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Kapitel 2 Oxford – Stadt der träumenden Türme
ОглавлениеDie Fahrt nach Oxford war eine schweigsame Angelegenheit, meine Eltern summten zur Musik aus dem Radio, während ich still auf dem Rücksitz saß, um mich herum Bücher und Bettzeug. Ab und zu drehte sich meine Mutter um, schaute mich neugierig an und fragte schließlich neckend: »Du bist sehr still! Nervös?«
»Nein!?«, gab ich spöttisch zurück, voll pubertärem Trotz, beleidigt über die bloße Andeutung.
Meine Eltern warfen sich einen wissenden Blick zu, als sie sich wieder umdrehte, und konnten ihr Lächeln kaum unterdrücken.
Genervt verdrehte ich die Augen, starrte weiter aus dem Fenster und beobachtete, wie sich die Landschaft von dem Grau der Autobahn in das gedämpfte Gold der gepflasterten Straßen und Kalksteintürme Oxfords verwandelte, bis das Navi schließlich anzeigte, dass wir unser Ziel erreicht hatten.
Wir saßen einige Augenblicke im Auto und waren uns plötzlich unsicher, bis einer der älteren Studenten, der sich für die Erstsemesterwoche freiwillig gemeldet hatte, mit den Fingerknöcheln an die Scheibe klopfte.
»Neu auf dem College?«, fragte er.
Ich nickte dankbar, und gemeinsam begannen wir vier, meine Habseligkeiten in mein neues Zuhause zu bringen, ein Zimmer in einem jahrhundertealten, im gotischen Stil erbauten Gebäude, mit Blick auf eines der berühmten grünen Gevierte von Oxford.
Ich hatte monatelang auf diesen Tag gewartet, doch nun fühlte sich alles, was ich tat, seltsam aufgeladen und bedeutungsschwer an: wie ich meine Bettdecke glatt strich und wie ich meine Beine übereinanderschlug, als ich an diesem Nachmittag in der Einführungsveranstaltung saß. Ich hatte die langweiligen letzten Monate in der Schule mit Tagträumen verbracht. Wie würde es in Oxford sein? Ich entwarf Dutzende von Szenarien und verschiedene Theorien, die auf den Informationsfetzen basierten, die ich mir zusammengesucht hatte. Ich fand die Aussicht aufregend, zum ersten Mal woanders zu leben, ohne Regeln, Ausgangssperren und elterliche Aufsicht und frei, die Teile von mir abzulegen, aus denen ich herausgewachsen war. Ich überlegte mir genau, welchen Eindruck ich machen wollte und wie – welche Kleidung ich an diesem entscheidenden ersten Tag tragen würde (ein bretonisches Top und kniehohe braune Lederstiefel, falls es euch interessiert), wie ich mein Zimmer einrichten würde, sodass es Persönlichkeit ausdrückte. Schließlich entschied ich mich für die gleiche IKEA-Massenware wie alle anderen. Meine Aufgabe war es, mich zwar vielleicht nicht völlig neu zu erfinden, aber doch eine Version von mir zu entwerfen, die zu dieser neuen, erwachseneren Lebensphase passte. Cooler, kultivierter, vielleicht sogar ein bisschen … geheimnisvoller. Ich überlegte kurz, zu diesem Zweck mit dem Rauchen anzufangen, verwarf die Idee aber und beschloss stattdessen, mehr schwarze Kleidung zu tragen. Auch die Aussicht auf Jungs begeisterte mich, nachdem ich sieben Jahre lang auf einer reinen Mädchenschule gewesen war, wo der Anblick des anderen Geschlechts selten und meist enttäuschend war. Monatelang ging ich dieselben Fragen durch: Was für Freundschaften würde ich schließen? Würde ich beliebt sein? Würde ich eine Eins bekommen? Wie würden die Jungs sein? Würden sie mich heiß finden? Würde ich den Richtigen treffen?
Und dann gab es da noch einige, etwas ernstere Befürchtungen, geschuldet dem Ruf Oxfords als eine Bastion der Privilegien, beherrscht von den Nachkommen der britischen Geldelite. So ziemlich jeder Artikel, den ich über die Universität gelesen hatte, zeigte Bilder von Jungs in weißen Krawatten und Frack, die aus extravagant klingenden Eröffnungsbällen stolperten, während ihnen in Tweed gekleidete Mädchen mit sorgfältig zurückgekämmtem Haar an den Armen hingen. Unter meine ganze Aufregung mischte sich die tiefe Befürchtung, dass ich von Leuten umgeben sein würde, deren Definition von »Grundstück« nur »Land« bedeutete, mit denen ich nichts gemein hatte und die nichts mit mir zu tun haben wollten.
In meiner Verzweiflung tat ich das, was jedes Kind des digitalen Zeitalters tun würde – ich legte einen anonymen Account in einem beliebten Online-Forum für Studierende an, stellte Fragen zu den Klassenunterschieden in Oxford und wollte wissen, ob es notwendig sei, aus wohlhabenden Verhältnissen zu kommen, um die Zeit in Oxford »voll und ganz zu genießen«. In Wirklichkeit wollte ich natürlich wissen, ob ich dazugehören würde oder nicht, denn ich war achtzehn, und das ist alles, was Menschen mit achtzehn Jahren wirklich wissen wollen.
Die Angst, finanziell nicht mithalten zu können, war so groß, dass ich im Sommer ein paar Jobs im Service bei einer Catering-Firma angenommen hatte, um mir etwas dazuzuverdienen. Es war eine höchst unglamouröse Arbeit und bestand hauptsächlich darin, auf Konferenzen Kunden in grauen Anzügen vertrocknete Pellkartoffeln zu servieren. Aber ich war begeistert, mein eigenes Geld zu verdienen, und freute mich über die paar hundert Pfund, die ich in den Wochen vor meiner Ankunft verdienen konnte.
Zu meiner Erleichterung kam ich in Oxford gut zurecht, fand schnell Freundinnen und konnte dem Heimweh, das andere zu plagen schien, geschickt aus dem Weg gehen. Die Befürchtung, nicht zu meinen Kommilitonen zu passen, verflog schon früh, da sich das studentische Leben, wie an jeder anderen Uni auch, meist in den immer gleichen wenigen Bars und kitschigen Nachtklubs abspielte. Es hatte einen gewissen auflockernden Effekt, wenn wir kollektiv von Jägerbombs (nimm 2, zahl 1) niedergestreckt wurden.
Das soll nicht heißen, dass die Kultur in Oxford nicht stark von den Anschauungen der Mittelschicht geprägt war. Bis zu einem gewissen Grad hatte mir die Privatschule einen Schutz vor der stumpfen Schneide der Distanzierung geboten, die ich sonst vielleicht dort zu spüren bekommen hätte, aber wenn ich dachte, ich wüsste seit dem Besuch einer Privatschule, wie Privilegien aussahen, dann sollte mich Oxford eines Besseren belehren. Es gab die Art von Vornehmheit, an die ich mich gewöhnt hatte – Mütter aus Islington, die ihre Lebensmittel in feinen Läden wie Marks & Spencer einkauften und von Farrow & Ball besessen waren; und dann gab es die Oxford-Vornehmheit. Leute, die einen niederen Adelstitel trugen und in Gutshäusern lebten, die seit Generationen »in der Familie« waren. In Oxford lernte ich die wahre Turmspitze von Klasse und Reichtum in Großbritannien kennen und vervollständigte so meine Ausbildung in den Ritualen und Sitten der oberen Mittelschicht, die ich in der Schule begonnen hatte. Es waren Leute, die während des Vorglühens Skigebiete verglichen und danach bemaßen, welches wohl den besseren Pulverschnee hatte. Leute, deren Familien Sommerhäuser in der Toskana und Winterchalets in Verbier besaßen, die für ihren Urlaub Privatjachten charterten und am Wochenende auf die Jagd gingen.
Auf einer Party in diesen ersten Wochen kam ich mit einem Studenten ins Gespräch, das immer flauer wurde, bis er schließlich fragte:
»Auf welche Schule bist du denn gegangen?«
Ich erzählte es ihm.
»Oh ja, ich glaube, von der habe ich schon gehört – sie ist in der Nähe vom Barbican, stimmt’s?«
»Jep. Und du, wo bist du zur Schule gegangen?«, antwortete ich und gab die Frage zurück, die mir in den kommenden Monaten unzählige Male gestellt werden würde.
»Eton«, lächelte er mit einem Hauch von Selbstzufriedenheit, und mir wurde klar, dass er nur nach meiner Schule gefragt hatte, um mit dem Namen seiner eigenen antworten zu können.
»Cool – ich schätze, dann kennst du schon viele Leute hier?«, fragte ich. Er nickte, ja, natürlich kannte er sie.
In Oxford wimmelte es von Ehemaligen aus Eton.
Schon bald verstand ich die Bedeutung der »Schulfrage« und wozu die Schüler – meist solche, die eine Privatschule besucht hatten – sie höflich stellten. Frage wie Antwort sind Stellvertreter. Auf eine ziemlich plumpe Art und Weise sollen der Hintergrund der anderen Person ausgelotet, die eigenen Referenzen signalisiert sowie mögliche gegenseitige Verbindungen aufgedeckt werden; ich bin überzeugt, dass die Privatschüler in Großbritannien immer höchstens zwei Verwandtschaftsgrade voneinander entfernt sind. Es gab Zeiten, sowohl in Oxford als auch danach, in denen ich den Namen meiner Schule als Schutzschild benutzte. Die Tatsache, dass ich eine Privatschule besucht hatte, wirkte unter bestimmten Umständen den Aspekten meiner Identität entgegen, die mich andernfalls als Außenseiterin hätten kennzeichnen können, zumal mich als Schwarze Frau.
Sogar Oxfords antiquierter Slang, eine Welt der bops (Partys), formals (Abendessen), collections (Probeexamen) und subfusc (die berühmten schwarzen Roben), spiegelte die Traditionen der großen alten öffentlichen Schulen wie Eton und Westminster wider, die lange Zeit eine ähnliche Umgangssprache pflegten – für die Außenwelt weitgehend rätselhaft. In Oxford wird dir dieses Vokabular schnell zur zweiten Natur, unabhängig von deinem Hintergrund – wenn du erst dort bist, kommt es dir vor wie eine weitere Oxford-Macke, ohne größere Bedeutung. In den folgenden drei Jahren sprachen meine Freundinnen und ich jedoch oft über die »Oxford-Blase« und wie seltsam entfernt vom Rest der Welt sich die malerische Schokoladenstadt manchmal anfühlte. Die Beherrschung der Oxford-Sprache und der geheimnisvollen kleinen Rituale war zwar eine Quelle des Stolzes, die mich mit meinen Kommilitonen verband, so wie es das Beherrschen der sozialen Codes in jeder neuen Umgebung zu tun pflegt, aber diese Codes verstärkten auch die unsichtbaren Mauern der Blase. Sie trugen wenig dazu bei, Oxfords Ruf als eine Einrichtung, die den Abkömmlingen reicher Familien vorbehalten ist, zu widerlegen. Der Ruf ist nicht unbegründet.
Obwohl nur 7 Prozent der Schüler in Großbritannien eine Privatschule besuchen, sind die Privatschüler in Oxford stark überrepräsentiert. 2019 machten sie 38 Prozent der Studierenden aus (in den Jahren, in denen ich die Schule besuchte, waren es noch 46 Prozent).[3] In Oxford – und in Cambridge, wenn wir schon mal dabei sind – ist sozioökonomische Diversität nicht das Maß aller Dinge. Mir wurde schnell klar, dass selbst unter den Studierenden mit staatlicher Schulbildung, von denen ich mir etwas mehr an gemeinsamen Erfahrungen erhofft hatte, die meisten aus gut situierten Mittelschichtsfamilien kamen. Im Jahr 2019 stammten nur 12 Prozent der in Oxford zugelassenen Studierenden aus den beiden sozioökonomisch am stärksten benachteiligten Gruppen Großbritanniens, also aus Familien, die laut Wirtschaftswissenschaftlern in finanziell überlasteter oder in städtischer Notlage leben, wie die, in der ich aufgewachsen bin.[4] Noch geringer war die Anzahl Schwarzer Studierender oder Migranten der ersten Generation, die wie ich den Spagat zwischen zwei Kulturen als spezifische Erfahrung kannten, der mich immer wieder mit anderen verbindet. (In meiner gesamten Studienzeit in Oxford habe ich nicht einen solchen Menschen getroffen. Das ist nicht überraschend, wenn ich bedenke, dass selbst im Jahr 2020 nur 3,1 Prozent der in Oxford zugelassenen Studierenden Schwarze Studenten waren.[5]) Die überwiegende Mehrheit der Studierenden kam aus Familien, die im Vergleich zum Rest der Bevölkerung mindestens »wohlhabend« waren, wenn nicht sogar viel, viel mehr als das: vermögende Familien mit einem Lebensstil, den die meisten von uns mit dem einen Prozent der reichsten Menschen der Welt verbinden. Kein Wunder, dass Oxford im gesellschaftlichen Bewusstsein als der Inbegriff sozialer Ungleichheit verankert ist.
Doch trotz mancher Studenten, die in Oxford offensichtlich ihre Wiedersehen mit Brideshead-Phantasien auszuleben gedachten, in der Erstsemesterwoche Portwein- und Käsepartys veranstalten und bei jeder denkbaren Gelegenheit schwarze Krawatten tragen wollten, wirkten die meisten ziemlich normal. Die Zeichen des Wohlstands, die mich an die Unterschiede zwischen uns erinnerten, waren meist subtiler, wie ich eines Abends im Zimmer eines Freundes feststellen musste, als er seinen Laptop herausholte.
»Ist das ein MacBook?«, fragte ich so lässig wie möglich.
Meiner Meinung nach waren MacBooks etwas für Millionäre. Ich war erstaunt, dass eine Person in meinem Alter – ein Student – tatsächlich ein MacBook besaß. Aber schon bald gewöhnte ich mich daran, in der Bibliothek des Colleges reihenweise elegante graue MacBooks zu sehen, auf denen das verräterische leuchtende Logo mir zuzwinkerte, während mein eigener klobiger Laptop so laut brummte, dass es manchmal wirkte, als würde er gleich abheben.
Mit den Mädchen, die ich in der Erstsemesterwoche kennengelernt hatte, würde ich durch meine drei Oxford-Jahre und darüber hinaus befreundet bleiben. Obwohl sie aus der Mittelschicht stammten und in einigen Fällen sogar unglaublich wohlhabend waren, hatte ich Freundinnen gefunden, mit denen ich wirklich ich selbst sein konnte, so ausgelassen, verletzlich und schlampig, wie ich bin. Innerhalb weniger Wochen waren wir in einen entspannten Rhythmus aus ständigem SMS-Schreiben, albernen Spitznamen und hysterischen Ausbrüchen wegen Kleinigkeiten verfallen. Wir trafen uns in einem der Zimmer, um uns vor dem Ausgehen fertig zu machen, und tauschten so oft unsere Kleidung untereinander aus, dass wir kaum noch wussten, wem was gehörte. Ich lieh vielleicht ein Lieblingskleid oder ein Paar Schuhe einer Freundin, nur um ein paar Wochen später eine andere zu treffen, die frech meine Sachen trug.
Meine Studienzeit lag ein paar Jahre vor dem Wiederaufleben des Feminismus in der Popkultur, das Mitte der 2010er Jahre einsetzte, aber schon damals waren wir ein überzeugter feministischer Haufen. Es war für uns selbstverständlich, unsere Erfahrungen durch die Brille des Feminismus zu analysieren; wir waren schnell dabei, auf Sexismus hinzuweisen und unsere Verärgerung über die vielen kleinen Ungerechtigkeiten und die geschlechtsspezifische Doppelmoral zu äußern, die uns täglich begegneten. Es war die Zeit vor #MeToo, als die lad culture an den britischen Universitäten ihren Höhepunkt erreichte und alle Arten von bedenklichem männlichem Verhalten locker als »Scherz« abgetan wurden. Websites wie LADbible und Unilad waren Vorreiter, die mit viralen Memes und Videoclips ihre überwiegend männliche Leserschaft ansprachen. Selbst nachdem Unilad sich für die Veröffentlichung eines Artikels entschuldigen musste, worin Vergewaltigung als »Überraschungssex« bezeichnet und die treue männliche Anhängerschaft zu sexualisierten Gewalttaten ermutigt wurde, indem er an die Tatsache erinnerte, dass »85 Prozent der Vergewaltigungsfälle nicht gemeldet werden«, änderte sich der Ton ihrer Veröffentlichungen nicht wesentlich.[6] Ich hatte diesen »Überraschungssex«-Witz von einigen meiner männlichen Freunde öfter gehört, als mir lieb war. Auch die phänomenal populäre Sitcom The Inbetweeners – Unsere jungfräulichen Jahre erging sich – trotz der witzigen Beobachtungen der Unannehmlichkeiten im Teenagerleben – in grober Männlichkeit und vermittelte jungen Männern ein Vokabular an abstoßenden Ausdrücken. Es war gar nicht ungewöhnlich, dass die sonst so wohlerzogenen Jungs, die ich kannte, in einem Gespräch das Wort »Fotze« oder »Muschi« benutzten – ein Verhalten, über das wir Mädchen entweder lachten oder das wir nachahmen mussten. Wir wollten nicht zu verklemmt wirken. Es war ja immer »nur ein Scherz«.
Über Mädchen wurde geredet, als wären sie Beute, die mit oder ohne Alkohol ins Bett gelockt oder überlistet werden mussten. An der Universität begegnete ich zum ersten Mal dem Sharking – der Praxis älterer (meist männlicher) Studenten aus dem zweiten und dritten Studienjahr, die in den ersten Wochen nach naiven Studienanfängerinnen zum Abschleppen suchten. Ein Verhalten, das rückblickend ganz offensichtlich Teil sexualisierter Gewalt ist, aber in dieser Zeit als unbedenklich betrachtet wurde und zulässig war. Im Jahr 2012 veröffentlichte Oxfords Studierendenzeitung Cherwell einen Artikel, der das Sharking folgendermaßen beschrieb:
»Wie sehr du dich auch bemühst, deinem Jagdtrieb zu widerstehen, die Versuchung durch das ›Frischfleisch‹ an der Uni ist einfach überwältigend. Ob du nun deine Stellung als Vorsteher der Erstsemesterwoche missbrauchst oder die Rolle eines überfreundlichen College-Eltern- oder -Großelternteils spielst (klingt unheimlich, kommt aber vor – ich kann es bezeugen), du wirst garantiert etwas mehr Sex haben als in deiner eigenen Erstsemesterwoche.«[7]
In der Mitte meines dritten Studienjahres war der langjährige Fußballkommentator von Sky Sports, Richard Keys, in einen Skandal verwickelt, nachdem seine misogynen Kommentare über eine ehemalige Freundin des Fußballers Jamie Redknapp an die Öffentlichkeit gelangt waren. Die Jungs im College eigneten sich Keys’ sexualisierte Formulierung »von hinten nehmen« sofort an, obwohl der Kommentator den Job verlor. Seine Erklärung? Es war nur ein Scherz, klar.
Kurzum, Frauenfeindlichkeit und Sexismus waren an der Tagesordnung. Und doch fragt sich der Teil in mir, der gelernt hat, diese Dinge mit »nur Spaß« abzutun, sogar heute noch, ob ich nicht ein bisschen übertreibe, wenn ich diese Vorfälle als solche beschreibe. Ich gebe den Jungs, mit denen ich studiert habe, nicht einmal die Schuld – ihre Witze waren nie wirklich bösartig, und nur wenige von ihnen haben die Grenze überschritten, soweit ich weiß. Es waren junge Männer, die das Vorbild von Männlichkeit nachahmten, das ihnen in Männermagazinen und im Reality-TV vermittelt wurde.
Und obwohl Oxford bei weitem nicht die einzige Universität mit dieser rückschrittlichen Triebkraft war, verlieh die altmodische Atmosphäre dem Ganzen den Anstrich von Seriosität, ein rosarotes Deckblatt von Geschichte und Tradition. Als ich in Oxford ankam, hatte der berüchtigte Bullingdon Club – eine Tischgesellschaft an der Universität – sein gesellschaftliches Ansehen weitgehend deshalb eingebüßt, weil dieser mit einer Reihe krimineller, uncooler Tory-Politiker in Verbindung gebracht wurde. Die Mitgliedschaft konnte dir einen karriereschädigenden Artikel in einer Boulevardzeitung einbringen. Aber es waren stattdessen viele andere Trinkklubs entstanden, in denen nur Männer verkehrten. In Oxford ließ sich noch immer gut phantasieren, ein alter englischer Gentleman zu sein, wenn man das wünschte.
Diese Klubs lebten von archaischen Traditionen, ihre Mitglieder trugen oft speziell gemusterte Krawatten und konnten lateinische Mottos auswendig – eine Annäherung an den Old Boys’ Club im wirklichen Leben, das Netzwerk ehemaliger Eliteschüler mit sozialen und geschäftlichen Verbindungen. Die meisten Klubs öffneten ihre Türen für Frauen nur anlässlich bestimmter Abendessen oder Cocktailempfänge. Bei solchen Anlässen waren wir einfach Gegenstände; wir waren eingeladen, um hübsch auszusehen und am Ende des Abends an den Meistbietenden versteigert zu werden. »Die einzige Rolle, die den Frauen in solchen Organisationen zugewiesen wird, ist die ›sexuelle Verfügbarkeit und die Unterwerfung unter den Mann‹«, schrieb die Anwältin und ehemalige Cambridge-Studentin Charlotte Proudman 2015 im Guardian (in Cambridge gibt es eine ähnliche Tradition von Trinkgesellschaften ausschließlich für Männer). »Frauen werden zu Veranstaltungen als Objekte der sexuellen Begierde eingeladen – um konsumiert und weggeworfen zu werden. Diese Frauen nehmen daran teil, weil es ihr soziales Kapital erhöht und weil Nichtkonformität den sozialen Selbstmord bedeuten kann.«[8] Zu einem dieser Dinner oder geselligen Abende eingeladen zu werden wurde als Kompliment angesehen, selbst für diejenigen unter uns, die den Riten und Ritualen des Oxford-Lebens nicht sonderlich zugetan waren. Einladungen – oder deren Ausbleiben – wurden wie eine Bewertung der eigenen Attraktivität interpretiert, und deshalb wollte ich eingeladen werden, auch wenn ich eigentlich gar nicht hingehen wollte.
Ein paar Wochen nach Beginn meines ersten Semesters kursierte eine sogenannte fit-list mit den fünf heißesten Studienanfängerinnen durch das Flüsternetzwerk der Hochschule. Das Ranking schien sich zu ändern, je nachdem, wer davon erzählte. Wer hatte die Liste erstellt? Niemand wusste es, und wir taten alle so, als wäre es uns egal, ob wir dabei waren oder nicht. Wir Mädchen in der Clique rächten uns, indem wir wiederum eine Rangliste von Jungs erstellten, aber das war alles ein bisschen halbherzig. (In meinem letzten Oxford-Jahr geriet an einem anderen College eine Trinkgesellschaft in die Schlagzeilen, nachdem eine ähnliche Liste an die Presse gelangt war, zusammen mit E-Mails, in denen die Klubmitglieder scherzten, sie wollten Studienanfängerinnen an Orte locken, »an denen es keine Zeugen gibt«, um sie im Collegeleben so richtig »willkommen zu heißen«.[9])
Folglich dachte ich ständig an mein Aussehen und ob es mir soziales Kapital verschaffte oder nicht. Im Versuch, genau zu bestimmen, wie attraktiv ich war, verbrachte ich viele Stunden vor dem Spiegel. Dabei wollte ich unbedingt attraktiver sein und dem vorherrschenden Standard dessen entsprechen, was als »anziehend« galt (das war natürlich eine bestimmte Art von Attraktivität, die ausschließlich von weißen Internatsschülerinnen erreicht werden konnte, die aussahen, als wären sie mit Erdbeeren und Milch aufgezogen worden). In der Mitte meines ersten Jahres gestand ich einer Freundin, dass ich ganz bestimmt hässlicher geworden war, seitdem ich in Oxford war. Heute weiß ich, dass ich einfach noch nie so viel Zeit damit verbracht hatte, über mein Aussehen nachzudenken, und mir noch nie so bewusst war, dass ich ständig bewertet wurde.
Auf dem New College gab es zwei Trinkgesellschaften, von denen die eine angeblich Einladungen an die bestaussehenden Leute des New verschickte (leider wurde ich nicht berücksichtigt), während die zweite, die Pre Prandials, angeblich nur Studierende einlud, die eine private Schulbildung genossen hatten – was mir in meinem zweiten Semester eine Einladung verschaffte.
Aber aus Skepsis vor dem berüchtigten, alkoholreichen Initiationsritual und der aggressiven Gruppe aus der öffentlichen Schule, die es veranstaltete, lehnte ich ab. Ein Teil von mir genoss es, anders zu sein, und es fühlte sich wie ein machtvoller Spielzug an, die Einladung abzulehnen. Aber ich war mir auch der mentalen Anstrengung bewusst, die es bedarf, um sich der dreisten Stimmung einer Gruppe von Leuten anzuschließen, die offensichtlich davon ausgingen – bloß aufgrund der Tatsache, wo ich zur Schule gegangen war –, dass wir viel mehr gemeinsam hatten, als es tatsächlich der Fall war. Oft verließ ich solche Situationen, in denen ich das Gefühl hatte, nicht wirklich »ich selbst« zu sein, mit einem seltsamen Gefühl der Leere. Im Laufe der Jahre lernte ich, sie einfach zu vermeiden.
In meinem zweiten Jahr lud mich ein Junge von einem anderen College zum jährlichen Dinner seines Trinkvereins ein. Ich hatte gehört, dass er von mir schwärmte, und überlegte, ob ich hingehen sollte. Interesse hatte ich keines an ihm, doch dieses Mal siegte meine Neugierde (und die meiner Freundinnen, die mich schließlich überredeten, dem potenziellen Verehrer eine Chance zu geben). Das Dinner war enttäuschend und langweilig, voller lauter, schwarz beschlipster Schuljungen, die immer betrunkener wurden und sich gegenseitig überbrüllten. Schließlich wurde, wie vorauszusehen war, ein Trinkspiel gestartet.
»Ich hatte niemals … SEX … mit dem Mädchen, das ich heute Abend als Date mitgebracht habe«, röhrte einer der Jungs, unsicher auf den Beinen. Die meisten von denen, die ihre Freundinnen als Date mitgebracht hatten, grölten, während sie demonstrativ ihre Drinks hinunterkippten. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie der Typ, der mich eingeladen hatte und den ich noch nicht einmal geküsst hatte, zögerlich nach seinem eigenen Glas griff, vermutlich um sein Gesicht zu wahren. »Wie bitte?«, fragte ich verschmitzt, woraufhin er verlegen lächelte und seine Hand wieder zurück nahm. Das hättest du wohl gerne, dachte ich mir.
Als er mich am Ende des Abends aus seinem College hinausbegleitete, blieb er stehen und beugte sich optimistisch vor, um sich zu holen, was ihm vermeintlich zustand.
Oh Gott. Ich hatte gehofft, es käme nicht dazu, aber leider hatte ich kein Glück. Ich hielt die Lippen fest geschlossen und drehte den Kopf leicht, als er sich näherte, sodass der Kuss auf meiner Wange landete.
»Na dann … gute Nacht!«, sagte ich fröhlich und rannte auf die Straße hinaus. Ich flog praktisch nach Hause, um die ganze Sache mit den auf mich wartenden Mitbewohnerinnen zu analysieren. Die Unannehmlichkeiten des Abends waren es allemal wert und sorgten für Heiterkeit in der Nachbesprechung.
Und doch haben die langweiligen Jungs, die Trinkklubs und das überwältigende weiß-Sein des Ortes meine Zeit in Oxford nie auch nur annähernd bestimmt. Ich war größtenteils sehr gern dort, und die Wochen nach den Abschlussprüfungen waren bittersüß, voller letzter Male – die letzte Nacht in diesem Klub oder jener Bar; der letzte Gang in die Bibliothek, nur um einen Blick auf einen der vielen Jungs zu erhaschen, in die ich verknallt war; das letzte Mal, dass ich auf dem Rasen saß, während sich die Tage träge vor mir ausdehnten und meine dringlichste Frage war, was ich an diesem Abend auf einer Hausparty anziehen sollte.
Im Hinterkopf war mir bewusst, dass ich zum letzten Mal so jung und frei von Verpflichtungen war und dass eine Zukunft mit Begriffen wie »Pendeln« und »Abteilungsleitung« auf mich zuraste, für die ich noch nicht wirklich vorbereitet war. Ich hatte schon angefangen, Oxford zu vermissen, bevor ich es überhaupt verlassen hatte.
Und dann gab es noch die leise Panik, als mir langsam klar wurde, dass, während ich in meiner Freizeit mit Freundinnen abhing und illegal Episoden von Gossip Girl streamte, überraschend viele aus meinem Jahrgang sich in aller Stille auf das begehrteste Pfand nach den Abschlusszeugnissen beworben und es auch bekommen hatten – einen Job. In Panik bewarb ich mich auf etwa ein Dutzend Stellen in der Unternehmensberatung, im Rechtswesen, im Finanzwesen – was auch immer alle anderen zu tun schienen. Ich bekam nicht eine einzige Antwort.
Als ich aus meiner gemütlichen Studentinnenblase hinausgeworfen wurde, hatte ich nichts in Aussicht und wusste nicht, ob ich mich weiter wie alle anderen auf die Unternehmensjobs bewerben oder ob ich versuchen sollte, etwas Kreativeres zu machen. Nach Jahren mit klar definierten Meilensteinen – mittlerer Schulabschluss, Abitur, Abschlussprüfungen im Studium – wurde ich in die Gesellschaft entlassen, um so etwas wie eine Karriere zu machen und meinen Platz in einer Welt zu finden, von der ich nur sehr wenig wusste.
Es waren die Jahre nach der Wirtschaftskrise, in denen es kaum noch Einstiegsjobs gab, dafür aber jede Menge unbezahlte Praktika. Es war eine ängstliche, stressige Zeit, und der Druck verstärkte sich durch das Gefühl, dass alle außer mir alles im Griff hatten und dass ich irgendwie zurückfiel. Nun zurück im Elternhaus, verbrachte ich die Tage damit, meinen Lebenslauf immer wieder umzuschreiben, Bewerbungen zu verschicken und Jobbörsen nach potenziellen Positionen zu durchforsten, während ich gleichzeitig den Bodensatz meines rapide dahinschmelzenden Bankkontos aufzufüllen versuchte.
Journalistin wollte ich wirklich gern werden, und so bewarb ich mich auf jedes Medienabsolventen-Programm, von denen damals nur sehr wenige aufgelegt wurden. Stolz fügte ich Ausschnitte aus meiner Schulzeitung bei und ein Interview mit einem Mercury-Preisträger, das ich für Oxfords Unizeitung geführt hatte. Als ein Vorstellungsgespräch für ein wettbewerbsfähiges Programm, auf das ich mich intensiv vorbereitet hatte, nicht zu einem Jobangebot führte, war ich am Boden zerstört. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich alle journalistischen Einstiegsmöglichkeiten ausgeschöpft, die ich finden konnte, sodass dieses Programm (aus meiner einundzwanzigjährigen Sicht) meine letzte Chance war, was den Journalismus betraf. Unbezahlte Praktika waren keine Option für mich, obwohl meine Eltern in London lebten. Ich wollte nicht auf ihr Geld angewiesen sein, und die Vorstellung, umsonst zu arbeiten, schien mir etwas für »reiche Leute« zu sein. Für mich kam das nicht infrage. Nein – ich musste Geld verdienen.
Zu diesem Zeitpunkt spielte die Frage der Vergütung eine größere Rolle bei der Abwägung meiner zukünftigen Berufsaussichten als alles andere. Sobald es keine bezahlten Stellen mehr gab, auf die ich mich bewerben konnte, verwarf ich Journalismus als möglichen Karriereweg, und mit der gleichen Logik schloss ich auch die Arbeit in einem Thinktank oder bei einer NGO aus. Auch dort hätte ich erst einmal eine gewisse Zeit unbezahlt arbeiten müssen, um Erfahrungen zu sammeln und einen Fuß in die Tür zu kriegen, oder ein teures Masterstudium absolvieren, von dem ich nicht wusste, wie ich es finanzieren sollte.
So erging es mir und unzähligen anderen. Für die Arbeit, die mich interessierte – kreative Jobs in der Kunst oder in den Medien –, waren (und sind) unbezahlte Praktika eine Art Übergangsritus. Die Möglichkeit, den gewünschten Berufsweg einzuschlagen, hängt nicht von deinem Talent oder deinen Verdiensten ab, sondern von der Fähigkeit, monate-, wenn nicht jahrelang umsonst zu arbeiten. Selbst wenn ich Jahre mit unbezahlten Praktika durchgestanden, zu Hause gelebt und nebenbei kleine Jobs für ein Taschengeld angenommen hätte – wie lange würde es dauern, bis ich anständig verdiente oder einen festen Job bekam? Alles, was ich über Journalismus gehört hatte, deutete darauf hin, dass das in nächster Zeit nicht der Fall sein würde. Viel wahrscheinlicher würde ich in einer endlosen Tretmühle aus unbezahlter Arbeit feststecken und bis weit in meine Zwanziger hinein umsonst schreiben, ohne Garantie auf einen Job am Ende. Ich verfügte nicht über das nötige finanzielle Sicherheitsnetz, um das Risiko einzugehen, eine ungewisse – und wahrscheinlich schlecht bezahlte – kreative Karriere zu beginnen. Auf Nummer sicher zu gehen schien mir das Beste zu sein.
Stattdessen beobachtete ich, wie diese Jobs von den wohlhabenden Mittelschichttypen, die ich kannte, ergattert wurden. Sie legten eine seltsam puritanische Haltung an den Tag, was das Sichverkaufen angeht, und scheuten sich, Geld als Faktor bei ihrer Berufswahl anzuerkennen. Offenbar waren sie nicht in der Lage oder nicht willens zu erkennen, welche bedeutsame Rolle das Geld bei der Verwirklichung ihrer Ambitionen spielte. In ihrem Buch Steal as Much as You Can untersucht die Journalistin Nathalie Olah, wie es dazu kam, dass das künstlerische und kulturelle Schaffen Großbritanniens von der oberen Mittelschicht dominiert wird. Sie hebt hervor, dass eine für liberale Medien typische Selbstgerechtigkeit eine Kultur geschaffen hat, in der es akzeptabel scheint, jene Menschen aus armen Verhältnissen zu verachten, die dem Ruf nach sozialer Mobilität gefolgt sind, um Armut und sozialer Ausgrenzung zu entkommen. In den frühen Jahren, als wir auf Hauspartys betrunken unsere karrierebedingten Existenzkrisen besprachen, ärgerte ich mich über Leute, die damit prahlten, dass sie sich »nicht ums Geld scheren«. Als hätte diese Einstellung mit einem überlegenen Wertesystem zu tun und nicht damit, dass sie einfach schon wohlhabend waren.
Angehörige der Mittelschicht haben auf dem Arbeitsmarkt Vorteile, die oft weit über ihre finanziellen Mittel hinausgehen und auch viele immaterielle Ressourcen umfassen, die zu ihrer Existenz gehören. Sie kennen die richtigen Leute und benutzen die richtigen Worte. Diese Eigenschaften werden oft als Selbstvertrauen oder sogar Intelligenz bezeichnet, sind aber meistens einfach eine Konsequenz ihrer Klassenzugehörigkeit. Ihre Erziehung sorgt dafür, dass sie die Verhaltensregeln kennen, die für ein erfolgreiches berufliches Umfeld nötig sind, und über die richtigen kulturellen Referenzen und den »guten Geschmack« verfügen, die den Erfolg in kreativen Bereichen ermöglichen. Wie die Soziologen Sam Friedman und Daniel Laurison in ihrer Studie The Class Ceiling über Klasse und soziale Mobilität in Großbritannien feststellen, wurzelt diese Art kultureller Kompetenz in der Regel in der Sozialisation der Mittelschicht und wird überproportional in einem privilegierten, weißen Familienmilieu vermittelt.
Ich erlebte das ein paar Jahre nach meinem Berufseinstieg am eigenen Leib, als der Sohn eines der wichtigsten Kunden meines Arbeitgebers ein dreimonatiges Praktikum absolvierte, um sich bei seinem Vater einzuschmeicheln. Dabei verfügte das Unternehmen weder über ein Praktikumsprogramm, noch hatte er sich beworben oder ein Vorstellungsgespräch geführt. Es war ihm einfach vermittelt worden: ein dreimonatiges Praktikum bei einem der einflussreichsten Medienunternehmen der Welt. Ich sah auch, wie meine Chefs zumindest anfangs davon ausgingen, dass er gut zu ihnen passte, weil er so sprach und so auftrat, als hätte er sein ganzes bisheriges Leben eine private Ausbildung genossen. Doch mit der Zeit wurde schmerzlich deutlich, dass er keine Arbeitsmoral besaß. Er ging, wenn es ihm passte, immer früher aus dem Büro und überließ uns die weniger glamourösen Aufgaben, die es manchmal zu erledigen galt. Es war sein zweites Praktikum nach dem Studium, das erste hatte er bei dem weltweit anerkannten Medienkonzern gemacht, in dem sein Vater arbeitete.
Dies sind die Kennzeichen von Privilegiertheit, einem Zustand, dessen Name nicht genannt werden darf, einem Flickenteppich aus unverdienten Vorteilen, die oft mit unserer Identität zusammenhängen und unsere Wahrnehmung der Welt erheblich beeinflussen. Friedman und Laurison sprechen von versteckten Mechanismen, von denen die Elite angetrieben wird. In letzter Zeit hat sich das Hinterfragen der eigenen und das Aufdecken der Privilegien von anderen zu einer kulturellen Besessenheit entwickelt. Sie wird häufig als Beispiel für die Allüren der Millennials missdeutet, als ein Zeichen unserer Unfähigkeit, mit den harten Realitäten des Lebens zurechtzukommen. Angesichts der Tatsache, dass die Rolle von Privilegien in unserem Leben vom Mainstream lange nicht reflektiert wurde, scheint eine genauere Untersuchung nur gerecht. Unsere Erfahrungen und Erfolge werden jetzt unter die Lupe genommen, um zu erkennen, inwieweit Privilegien, oder das Fehlen solcher, zu einer bestimmten Position und Situation im Leben beigetragen haben.
Im Juli 2018 veröffentlichte das Forbes-Magazin ein ausführliches Porträt von Kylie Jenner, Reality-TV-Star und Unternehmerin, in dem sie den enormen Erfolg ihres Unternehmens Kylie Cosmetics beschrieb.[10] Nachdem Jenner zu Anfang selbst 250000 US-Dollar investiert hatte, entwickelte sich das Unternehmen zu einer gigantischen Schönheitsindustrie, deren Wert auf 900 Millionen US-Dollar geschätzt wurde.[11] Forbes nannte Jenner in dem Bericht die »jüngste Selfmade-Milliardärin der Welt«, was im Internet sofort heftige Reaktionen auslöste. In sozialen und anderen Medien wurde die Behauptung angezweifelt, Jenner sei »self-made«. Sie stammt aus einer wohlhabenden weißen Familie in Calabasas und hatte leichten Zugang zur Unterhaltungsindustrie. (Im Mai 2020 stufte Forbes den geschätzten Wert von Kylie Cosmetics herunter, mit der Begründung, das Unternehmen sei überbewertet worden.[12])
Für Empörung sorgte, dass Forbes die enormen Privilegien, in die Jenner hineingeboren wurde, nicht berücksichtigt hatte. Indem das Magazin sie als self-made betitelte, suggerierte es den Aufstieg von einer Tellerwäscherin zur Millionärin. Nichts wäre weiter von der Wahrheit entfernt. Jenner ist so self-made wie ihre Kurven und ihr berühmter Kussmund – das heißt, sie hat ein wenig nachgeholfen. Tatsächlich wurde dem gesamten Kardashian-Jenner-Clan der Weg an die Spitze durch den Reichtum der Familie und die Nähe zum Ruhm geebnet: Robert Kardashian, der Vater von Kourtney, Kim und Khloé, war ein Anwalt und enger Freund von O. J. Simpson, den er auch vor Gericht unterstützte, während Matriarchin Kris in zweiter Ehe mit dem olympischen Goldmedaillengewinner Bruce Jenner (später Caitlyn Jenner) verheiratet war.
Was bedeutet es, sich selbst oder andere als self-made zu bezeichnen? Ist es ein realistisches Kriterium angesichts der Wirkmacht von Privilegien und wissend, dass viele »eigentümliche Vorteile« (wie die Schriftstellerin Roxane Gay es in ihrem Essay »Peculiar Benefits« nennt[13]) von Geburt an ins Leben eingebettet sind? Das Narrativ von Jenners angeblichem Selfmade-Erfolg ist nicht das Einzige, das den schon vorhandenen Wohlstand und die sozioökonomischen Privilegien unerwähnt lässt. Die Gegenwartskultur ist voll von Erfolgsgeschichten, in denen die reichen Eltern absichtlich verschwiegen werden. Sie haben das Anfangskapital für ein Unternehmen zur Verfügung gestellt oder im Stillen monatlich ein paar hundert Pfund auf ein Bankkonto überwiesen, während ihre Kinder auf den beruflichen Erfolg warteten. Nur wenige Tage nach der Veröffentlichung des ersten Interviews sah sich Forbes gezwungen, seine Definition des Begriffs self-made zu erläutern.
»Zur Klarstellung: Forbes definiert mit self-made eine Person, die ein Unternehmen oder ein Vermögen aus eigener Kraft aufgebaut hat, anstatt es ganz oder teilweise zu erben. Solange das Listenmitglied weder ein Unternehmen noch Geld geerbt hat, wird es als self-made bezeichnet. Aber der Begriff ist sehr weit gefasst und spiegelt nicht angemessen wider, wie weit manche Menschen gekommen sind und wie viel leichter es andere vergleichsweise hatten.«[14]
In Forbes’ Verständnis des Begriffs werden Privilegien also nicht berücksichtigt, obwohl sie ebenso nützlich sein können wie eine finanzielle Erbschaft.
Ist der Begriff self-made wirklich so weit gefasst, oder hat Forbes ihn falsch verwendet, weil der Aufstieg von Kylie Jenner in ein Narrativ passen sollte, das wir mittlerweile erwarten – das der jungen Unternehmerin, die sich ihren Weg zum Erfolg erkämpft hat, oder das der vielversprechenden jungen Kreativen, die man gern als »Stimme ihrer Generation« bezeichnet. Sie stammen zunehmend aus der oberen Mittelschicht, und die finanzielle Freiheit ermöglicht ihnen, die ersten kargen Jahre zu überstehen. (Denken wir nur an die Urheberin von Fleabag, Phoebe Waller-Bridge, die dem Adel entstammt und eine private Ausbildung genoss, oder an Lena Dunham, gut vernetzte Tochter einer wohlhabenden Familie von Künstlern aus Manhattan.)
Es sind Ausflüchte, weitverbreitet unter den Kreativen: Es wird versäumt, den Elternteil zu erwähnen, der zufällig ein Industrieller ist, oder die Umstände, die es ermöglicht haben, trotz geringem Lohn in eine teure Stadt zu ziehen. Wenn ich großzügig bin, interpretiere ich solche Auslassungen als ein Zeichen von Scham. Scham verschont niemanden, wenn es um Geld geht, nicht einmal die Reichen, das muss ich mir oft vor Augen führen. Wir leben in einer Zeit, in der die ökonomische Ungleichheit ungekannte Ausmaße erreicht und gesellschaftliche Wut über die Klassengesellschaft ausgelöst hat. Die Stimmung gegen Milliardäre ist nicht mehr radikal und auch keine Randerscheinung, der demokratische Sozialismus ist dank des Dreigestirns Corbyn, Sanders und Ocasio-Cortez zum Mainstream aufgestiegen, und der Slogan Eat the Rich ist ein häufiger, wenn nicht langweiliger Refrain in den sozialen Medien. Da ist es peinlich, ja fast schon unanständig, mit Silberlöffel im Mund geboren zu sein. Deshalb spielen die Menschen die Unterstützung und Privilegien, die sie genießen, herunter. Familiengeschichten werden umgeschrieben, die Wurzeln in der bürgerlichen Mittelschicht fallen gelassen, der Akzent angepasst und die Allüren der Arbeiterklasse angenommen. Benennst du deine Privilegien, läufst du Gefahr, die Legitimität und Bedeutung deiner Leistungen zu schmälern. Andere könnten denken, deine Erfolge wären dir in die Wiege gelegt worden, zumal das Wort »privilegiert« einen Bedeutungswandel erfahren hat – von einer relativ neutralen Beschreibung des sozioökonomischen Status zu einer Art Beleidigung, mit der kurzerhand die angebliche Ahnungslosigkeit der verwöhnten Reichen bezeichnet wird. Roxane Gay schreibt in »Peculiar Benefits«, die Privilegierten dächten, der Vorwurf der Privilegiertheit ginge einher mit der Annahme, sie hätten es leicht. Da das Leben aber für fast alle hart ist, möchten sie das nicht hören.
Diese semantische Verschiebung hat zur Folge, dass sich privilegierte Menschen oft mit einer Abwehrhaltung wappnen. Nur ungern geben sie zu oder denken darüber nach, welche große Rolle die Privilegien in ihrem Leben gespielt haben. Stattdessen sagen sie etwas wie: »Ja, ich war auf einer Privatschule, aber ich habe auch sehr hart gearbeitet, um dorthin zu kommen, wo ich jetzt bin.« Dahinter steht, dass das Privileg, das eine Privatschulbildung bietet, gar nicht verstanden wird. Dabei gibt sie in fast absurder Weise den Ausschlag zu den eigenen Gunsten, was sich im Lauf des Lebens immer wieder zeigt. Im Grunde wäre die umgekehrte Formulierung »Ja, ich habe sehr hart gearbeitet, aber ich war auch auf einer Privatschule« wohl zutreffender. Diese Vergesslichkeit in Bezug auf das eigene Vermögen wird in The Class Ceiling erwähnt. Nach der Befragung Hunderter Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen stellten Friedman und Laurison fest, dass die Menschen aus der oberen Mittelschicht ihre Karriere gern als Ergebnis von Leistung, Talent und, vor allem, harter Arbeit darstellten. Ob ihr Erfolg berechtigt war, hinterfragten sie nicht.
In einem Artikel im Guardian schrieb die Schriftstellerin Lynn Steger Strong über das »schmutzige Geheimnis« der Verlagsbranche, wie sie es nennt: Das Schreiben wird meistens nicht gut bezahlt (es sei denn, man ist sehr, sehr erfolgreich), die meisten hauptberuflich Schreibenden sind auf irgendwelche weichen Privilegien gebettet und haben eine weitere Einkommensquelle, etwa einen Treuhandfonds, oder sie leben in einer Beziehung mit einem gut verdienenden Menschen.[15] (Die Selbsttäuschung trifft meiner Meinung nach besonders auf Schriftsteller zu. Sie stehen vielleicht stärker als andere Kreative unter dem Druck, wie Kopfarbeiter aufzutreten, und philosophieren verträumt in ihre Moleskine-Notizbücher hinein, ohne sich um Banalitäten wie Rechnungen oder Steuern kümmern zu müssen.) Steger Strong meint, es wirke sich vielfältig aus, wenn die Quelle solcher Freiheiten von denen, die sie genießen, nicht erwähnt werden. So werde eine Illusion aufrechterhalten. Die Lebensentscheidung und die besonderen Leistungen mancher Personen sehen tragfähiger und lohnenswerter aus, als sie tatsächlich sind. Auch Friedman und Laurison befürchten in The Class Ceiling, dass das Herunterspielen finanzieller Unterstützung aus dem Elternhaus zur Folge hat, ihre wahre Bedeutung für das Berufsleben und ihren prägenden Einfluss auf den individuellen Lebensweg weitgehend zu verkennen.
Diese Beobachtungen bringen auf den Punkt, warum das Aufspüren von Privilegien zu einer so weitverbreiteten sozialen Praxis geworden ist, vor allem unter den jungen Medienschaffenden, wo es sich zu einer Art Leistungssport entwickelt hat. Wenn du genug Zeit auf Twitter verbringst, wirst du schnell bemerken, dass dich Schaulustige auf eine »zu schöne« Wohnung oder eine verdächtig steile Karriere hinweisen – vielleicht wirst du sogar einer von ihnen.
Um zu vertuschen, dass ihnen unter die Arme gegriffen wurde, wird in der bürgerlichen Mittelschicht oft so getan, als wären beruflicher Erfolg und die daraus resultierenden finanziellen Entlohnungen mehr oder weniger ein persönliches Verdienst. Diejenigen unter uns, die das Gegenteil kennen, ärgern sich über diese Täuschung, zumal solche Unwahrheiten nicht ohne Folgen bleiben. Denn indem sie ein falsches Bild von der Leichtigkeit des beruflichen Erfolgs zeichnen, vermitteln privilegierte Menschen anderen, weniger Privilegierten einen falschen Eindruck von deren Aussichten – das ist eben die Aufrechterhaltung der Illusion, von der Steger Strong schreibt. Es wird auch nicht gesehen, dass eine einzelne privilegierte Person den Nachteil einer anderen verstärken kann. Die finanziellen Möglichkeiten der einen, die ihr ein sechsmonatiges unbezahltes Praktikum erlauben, stützen ein System, in dem die andere, die solche Möglichkeiten nicht hat, bestraft wird.
Bei den Ausflüchten, die sich manchmal um Privilegien ranken, wird oft an das Recht auf Privatsphäre appelliert. Es ist sicher richtig, dass keine Person anderen gegenüber Aufrichtigkeit in Bezug auf ihre Privilegien schuldet. Wie viel besser wäre es jedoch, wenn mehr Menschen eine solche Ehrlichkeit als das erkennen würden, was sie ist: ein moralisches Gebot, eine Art soziale Abgabe, die sie auf ihr Glück entrichten sollten.