Pfund. Ein Betrag, an den ich mich auch nach all den Jahren noch gut erinnere. Selbst die Verkäuferin, die uns bediente, protestierte.
»Sie wird sicher nicht die Strickjacke, den Pullover und das Sweatshirt brauchen. Warum kommen Sie nicht wieder, wenn Ihre Tochter ein paar Wochen dort ist? Sie könnten dann kaufen, was Ihrem Kind fehlt«, schlug sie vor.
Aber meine Mutter war nicht in der Stimmung, sich beraten zu lassen. Ihr Stolz darüber, dass ich ein Stipendium bekommen hatte, überwog ihre übliche finanzielle Vorsicht, und sie bestand darauf, jedes einzelne Stück auf der Liste der vorgeschlagenen Schuluniformen zu kaufen, bis zu den Turnhosen, die ich kein einziges Mal tragen würde.
Meine Begegnung mit Mary war ein ungünstiger Anfang, aber zum Glück nicht wegweisend. Ich gehöre zu den Menschen, die ihre Schulzeit wirklich genossen haben; und in vielerlei Hinsicht hatte ich Glück – unter den Privatschulen war meine Schule so etwas wie eine Ausnahmeerscheinung, da die Atmosphäre des sozialen Snobismus, die in solchen Umgebungen oft herrscht, weitgehend vermieden wurde. Dass ich ein Stipendium hatte, unterschied mich nur insofern von anderen, als dass ich als »eines der klugen Kinder« galt. Das war nie etwas, was ich versteckt oder wofür ich mich geschämt habe.
Manchmal fällt es mir schwer, anderen Menschen meine Zugehörigkeit zu einer Klasse genau zu vermitteln. In einer so klassenfixierten Gesellschaft wie Großbritannien, in der die Bedeutung von Klasse so groß ist und einen solchen Einfluss auf den Lebensweg hat, sind die Definitionen, auf die wir uns verlassen, erstaunlich starr. Es gibt wenig Raum für Nuancen und wenig Wertschätzung für diese, insbesondere in der Mitte des Klassenspektrums, wo die Dinge wesentlich fließender sind als an den äußeren Rändern. Reich = Oberschicht. Wohlhabend = Mittelschicht. Arm = Arbeiterschicht. Dabei besteht die Klassenzugehörigkeit aus viel mehr als nur dem Einkommen oder dem Beruf. Beide können sich über Nacht drastisch ändern, ohne dass sich die grundlegende Klassenidentität wirklich ändert. Was macht also deine Klasse aus? Ist es die, in die du hineingeboren wurdest, oder die, zu der du gehörst, wenn du stirbst (obwohl das statistisch gesehen für die meisten Menschen wahrscheinlich ein und dasselbe ist)? Ist es dein Kontostand, oder sind es die Zeitungen, die du liest? Der Job, den du hast, oder der Job, den deine Eltern hatten? Couch oder Sofa? Tesco oder Waitrose? Es wäre einfach anzunehmen, ich gehörte zur Arbeiterklasse, weil ich in einer Siedlung mit Sozialwohnungen aufgewachsen bin – und tatsächlich gehen diese Erfahrungen oft Hand in Hand –, aber ich hatte nie das Gefühl, dass ich diesem Narrativ entspreche. Einer der einflussreichsten Denker zum Thema Klasse war der Soziologe Pierre Bourdieu, der 1979 seinen bahnbrechenden Text Die feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft veröffentlichte, in dem er sich mit Klasse und Kultur in der französischen Gesellschaft auseinandersetzt. Darin vertritt er die Ansicht, dass der Klassenhintergrund davon abhängt, wie viel »Kapital« die Eltern besitzen (Kapital in diesem Sinne bedeutet Ressourcen), und unterteilt dies in drei Bereiche: soziales Kapital (gute Beziehungen und Freundschaften mit einflussreichen Personen), wirtschaftliches Kapital (Einkommen, Vermögen, Besitz) und kulturelles Kapital (der »richtige« kulturelle Geschmack, Wissen und Bildungsnachweise). Oder, wie die Schriftstellerin Eula Biss es ausdrückt, »was man hat, was man weiß und wen man kennt«.[2]
Obwohl meine Familie nur über ein sehr geringes Einkommen verfügte und zur Miete in einer Sozialbausiedlung lebte, waren die Regale in meinem Zuhause voller Bücher, und meine illustrierten Enzyklopädien und Harry Potter-Bücher fanden Platz neben den politischen Biographien und den Reader’s Digest-Ausgaben meiner Eltern. Die Dokumentationen von Radio 4 bildeten das unaufhörliche Hintergrundgeräusch in unserem Alltag, und die Wochenenden verbrachten wir mit Museums- und Galeriebesuchen, ob ich wollte oder nicht (oft wollte ich nicht). Am wichtigsten ist vielleicht, dass ich von zwei Eltern mit Hochschulabschluss großgezogen wurde, was statistisch gesehen bedeutete, dass auch ich mit ziemlicher Sicherheit einmal studieren würde. In unserem Elternhaus war das eine Selbstverständlichkeit, und ich begriff wahrscheinlich erst mit zehn oder elf Jahren, dass ein Studium nicht obligatorisch ist. Ich bin in einem Umfeld aufgewachsen, in dem es reichlich kulturelles Kapital gab – wir hatten nur nicht viel tatsächliches Kapital im herkömmlichen Sinne des Wortes. Mich entweder als zur Arbeiterschicht oder zur Mittelschicht gehörig zu bezeichnen, wie es die gängigen Kategorisierungen vorsehen, fand ich immer vereinfachend. In meinem Aufwachsen jedenfalls habe ich mich zwischen diesen beiden Kategorien bewegt.
Und trotz unserer unterschiedlichen Herkunft unterschied sich mein Alltag nicht allzu sehr von dem der Mädchen, mit denen ich zur Schule ging. Als ich ein Teenager war, hatten sich meine Eltern zu dem hochgearbeitet, was die meisten Leute wohl als untere Mittelschicht bezeichnen würden, und finanziell hatte sich unsere Situation in den zehn Jahren, seit wir in London angekommen waren, deutlich verbessert. Wir waren beileibe nicht reich, aber meine Eltern konnten es sich jetzt leisten, uns ein wenig zu verwöhnen, und das taten sie auch, indem sie mir jedes Mal, wenn ich mit meinen Freundinnen ins Kino gehen wollte, frische 20-Pfund-Scheine zusteckten. Meine Mutter – immer eine Ästhetin – förderte unser Interesse an Mode mit regelmäßigen Ausflügen zur Oxford Street, wo meine Schwestern und ich stundenlang durch die Gänge von H&M und New Look stöberten und von wo wir mit Taschen beladen zurückkehrten. Wir konnten reisen und besuchten in den Ferien befreundete Familien in Frankreich und der Schweiz, einmal sogar in Kanada. Meine Eltern waren immer darauf bedacht, dass ich mit meinen Freundinnen mithalten konnte, und so war ich zwar nicht die Erste in meiner Klasse, die ein Handy bekam, aber auch nicht die Letzte.
Irgendwann um die achte Klasse herum wurden Übernachtungen zu einer Art von sozialem Kapital, das nur Mädchen im Teenageralter verstehen können. Die Frage, ob du eingeladen wirst oder nicht, sowie die Zeremonie der Einladung selbst wurden zu einem politischen Drama mit hohem Stellenwert. Nachdem ich einige Male eingeladen worden war, schlugen meine Eltern vor (oder vielleicht bat ich sie darum), ich solle selbst eine solche Übernachtung ausrichten. Und so kam es, dass sich einige Wochen später an einem Freitagnachmittag sechs meiner engsten Freundinnen aufgeregt bei den Schließfächern versammelten, mit der leisen Selbstgefälligkeit von Mädchen, die hierfür auserwählt worden waren. Meine Mutter begleitete uns zum Abendessen in das damals sehr coole Hard Rock Cafe, bevor wir uns alle sieben in das Wohnzimmer unserer kleinen Wohnung drängten, um dort zu übernachten. Meine Eltern, darauf bedacht, dass meine allererste Übernachtung ein Erfolg wurde, hatten ihren Teil dazu beigetragen – sie füllten den Kühlschrank mit reichlich Snacks und gingen uns dann weitgehend aus dem Weg, ganz anders als die aufdringlichen Helikoptereltern, die ich manchmal bei meinen Freundinnen antraf. Es wurde in meiner Clique als einer der besten Übernachtungsabende gefeiert, und ich kam am darauffolgenden Montag gut gelaunt in die Schule.
Nach allen Maßstäben hatte ich also eine Menge – aber es war nicht zu übersehen, dass viele meiner Freundinnen sehr viel mehr hatten. Die Mädchen, mit denen ich umging, waren (so kam es mir vor) völlig frei von den nahezu ununterbrochenen finanziellen Berechnungen, die in meinem Hinterkopf herumschwirrten, sie schienen immer das zu besitzen, was gerade angesagt war – einen iPod oder ein Kleid von Urban Outfitters, gelegentlich eine Designertasche. Es gab zwei Schwestern, die in einem Auto mit abgedunkelten Scheiben zur Schule und wieder zurück chauffiert wurden und die an Tagen, an denen sie sich gestritten hatten, in getrennten Autos saßen. Es gab Mädchen, die ein zweites und manchmal ein drittes Zuhause hatten, die in georgianischen Stadthäusern im Zentrum Londons wohnten und in Monaco Urlaub machten. Wenn ich in meiner frühen Kindheit gelernt hatte, wie es ist, ohne viel Geld zu leben, dann fing ich in meinen Teenagerjahren an zu verstehen, was es heißt, Geld im Überfluss zu haben.
Überzeugungen aus der Kindheit lassen sich schwer abschütteln und können in der menschlichen Psyche so unauslöschlich sein wie ein Tattoo. Selbst als Erwachsene kehren die meisten von uns instinktiv zu den Gewohnheiten zurück, die wir als Kinder ausgeprägt haben.
In der Oberstufe kündigte mein Geschichtslehrer eines Morgens an, im kommenden Schuljahr werde eine Klassenfahrt nach Russland stattfinden, die unser Verständnis im Modul über die Sowjetunion vertiefen solle. Ich überflog das Erlaubnisschreiben, das wir mit nach Hause nehmen und unseren Eltern geben sollten, und mein Blick fiel auf die Kosten für die Reise. 600 Pfund! Ganz zu schweigen von all den Extras, die ich brauchen würde – Taschengeld für eine Woche in einem Land, das, wie ich gehört hatte, wahnsinnig teuer war, dazu passende Kleidung für die Minusgrade. In dem Schreiben wurde Skibekleidung als ideal vorgeschlagen. Dabei wurde davon ausgegangen, dass bei den meisten von uns Skibekleidung entweder stapelweise zu Hause lag oder besorgt werden könnte – was keine unerheblichen Kosten verursachte. Ich schätzte, dass die Reise alles in allem mehr als 1000 Pfund kosten würde, was mir als Sechzehnjähriger unvorstellbar viel erschien; und hier kam mein alter Instinkt aus der Kindheit zum Vorschein. Ich wollte meine Eltern nicht mit Geldsorgen belasten – zumal ich entschieden hatte, dass die Reise so etwas wie ein Luxus war. Auch wenn die meisten aus meiner Klasse mitfahren würden, für mein Verständnis des Themas oder meine Noten war die Reise nicht entscheidend. Ich nahm an, dass meine Eltern sich die Kosten entweder nicht leisten konnten oder, selbst wenn, doch sehr davon belastet wären. Ich wollte nicht, dass sie herumrechneten, woher sie das Geld nehmen und was sie einsparen könnten, damit ich lustig eine Woche lang durch Russland reisen könnte. Ich beschloss die Entscheidung selbst zu treffen. Ich habe ihnen den Brief nie gezeigt.
Ein paar Monate später, beim Elternabend, trafen wir uns zu dritt mit meinem Geschichtslehrer, Mr Phillips, der meine Eltern fröhlich über meine Fortschritte aufklärte. Alles lief gut – ich war eine fleißige Schülerin und auf dem besten Weg zu einer Eins in meinen Prüfungen. Ich atmete erleichtert auf. Immer befürchtete ich, eine der Lehrkräfte könnte meinen Eltern verraten, dass ich zwar eine hervorragende Schülerin war, aber auch auffallend widerspenstig, und dass ich während des Unterrichts unentwegt redete. Mehr als einmal musste ich mich unter die wachsamen Augen einer Lehrkraft ganz allein in die erste Reihe setzen, fern von meinen Freundinnen.
»Ich bin allerdings sehr enttäuscht, dass du nicht an der Russlandreise teilnimmst«, rief Mr Phillips aus und wandte sich an mich.
Ach, Mist.
»Was für eine Russlandreise?«, fragte meine Mutter, und alle drei – meine Mutter, mein Vater und Mr Phillips – drehten sich zu mir und sahen mich an, wobei Letzterer besonders verwirrt wirkte. Monatelang hatte ich vorgetäuscht, kein Interesse an der Reise zu haben, und mich den wenigen unzufriedenen Mädchen in meiner Geschichtsklasse angeschlossen, die aus ihren jeweils eigenen Gründen nicht mitfahren wollten. Das Verhalten passte nicht zu mir – ich war sonst eine begeisterte Schülerin, und eigentlich war Geschichte mein Lieblingsfach.
Als ich meinen Eltern am Abend auf dem Heimweg erklärte, warum ich ihnen von der Reise nicht erzählt hatte, waren sie niedergeschlagen. Sie erinnerten mich daran, dass meine Ausbildung das Einzige war, woran sie niemals sparen würden, dass sie so hart gearbeitet hatten, um sie unanfechtbar zu machen. Sie forderten mich auf, mich am nächsten Tag für die Reise anzumelden, aber bis dahin waren es nur noch wenige Wochen. Es war zu spät.
Jahre später saß ich mit meiner Mutter auf dem Sofa, wir sahen einen Beitrag über Russland, als sie aus heiterem Himmel sagte: »Weißt du, es schmerzt mich immer noch, dass du diese Russlandreise nicht mitgemacht hast.« Ich schaute sie überrascht an. Schon damals hatte ich kaum noch einen Gedanken daran verschwendet und die freie Zeit, die ich während der Abwesenheit meiner Klasse hatte, genutzt, um mit Freundinnen in der Schulbibliothek herumzuhängen. Nicht zum letzten Mal äußerte sie, sie habe ein leises schlechtes Gewissen, weil unsere frühere finanzielle Einschränkung mich dauerhaft mit unnötigen Geldsorgen belastet haben könnte.
Und doch war ich glücklich in der Schule, fühlte mich sicher und irgendwie wohl in einem Umfeld, in dem ich allen Grund hatte, unsicher zu sein – meine Schule war nicht nur extrem wohlhabend, sondern auch extrem weiß. Ich war eines von vielleicht vier Schwarzen Mädchen in einer Jahrgangsstufe von siebzig. Trotzdem gelang es mir, enge Beziehungen zu knüpfen, und ich verbrachte die meisten Abende damit, am Telefon die Ereignisse des Tages mit Mädchen durchzugehen, die ich nur wenige Stunden zuvor gesehen hatte, und mich in hysterische Lachanfälle zu steigern, bevor wir uns widerwillig voneinander verabschiedeten, um die Hausaufgaben zu erledigen. Ich konnte meinen Interessen nachgehen und schrieb regelmäßig für die Schulzeitung. Ich lieferte andächtige kleine Aufsätze über Feminismus und Politik und gelegentlich eine Kritik über ein Schultheaterstück ab. In meinem letzten Jahr wurde ich zur Schulsprecherin gewählt und verbrachte einen Großteil meiner Zeit damit, Spenden für Stipendien zu sammeln. Ich fand es wichtig, das Glück, das ich selbst hatte, weiterzugeben.
Wie viele andere entwickelte ich in meinen Teenagerjahren erste Ambitionen in Bezug auf Geld und Arbeit, und in dieser Hinsicht hinterließen diese Jahre zweierlei bleibende Spuren. Meine Schule leistete bemerkenswerte Vorarbeit für eine leidenschaftliche feministische Atmosphäre. Unsere Lehrer vermittelten uns früh und oft, dass Frauen den Männern unbestreitbar ebenbürtig sind (wenn nicht sogar besser). Das gut gemeinte Konzept hatte zur Folge, dass ich auf die Ungerechtigkeiten in der Arbeitswelt, die ich später kennenlernen sollte, schlecht vorbereitet war. Trotz aller guten Absichten bereitete mich die frühe Einführung in die feministische Welt kaum auf die Realität von Sexismus am Arbeitsplatz vor. Als Teenager hielt ich ihn für eine Art Spiel. Das Einzige, was ich tun musste, um zu gewinnen, war, hart zu arbeiten. Mädchen gegen Jungen. Es kam mir nicht einmal in den Sinn, dass Rassismus ein Thema sein könnte – das wurde nie diskutiert.
Hinzu kam die Nähe der Schule zur City. Das bedeutete, dass wir einem ständigen Angebot von Veranstaltungen zum Berufsleben im Bankensektor ausgesetzt waren – stell dir eine Schar großäugiger Teenagermädchen vor, die zum Beispiel eine Führung durch den Handelssaal von Merrill Lynch erhalten. Mit fünfzehn konnte ich schon eine Liste aller großen Investmentbanken herunterleiern. (Das war 2006, vor dem Finanzcrash, als das Bankenwesen noch nicht so ein Imageproblem hatte wie heute.) Zu einer Karriereveranstaltung wurden ein paar Ehemalige eingeladen, damit sie während des Mittagessens über ihre jeweiligen Branchen sprachen. Eine von ihnen war ins Investmentbanking einer der großen Banken gewechselt, und unser kollektiver Blick richtete sich sofort auf sie. Sie war der Inbegriff dessen, was wir uns unter einer erfolgreichen berufstätigen Frau vorstellten – strahlend und gepflegt, in einem schick geschnittenen Anzug und auf schwindelerregenden Absätzen, die ganze Zeit selbstbewusst auf ihrem BlackBerry tippend, um ihren gigantischen Verlobungsring zur Schau zu stellen. Sie wirkte unglaublich erwachsen, und als wir den Saal verließen, waren sich einige von uns einig: Ja, auch wir wollten im Investmentbanking arbeiten.
Es wäre ungehörig, mich darüber zu beschweren, dass meine Schule uns ermutigt hat, eine gut bezahlte Arbeit anzustreben, und das tue ich auch nicht. Es ist ein großes Privileg, wenn eine junge Frau in Richtung einer finanziell lohnenden Karriere gelenkt wird und wenn die Wege in diese Branchen entmystifiziert werden, während sehr viele junge Frauen genau das Gegenteil erleben. Dennoch führte die Konzentration auf das Bankenwesen und andere Unternehmensberufe dazu, dass ich mir die Arbeitswelt anders vorstellte, vor allem, was das Gehalt betraf. Ich stellte mir vor, dass ich mit Mitte zwanzig ein sechsstelliges Gehalt beziehen würde und dass dies völlig normal war. Als ich die Schule verließ, hatte ich zwei wichtige Schlüsse über den Verlauf meiner Erwachsenenjahre gezogen: Ich würde zwangsläufig viel Geld verdienen, und der Aufstieg auf der Karriereleiter als Frau würde ein leichtes Unterfangen sein.
Es reicht zu sagen, dass ich mich in beiden Punkten geirrt habe.