Читать книгу Frauenschneider Gutschmidt - Otto von Gottberg - Страница 5
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ОглавлениеVor dem Trauerhause in eine Droschke steigend, sagte Hemmern dem Kutscher: „Zu Gutschmidt.“ Der magere Schimmel, D. U. wie er, sah kaum aus, als werde er die Fahrt überdauern. Halb 10 schmunzelte das runde dicke Uhrgesicht am Anhalter Bahnhof ins blinkende Licht der Januarsonne, und Hemmern lachte mit.
Der Tag war kalt, aber hell wie das Leben jetzt vor ihm lag. Auf harter Schneekruste rollte der Wagen durch die Bellevuestrasse und am Saum des Tiergartens entlang. Zur Rechten glitzerten schneebeladene Bäume, zur Linken blanke Fensterscheiben, hinter denen das Auge Behagen und Wärme ahnte. Nichts gab es dort, das sich der Herr auf Herkelsbrühl zu versagen hätte. Mehr als die hier Wohnenden wollte er sich gönnen — Frida!
Umsonst war sie freilich nicht zu haben. Eine Frau ihrer Art würde jährlich ein kleines Vermögen kosten. Er wollte es drangeben. Also irrten wohl die Menschen, die ihn geizig nannten. Konnte er nicht verschwenden, um seine grosse Leidenschaft, den Hunger nach Frauen, zu sättigen? Natürlich hatte er stets den wahren Wert einer Begehrten erwogen, aber willig und flink gezahlt, wenn des Preises Höhe seiner Schätzung entsprach. So wie Frida hatte er sich noch keine gewünscht. Sie war ihres Preises wert, aber konnte den Handel auch nicht ausschlagen. Die Spröde schien jetzt schon sein. Er dachte ihrer nicht mehr mit dem entnervenden Verlangen unstillbaren Sehnens, das ihm nach früheren Begegnungen wohl die Nachtruhe störte. Als verarmtes Mädchen musste die Verwöhnte nach seiner Hand haschen. Sie war sein!
Die Sonne schien wärmer durch die kahlen Räume zu strahlen. Er öffnete den Pelz, lehnte sich behaglich gegen das Rückenpolster und rief zum Kutscher:
„Langsam! Schonen Sie den D. U.! Vielleicht müssen wir auch noch ’ran.“
Die Stunde sollte ausgekostet werden. Wundervoll eng hatte das silbergraue Kleid Fridas ranke Glieder umspannt, als sie auf dem Sofa sass. Wie sie dann vom Sitz aufgeschnellt war! Nein, es gab keine Schönere als sie. Baron, du musst blechen! Es war hübsch, sich Baron ansprechen zu dürfen.
Schon von der Gedächtniskirche sah er an der Nordwestecke der Kreuzung von Joachimsthaler und Hardenberg-Strasse den neuen hellen Riesenbau des Jugendfreundes. Unter dem flachen Dach eines Sandsteinquadrats, dessen Nordmauer den Kurfürstendamm streifte, stand in goldenen Buchstaben:
Georg Gutschmidt
Frauenschneider.
Vor dem Portal aussteigend, wartete Hemmern zwischen den hohen Kandelabern — zwei riesigen Fackelträgern zur Rechten und Linken der breiten Drehtür des Haupteingangs.
Es tat gut zu sehen, wie die lieben Dingerchen in Scharen herbeiliefen, um auch ihn, den bescheidenen Gesellschafter des grossen Freundes, zu bereichern. In jeder zweiten Minute spie einer der Untergrundbahntunnel einen Frauenschwarm aus. Ohne Unterlass schluckten beide Hohlwege einen dünneren Strom von Frauen, die schon gerupft aus dem neuen Paradies ihres Geschlechts kamen. Langsam und müde, oft fast erschöpft, aber doch noch erregt vom Schauen, Prüfen und Wählen, stiegen sie die Treppen hinab. Ihre Wangen waren gerötet und oft die Haare gelockert. In den Augen funkelte Verlangen nach Mehr von den begehrten oder gekauften Herrlichkeiten. Zögernd blickten sie zurück, nahmen trödelnd von Freundinnen Abschied und ballten sich zu Inseln im Lauf des Gegenstroms, den die Bäche aus den beiden Tunnelzugängen speisten. Da, wo sie zusammenflossen, stürzte von der Treppe des Stadtbahngleises der Wasserfall einer neuen Frauenwoge hinein. Geärgert durch jedes Hindernis im Pfad, bahnten Käuferinnen der nächsten Stunden mit noch unverbrauchter Ellbogenkraft ihren Weg durch die Schafe, die schon von der Schur kamen. Aus den Hüften vorliegend und den Kopf gehoben, die Geldtaschen zahlbereit und die Augen auf die lockenden Scheiben des Hauses Gutschmidt gerichtet, rückten sie an, Schulter an Schulter und Busen an Rücken in schwingendem Kolonnenschritt.
Die Elite der Kundinnen war nicht zu sehen. Sie kam über den Kurfürstendamm zu Fuss, im Wagen oder hinter dem Motor aus Charlottenburg und Wilmersdorf, den Wohn- und Schlafkammern von Berlin.
Freund Gutschmidt hatte an den Stationen des Zoologischen Gartens ohne Zweifel den günstigsten Fleck für seinen Überfall auf die Berlinerin gefunden. Mühe, Nachdenken und Arbeit hatte darum schon die Wahl der Örtlichkeit gekostet. Während Georg den Bau plante, sassen Späher für Monate hinter den Restaurantfenstern aller Schlagadern des hauptstädtischen Verkehrs und zählten die vorübergehenden Frauen. Wo sie die höchsten Ziffern meldeten, liess Gutschmidt die wandernde Menge zu allen Tageszeiten photographieren und die Bilder dann unter die Lupe nehmen, um festzustellen, auf welchem Fleck von Berlin während vierundzwanzig Stunden die grösste Zahl gutgekleideter, also kaufkräftiger Frauen, über den Asphalt schritt. Hier war der Ort. Hier standen darum seit dem 1. Oktober des neuen Hauses Türen zwischen Morgen und Abend nie still. Die Art, wie der Freund die Örtlichkeit gewählt hatte, zeugte von seiner Umsicht und Gründlichkeit, wie von seiner Kühnheit und Entschlossenheit die Tatsache, dass der Krieg ihn nicht hinderte, das Geschäft zu öffnen.
Von Frauenwogen getragen und geschoben trat Hemmern ins Portal, um Gutschmidt um eine Schneiderin oder einen Schneider für die Kusinen zu bitten. Als Gesellschafter des Hausherrn verdiente er an den bestellten Kleidern
Nur langsam kam er durch das Gedränge im Erdgeschoss. Das Sandsteinviereck des Hauses stand um einen Licht- und Packhof. Darum fiel Tageslicht von zwei Seiten auch ins unterste Stockwerk. Den zwischen kleinen Blumenbeeten, Pflanzenkübeln, Palmengruppen und Springbrunnen trödelnden Besucherinnen nahm kein Schatten etwas von dem Bild der bekleideten Wachsmodelle, die einzeln, zu zweien, dreien oder in Gruppen in dem weiten Garten standen. Oben zwitscherten Vögel. Unten schienen die Puppen zwischen den Beeten wandernde Kundinnen, und neben sie traten als lebende Modelle oft Probiermädchen. Längs der Hintermauer am Kurfürstendamm trat Hemmern in die Allee von zwei Reihen hochstämmiger Kübelpalmen. Unter den Bäumen trugen Stühle Schau- und Kauflustige. An den Sitzenden vorbei schritten die Palmenstrasse entlang von früh bis spät Mädchen im Gesellschafts- oder Strassenkostüm, im Tennis- oder Reisekleid, im Morgenrock, Strandanzug oder Frisiermantel, in jeder Art Gewand, das Frauen tragen konnten. Die Probiermädchen waren von grosser und guter Figur. Darum besuchte er gern die Palmenallee, deren Aufsehern er als Freund, obwohl nicht Gesellschafter ihres Brotherrn bekannt war. Doch in Erwartung edlerer Beute blickte er heute auf dem Weg zur Nordwestecke des Baues achtlos über die grossen Mädchen hinweg. In einem Schacht, der vom Keller zum Boden das Gebäude durchschnitt, hatte Gutschmidt dort am Kurfürstendamm seine eigenartige Geschäftsstube. Eigentlich war sie ein Fahrstuhl, denn das Zimmer stand auf einer Metallplatte, die der Druck auf einen Knopf an der Innenwand von einem Stockwerk zum anderen hob oder senkte. Auch das schien eine Idee, auf die nur Gutschmidt kommen konnte. Der unermüdliche grosse Arbeiter mit Stiernacken und Bulldoggenkinn geizte mit Sekunden, obwohl er das Tagewerk dreier Menschen versah. Wenn er diktierend, telephonierend, telegraphierend und stets dekretierend am Schreibtisch sass, kamen ohne Unterlass Fragen oder Bitten um Entscheidung. Weder er noch der Fragende sollte eine Sekunde der im Haus Gutschmidt hoch bewerteten Zeit verlieren. Der Chef schrieb oder sprach weiter und drückte auf einen der Knöpfe an der Wand. Die Platte trug sein Zimmer hinauf oder hinab. Die grüne Rolle der Telephonleitung wurde, mitwandernd, dicker oder dünner, bis er wieder zur Linken des Schreibtisches ein Fenster sah und ein Klicken hörte. Es meldete, dass jetzt das Öffnen der Tür zu dem gesuchten Stockwerk möglich sei. Der Buchhalter, der den Chef sprechen wollte, trat ein. Dem Auskunft heischenden Verkäufer konnte der Herr ohne Zeitverlust bis hinter den Ladentisch folgen.
Heute hing die Platte im Erdgeschoss. Ein kurzes Kopfnicken Gutschmidts dankte für Hemmerns Gruss. Georg diktierte weiter mit der Stimme, die klar, bestimmt, aber leise war und darum die besonnenen Überlegens schien. Jedem Satz folgte eine kurze Pause. Dann stiessen die Lippen schnell einen neuen, gleich knappen heraus. Er war so durchdacht und erwogen, dass er selten Änderung oder Verbesserung heischte.
Hemmern war gern der stille und bewundernde Zuschauer Gutschmidtschen Wirkens. Als Mehrer seines Einkommens schätzte er den Jugendgespielen mit fast zärtlicher Neigung und betrachtete ihn mit dem liebevollen Schmunzeln der Bäuerin, die vor der fleissig Eier legenden Henne steht. Oft spürte er gar Furcht, die Gesundheit des Unermüdlichen könne versagen und der kraftvolle Körper des Gleichaltrigen unter der stets gemehrten Arbeitslast zusammenbrechen. Doch kein Fältchen furchte Gutschmidts straffe und gesund gerötete Haut vom dunkelblonden Stirnhaar bis zu den viereckigen Backenknochen. Durch frische, breite Lippen leuchteten seine Zähne blank und weiss wie um die graue Iris sein klares Auge. Keinen weissen Faden trug des Fünfundvierzigjährigen Schnurrbart, der unter der stumpfen Nase in zwei dicken Quasten schräg über die Backenknochen fiel. Obwohl der altmodische Schnurrbart gepflegt war, gab er der Erscheinung Gutschmidts etwas Urwüchsiges und nahm der in einen dunklen Morgenanzug von neuestem Schnitt und fehlerfreiem Sitz gekleideten Gestalt zu ihrem Vorteil den Firnis moderner Eleganz. Obenein hing das Barthaar nicht glatt und ausgezwirnt wie an den Köpfen von Männern alter Rasse, sondern kräuselte sich in den dicken Quasten wie der Wuchs um das Kinn von Menschen, die auf dem Lande, in der Wildnis, im Urwald, fern von Barbier und Schermesser wohnen. Gutschmidt war Bauernsohn.
Der Drehstuhl wirbelte um seine Achse. Georg sah Hemmern scharf in die Augen und dehnte die vierschrötigen Glieder — nicht müde, sondern in Lust und Freude an Bewegung oder Betätigung. Er hob die Arme, als wolle er auch ihnen das Vergnügen sich zu rühren gönnen:
„Eilt es, Hemmern?“
„Ich möchte dich bitten, eine verständige Person in ein Auto zu setzen und meinen Kusinen zum Massnehmen zu schicken.“
„Machst du den Stadtreisenden?“
Das lachte er schon in das Schallrohr des Telephons, fragte nach Namen wie Adresse der Damen und rief Befehlsworts in den Apparat.
Dann griffen die derben, aber weissen Hände wieder an die Lehne. Der Stuhl wirbelte herum. Gutschmidt kehrte dem Freund den Rücken. Er wusste, wie gern Hemmern das Sprudeln der Quelle seines mühelosen Erwerbens hörte. Wieder bei der Arbeit griff er zu Briefen und diktierte. Der Sekretär stenographierte und Ernst schmunzelte, weil Worte oder Ziffern von neuem Gewinn erzählten.
Eine brave Beamtennatur war Freund Gutschmidt gewesen und sein Erfolg wahrhaftig nicht vorauszusagen. Der Vater, ein Bauer im Pyritzer Weizacker, wollte den Sohn zum „Doktor“ erziehen und schickte ihn nach Berlin aufs Gymnasium. In der Sexta sass Georg neben ihm, den die Hosenmätze unverträglich und Schnorchel Hemmern nannten. Vielleicht war er wirklich streitsüchtig, denn Georg Gutschmidt musste dem Bankgenossen eines Tages die Kraft der schon damals grossen Fäuste zu spüren geben.
Merkwürdig, wie die Tracht Prügel die Freundschaft zweier Sextaner für Lebenszeit geregelt hatte. Er war erst widerwillig, aber, weil es der Mühe wert schien, endlich gern der gefügige Knappe des Stärkeren geworden. Georgs Faust hatte ihn vor dem Zorn der Kameraden und Georgs Fleiss vor dem Tadel der Lehrer geschützt. Gutschmidt arbeitete schon als Knabe für zwei. Er lebte in der Familie eines Oberlehrers, aber durchstreifte oft mit dem Gefährten die Strassen von Berlin. Stundenlang starrte der Bauernsohn in Schaufenster, hinter denen Damentoiletten standen, und der Knabe schon sparte Taschengeld, um „auch einmal so etwas anzufangen“. Der Tertianer schrieb dem Vater, das Doktorn sei eine brotlose Kunst. Der junge Mann mit dem Einjährigenzeugnis bat den Schulkameraden um einen Lehrlingsposten in der Hemmernschen Tuchhandlung. Ernst Hemmern Senior fand Gefallen an dem helläugigen, rührigen Bauernjungen und liess ihn die grosse stumpfe Nase in alle Winkel des Hauses stecken. Georg schaute nicht nur, sondern lernte auch, aber trat nach sechs Monaten in den Dienst eines Frauenschneiders. Als Einjähriger glaubte er das Handwerk genugsam zu kennen und stand in freien Stunden vor den Fenstern von Hut- und Wäscheläden. Durch die Scheibe eines solchen machte er die Bekanntschaft einer hübschen Putzmacherin, die sich auf ihre Arbeit verstand. Als er den bunten Rock auszog, war Hemmern Senior tot und der Schulgefährte grossjährig. Er verkaufte das Geschäft, und Georg Gutschmidt fragte:
„Warum?“
„Mein Kapital soll höhere Zinsen bringen!“
„Gib es mir! Ich zahle mehr als andere!“
Er wollte lachen, aber Georgs Miene und Sprache waren wieder die des Meisters, der einem gefügigen Knappen zu seinem Vorteil gebot. Zudem hatte der Vater dem Freund eine geschäftliche Zukunft prophezeit. Also gab er Georg zunächst ein Weniges und nach dem schnellen Erfolg die Gesamtsumme des Kapitals. Gutschmidt heiratete die Putzmacherin und öffnete an der Ecke der Leipziger Strasse einen Laden, über dem schon damals zu lesen stand: Georg Gutschmidt — Frauenschneider.
Als der Freund zehn Jahre später, auch in der Leipziger Strasse, aber näher dem Potsdamer Bahnhof, das grosse Warenhaus baute, hätte er das Darlehn zurückzahlen können. Ein unverständlich Dankbarer, nahm er indessen des Schulkameraden Geld mit in das Riesenunternehmen und liess ihn auf die Höhen grösseren Wohlstandes folgen. Die Gipfel schienen noch nicht erstiegen. War doch Gutschmidts Glück so gross wie sein Wagemut, seine Arbeitskraft und die Sicherheit seines Urteils. Wo seine Hand hingriff, hob sie Gold auf. Als er durch tägliche Anzeigen in den Blättern der Provinzialhauptstädte einst auch im Reich um Kundschaft für das von den Berlinerinnen bestürmte Warenhaus warb, erwarteten Konkurrenten seinen Ruin. Nach Jahresfrist musste er zwei Nachbarhäuser kaufen, um die durch Briefe, Karten oder Telegramme geforderten Waren verpacken zu können. Vor einem halben Jahrzehnt erklärte den Bankrott ein Verleger und Herausgeber einer Modezeitschrift, die Gutschmidt durch Anzeigen, Bilder und Artikel viel Kundinnen gewonnen hatte. Er kaufte das Verlagshaus, schien für drei Monate auf den Schienen zwischen Leipzig und Berlin zu leben, begriff, dass auch Bücher Ware sind, und vertrieb sie mit gleicher Energie wie die Erzeugnisse seines Handwerks. Heute war auch der Gutschmidtsche Verlag, „der Seitensprung“, ein Millionenhaus. Eine Weberei und eine Spinnerei hatte er bei Adlersfelde gebaut, um seiner eigenen Tasche den Verdienst an der Herstellung von Rohmaterial zu sichern. Beide Fabriken waren im Betrieb, als der glühende Sommer des Vorjahres 1914 Schicksal zu brüten schien. Gutschmidt, dessen Auge Licht in den dunkelsten Kammern der deutschen Wirtschaft sah, ahnte, dass die Heeresverwaltung unmöglich die freiwillig unter die Fahne tretenden Hunderttausende bekleiden könne.
Am 3. August liess er sich beim Chef der Bekleidungsabteilung des Kriegsministeriums melden und trat ins Zimmer mit den Worten:
„Herr Oberstleutnant, ich kann täglich fünfundzwanzigtausend graue Röcke und Hosen liefern!“
Noch abends schickte er Befehle zur Umschaltung der Fabriken für Heereslieferung nach Adlersfelde.
Hier im obersten Stockwerk sassen wohl noch immer Schneider, die das dort gewobene graue Tuch zu Uniformen verarbeiteten. Dann hatte er mit einem der in ihm plötzlich reifenden Entschlüsse das aus den Kassen der Heeresverwaltung in seine Schränke sprudelnde Geld zum Bau einer Salpeterfabrik verwendet. Seines Erfolges schon gewiss, als andere den Gedanken, Salpeter und Reichtum aus der Luft zu holen, noch verlachten, sah er heute die ersten Tropfen eines neuen Millionenregens fallen. Mit ähnlich kühnem Griff legte er seit Jahren durch Kauf von Anteilscheinen Bresche in die Mauern um alle Betriebe, die ihm Fabrikate lieferten. Neben dem neuen Haus am Zoologischen Garten leitete er das alte in der Leipziger Strasse und spielte mit dem Gedanken, sich zum Herrn einer Grossbank zu machen. Trotzdem galt er nicht als Spekulant. Das Vertrauen der Geschäftswelt in seine Unternehmungen schien unbegrenzt. Er hatte nur den Finger zu heben, um aus allen Provinzen die Geldtruppen Beutelustiger unter seine immer siegreichen Fahnen eilen zu sehen.
Für den Augenblick war seine Arbeit getan. Wieder liess er den Stuhl herumwirbeln:
„Du willst noch was, Hemmern?“
Ernst lachte:
„Den Quartalsabschluss.“
Nie konnte er früh genug hören, wieviel der Freund ihm verdient hatte. Den ärgerte oft Ernsts Drängen, aber heute schien er guter Laune und zog schmunzelnd die rechte Bartquaste durch die Finger:
„Die Aufstellung wird heute nachmittag fertig und bringt eine angenehme Überraschung!“
Der Schnorchel schnupperte. Ernst nickte:
„Ein Glücksfall kommt nie allein!“
Aus der Tasche zog er eine der schon gestern bestellten neuen Visitkarten, liebkoste sie mit den Augen, reichte sie dem Freund und lehnte in selbstgefälligem Behagen den Rücken gegen den Stuhl, als warte er auf Georgs Staunen. Ein Baron war des Beachtens wert.
Gutschmidt las halblaut:
Ernst Freiherr von Hemmern-Herkelsbrühl.
Mit schnellem Blinken schlug er die hellen grauen Augen auf. Sie sahen den schwarzen Schlips unter des Freundes Kragen:
„Also muss ich zunächst mein Beileid aussprechen!“
„Ne, Georg, du darfst gratulieren. Den Vetter, der mir das Majorat hinterlassen musste, kannte ich kaum. War ein schlechter Wirtschafter, und das führt mich zu dir. Hast du jemand, der in Herkelsbrühl über die Bücher gehen und feststellen kann, welche Forderungen ich an den meinen Kusinen zufallenden Nachlass habe?“
Gutschmidt sann:
„Heute abend könnte ich jemand nennen und dir auch den Abschluss zeigen.“
Hemmern stand auf:
„Schön, mein fleissiger Georg, mach’ dich zu neun Uhr frei und triff mich im Restaurant, Ecke Linden und Wilhelmstrasse!“
Gutschmidt zögerte, aber liess sich überreden. Auch Zerstreuung war dem Arbeitsamen nötig. Mit einem an Trotz erinnernden Gefühl zwang er sich oft, die Bürde der Geschäfte abzuschütteln, wenn sie am schwersten drückte:
„Einverstanden!“ Er beugte sich wieder über die Briefe, ehe Hemmern das Zimmer verliess.
Um zwei Uhr nachmittags nahm er seine Mahlzeit vom Schreibtisch. Er ass viel mit gutem Appetit von dem Gericht aus der Kantine, die Frau Zinger, Witwe eines Amtsrichters und einst Leiterin der Küchenabteilung im Warenhaus der Leipziger Strasse, auch hier am Zoologischen Garten eingerichtet hatte. Zur Hausfrau geboren, lieferte sie ein Essen, an dem Gutschmidt sich täglich freute. Den Kaffee trank er diktierend. Als die Zigarre geraucht war, kam die Viertelstunde, in der er sich stets beim Gang durch das Haus die Füsse vertrat. Die Platte hing im obersten Stockwerk. Die Tür öffnend, sah er sich in der ihm noch immer liebsten Stätte seines Wirkens. Seit hier vierhundert Handwerker Uniformen schneiderten, blieben freilich nur wenige Zimmer noch frei für Kundinnen, die Kleider nach Mass fertigen liessen. Auf den Tischen der drei grossen Säle lagen die während des Nachmittags anzuprobierenden Stücke. Wenn an den Wänden über kleinen, holzumwandeten Buden elektrische Lampen aufflammten, erhellten sie Spiegel, vor denen eine Dame den Sitz des neuen Kleides oder Korsetts prüfte. Hier begegnete er heutzutage jungen Mädchen, deren Steckkissen er den Müttern aus dem kleinen Laden an der Leipziger- und Charlottenstrasse geschickt hatte. Herangewachsen wählten sie ihre Ausstattung oder als Verheiratete schon Kinderzeug für eine dritte Generation von Käuferinnen des Hauses Gutschmidt. Es war sein Stolz, dass er wenige Kundinnen des ersten Ladens auf dem langen Weg zu Erfolgen verloren hatte. Er kannte sie von Namen und Gesicht. Sah er eine der alten oder jungen Damen aus Familien, die ihm die ersten Einnahmen gebracht hatten, dann machte es ihm noch heute Freude sie zu bedienen. Ja, der Grosse des Berliner Handels griff zum Massband, nahm die Stecknadel zwischen die Lippen, kniete nieder und sprach wie einst als Zuschneider so ehrerbietig, dass die Kundin wohl dachte, vom Geld für ihr Fähnlein hinge die Existenz des Multimillionärs ab. In alten Erinnerungen fühlte er sich wohl dabei. Er führte gern die Schere, mit der er sein Glück geschnitten hatte. Er hatte sich Liebe zum Handwerk gewahrt und nannte sich darum noch immer Frauenschneider.
Beim Rundgang legte er die Hand prüfend auf einen Tisch, der halbfertige Trauerkleider trug. Die Säume waren nur mit langen Stichen weissen Zwirns geheftet. Der Mann, den er vormittags zu Hemmerns Kusinen geschickt hatte, beugte sich über eins der Kostüme und verglich die Schnittlinien mit den Strichen einer Bleistiftskizze. Nach Brauch des Hauses sagte der Zuschneider, wen er zum Anprobieren erwarte. Gutschmidt nahm die Skizze in die Hand.
Ohne Überraschung sah der Arbeiter das erfreute Lächeln auf den Lippen des Chefs. Der Meister fand Gefallen an hübscher Arbeit.
„Wer hat das gezeichnet?“
„Die jüngere Dame in der Königgrätzer Strasse.“
„In der Tat?“ Es klang ungläubig.
„Ja, Herr Gutschmidt. Während ich zunächst den Auftrag der Mutter nahm, holte die Tochter Modeblätter und stellte nach Bildern mit Bleistiftstrichen das Kostüm zusammen.“
Gutschmidt nickte. Er verstand das Entstehen der Skizze. In den letzten Heften der Journale hatte auch er vier Toiletten gesehen, deren Vorzüge von geschickter Hand in dem Kostüm verschmolzen waren. Das Arbeiten für Damen von Geschmack war Vergnügen. Er wollte das junge Mädchen sehen, vielleicht sprechen.
„Wann kommt die Baronesse?“
„Sie versprach, Punkt drei Uhr, also in zwei Minuten, hier zu sein und sah aus, als sei sie an Pünktlichkeit gewöhnt. Da ... sie tritt aus dem Fahrstuhl.“
Gutschmidt trat zum Nebentisch und stützte hinter dem Rücken die Hände auf die Platte. Den Mittelgang entlang kam gerade auf ihn zu eine junge Dame von zierlicher Schlankheit. Der Kopf lag leicht im Nacken und eine Hand im Skunksmuff. Die andere schwang leicht zum federnden Schritt der wohlgewachsenen Frau. Um ihren schwarzen Hut hing ein Kreppschleier. Ihr Trauergewand schien aus Vorräten in wohlgefüllten Schränken für den Notbehelf zusammengesucht. Sonst wäre sein Interesse an der Dame damit erschöpft gewesen. Er sah an Frauen nur das Gewand, an ihrer Figur nur, wie sie die Kleider trugen. Aber die hochhüftige, zierliche Gestalt hielt seinen Blick fest. Sie schritt in einer seltenen, biegsamen Grazie — flüssig und weich wie das Schlängeln der Boa um den Oberkörper. Ihre unauffällige Schönheit und Eleganz übten einen Reiz, der ihn höher atmen liess. Unwillkürlich griffen die Finger fester um die Tischkante hinter dem Rücken.
Der Zuschneider wies der Dame den Weg zum Nebentisch. Sie dankte mit Kopfnicken:
„Ich möchte auch die Kleider meiner Mutter sehen.“
Kühl und sicher sprach sie, doch auch erwartungsvoll und ungemein interessiert. Wohl war der Rand ihrer grossen dunklen Augen vom Weinen gerötet, aber im Gebaren nichts von der Weichheit einer Trauernden. Für den Augenblick schien ihr Denken nur den neuen Kleidern zu gehören.
Der Zuschneider winkte einem Mädchen. Es nahm der Dame die Überkleider ab und öffnete die Tür zu einer Bude. Die Baronesse trat noch nicht ein. In knapper, schwarzer Bluse, die schmalen Hüften eng von einem Tuchrock umspannt, beugte sie sich über Skizze und Kleider.
Gutschmidt sah den langen, biegsamen Rücken unter dünnem Stoff geschmeidig den Bewegungen des Körpers folgen. Sie richtete sich auf. Schön war das Profil unter dunklem Haar, die klare Linie der feinen geraden Nase, die glatte Rundung des Kinns auf hoher Halssäule.
„Also, kann ich anprobieren?“
„Bitte.“
Das Mädchen führte zur Bude. Die Frauen traten ein. Die Tür fiel ins Schloss. Gutschmidt sah oben das Licht der Lampe aufflammen. Dann klang durch die dünnen Holzwände das Rascheln von Seide auf Frauengliedern. Sonst hörte er das nicht. Merkwürdig warm schien es im Raum. Er stand noch wie vorher, als das Mädchen den Kopf aus der Budentür reckte.
„Herr Lehmann! Wo ist der Zuschneider? Die Dame steht und wartet.“
Frida spürte Ungeduld. Vor dem Spiegel und dem Bild eines neuen Rockes trommelte sie mit dem rechten Schuh auf den Teppich. Da sagte eine klare, aber leise und darum merkwürdig besonnen klingende Männerstimme:
„Darf ich die Bedienung übernehmen?“
Sie wendete den Kopf und musste ihn heben, um in das frische, gesundrote Gesicht des Hochgewachsenen zu sehen. Ein unbestimmtes Gefühl oder vielleicht der Ausdruck strengen, harten Willens über dem breiten Kinn sagte ihr, dass er hier Herr sei. Auch errötete das bedienende Mädchen wie in Verlegenheit, als der Mann ihm mit kurzem Griff Nadeln und Massband aus den Händen nahm.
Fridas Antwort wartete er nicht ab. Er fasste nach dem Gürtelband über ihren Hüften, glättete mit den Fingern Falten und zog einen Kreidestrich über das Tuch. Niederkniend zupfte er am Rocksaum mit der knappen Frage:
„Länge richtig?“
„Etwas kürzer wäre mir lieber.“
Wieder zog er flink einen Kreidestrich und hob sich hinter ihrem Rücken auf die Füsse.
Im Spiegel sah sie, dass er den Oberleib zurückbog. Sein Blick prüfte, ob der Rock gut hing, mit grauen Augen, die weit auseinander standen, als könnten sie nichts aus engem Gesichtswinkel schauen. Ärgerlich schüttelte er den Kopf und kniete nochmals nieder. Auch zwischen Hüften und Knien warf das Tuch wohl Falten. Um den Fehler des Zuschneiders zu finden, tasteten dort seine Finger von unten nach oben über ihre Glieder.
Tief musste Gutschmidt den Kopf senken. Ein Gefühl der Verlegenheit oder gar Beschämung kam. Der Frauenschneider, dessen Hände einst täglich, aber stets gleichgültig, über das Tuch auf Frauenkörpern geglitten waren, fühlte das Blut zu den Wangen steigen. Seine Finger begannen zu zittern.
Er war fertig und stand hochatmend auf. Das Mädchen griff zum zweiten Kostüm. Sonst wäre Gutschmidt hier geblieben, während eine Kundin den Rock wechselte. Tausend Frauen hatte er im Unterrock gesehen. Heute fühlte er sich nicht als Schneider, sondern als Mann und trat aus der Tür. Als das Mädchen wieder öffnete, trug Frida von Hemmern das nach ihrer Skizze geschnittene Kleid. Von den Schultern liefen nach des Jahres Mode zwei Bänder zu einem runden Kragen im Rücken zusammen. Er legte sie aneinander und wollte mit der Schere einen Streifen vom unteren Saum des Kragens trennen. Fräulein von Hemmern sah es im Spiegel und hob die Hand:
„So gibt’s einen Buckel!“
Überrascht trat er zurück. Eine Belehrung hatte er lange nicht gehört. Doch schien ihm der Einwand berechtigt:
„Sicheres Auge, meine Gnädigste. Überhaupt verstehen Sie sich auf die Schneiderei. Das sah ich an der Skizze.“
Er prüfte und fühlte weiter. Ihr schmeichelte seine Anerkennung. Sie empfand nicht, dass sie neben einem Lieferanten stand:
„Die war schnell aus Journalen zusammengestoppelt.“
Er lächelte: „Ich weiss, wie schwer solch Stoppeln ist.“
Da kamen sie ins Plaudern über die beiden liebe Schneiderei. Während er heftete und schnitt, betrachtete sie im Spiegel den Mann aus einer fremden Welt, die sie mit Samt und Seide, mit Putz und Tand stets gelockt hatte. Ein merkwürdiger Schneider! Natürlich anders als die Herren, mit denen sie verkehrte, und doch erinnerte seine derbe straffe Männlichkeit an Gefährten vom Sportplatz. In Gottes freier Luft, nicht in der Werkstatt schien auch sie gereift. Keineswegs plump, aber gedrungen sah er aus und schien nicht gemacht, um zu gewinnen, wo feingeklügelte Satzungen das Spiel regelten, sondern gewohnt, seinen Weg mit der Faust zu bahnen.
Auch über die Kleider der Mutter plauderten sie. Sie freute sich seiner Komplimente noch, während er sie zum Fahrstuhl geleitete. Es schien nicht wunderlich, dass die Gestalten von Männern und Frauen vor dem Vorüberschreitenden in Ehrerbietung erstarrten.