Читать книгу Kaiserglanz - Otto von Gottberg - Страница 5
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ОглавлениеAm Mittag nach dem Ball gingen Heistenberg und Ollich vom alten grauen Kadettenhaus in Sonntagslaune durch die Friedrichstrasse den Linden zu. Der verschneite Fahrdamm glitzerte unter Sonnenlachen. Seine weisse Decke dämpfte das Rollen der Räder von zwei Wagenketten. Gegen die Fensterscheiben der Equipagen und Droschken erster Klasse neigten sich die Helme oder Zylinder von Herren, die mit und ohne Damen nach der Kirche, zu Besuchen in Hotels der Friedrichstadt fuhren. Hofgesellschaft und Landadel tauschten die Visiten der Galatage. Festfreude lachte wie der frostklare Himmel auch auf dem Bürgersteig. Die trödelnden Massen nahmen sich Zeit zum Schauen. Kaum fanden die Kadetten einen Weg durch das Drängen. Um drei Arm in Arm schlendernde Frauen traten sie gerade auf den Damm, als ein Major in Gesellschaftsanzug mit Epauletten und Helm prüfende Augen nach ihnen drehte. Beim Dank für ihren Gruss hob er den Zeigefinger nur zu Schulterhöhe. Wahrscheinlich stand er im dritten Korps. Prinz Friedrich Karl, der frühere kommandierende General der Brandenburger, konnte seit der Verwundung bei Waghäusel die Hand nicht mehr an Helm oder Mütze legen, und sein Gruss machte Schule. Noch im Weitergehen fühlte Hans den strengen Blick des Majors, der hinter ihm mit barscher Stimme „die Unteroffiziere!“ rief.
„Herr Oberstwachtmeister!“ Sie machten kehrt und schlugen die Absätze zusammen. Neugierige sammelten sich und spöttelten im Ahnen einer Rüge. Wilhelms Offiziere hielten auf Ordnung. Darum hatte die Armee den Danske, die Weissröcke und Rothosen geschlagen. Der Major scheute sich nicht die Stimme zu heben. Sein Finger drohte dem dunkelhaarigen Kadetten. „Komm’ ich nach Berlin, damit Sie mir die Urlaubslaune verderben? Die Halsbinde rutscht Ihnen ja über die Ohren. Drei Millimeter, aber nicht einen halben mehr oder weniger soll sie aus dem Kragen reichen. Unglaublich, dass ein Portepeeunteroffizier am hellen lichten Sonntagmittag halbnackt wie ein Wilder durch die Strassen tobt! Bringen Sie Ihren Anzug in Ordnung!“
Während die Gaffer laut lachten, nestelte Ollich mit heissrotem Gesicht am Kragen. Der Stabsoffizier trat hinter ihn. „Auch der Scheitel sieht zu weit unter dem Mützenrand vor. Soll Sie wohl zu Ihrem Herrn Oberst schicken!“
Heistenberg verbarg ein Schmunzeln. Der Major wusste im grauen Heim der Kadetten Bescheid. Ihr Kommandeur, „Oberst von Laue mit der eisernen Klaue“, litt die langen Scheitel nicht und tippte mit dem Zeigefinger oft auf die Hinterköpfe Eitler. Das schmerzte, weil er seit der Verwundung bei Königgrätz eine Eisenhand trug.
Die Kadetten standen wieder still, und der Major brummte: „Weitergehen!“ Die schmunzelnden Zuschauer gaben den Weg frei. „Bravo, Herr Major“, lachte ein Naseweis.
Ollich schüttelte sich, als fröstele ihn unter dem schwarzen Mantel. „Brr! Steht auch in Schrimm! Heisst Kottnitz und hat’s dritte Bataillon. Wenn Gott will und Albedyll, kriegt er dich nach Königs Geburtstag in die Finger!“
Die Frage, ob er den Major kenne, verneinte Ollich. Viele Offiziere, aber auch Kadetten der Zeit studierten die Rangliste, bis sie die Ehrenzeichen jedes Generals, Stabsoffiziers oder gar Hauptmanns nennen konnten. Die Regimentsnummer auf der Schulter und die Orden auf der Brust sagten ihnen, wer der Träger war.
Beim Queren der Mittelstrasse war fernes Trommelrasseln zu hören. Über die Linden hinweg sahen sie in der Friedrichstrasse Helmspitzen glitzern. Die Wache zog auf! Ms sie in die Linden traten, schwenkte die Truppe neben Kranzler aus dem Engpass in die sonnenlichte breite Flucht unter schneeglitzernden Bäumen. Auf den weissen Ästen lag Brillantfunkeln wie gestern auf den grauen Köpfen alter Damen. Über ein Laken schienen die Grenadiere zu stampfen. Bürger winkten ihnen mit Hut oder Hand und Frauen mit den kleinen, runden Pelzmuffs zu. Vom Schloss und vom Brandenburger Tor liefen noch Schaulustige heran. Die Bengels hüpften, und die Mädchen sprangen. „Die Franzer, unsere Franzer“, jubelten auch die Eltern. Arm in Arm zogen Alte wie Junge mit. Eine Familie schien zum Hausfest zu wandern.
Plötzlich schwieg Trommelwirbel und Pfeifenquierillieren. Nur der dumpfe Massentritt dröhnte auf frosthartem Schnee. Am hohen Schellenbaum wippten die roten und weissen Haare. Der lange Stabshoboist schwenkte den blinkenden Stab über dem Kopf, und aus den funkelnden Blechinstrumenten kicherte der kecke Radetzkymarsch. Flog da ein Jauchzen zum hellen Himmel hinauf. Die Franzer! Im Vorwinter standen sie noch in Frankreich und brachten im Sommer die neue Krone heim! Jetzt strahlte Kaiserglanz auf Berlin und das Vaterland. Das Leben der Deutschen schien Freude und Feiertag. Blut, Eisen und Arbeit hatten Segen gebracht. Geld klimperte in allen Taschen. Ein Goldregen ging auf die Hauptstadt nieder. —
Die Kadetten gingen bis zum Zeughaus mit. Sie kannten aus Erzählungen alle Bräuche des Kaisers, der jetzt vom Schreibtisch am Eckfenster aufstand und schnell den Rockkragen zuhakte. Nie vergass er, dabei den Pour le mérite herauszunehmen. Dann schloss er die Knöpfe des Interimsrocks und trat an die Scheibe.
Da war schon der ehrwürdige Kopf im Rahmen des Weissbarts über der Gardine zu sehen. Tausende jauchzten auf, aber schwiegen wie gebannt, als der Kaiser sich verneigte. Den Atem schienen sie zu verhalten, um genau zu sehen, wie er für ihr Hurra dankte. Die Hand hob er mit ihrem Rücken gegen die Scheibe zu freundlichem Winken. Achtung vor der Menge und herzliche Güte grüsste aus milden blauen Augen. Die Tausende fühlten, dass er sie ehren wolle, und ein Murmeln froher Rührung lief um. Sie ahnten plötzlich, warum des königlichen Greises schlichte Demut und wundervolle Hoheit in ihnen wahre, warme Liebe weckte. Ein teures Antlitz wie das seine kannte jedes deutsche Haus. In Stadt und Land, in Schloss und Hütte ehrten Männer, Frauen, Kinder einen guten, treuen Alten, der mit langer Jahre Fleiss und Sparen in strenger Eigenzucht und Rechtlichkeit einst säte, was jetzt als Ernte in den Scheuern lag. Er war des deutschen Hauses guter lieber Grosspapa.
Durch ein kleines schwarzes Opernglas sah er auf die anrückende Truppe. Als seine Hand wieder sank, schien die hohe Gestalt noch zu wachsen. Ein strenger Ernst trat auf das ehrwürdige Gesicht. „Heil ... dir im ... Siegerkranz.“ Die Offiziere senkten ihre Degen. Beim dankenden Kopfneigen des Kaisers war zu sehen, dass er sich noch reckte und wohl die Hände neben die Hüften hielt oder gar die Füsse schloss. Der König grüsste Preussens Heer!
Die Franzer stapften am Palais vorbei, und die Tausende drängten dem Fenster näher. Der Kaiser winkte noch einmal mit der Hand und trat in das Zimmer zurück. Um ihn zu rufen, jauchzte die Menge mit der Marschmusik:
„Fühl’ in des Thrones Glanz
Die hohe Wonne ganz ...“
Er war ein Liebling auch der Menschen! Sie starrten noch auf die Gardine, als hätten sie das ehrwürdige Antlitz nicht lange genug gesehen, und zögerten zu gehen, obwohl Sonnenschein und Wohlstand zu Sonntagsfreuden lockten. Der Deutsche war jetzt reich und wollte leben, durfte leben lassen! Aus der Menge Schlendern und Trödeln ward Schreiten und dann Hasten. Sie zerrann in Strömen, die mit dem Wellenschlag von Lachen in Seitenstrassen plätscherten oder unter den Linden zu Uhl und Habel, in die Türen des Hotels de Rome, des Royal und Arnim fluteten. Der deutsche Kaiserglanz war ein goldener Schlüssel, der nach mageren Preussenjahren auch dem Bürger die Pforten der Weinhäuser öffnete. Der Sonntag lud zum Huhn im Topf, zur Flasche auf dem Tisch. Eile war geboten. Nur Drängeln half zu Plätzen.
Die zu Bekannten geladenen Kadetten mussten noch warten, denn Hof und Gesellschaft nahmen die Hauptmahlzeit um fünf Uhr nachmittags. Sie gingen vorläufig nach dem neuen Münchner Hofbräu in der Französischen Strasse. Der Wirt grüsste hinter der Tür mit saurem Lächeln. Sein Wagen schien erstaunlich. Vom anderen Ende der Welt, aus München, liess er das köstliche Bier kommen und nahm zwei Silbergroschen für den halben Liter! Frei aber waren für Hungrige die knusprigen Weissbrötchen in Rohrkörben auf blitzblank gescheuerten Tischen. Darum fielen die Kadetten Sonntags hier wie Heuschrecken ein. Selektaner mit zwei Taler Taschengeld konnten zweimal im Monat kneipen. Ein Liter Bier mit einer Portion Schweizerkäse und Trinkgeld kostete zwar acht Gute, aber das Stück Käse für zwei Silbergroschen war auch lang, breit und dick wie eine starke Männerhand und sättigte als Belag für zwölf Brötchen bis zum Abend.
Ollich hatte sich mit Wedell, Berlichingen und Bevern, den drei anderen Leibpagen der Majestäten, verabredet. Die drei sassen beim Gespräch vom Hofball schon in einer Nische. Heistenberg hörte beim Ablegen des Koppels den Badenser vermuten, die Kaiserin habe ihn wohl als Namenserben des grossen Götz zum Pagen gewählt. Ollich lachte im Platznehmen mit dem Kopfschütteln eines Wissenden. „Euren Alten hat der grosse Buchmacher von Weimar genug belohnt!“ Er rief nach Bier und erzählte, wie er vom Vater gehört hatte, dass der Pagengouverneur im Herbst dem Kaiserpaar eine Liste aller Selektaner des Kadettenkorps schicke. Der alte Herr suchte dann nach den Namen von verdienten Generalen, aber die Kaiserin nach prunkenden Titeln. „Er denkt noch immer preussischprinzlich, aber sie ist für das Fürstlich-Deutsche oder Kaiserliche und leider auch fürs Fremde.“
Bevern bestätigte: „Auch den Seiltänzer hat sie an den Hof geholt. Perponcher sagt ihren Ohren mehr als ...“
Ollich schlug mit flacher Hand auf den Tisch. „Du hast den Schnabel zu halten, wenn wir Preussen über die Herrschaft räsonnieren. Ihr Beverns seid überhaupt noch reichsständisch!“
„Und den Hohenzollern ebenbürtig“, nickte der blonde Graf trocken.
Ollichs Lachen wieherte. „Frag’ mal den alten Herrn, ob er sich den Beverns oder Ollichs ebenbürtiger fühlt!“
Götz rollte die runden Augen unter dem dünnen Haar seiner kränkelnden alten Rasse „Preissenfrechheit!“
Ollich schlug im Ärger den Glasdeckel zu, weil Zweifeln aus allen Mienen spöttelte. „Will euch sagen, wer wir sind! Urgrossvater geadelt. Nun ich’s zu was gebracht hab’, sollt ihr wissen, dass er ein Windmüller war ...“
Beim hellen Lachen der vier Hörer fuhr er zornig auf, aber Götz klopfte auf seine Schulter. „Wir freuen uns nicht über den Müller, sondern über dich. Zu was hascht’s denn gebracht?“
Ollich staunte. „Zum Leibpagen Seiner Majestät! Ich giesse ihm Wein ins Glas, und Vater trinkt sogar mit ihm, weil wir in drei Generationen drei preussische Generale hatten!“
Als die anderen schwiegen, wuchs sein Übermut. „Das gilt dem Kaiser mehr als ein Grafentitel! Die Sansculotten versprachen jedem Tüchtigen freie Bahn! Sie sagten’s! Unsere Könige taten’s!“
Wedell hob das Glas. „Frieden unter dem Kaisergesinde!“ Auch Heistenberg durfte anstossen. Berlichingen klagte beim Anzünden einer Zigarre, dass sie bei Bönicke und Eichner jetzt schon einen Silbersechser koste. In Heistenbergs anderes Ohr fragte Bevern nach der schönen Berenice von Zieritz und meinte Marietta di Dio vom neuen Wintergarten sei doch wohl noch hübscher. Hans nickte ohne hinzuhören und sah beim eiligen Essen oft nach der Uhr. Um halb zwei warf er das Achtgroschenstück auf den Tisch und den Mantel um die Schultern. Auch Ollich stand auf, als wolle er mitgehen.
„Danke, bin verabredet!“
Draussen sah Hans vor dem Einbiegen in die Friedrichstrasse argwöhnisch zurück. Als der Kamerad nicht nachkam, ging er ruhiger südwärts und drehte vor der Taubenstrasse den Kopf nach links, um in das Schaufenster des Wiesnerschen Handschuhladens zu blicken.
Dora war leider noch nicht allein. Im Plaudern mit einem Kunden stützte sie die runden Arme auf den Schaukasten und warf eben beim Lachen den schwarzhaarigen Kopf zurück. Für einen Augenblick war das Weiss ihres hohen Halses zu sehen. Dann senkte sie den Scheitel wieder, und die blauen Augen schienen durch die Scheibe ihn zu gewahren. Zu einem unmerklichen Nicken spitzte sie den vollippigen, kleinen Mund.
In froher Ungeduld schlenderte er zur Leipziger Strasse und wieder zurück. Zwei Herren standen vor Dora. Er trat an die Scheibe. Sie warnte mit verstohlenem Kopfschütteln. Er ging über den Damm und wartete, bis endlich einer der Fremden aus dem Laden trat. Nach Ewigkeiten erst hallte auch hinter dem zweiten das Schellen der Türklingel über die sonntagsstille Strasse.
Da die Luft rein schien, querte er den Damm und sprang über die Stufe in den Laden. Die Türglocke klingelte hoffentlich für zwei Stunden nicht wieder! Dora warf nach dem Gruss die Lippen auf. „Nur einmal vorbeigegangen. Nach dem Hofball ist man sich wohl zu gut?“
Die Daumen im Koppel, lachte Hans in die blauen Augen unter breiten schwarzen Brauen. „Man wollte sich nicht ärgern.“ Sein linker Daumen wies über die Schulter den eben gegangenen Fremden nach.
„Man darf Platz nehmen!“ Auch sie sass hinter dem Glaskasten nieder, und bald näherten sich ihre Köpfe. Augen und Lippen lachten in ungeduldigem Wünschen auf gleicher Höhe. Er haschte ihre Hand und streichelte auch den Unterarm. Sie barg die Finger hinter dem Rücken. „Nur beim Verpassen von neuen!“
Er hielt schon die andere Hand. „Da könnt’ ich lange warten. Zwei Dutzend für die Equipierung sind fertig, und mehr brauche ich für Jahre nicht!“
An der Hand zog er ihren schlanken Oberkörper weiter über den Schaukasten. Ihre Lippen trafen sich und blieben aufeinander. Ihre Augen waren noch geschlossen, als die Türklingel schellte. Im Schrecken sprang Dora vom Sitz auf. Hans drehte den Kopf.
„Sapperlot“, schmunzelte ein geschniegelter Dreissiger im offenen Gehpelz. Moschusgeruch wehte mit ihm in den Laden. Sein bunter Schlips trug eine glitzernde Diamantnadel. Die Stimme hatte gutmütig gespöttelt, aber aus dem weinroten Gesicht mit starker Hakennase und hängendem braunem Schnurrbart sprach Verdruss. Doras Augen schienen zu drohen, als sie mit kaltem Ernst fragte: „Herr Baron wünschen?“
„Krawatten“, sagte er und verbeugte sich, als verstehe er die Mahnung zu schweigen. Bald hatte er zwei Schlipse gewählt. Dora nannte den Preis. Er warf einen Taler auf die Glasplatte und lüftete den hohen Seidenhut. Im Gehen sprach er nicht. Doch war Hans, als zwinkere er mit den Augen nach Dora.
Ärgerlich starrte er ihm nach, aber Eifersucht wie Verlegenheit über das Ertapptsein schwanden vor Doras lächelndem Gleichmut. Er wies auf das Geldstück. „Einen ganzen Taler für zwei Schlipse?“
Sie schloss schon Schachteln und rief beim Öffnen eines Wandschranks über die Schulter: „Drei Dutzend davon seit einer Woche verkauft! Auch Vater waren sie zu teuer, aber der Reisende liess die Ware hier, und die Kunden kaufen wirklich. Die Leute tragen Geld in allen Taschen. Vor dem Krieg gab keiner mehr als fünf Gute für einen Schlips, der zwei Jahre halten sollte. Heute fordern sie Seide und fragen nicht nach dem Preis!“
Zum Einräumen stieg sie auf die Leiter. Von ihrer schmalen Taille über den breiten Hüftenpolstern der Jahresmode fiel ein braunes Tuchkleid auf weisse Strümpfe in schwarzen Stiefeletten. Der schmale Fuss mit hohem Spann war zierlich, und biegsam die schlanke Figur mit zarter Brustwölbung. Doch auch im Bewundern staunte Hans noch über den Kauf des Fremden. „Der Kerl muss ein Sündengeld haben!“
Dorchen atmete nach dem Sprung von der Leiter tief und schnell. „Kennst du Friedrich Freiherrn von der Rottenburg, genannt von Schrimp nicht?“
Beim Klang des Namens horchte der wieder Sitzende auf. Dora stützte den rechten Ellbogen auf den Schaukasten und erzählte von dem Baron, der als Leutnant gescheitert war. Ihre Finger spielten mit der blonden Haartolle über Heistenbergs linkem Ohr. Ein Flirren glühte bald in seinen hellen Blauaugen, deren Aussenwinkel leicht nach oben standen, als habe eine Ahnfrau des hübschen Jungen sich in einen Asiaten verguckt. Wünschend zuckte sein frauenhaft kleiner Mund, der ein blutrotes Viereck auf hoher Kante schien. Auch ihr Blut rann wärmer. Sie neigte ihm den Kopf zu und schauerte unter dem Druck seiner Lippen.
Viel zu früh gab er sie frei. Ihr Herz klopfte noch, als er schon wieder nach Schrimp fragte. Der Baron war ein Tausendsassa und Allerweltsagent, der die Reklametrommel als Meister schlug. Von allen leeren Hauswänden und aus allen Zeitungen Berlins schrie seine Anzeige: „F. von Schrimp macht alles.“ Er kaufte und verkaufte Häuser, Pferde, Weine, Zigarren, seltene Briefmarken, Gemälde. Er versicherte Menschen und Tiere oder suchte und fand als Detektiv Verbrecher. Sie lachte. „Vater bewundert den Pfiffikus, weil er wirklich ein Sündengeld verdient!“
Hans rümpfte die Nase. „Der schäbige Kerl zieht also einen guten alten Namen in den Schmutz. Seine Vettern oder Brüder schlagen doch die Augen nieder, wenn sie seine Reklame sehen!“
Dorchen riss an der Haartolle. „Er macht Heu, während die Sonne scheint! Sie lacht ihm, weil Berlin noch keinen Baron als Agenten hatte. Vater kennt ihn vom Stammtisch im Schweren Wagner und gibt ihm Aufträge. Also muss er den Mund halten und darf nichts verraten. Sonst könnt’ ich ihm einen Strich durch seine Rechnung machen. Aber jetzt will ich vom Hofball hören!“
Er schlug an die Stirn und griff in die Rocktasche nach einem Zuckerherzen mit Kaiserbild auf der Hülle von weissem Glanzpapier. „Mitgebracht!“
„Ah!“ Das frische junge Blut rötete ihr feines Gesicht, als sie die Hülle löste und in den Zucker biss. „Schmeckt gut ... aber ...“
Ein bedrucktes Zettelchen hatte an dem Bonbon geklebt. Sie zog es von der Lippe und sah darauf. Dann schüttelte sie den Kopf, als wundere sie sich und las laut:
„Das späte Glück.
Es führt durch Leid im Zeitenlauf
Zu lichtem Kaiserglanz hinauf!“
Er warf den Kopf über den Kragen zurück und lachte laut und vergnügt. „Schneiderverse!“
Sie krauste die Stirn in Argwohn. „Ich denke, es kommt vom Hof?“
Sein Lachen beruhigte. „Aber Louis Schneider dichtet die Verse.“ Er erzählte, dass die Kronprinzess einst über die Keckheit der Verse auf dem Zuckerzeug geklagt hatte. Also ernannte der Kaiser seinen Vorleser auch zum Zensor. Doch der Ehrgeiz des Hofrats ging weiter. Er machte seither die Reime, und sein gütiger Herr vergass nie, ihm nach Hoffesten zu sagen, seine „exzellenten“ Verse hätten wieder „Furore“ gemacht.
Dora glättete das Zettelchen auf dem Glas des Schaukastens und hob die breiten, schwarzen Augenbrauen in nachdenklichem Ernst. „Mutter legt doch gern Karten und prophezeite mir neulich Ähnliches!“ Noch geheimnisvoller und leiser flüsterte sie: „Die Karten sagten, ich käme durch Gram oder Leid zu Glück und Glanz am Thron! König und Königin lagen dicht über meiner Karte!“
Sie sah auf seinem Gesicht ein Spötteln mit Zärtlichkeit ringen und zerrte wieder an der Tolle. „Lach’ nicht über Muttchen! Sie hat nicht wie ich die ersten Berliner Schulen besucht!“
Er versicherte, dass er nur über die Verse lache, und sprach wieder von Kaiser und Kaiserin, Prinzen und Prinzessinnen. Als er auf die Damen des Feldmarschalls kam, krauste sie bald die Stirn. „Gleich eingeladen haben sie dich?“ Dann schalt sie auf Berenice: „Eine Dame sagt Herren keine Komplimente! Hörst du von mir, dass du mir gefällst?“
Sein Lachen war laut. „Nein, aber du zeigst es, Gott sei Dank! Eine Ausländerin weiss übrigens nicht, wie bald wir Pagen Offiziere werden, und hält uns vielleicht für dumme Jungens!“
Dorchen sah auf ihre Finger. „Wenn sie nur nicht recht hat, Hans! Nimm dich in acht! Sie taugt nichts!“
Er glaubte, für die Liebenswürdige eintreten zu müssen. „Sie ist eine grosse Dame!“
Dora schüttelte den Kopf mit entschiedenem Verneinen. „Zunächst ist sie Frau, und wenn du dich vor den Frauen nicht hütest, lässt du auch noch an die Mauern malen: Hans von Heistenberg macht alles! Eine ist wie die andere bis hinauf zur Kaiserin!“
Er rüttelte ihren Arm. „Das nimmst du zurück!“
Sie strafte mit einem Klaps. „Gemütlich, Hansi! Frau ist auch die Kaiserin. Wir liefern an den Hof, und ich weiss, wie sie’s treibt. Warum sitzt sie morgens mit ihm beim Kaffee allein und lässt keinen Lakaien ins Zimmer? Weil sie Wilhelm allein unter vier Augen haben will, ehe Bismarck, Moltke, Roon und Wilmowski kommen. Wenn der Dreihaarige endlich antritt, hat sie schon das Wetter gemacht, und kein Reden nützt mehr, denn gegen uns kommt ihr doch nicht auf! Sie macht den Kaffee gut süss und streicht die Butter dick auf. ‚Wilhelm, noch ein Schlückchen‘ und ‚ist er auch heiss genug‘ oder ‚ein Tröpfchen Sahne hinein?‘ Dann seid ihr hin, ob Kaiser oder Kadett!“
Wider Willen musste er mitlachen, aber fragte auch verwundert: „Warum habt ihr Frauen keinen Korpsgeist? Ihr solltet die Kaiserin wie wir den Kaiser verehren. Doch du mäkelst an ihr und schwärmst nur für ihn!“
Sie faltete die Hände vor der Brust und sagte mit brennenden Augen: „Ja, für ihn ging’ ich durch Feuer!“
Eine Dame öffnete die Ladentür und brachte Handschuhe zum Waschen. Dora nahm das Paket und fragte nach dem Namen.
Die Fremde schien verdriesslich. „Ich komme doch oft. Haben Sie mich noch nie bedient?“
Dora lächelte. „Nein, ich bin Herrn Wiesners Tochter und nur am Sonntagnachmittag im Laden, damit die Mamsell ausgehen kann!“
„Ah so!“ Die Dame nannte ihren Namen und ging. Beim Öffnen eines Buches und beim Schreiben fragte Dora ohne aufzublicken: „Und die kleine Blonde?“
„Welche Blondine?“
Sie erklärte: „Das Fräulein von Zieritz! Wahrscheinlich ist sie still, blass, klein, mit Pickeln auf der Stirn und platter Nase!“
Er schüttelte den Kopf, denn auch Mariechen war ein hübsches Mädchen. Als er sie schilderte, verengten sich Doras Augen. „Bald genug geschwärmt?“
„Dann rede du!“ Er liess sich von ihrem Erleben während der abgelaufenen Woche berichten, denn sie sahen sich nur Sonntags hier im Laden für zwei Stunden. Um vier Uhr hörten sie auch heute wieder das Klopfen an der Zimmerdecke. Die Mutter rief, und Dora musste den Laden schliessen. Der Kuss hinter schon schwebendem Rollvorhang war der letzte für sieben Tage. —
Auf der Treppe zur Wohnung der Eltern roch sie würzigen Kaffeeduft. In der Küche band Mutter nach dem Sonntagsschläfchen die Bänder ihrer Haube zur Schleife unter dem Kinn. In der guten Stube schnarchte Vater im Armstuhl zwischen Fenster und Blumentisch. Sein runder Kopf mit grauweissem Kaiserbart lag unter einem schwarzen Käppchen auf der Schlummerrolle an der Rückenlehne. Die offenen Lippen hielten noch das Mundstück der langen Pfeife zwischen seinen gespreizten Knien. Die Arme umhalsten das Rohr. Die Hände waren in den Ärmeln des braunen Schlafrocks verschlungen. Die Füsse in gestickten Sonntagspantoffeln ruhten auf einem Rohrstuhl. Ihn zu wecken schien grausam. Doch räusperte er sich, als Mutter das Kaffeegeschirr brachte. Beim Klirren von Tellern oder Tassen verstummte sein Schnarchen. Er schob die kalte Pfeife tiefer in den Mund und paffte, ohne die Augen zu öffnen.
Dora stellte die Terrakottavase mit dem Makartbukett vom Sofatisch auf die Marmorkonsole des Wandspiegels zwischen den Fenstern. „Schnell“, mahnte Mutter mit dem Brett auf den Händen. Sie riss die grüne Plüschdecke vom runden Nussbaumtisch und warf die rote mit weissen Blumen darauf. Als zwischen drei Tassen und Tellern die blumenbemalte Porzellanschüssel mit frischem Kuchen stand, schnupperte Vater den aus dem Hals der blauweissen Kanne dampfenden Kaffeedunst und blinzelte mit den Augen nach dem Rohrstuhl unter seinen Füssen. „Miekchen, mein Hauptbuch hatt’ ich doch hier zu liegen!“
Mutter glättete noch das Tischtuch. „Schon weggeschlossen! Komm, Karl! Kaffee wird nie heisser, und dein Kind hat im kalten Laden gefroren!“
Er stellte die Pfeife ans Fensterbrett, rieb die Augen, dehnte die Arme und stöhnte behaglich: „Von dem Buch hab’ ich noch jeträumt. Da steht was drin! Ja, Miekchen, ’n Sonntag is heutzutage ’n Jlück! ... Wie jing’s denn im Laden, Dorchen?“
Sie hielt schon die Kanne zum Eingiessen. „Gut, Vater! Hundertachtundsiebzig Taler Tageseinnahme!“
„Dunnerlitzchen!“ Seine runden Augen traten weit aus den Höhlen. Ganz wach stand er auf und schlurfte in den Pantoffeln zum Tisch. „Vom nächsten Sonntag ab wird zugemacht, wenn die Mamsell nach Hause jeht. Du bist ’n reiches Mächen un brauchst nich mehr im Laden stehen!“
Im Schreck setzte sie die Kanne nieder. „Um drei kamen erst die besten Kunden!“ Hans war allein im Laden gewesen, aber durfte doch nur während der Eltern Sonntagsschläfchen kommen.
Der Vater zwang den rundlichen Leib durch die Enge zwischen Tisch und Sofa und warf sich in das ächzende Polster. „Dann halt offen! Du erbst mal, was de verdienst!“
Mit behaglichem Schnuppern hielt er die Nase über seine Tasse, während Mutter und Tochter sich in die Plüschsessel setzten. Er nickte befriedigt. „Riecht wie Sonntagskaffee, Miekchen! Nur nich Bohnen zählen!“
Dann rieb er die Hände und suchte mit lüsternen Augen den Kuchenteller und die über den Topfrand schäumende Schlagsahne. Weiter glitt der Blick auf das Glühen im Ofen und die hübsche Tochter. Er schlürfte an der Tasse, ohne nach dem Henkel zu fassen, und schnalzte mit der Zunge. „So’n Leben hat doch sein Jutes! Det Jeschäft! Nu fahren bald de Droschkenkutscher zweiknöpfig, un die Fabrik schreibt, die Damen wer’n noch fünfknöpfig jehn! Ich sage dir, Miekchen, die Dora da ... zehn Knöppe trägt se noch mal! ... Hundertachtundsiebzig Taler am Sonntag! Nich zu jlauben! Na ja, die Hoffeste! Der olle Willem bringt Jeld un Jeschäfte!“
Mutter warf ihren türkischen Schal um die Schultern. „Unsere Arbeit schafft auch was, Karl!“ Vater zog sich den Kuchenteller näher. Seine munteren kleinen Augen über dicken Backen liebäugelten mit einem knusprigen Schweinsohr. „Die Arbeit allein hätt’ ohne Willem un Bismarck nich jefleckt! Wat wollten se denn hier in Berlin, wie wir achtundvierzig heirateten? Nach Revolution und Republik ham se jeschrien! Un wo wärn wer mit de Freiheit? Keen Königgrätz un Sedan, keen Kaiser un keene fünf Milliarden, aber Steuern un Pleite! Republik is Hunger und Luderei, aber Willem heisst Ordnung im Haus, Brot in die Küche un Jeld in de Tasche!“ Er biss in das Schweinsohr und schnalzte wieder mit der Zunge. „Ham wir vor de Kaiserzeit sone Kuchen jehabt?“
Ärgerlich zog Mutter den bunten Schal höher. „Was ich gebacken hab’, hat dir auch geschmeckt. Aber jetzt muss Kranzler schicken und Schlagsahne dazu, damit die Rechnung höher kommt!“
Mit gemütlichem Schmunzeln legte er ihr einen Spritzkuchen auf den Teller. „Soll Kranzler Handschuh und Krawatten bei Mange oder mir kaufen? Eene Hand wäscht die andere. Weil unsere Alma von ihm Kuchen und Sahne holt, nimmt er unsere Handschuh un alle Jahr mehr Knöpfe dran! Aber backen haste jekonnt, Miekchen. Wat jiebt’s denn zum Abendbrot?“
„Eisbein, Karl!“
Er schnaufte mit gefurchter Stirn, und sein rundes Gesicht im grauen Kaiserbart spiegelte ein Ringen wieder. Doch dann schlug er mit den Fingern auf die Tischkante. „Wird für morjen uffjehoben, Miekchen! Heut’ abend sin wer fein un jehn ...“
Den Zeigefinger an der Stubsnase drehte er sich mit verschmitzten Augenzwinkern zu Dorchen, die schon mit glänzenden Augen aufhorchte. Die Flügel ihrer feinen Nase schnupperten eine Freude, die schon ihre Wangen rötete. Da wollte er ihre Ungeduld noch mehren und lachte. „Haste denn wat anzuziehen?“
Sie zuckte die Schultern. „Das neue von Weihnachten!“
Er schob den Rest seines Kuchens in den Mund und sah im Kauen auf Frau und Kind mit grossen Augen, die Aufmerken heischten. „Wir essen ins Hotel de Rome!“
„Vater“, jauchzte Dorchen und tätschelte seine Hand. Mutter warf im Zorn den Schal ab. Auf die schmalen Wangen ihres spitzen Gesichts traten rote Flecken und schwarze Ringe unter die müden Augen. Karl war von Sinnen. Sie rang nach Atem und schalt: „Wir ins Hotel de Rome, wo nur die allerfeinste Kundschaft isst? Morgen wär’s rum von Manges bis Gerbers, von Kranzler bis Spier und vom Kadettenkorps in die Kasinos ... die Wiesners haben’s so dick, dass sie’s nur noch bei Mühling kleinkriegen!“
Vater legte den eben genommenen Spritzkuchen wieder nieder und staunte ihr in die Augen. „Kooft Mühling keene Handschuh? Wer soll Jeld unter die Leute bringen, wenn ich’s nich tu? Vor meine Kunden jenier ich mir nich. Mein Jeld is keen Blech, un ich hab’ mehr wie de Leutnants mit doppelt jelaschte von Wildleder, die nur ’n Silberjroschen fürs Waschen zahlen!“
Jetzt pflichtete Mutter bei: „Dass du’s ihnen zu billig lässt, sag’ ich schon lange!“
Er biss in den Spritzkuchen, nahm einen Schluck aus der Tasse und fragte gemütlich: „Macht’s Mühling anders? Von mir nimmt er fürs Essen ’nen Taler, aber von Offiziere ’nen halben. Wissen ooch beide, warum wir’s ihnen billjer jeden. Die un der olle Willem haben’s doch jeschafft un Jeld ins Land jebracht. Vorher hatten wir’s nich zu Schweinsohren un Sahne von Kranzler, un alles jing eenknöpfig. Nu haben wir den Kaiser un wat in de Taschen. Aber so’n Leutnant kann von 25 Taler nich mit un hat’s doch verdient. Also kriegt er’s billjer bei mir, bei Mühling un überall!“
Seine Augen zwinkerten wieder Dora zu. „Dir is schon recht, dass wer hinjehn?“
Sie nickte froh, aber stumm, um die Mutter nicht zu ärgern. Vater sah ihr Lachen mit Wohlgefallen. „Jehörst hin, zu Mühling! Wenn wir Ollen erst mal unter de Erde liegen un du ’n Mann hast, wie Vater dir schon einen suchen wird ...“
„Verdirb das Kind nicht,“ mahnte Mutter, „mit Kranzler und Mühling fängt’s an, aber endet ...“
„In Charlottenburg!“ Er schlug die Hand auf den Tisch. Doch mit behaglichem Knurren warf er seinen Rücken an die Sofalehne und knöpfte die Weste unter offenem Schlafrock auf. „Hab’ eben noch nachjerechent! Laden un Inventar bringen 10 bis 15 000 Taler ...“
Dora sah wieder Ärger in den Augen der Mutter, die von des Vaters Absicht das Geschäft zu verkaufen nie hören wollte. Doch er rechnete an den Fingern weiter: „In Schicklers Bank liegen 27 000 Taler, un für die Irundstücke draussen bietet Schrimp jetzt schon 90 000, wo sie mir vorig’ Jahr die Hälfte jekostet haben un du ooch nischt von wissen wolltest, Miekchen! Nu lass mir weitermachen! Ihr zieht euch für Mühling an. Un wenn er dienern kommt, guckst de bloss über die Schulter und nickst wie deine Dora. Die versteht so wat!“
„Verdreh’ dem Kind nicht den Kopf. Genug, dass einer im Haus die Grossmannssucht hat. Eine Berliner Meisterstochter gehört ins Haus, aber nicht ins Hotel de Rome. Bring’ sie doch gleich an den Hof!“
Er war nicht um seine gute Laune zu bringen. „Jott, Miekchen, sin ooch schon Meister int Palais jejangen. Krupp hat mit Willem un Aujuste jejessen un doch noch mit Schürze un Hammer ans Feuer jestanden? Unter Willem kommt hoch, wer wat kann!“
Doras Augen blinkten in aufmerksamer Erregung. „Krupp giesst auch Kanonen. Sonst hätte der Kaiser ihn nicht eingeladen!“
Er haschte ihr Ohrläppchen und Kliff mit den Fingern hinein. „Fängst du ooch an, Schlingel? Vatern red’t ihr doch nicht dot! Der kennt sich aus. Willem hat Krupp nich wejen de Kanonen jeholt, sondern weil er’s mit Fleiss un Sparen zu wat jebracht hat un weil eener wie der andere is: morjens früh raus un abends spät ins Bett, immer verdienen un’ nie verurschen!“
Dora war nicht überzeugt. An den Hof kam doch nur, wer adelig geboren war. Vater schüttelte den Kopf und zählte Namen auf. Der General von Reyher war Hütejunge gewesen, aber als Chef des Generalstabes gestorben. Endlich sprach er von seinem Stammtischfreund, dem Geheimen Hofrat Schneider. Der Vorleser und Vertraute des Kaisers war noch lange kein Meister, sondern nur ein Schauspieler und Federfuchser gewesen. Dem Prinzen von Preussen schickte er immer seinen „Soldatenfreund“ und klopfte endlich an die Tür von Schloss Babelsberg.
„Und der Prinz hörte ihn?“
Der Vater staunte über Doras Zweifeln. „Wozu is er denn da? Det fragt Willem nämlich selbst, wenn sie ihm sagen, ’n Kaiser dürfe nich mehr Telegramme un Briefe uffmachen un Quängeleien anhören. Der Olle will, dass an ihn ’ran kommt, wer ihm wat zu sagen hat. Darum rief er damals auch Schneidern in seine Stube un hat ihn zum Vorleser erst von Friedrich Wilhelm dem Vierten un denn von sich jemacht. Vorlesen lässt er sich aber jarnich. Det is Willem nich sicher jenug. Könnt’ eener wat überspringen, un Oogen hat er selbst im Kopp. Wat in de Stadt un ins Land vorjeht, will er von ’n einfachen Mann wie Freund Schneider wissen. Kriegt’s auch zu hören, denn wir jeben’s dem Jeheimen am Stammtisch!“
Er schien sehr stolz, weil er den Kaiser durch einen gemeinsamen Vertrauten unterrichten durfte, und Dora hoffte mehr zu hören. Doch auf Mutters Wink stand sie auf, um das Geschirr abzuräumen. Eine Frage aber tat sie noch mit dem Brett auf den Händen. „Kam’ ich auch an den Hof?“
Mutter lachte bitter und hob die Hände zur Haube. „Da hast du’s Karl!“ Auch das Kind verlor den Verstand!
Dora trat schnell aus der Tür, aber Teller und Tassen auf dem Brett klirrten. Sie war erschrocken, weil mit spöttisch hellem Ruf eben der Kuckuck fünfmal aus seinem Häuschen über dem Sofa sprang. Jetzt begrüsste Hans die Fremde, die ihm Komplimente sagte!