Читать книгу Frauenschneider Gutschmidt - Otto von Gottberg - Страница 4

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Seufzend kehrte Frau von Hemmern sich von der Schreibtischplatte nach links zum Fenster und blinzelte durch das Glas von Brille und Scheibe in die Königgrätzer Strasse. Es ging mit dem Lesen nicht mehr. Wie eben die Ziffern auf den Rechnungen durcheinander tanzten, verschwamm jetzt auch die Aufschrift eines in Höhe ihres Kopfes vorbeihuschenden Strassenbahnwagens. Wahrscheinlich sollte sich anderen lebenslänglichen Leiden Blindheit gesellen. Sie wendete sich wieder ins Zimmer und suchte mit den müden Augen im stubenbleichen Gesicht unter grauen Haaren die Dienerin, die am dritten, der Herrin fernsten Fenster der Stube nähte:

„Kunze.“

„Jawohl, gnädige Baronin,“ antwortete das immer fröhliche Stimmchen aus der Ecke. Eine Schere in der Hand trippelte die hagere Kleine an den Schreibtisch zur Herrin. Seltam, dass das Gesicht der Gleichaltrigen mit stets munterem Lachen noch so gesunde Farbe trug. Rot wie Borsdorfer Äpfel leuchteten die vollen Backen unter weisser Kappe.

„Kunze, wir müssen zum Augenarzt. Ich werde blind.“

Wohl klang Seufzen, aber auch Behagen durch der Herrin Stimme. Sie war nur zufrieden, wenn sie zu leiden glaubte. Doch kränkelte sie genug und durfte sich nicht noch Sorgen um ihr Augenlicht machen.

„I bewahre, Frau Baronin. Es beginnt zu dunkeln.“

Die Herrin schüttelte den Kopf:

„Um vier Uhr? Und vergessen Sie auch nicht, dass ich einnehmen muss?“

„Nein, nein! Ich habe es doch seit nun fünfundzwanzig Jahren nie vergessen. Noch fehlen fünf Minuten an Vier, aber es ist Januar und trübes Wetter. Ich mache Licht, dann können Frau Baronin lesen.“

„Versuchen werde ich es, Kunze.“

Sie sprach, als sei sie der nicht nur festen, sondern eigentlich auch frohen Überzeugung, dass sie im hellsten Licht nie wieder deutlich sehen werde.

Die Kunze schaltete das Licht ein und schloss die Vorhänge der drei Fenster.

„Geht es?“

Die Herrin senkte das Gesicht wieder über den Schreibtisch und ein Päckchen loser Blätter, das zwischen Pillenbüchsen und Arzneiflaschen, zwischen Apothekerschachteln alt und neu, gross und klein kaum Platz fand.

„Es geht wirklich, Kunze! Aber zum Augenarzt müssen wir doch. Es sollte vielleicht eine Warnung sein und vorbeugen kann nie schaden.“

„Ja, Frau Baronin. Darum nehme ich immer die Medizin mit und bleibe gesund. Wenn ich aber krank werde, habe ich es schon in mir.“

„Das hat was für sich, Kunze! Doch die Ärzte wollen es nicht wahr haben. Ist es endlich Zeit?“

„Schlag Vier,“ nickte die Dienerin und trippelte zum Tisch in der Ecke neben der Tür, nahm zwei von den Löffeln, die um eine entkorkte Flasche Nauheimer Sprudel lagen, und trug sie zum Schreibtisch. Einen füllte sie langsam aus der vor einer Stunde vom Apotheker gefüllten Flasche und hielt ihn unter die Nase. Nach Lakritzen roch der dickflüssige Saft. Der Doktor hatte wohl wieder gedacht, die Krankheit sei nicht schlimm. Überhaupt die Ärzte! Manche nahmen der Herrin das einzige Glück und meinten, sie sei gar nicht krank. Der alte Geheimrat freilich drohte immer gleich mit dem Schlaganfall.

„Hier, gnädige Baronin.“

Der Herrin hielt sie jetzt den Löffel unter die Nase.

„Riecht nicht schlecht. Aber probieren Sie erst, Kunze!“

Wie die Kunze nur den Mut fand, eine ungekostete Medizin so schnell zu verschlucken! Als ob es ihr Vergnügen mache, schmatzte sie mit den Lippen:

„Wird schmecken, Frau Baronin!“

Mit fast ungeduldiger Hast griff die Herrin nach dem zweiten Löffel und liess ihn füllen. Die Augen schliessend, schlürfte sie langsam die braune Lösung und holte mit der Zunge den letzten Tropfen von der Oberlippe. Heiterer als vorher blickte sie auf:

„Dass das Rezept nicht verlorengeht, Kunze! Wirklich einmal was Gutes, — süss, aber nicht widerlich, denn es hat Pikantes. Überhaupt gefällt mir der neue Doktor. Vielleicht weiss er auch was Wohlschmeckendes für die Augen. Hat er denn wirklich gesagt, nur alle zwei Stunden einen Esslöffel?“

„Das hat er gesagt, Frau Baronin, und steht auf der Flasche.“

Frau von Hemmern rückte enttäuscht an der Brille. Ihre Brauen stiegen zur gerunzelten Stirn:

„So sind sie. Ist es bitter, dann sagen sie: alle dreissig Minuten. Schmeckt es aber gut, dann steht drauf: dreimal täglich. Nehmen wir den nächsten Löffel um halb Sechs. Eine halbe Stunde ist keine Stunde und zu zeitig kann nicht schaden. Um Fünf bekomme ich auch Pillen.“

Sie griff wieder nach den Blättern auf dem Schreibtisch, beugte sich über die seit Neujahr eingegangenen Rechnungen und sonderte sie. Auf ein Blatt Papier schrieb sie dann zwei Zahlenreihen und addierte ihre Posten. Die Ziffer links nannte die für den Haushalt verbrauchte Summe und die andere das von ihrer Tochter Frida verausgabte Geld.

Es war erstaunlich viel. Kopfschüttelnd barg sie das Gesicht zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand, lüftete mit der linken den Vorhang und starrte betrübt in den schmutziggelben, zertretenen Schnee auf dem Strassendamm.

Fridas Kleidung kostete kaum weniger als der Haushalt.

Frau von Hemmern nahm die Brille ab. Obschon sich die Blindheit des Alters meldete, schien sie ohne Gläser die auf dem jenseitigen Bürgersteig zum Bahnhof wandernde Schar munterer Soldaten in Grau am klarsten zu sehen. Die Pakete unter den Armen oder am Tornister sollten einen Rest der Urlaubsfreude in die Kampfstellung tragen. Zeitungsjungen boten den ein Lied Anstimmenden Nachmittagsblätter an. Sie dankten lachend. Immer sangen und lachten sie noch, obwohl der grausige Krieg schon sechs Monate währte.

„Kunze, ist der Nachmittagsbericht da?“

„Nein, Frau Baronin!“

„Dass Sie ihn durchlesen, ehe ich ihn sehe! Schlimmes mag ich nicht hören. Es regt mich auf, und siegen müssen wir doch! So heisst es ja, und darum leben die Leute, als wäre Frieden, gehen ins Theater und sparen weder mit Geld noch Butter und Brot. Wozu? Siegen müssen wir doch!“

Ein zweispänniger Wagen kam vor dem Haus zu halten. Das Knallen der Kutscherpeitsche rief nach dem Pförtner.

„Kunze, meine Tochter kommt, ich möchte sie sprechen.“

Nur eine Minute verging, bis Frida eintrat. Das Bild, das sie im Türrahmen bot, liess fast den Kummer über ihr verschwenderisches Geldausgeben vergessen. Für Luxus geboren und geschaffen schien das schöne Kind. Vom Chinchillamützchen auf blauschwarzem Haar bis herunter zu den Schuhen war sie gekleidet in Grau von harmonisch abgetönten Schattierungen. Als sie mit heiterem Grusswort an den Schreibtisch trat, schien der breite weisse Rahmen ihrer lachenden braunen Augen das dunkelhäutige Gesicht zu erhellen. Die Hände blieben im Muff, während sie sich zum Kuss gegen die Stirn der Mutter neigte. Dann stand sie in Erwartung, das Kinn auf hohem Hals ein wenig vorgeschoben und das linke Ohr wie in Frage nach der Mutter Wünschen geneigt. Die Lippen in dein von Winterkälte erfrischten und geröteten Gesicht schürzte wie immer ein Lächeln, das sich des Lebens, ja schon des körperlichen Daseins zu freuen schien.

„Machen, ich gebe dir ein Stündchen, das ich eigentlich beim Tee mit Nernheims verbringen wollte. Um Sechs muss ich mich umkleiden, weil später Dernthals vorfahren und mich zum Theater mitnehmen. Sie sind seit gestern in Berlin, aber ich bat, uns keinen Besuch zu machen, weil Papa krank ist.“

„Gut, dass du an ihn erinnerst! Kunze, lassen Sie uns allein! Gehen Sie nach oben zur Krankenschwester und berichten Sie heute abend, wie es steht!“

Frida wartete, bis die Dienerin draussen war:

„Du machst mich neugierig, Machen. Sonst hast du vor Kunze keine Geheimnisse.“

Sie legte Jacke und Mütze ab und warf sie zu Muff und Boa auf das winzige Sofa dicht beim schräg ans Fenster gestellten Schreibtisch.

Frau von Hemmern sah der Niedersitzenden wohlgefällig zu. Mit Bewegungen, weich und flüssig, obwohl weitausgreifend und lang wie die wohlgeformten Glieder, zog Frida die Handschuhe von schön gerundeten Unterarmen. Im Warten auf der Mutter Worte streichelte sie zärtlich die zarte Haut zwischen Ellbogen und Handgelenk. Es tat gut, sie mit den Fingern zu liebkosen und dann auch das weiche, warme Pelzwerk auf dem Sitz zu streicheln. Mit wirklichem Genuss fühlte sie gutes Rauchwerk oder Samt und Seide unter den Fingern. Schon jetzt freute sie sich auf das Umkleiden nach dem Gespräch mit der Mutter, denn Vergnügen war es auch, auf dem Körper das wohlige Rascheln von neugebügeltem Batist und das sanfte Reiben zarten Spitzengewebes zu spüren. Die Mutter hob den Kopf:

„Wenn du da sitzt in dem Kleid, das wie ein Handschuh um die Hüften liegt, und ich sehe, dass zu den Perlen um deinen Hals alles passt, als wäre es eigens für dich und das graue Kostüm gemacht, verstehe ich es wohl.“

„Verstehst du was, Machen?“

Die Mutter legte die von Grübchen gefurchte, fleischige kleine Hand auf das Päckchen loser Blätter:

„Dass du so viel Geld ausgibst, Frida.“

Die Tochter beugte sich vor: „Ach die Neujahrsrechnungen, Machen. Wie du den Menschen enttäuschen kannst. Ich dachte, du wolltest mir Liebes sagen!“

„Das möchte ich auch, Kind. Gewiss sieht alles an dir hübsch, geschmackvoll und doch einfach aus, aber du musst lernen, dich einzuschränken.“

Frida liess den auf der Sofalehne liegenden rechten Arm fallen:

„Will Papa nicht bezahlen?“

„Papa wird bezahlen, aber du musst endlich begreifen, dass du später ein armes Mädchen sein wirst. Nun dein armer Bruder tot ist — am 1. Februar kommt der zweite Jahrestag — geht Herkelsbrühl an Vetter Ernst, und dir bleibt nichts oder wenig. Vom Gehalt konnte Papa als Diplomat nicht leben. Auch hatten wir doppelten Haushalt zu führen, weil meine Leiden mich hinderten, ihn ins Ausland zu begleiten. Vielleicht hätten wir auf mancherlei verzichten können, aber wer ahnte bis zu Heinrichs Tod, dass wir dich unversorgt zurücklassen müssten, armes Kind! Auch weisst du, dass unser Barvermögen in England beschlagnahmt ist.“

Frida sprang lachend aus dem Sofa:

„Mach’ dir keine Sorgen, Machen. Ihr beide lebt noch lange, und ehe ihr die Augen schliesst, finde ich eine gute Partie. Das Geld in England erinnert mich übrigens an ein Gespräch bei Nernheims. Vom Fürsten Blücher, dem die Engländer die Güter konfiszierten, war die Rede, und ein verwundeter Hauptmann von Sülow meinte, den Herrschaften, die sich in Friedenszeiten in der Fremde angekauft hätten, weil ihnen unser Leben nicht gut genug war, geschähe recht, wenn der Feind sie ausplündere.“

Frau von Hemmern grollte:

„Ja der Krieg, Kind! Zum Schaden bringt er uns noch Spott. Aber wenn du dein Vorhaben nur wahrmachen und die gute Partie suchen wolltest! Warum gehst du Vetter Ernst geflissentlich aus dem Wege? Wohlhabend genug ist er an sich und seit Heinrichs Tod Erbe von Herkelsbrühl.“

Über den Kopf der Mutter blickte Frida auf die Gardine und runzelte die Stirn. Schon der Name des Vetters weckte Widerwillen. Im Ton eines Vorwurfs fragte sie:

„Nanntest du ihn nicht früher ein Ekel?“

Machen schien verlegen:

„Möglich, aber du bist siebenundzwanzig Jahre alt und fähig, einen Mann nach deinen Wünschen zu erziehen. Ich habe mich immer als Papas Eigentum, als Ding oder Sache in seinen Händen gefühlt. Du wirst einen Mann als deine Sache oder dein Eigentum betrachten. Ausserdem gehört ihr durch das Majorat zusammen. Vergiss nicht, dass du kein Backfisch mehr bist! Heutzutage führen sie den Herren schon die ganz Jungen noch in kurzen Kleidern, wenigstens beim Tennis vor.“

Wieder konnte Frida lachen. Sie stützte die Hände auf die schlanken Hüften und straffte den geschmeidigen Leib zu voller Höhe:

„Die Frau, die sich zu kleiden und zu pflegen versteht, ist dafür heute noch als Vierzigerin jung. Wettbewerb fürchte ich nicht, Machen. Auch waren Herren genug da, aber keiner gefiel mir.“

Sie hob die Hände, spielte mit den Fingern und blickte nachdenklich auf ihre Ringe:

„Ich bin wohl auch darin zu anspruchsvoll, und die Freiheit, die heutzutage das Mädchen eigentlich mehr als die junge Frau geniesst, schien mir begehrenswerter als die Aussicht, mir befehlen zu lassen von einem der Herren, die nicht schnell genug laufen können, wenn ich sie bitte, mir Schirm oder Umhang zu holen. Sie imponieren mir nicht. Vor jedem hübschen Gesicht werden sie zu Schosshündchen, die nicht nur freudig, sondern auch dankbar apportieren. Manchmal erwarte ich sie bellen zu hören.“

„Du gestattest dir auch der Freiheiten etwas viel, Frida.“

„Und du sprichst als Frau einer anderen Zeit, Machen. Wie sollte ich meine Gewohnheiten ändern, ohne mich von der Welt und jedem Verkehr abzuschliessen? Papa lebte im Ausland und wäre noch Gesandter in Brüssel, wenn der Krieg ihn nicht heimgerufen hätte. Du aber kannst weder ihn in die Fremde noch mich in Gesellschaft begleiten. Also muss ich mich zu Reisen und Vergnügungen meinen Bekannten anschliessen.“

Frau von Hemmern nickte:

„Merkwürdig, dass sie dich so häufig einladen.“

„Aus Menschen- oder Nächstenliebe tun sie es nicht, Machen. Sie glauben auf ihre Kosten zu kommen.“

Wohlgefällig wieder an ihrer hochhüftigen, schlanken Gestalt herunterblickend, schlenderte sie durch das Zimmer.

„Ich sehe gut aus, ziehe mich hübsch an, verstehe zu unterhalten und wirke dekorativ. Darum sehen mich Freundinnen gern in ihren Räumen. Geladene, die mich bei ihnen treffen, wissen: Hier ist etwas los, hier verkehren Leute, die zu kennen der Mühe wert ist.“

Draussen schlug eine Hand an die Tür. Das Hausmädchen trat ein und brachte Machen eine Karte. Freude erhellte ihr Gesicht. Mit froh lächelnden Lippen las sie laut:

Bartholomäus Gericke

Kirchenkastellan.

Frida hob die Augen zu den elektrischen Birnen unter der Zimmerdecke. Die Mutter hatte schon erzählt, sie habe die Bekanntschaft des Gesundbeters bei einer Freundin gemacht, und ihn aufgefordert, bei ihr Sitzungen zu halten.

„Ich lasse bitten, ich lasse sehr bitten.“

Frau von Hemmern hob sich schwerfällig aus dem Stuhl und blickte prüfend am schlichten schwarzen Wollkleid herab, als frage sie, ob sie den grossen und guten Mann in so einfachem Gewand empfangen dürfe. Hastig flüsterte sie:

„Stossen wir uns nicht an dem ‚Kirchenkastellan‘, Fridchen. Der wundertätige Mann ist von so rührender Bescheidenheit, dass er den in der Jugend geführten Titel durch sein ganzes edles Leben trägt.“

Zur Tochter trat sie unter die Lichterkrone, um stehend dem Besucher würdigen Empfang zu bieten. Durch die von draussen geöffnete Tür schien dann ein Geistlicher zu treten.

Um die hagere Gestalt des Fünfzigers mit glattrasiertem Gesicht lag eng ein zugeknöpfter Gehrock mit langen Schössen über schwarzen Beinkleidern. Oben schloss er über schwarzer Deckkrawatte und weissem Stehkragen, der vorn ohne Einschnitt, also wohl hinten angeknöpft war. Auf dem graugelben Gesicht lag an Farbe nur die Blauschwärze des vom Rasiermesser durchschnittenen Bartes. Schmal und knochig sprang die Nase heraus. Weit standen grosse Ohrmuscheln vom Kopf unter überlangem dunklem Haar. Den Scheitel fast bis zur Höhe seiner Hüften senkend, verbeugte er sich:

„Gruss des Herrn, meine Damen!“

Die Sprache klang ölig. Die dunklen Augen rollten.

Frida senkte kurz den Kopf. Die Mutter fragte sich, ob ihr Knicks tief genug gewesen sei, während sie den Besucher zum Sofatisch neben der Tür führte.

Schüchtern schien der grosse Mann nicht. Die Mutter sass kaum im Sofa, als er den hageren Leib zwischen Tisch und Sitz durchwand, dicht neben ihr Platz nahm und einen übergrossen alten Zylinder auf den Tisch legte.

„Meine Zeit ist beschränkt, denn des Menschen Tage sind gezählt und unser Wallen ist kurz.“

In der Unterhaltung bei der Geheimrätin Stendal glaubte er die Hausherrin durchschaut zu haben. Die Baronesse schien klüger. Sie durfte nicht zu Worte kommen. Nur die Alte sollte reden und ihm jene Offenbarungen machen, durch die er am schnellsten das Vertrauen seiner Kundschaft gewann.

„Die gnädigste Baronin haben mich über Ihre Leiden schon unterrichtet. Bevor ich im Bund mit dem Allmächtigen die Heilung beginne, muss ich den Lebenslauf meiner Patienten kennen. Erzählen Sie, Frau Baronin!“

Er sprach knapp, selbstbewusst und herrisch, denn nur die harte, aber nicht die lockende Hand konnte Schafe zur Schur packen. Opfer einzuschüchtern war ihm Methode. Mit Genugtuung hörte er Frau von Hemmern stammeln. Errötend wie ein junges Mädchen, begann sie auf sein Zureden die Erzählung ihres Lebens. Frida blickte in peinlichem Unbehagen aus ihrem Sessel zu den Kronen unter der Zimmerdecke. Der Mann war frech und widerwärtig, aber Mamachen glücklich, wenn sie Quacksalbern mit oder ohne medizinisches Wissen gegenübersass. Warum ihr die einzige Lebensfreude nicht gönnen? Gelassen lauschte sie der ihr bekannten Lebensgeschichte. Oft unterbrach der Kastellan die Redselige mit rauhem „Überflüssig“. Dann wieder stellte er Fragen, die ungehörig schienen, doch mochte sie die mit fast ehrfürchtiger Verlegenheit Auskunft gebende Mutter nicht kränken.

Für heute wusste Gericke genug. Er sah die Möglichkeit, bei späteren Gesprächen tiefer in die Geheimnisse eines Haushalts und einer Familie zu dringen. So machte er sich Patienten gefügig. Misstrauen gegen das schweigende, stirnrunzelnde junge Mädchen liess ihn den Gang der Erzählung beschleunigen, obwohl er auf eine Sitzung von zwei Stunden, also eine Einnahme von vierzig Mark gerechnet hatte.

Frau von Hemmern schloss aufatmend:

„So bin ich reich an Leiden, aber arm an Erleben gewesen. Statt mich zum Sprechen zu veranlassen, hätten Sie erzählen sollen, wie Sie Ihr Dasein so segensreich gestalten konnten!“

Der Kastellan schien erfreut. Er lächelte. Es bot sich doch noch Gelegenheit zum Verdienen der vierzig Mark!

Seine hageren Glieder schienen breiter, als er sich bequemer ins Sofa setzte. Ernst und selbstgefällig hob er die Brauen:

„Der Herr hat wirklich ein Wunder an mir getan. Vor etwa zwölf Jahren wollte er mir rechte Gunst erweisen und schickte mich in die weite Welt — nach Amerika.“

Freundlicher, zufriedener ward sein Lächeln. Er machte eine Pause, um Neugier und Erwartung der Zuhörerinnen zu mehren. Die Augen hafteten auf dem verregneten Filz des alten Zylinders. Sie sahen Bernhard Gericke, den damaligen Kastellan der Petrus-Kirche in Rixdorf, heute Bartholomäus, den gefeierten Helfer und Betgenossen von Damen der Berliner Gesellschaft. Vor zwölf Jahren hatte er einmal zu oft den Klingelbeutel in seine Tasche geleert. Furcht vor Strafe trieb ihn zu Minna, seiner mit einem Frauenschneider verheirateten Tochter. Sie gab ihm fünfhundert Mark, die ihn noch gleichen Abends nach Hamburg und am nächsten Morgen zu Schiff nach Neuyork trugen. Wie weit lag das zurück! Er durfte wirklich lächeln, wenn er des ersten Tages in der Neuen Welt dachte.

„Vom Schiff ging ich in Neuyork längs einer der breiten, schnurgeraden Avenuen auf der Suche nach einem Quartier zur Stadt hinauf. Der Zufall oder richtiger des Allgütigen Wille liess mich von der dritten Avenue in die siebenundvierzigste Strasse einbiegen. Ich kam an eine Kirche, wie ich später erfuhr, die des zweiten Lesers der Gemeinde der Christian Science. Die Prediger unseres Glaubens heissen nämlich Leser. In Amerika sind es meist Leserinnen, da auch Frau Eddy“ — er legte die Hand an die Brust und neigte den Kopf vor dem Namen der grossen Bauernfängerin — „eine Frau war. Vor dem Portal standen Herren und Damen, die Vorübergehende in die Kirche luden. Ein junges Mädchen nahm auch mich bei der Hand und zog mich in die Tür. Mit Beschämung muss ich bekennen, dass ich nur wider Willen folgte. Drinnen sah ich ein grosses Kirchenschiff mit Andächtigen gefüllt und vor dem Altar die Leserin hinter ihrem Buch an einem Pult. In die Säulengänge zu beiden Seiten des Schiffes waren offene, holzumwandete kleine Zimmer oder Nischen gebaut. In den Stübchen zur Rechten flüsterte je ein Herr auf eine Dame und in denen zur Linken je eine Dame auf einen Herrn ein. Dort bekehrten Leser niederen Grades eben von der Strasse geholte Neulinge. Unsere Kirche gewinnt in Amerika die Männer durch die Frauen und die Frauen durch Männer.“

Er sah jetzt auch Frida aufmerksam lauschen. Über ihr Gesicht huschte ein spöttisches Lächeln. Sie wusste, wie die Wissenschaftler in Amerika Seelenfang übten. Um hübsche Augen lachen zu sehen, liess sich der einsame Mann der Grossstadt bekehren. Die alte Jungfer hoffte in ihrem Apostel einen Gatten zu finden. Der Flirt ging in den Kirchen der Christian Science um. Gericke freute sich der Aufmerksamkeit seiner Zuhörerinnen.

„Auch meine Leserin führte mich in eine Nische. Dort erst stellte sie fest, dass ich der englischen Sprache nicht mächtig war, und rief eine Deutsch-Amerikanerin. Schliesslich kam vom Altar auch die Leserin. Alle Damen bemühten sich mit eifrigster Liebenswürdigkeit um mich. Ich trug mich damals wie heute“ — seine behaarte Hand wies auf das Pastorenkleid — „und die Amerikanerinnen vermuteten darum einen deutschen Geistlichen in mir.“

Zu erwähnen, dass er sich als solchen ausgegeben hatte, war nicht nötig. Er schilderte, wie er ein gelehriger Novize der Sekte ward. Sie speiste, kleidete, hauste ihn und schickte ihn endlich als Apostel nach Berlin. Von Minna hatte er gehört, dass Pfarrer Rumberg von der Rixdorfer Petrus-Kirche die Bestrafung seines flüchtigen Kastellans dem Himmel überlassen wolle.

„Und in Berlin?“ fragte Frau von Hemmern in gespannter Erwartung, aber die Kunze trat ein. Ihr Gesicht kündete Unheil. Die Farbe ihrer Backen war noch dunkler als sonst.

„Frau Baronin, es steht oben schlecht. Wir haben schon nach dem Geheimrat geschickt, und er geht gerade die Treppe hinauf. Vierzig Grad Fieber hatte die Schwester gemessen.“

Frida hob die Hände zur Brust:

„Machen, vierzig Grad Fieber!“

Aber die Mutter wiegte mit einem bedauernden Blick auf den Kirchenkastellan den Kopf:

„Die Herren sind gleich so empfindsam. Mein Mann war nie ernstlich krank, und nun er einmal liegt, nimmt es ihn mit. Aber die Blinddarmoperation ist glücklich verlaufen und die Folgen übersteht heutzutage jeder. Auch haben wir den besten Helfer hier.“

Ihre Hand wies gegen den Besucher. Doch der Kastellan stand auf und glättete mit flinkem Griff in die Knöpfe das Brusttuch des schwarzen Rocks. Wohl nickte er, als sei ihm sofortiges Heilen des Gesandten ein leichtes, aber fragte auch argwöhnisch:

„Wer ist der Geheimrat?“

„Dr. Sünder, der bekannte Chirurg, der meinen Mann operiert hat.“

Über das Gesicht des Kastellans huschte ein Schatten. Er kannte das Gesetz zu gut, um seinen Klienten das Befragen von Ärzten zu verbieten, aber von ihm hören durften sie nicht. Auch hatte der alte Sünder — ein Grobian — ihm schon einmal den Weg vertreten. Es schien geraten, der Sitzung ein Ende zu machen.

„Frau Baronin, mit meinen ärztlichen Kollegen konkurriere ich nicht. Ich gönne ihnen ihr Brot, aber nie dürfen sie von meinen Besuchen erfahren. Für heute — Gruss des Herrn, meine Damen!“

Der Schlusssatz klang wieder wohlwollend und beruhigte die über den plötzlichen Aufbruch erschreckte Frau von Hemmern. Mit der Bitte, er möge morgen um die gleiche Stunde vorsprechen, drückte sie warm des Eilenden Hand. Die Kunze bat die Herrin, nach dem Kranken zu sehen. Seufzend schritt sie zur Tür und legte die Hand auf die Klinke:

„Begleitest du mich, Kind?“

„In Papas Schlafzimmer? Wo denkst du hin, Machen.“

Frida griff nach Muff, Jacke und Handschuhen, aber liess die Sachen wieder fallen. Das Umkleiden schien überflüssig. Ausgehen konnte sie nicht, denn vierzig Grad Fieber waren ernst zu nehmen. Auf der Mutter Rückkehr wartend, durchschritt sie, die Hände auf den Hüften, das Zimmer. Ihre Augen hafteten auf einem Bild an der Wand. Sie blieb stehen. Der Alte mit Vatermörder und breiter Binde unter dem kahlen starkknochigen und willensharten Gesicht war der Grossvater, von dem die heute lebenden Hemmerns stammten. Vor einem halben Jahrhundert geadelt, hatte der Kinderlose auf der westfälischen Erde, aus der er als ein Grosser der Schwerindustrie Reichtümer hob, das Majorat Herkelsbrühl gegründet und die Erlaubnis zum Vererben auch des Freiherrntitels an bürgerliche Agnaten erwirkt. Der oben im Krankenbett liegende Vater trug ihn als ältester Neffe. Ein jüngerer, der Vater des Vetters Ernst, war früh gestorben.

Wo Machen nur blieb? Fast eine Viertelstunde musste sie oben sein. Stand es schlimm um den Vater, der ihr eigentlich ein Fremder war? Selten und nur als Besucher vom Ausland kam er in die Atmosphäre des Spitals und der Apotheke im mütterlichen Haus, aber niemals hatte er seinem Kind einen Wunsch versagt.

Sie hörte Tritte auf der Treppe. Die Mutter öffnete die Tür. Ihre Hand hielt ein Riechfläschchen an die Nase. Also war sie um ihre Ruhe gekommen.

„Er fiebert stark und redet irres Zeug, das ich nicht verstehen kann. Der Geheimrat wollte sich noch nicht äussern.“

Schlimmes schien Machen nicht zu befürchten. Aber müde schleppte sie sich zum Schreibtisch. Frida umfasste ihre Schulter und zog sie in das kleine Sofa. Als Stärkere musste sie Machen an Tagen der Sorge stützen. Den rechten Arm um sie legend, strich sie mit der Linken über den schlichten grauen Scheitel. Sie spürte ein Zittern unter ihren Fingern und wohl darum plötzlich ein Ahnen von Schrecklichem. Statt der Mutter zuzureden, wartete sie schweigend.

Endlich riss Sünder, der Grobian, die Tür auf. Ernst, düster, ja vorwurfsvoll blickten die blanken blauen Augen, zu denen ein viereckiger weisser Vollbart über die Backenknochen hinaufwuchs. Er verneigte sich kurz, rieb die Hände aneinander und nagte an den Lippen. Das Bild der dem sterbenden Mann und Vater fern müssig Sitzenden verdross ihn. Sie waren von den Frauen, die er leere nannte, weil leer, wie gemeinhin ihr Schoss, ihr Kopf und ihr Leben war. Warum strickten sie nicht Strümpfe für Soldaten im Feld? Strafe verdienten sie.

„Baronin“ — seine Stimme war rauh und die Geste grob — „gehen Sie hinauf, wenn Sie Ihren Herrn Gemahl noch am Leben finden wollen!“

Frida hob die Hand zum Kopf, der schwindelnd gegen die Lehne fiel, und fühlte die Mutter gegen ihre Schulter sinken. Aber sie war die Stärkere und musste die Schwache stützen. Sie umfasste die Aufschluchzende und zog sie auf die Füsse. Der Arzt schritt voran. Als er die Tür zum Krankenzimmer öffnete, schien es Frida, als erwache der Vater aus dem Delirium. Flackernde irre Augen schlug er zu den verstörten Gesichtern der Seinen auf. Die Pupillen verengten sich noch einmal. Er bewegte sogar die Lippen und wollte wohl sprechen, aber dachte vielleicht, dass er Frau und Tochter wenig Tröstliches sagen könne, denn müde kehrte er ihnen und dem Leben den Rücken und die Augen zur Wand. Eine Viertelstunde ging. Die Mutter schluchzte im Sessel, den die Pflegerin neben das Kopfkissen geschoben hatte. Frida zitterte am Fussende des Lagers. Die Hände auf die Messingstange gestützt, starrte sie aus brennenden Augen auf des Vaters Kopf, der plötzlich in den Kissen rollte.

Da nahm der Arzt die Finger vom Puls des Freiherrn:

„Gnädige Frau, Ihr Herr Gemahl hat nicht lange gelitten.“

Die Augen schliessend verbeugte er sich, als wollte er sagen: „Meine Pflicht ist getan, euch mag ich nicht helfen.“ Vom Bett tretend, gestand er sich dann, sein Glaube, dass die Damen die nackte Wahrheit hören könnten, habe ihn wohl doch getäuscht. Laut aufschreiend warfen sie sich am Sterbebett in die Knie. Die Frau umklammerte des Toten Hand, als wolle sie ihn nicht lassen. Die Tochter faltete die Finger und legte den bebenden Kopf darauf. So blieben sie, bis er die Fassungslosen von der Schwester aus dem Zimmer führen liess.

Sie gingen nicht zur Nuhe und durchwachten die Nacht. Weinkrämpfe schüttelten die Mutter. Mut konnte Frida ihr nicht zusprechen. Ihr war, als könne auch sie sich nicht aufrecht halten. Dabei machte sie sich Vorwürfe, dass ihre Tränen nicht nur dem Tod des stillen, gütigen Vaters galten. Sie weinte noch mehr über ihr eigenes Geschick. Im Schweigen der stillen Nachtstunden sah sie ihre Zukunft für immer vernichtet. Einmal in den Abgrund der Armut gefallenen Frauen bot sich selten die rettende Hand, die wieder die Höhen des Wohlstandes ersteigen half. Kein Lichtschimmer erhellte ihr schwarzes Elend. Es galt auszuziehen aus Herkelsbrühl und dem Haus hier in der Königgrätzer Strasse. Pferde, Wagen und Automobil mussten verkauft werden. Sie hatte mit der Mutter in eine Kleinstadt zu ziehen oder gar in eine der Etagenwohnungen des Berliner Westens. Dort sah sie sich ihre Armut — vielleicht gar Einkäufe für Haus und Küche — im Fahrstuhl oder auf der Treppe an neugierigen Mitbewohnern der Familienkaserne vorbeitragen. Mit den hübschen Kleidern war es vorbei. Wie sollte sie künftig ihren Freundinnen begegnen im Fähnchen, genäht von einer Schneiderin, die als verdienten Lohn ihres Ungeschicks täglich drei Mark und Butterstullen erhielt? Bedauern und bemitleiden würden sie Bekannte, die ihr einst geschmeichelt und sie bewundert hatten. Das wollte und durfte sie nicht erleben. Besser war es, allen Menschen aus dem Wege zu gehen. Bei Tagesanbruch gab sie Weisung, keine Besucher einzulassen. Doch die Mutter, neben der sie beim späten Frühstück sass, bestand auf Empfang des Vetters, als der neue Freiherr von Hemmern sich vormittags anmelden liess. Ernst ging nur dem eigenen Vorteil nach. Hier im Haus des Elends und der Sorge konnte er für sich nur Frida suchen. Wenn die Tochter Vernunft annahm, mochte die Zukunft zu ertragen sein. Der Gedanke gab Frau von Hemmern Kraft, die Tränen zu trocknen und einen Esslöffel aus der neuen Medizinflasche zu füllen. Sie schluckte hastig:

„Hübsch von Ernst, dass er an uns denkt. Vergiss nicht, dich dankbar zu zeigen.“

Ohne Antwort schob Frida die Tasse von sich, als sei ihr der Tee zuwider. Des Vetters oft gespürte zähe Aufdringlichkeit liess vermuten, dass er kam, um ohne Zögern ihre traurige Lage für seine Absichten auszubeuten. Es mochte tröstlich scheinen, dass wenigstens ein Weg noch aus dem Elend führte. Aber ihn zu gehen war unmöglich. Schon das Denken an den Vetter, den sie sich oft fast mit Ekel vom Leibe gehalten hatte, empörte. Sie stand auf, aber die Mutter legte die Hand auf ihren Arm und Ernst trat ein. Das Schwarz seines Anzuges hob die fahle Blässe des aufgeschwemmten Gesichts mit kleinen schwarzen Augen unter kahlem Scheitel. Über dem von niedrigem Hals vorstehenden Kinn schürzten sich dicke Lippen zu einer Rundung, die des Vierzigers Schulfreunde einst Schnorchel genannt hatten. Der borstige kleine Schnurrbart war kurz geschoren, und über den schwarzen Stoppelhaaren lag platt und breit die eingebogene Nase. Nicht ohne Grund hatten die Jugendgespielen den Vetter „Schnorchel Hemmern“ getauft.

Doch heute schien er wirklich gewillt, ein Helfer zu sein. Nach kurzem Kopfnicken gegen Frida begrüsste er die Mutter mit Handkuss:

„Herzinnigstes Beileid, Kusine. Du hast so Schweres zu tragen, dass ich eilen wollte, dir die Last nach Kräften zu erleichtern.“

Aber dann sah er Frieda tiefer, als ihr lieb war, in die Augen:

„Auch dir möchte ich ein treuer Verwandter und Diener sein.“

Die Mutter war von des Besuchers Worten so gerührt, dass sie hinter dem feuchten kleinen Ballen ihres Taschentuchs wieder zu schluchzen begann.

Frida führte sie zum Tisch, schob Ernst einen Sessel zu und sass neben ihm bei Machen auf dem Sofa nieder. Den Tränen konnte auch sie nicht wehren, als sie Fragen nach des Vaters plötzlichem Verscheiden beantworten musste.

Ernst wartete schweigend, bis sie ihre Augen trocknete. Über das Taschentuch sah sie den Schnorchel schnuppern. Die Zunge feuchtete die dicken Lippen. Hemmern weidete die Augen am Bild der Kusine. Sie war so schön, dass Weinen sie nicht entstellen konnte. Auch mit unfrisiertem wirrem Haar blieb sie verführerisch wie sonst. Vom Gesicht der ihre Tränen Meisternden glitten seine Augen zu den vollen Armen unter durchsichtigem Blusentuch und an der Kusine Figur herab. Frida trug ein silbergraues Kleid. Gleich durfte er Rat und Hilfe anbieten:

„Ihr habt natürlich noch nicht an die nötigen Besorgungen gedacht. Darf ich eine Schneiderin schicken?“

Frida erschrak. An Trauerkleider hatte sie in der Tat noch nicht gedacht. Fast bestürzt schlug sie die Augen zu ihm auf. Er hatte sich unbeobachtet gewähnt. Darum sah sie den ihr wohlbekannten Blick der schwarzen Augen an ihren Gliedern haften, dort wo zwischen Hüfte und Knie das knappe Kleid die Figur eng wie ein Handschuh die Faust umspannte. Der Schnorchel zuckte wieder. Wie ein Schlag fühlte sie den hässlichen Blick, auf den eine Ohrfeige gebührende Antwort gewesen wäre. Schnell aufstehend fühlte sie ein Frösteln. So, dass der Vetter es sehen sollte, schüttelte sie das Kleid um die Hüften lose, schritt um den Tisch herum und setzte sich in einen Sessel hinter dem Schutz der Decke.

Ernst wusste, was gutzumachen war:

„Habt ihr wegen der Beerdigung ...“

Frida war der Antwort enthoben. Die Kunze trat ein. Ihre Augen suchten den Teppich, und ihre leise Stimme zitterte:

„Die Männer mit dem Sarg sind da.“

Als sie das hörte und vor sich den Vetter sah, ward Frida klar, was es heisse, ohne Schutz eines männlichen Verwandten zu leben. Mit einem Aufschluchzen, das fast Schreien war, warf sie sich herum und den Kopf auf die Schulter der Mutter.

Frauenschneider Gutschmidt

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