Читать книгу Visionen des Fritz Piccolo und der Punkt über dem i - Otto W. Bringer - Страница 6

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Mittwoch, 16. März 1986.

„Justus, holen Sie mir die blaue Mappe aus meinem Tresor. Wilhelmstraße 1. Erste Etage links. dritte Tür rechts. Hier ist der Generalschlüssel. Mit dem kommen Sie ins Haus, die Wohnung, den Tresor und öffnet die Mappe.“ Letzteres sagt er nur, um Justus, seinen Privatsekretär, auf die Probe zu stellen.

„Nur die Null tippen und mit dem Generalschlüssel den Tresor öffnen. Sie wundern sich über meine Geheimnummer? Ganz einfach. Alle Leute zermartern sich das Gehirn, eine möglichst komplizierte Nummernfolge auszudenken. Ich bin, wie Sie wissen, versessen auf einfache Lösungen. Schwören Sie, dass Sie diese Nummer niemandem weitersagen. Die Mappe mir ungeöffnet übergeben. Sonst werden Sie Ihres Lebens nicht mehr froh.“ Winkt mir der Hand – „nun gehen Sie schon, ich muss nachdenken.“

Jetzt wird es spannend, denke ich, als Justus mich nach gut fünf Wochen wieder besucht. Diesmal eine blaue Mappe unterm Arm. Was mag sie enthalten? Wieder blaue Umschläge? Kleinere im jeweils größeren? Oder russische Matuschkas, aus Lindenholz geschnitzte und bemalte, innen hohle Puppen. Große Augen sehen einen an, als sagten sie: liebe mich. Eine große, in die bis zu zwanzig und mehr jeweils kleinere gesteckt sind. Ein beliebtes Gastgeschenk. Die Idee: Mütterchen Russland schützt alle, die bei ihr Zuflucht suchen.

Justus erinnert eine Reise mit seinem Chef nach Moskau. Geschäfte abzuschließen trotz großer politischer Divergenzen. Tranken Wodka flaschenweise. Unterschrieben den Vertrag unter dem Tisch, wo sie am Morgen gelandet. Ließen immer wieder hochleben Mütterchen Russland und Väterchen Fritz. Wunderten sich nicht, dass ihre Gläser dabei stets an die Tischplatte stießen. Das Hoch bei 70 Zentimeter sein natürliches Ende fand. Wieder nüchtern schenkten sie Fritz eine besonders schön bemalte Matuschka. In den Farben rot, blau, grün und gelb.

Sie muss ihm die Idee mit farbigen Mappen eingegeben haben. Modifiziert auf seine Art. Das Prinzip übernommen und nicht die Figur. Damit kein Gerichtshof der Welt ihn verurteilen kann. Noch lange aber ist nicht jeder kleine Mann ein Pfiffikus. Was hat Fritz Piccolo sich jetzt bei Blau gedacht? Man sagt, er liebe den Umgang mit Adligen.

Ob er selber ein verkappter Adliger ist. Der uneheliche Sohn des Herzogs von Mantua? Einer, der neben seiner Ehefrau Juliette eine Freundin in Paris hat. Eine in Avignon, eine in Nizza an der Côte dʼAzur. Schon immer suchten edle Herren Nebenfrauen. Ihre Ehefrauen heiratete man, weil ihre Mitgift Vermögen und Landbesitz vermehrten. Nicht aus Liebe. Fritz heiratete die Pariserin Juliette, um täglich inspiriert zu werden. Nicht unähnlich Friedrich II. von Staufen, dem berühmten Deutschen Kaiser im Mittelalter. Viermal verheiratet und etliche Nebenfrauen. Sogar einem Harem hielt er sich mit arabischen Vollblutweibern. Die schönste von ihnen inspirierte ihn, ein Buch über die Jagd mit Falken zu schreiben. Mit dem Sultan von Jerusalem Frieden zu schließen. Statt im Papstauftrag einen Kreuzzug vorzubereiten. «Castell del Monte» in Apulien zu bauen, das achteckige Status-Symbol eines Kaisers im Mittelalter. Orientiert an der achteckigen Grabeskirche in Jerusalem. Der Krönungskapelle Karls des Großen in Aachen. Wer weiß für welche Orgien des Geistes und ideal geformter Frauenkörper Friedrich sie genutzt. In den Pausen zwischen Auseinandersetzungen mit Päpsten und konkurrierenden Herzögen Europas.

Monsieur Fritz eine Hoheit? Durchlaucht? Man müsste ihm eine Blutprobe entnehmen. Zu prüfen, ob seines eine blaue Färbung hat. In Richtung Türkis oder Enzian tendiert. Oder zur Kornblume des Alten Fritz. Dem kühlen Blau Heinrich VIII. von England. Oder ist gar eine Probe seines Blutes in der Tasche? Beweis für seine adelige Herkunft. Es sollen viele Betrüger unterwegs sein, wie Alessandro Cagliostro, der sich im 18. Jahrhundert reichen Frauen als Graf vorstellte. Unter dem Vorwand er liebe sie, ihr ganzes Vermögen ergaunerte.

Justus legt mir die blaue Mappe auf den Tisch. „Beim ersten Mal hast Du das Rätsel gelöst, wäre selber auch dahinter gekommen. Denn logischerweise ergab sich eins aus dem anderen. Habe aber heute meinen großzügigen Tag und lass es Dich machen. Vielleicht brauchst Du die Pinzette noch mal von Deinem Barbier, um aus der letzten Hülle herauszuziehen, was uns auf den Nägeln brennt. Gehe davon aus, mein Chef hat sich wieder Originelles ausgedacht.“

Dicker die blaue Mappe als die rote. Ähnelt meiner Kollegmappe, nur mit einer breiteren Lasche, aber sonst wie alle mit Reißverschluss an beiden Seiten. Das Blau ein wenig rötlich wie Ultramarin auf der Palette von «Yves Klein». Einem französischen Maler, der Frauen aufforderte, ihren nackten Körper mit ultramarinblauer Farbe anzuschmieren. Sich dann auf einer Leinwand am Boden zu wälzen, sodass sich neue Frauenakte formten, Blau auf Weiß. Abdrucke signiert bald schon begehrt von Museen, Liebhabern schöner Frauen und Freunden abstrakter Kunst.

Auch dieses Leder blau gefärbt. Denn blauhäutige Rinder sind mir nicht bekannt. Auch keine blauweiß gestreiften Leoparden. Blaufuchs ja, aber bläulich schimmern nur die Haare seines Fells. Die Mappe aber glatt wie ein Kinderpopo. Es wird eingefärbtes Kalbsleder sein. Der Haut von erwachsenen Rindern sieht man ihr Alter an, runzelig wie bei alten Menschen. Manche finden es schön. Buchbinder verwenden es, um alte Bücher einzubinden. Sie zeigen schon von außen, dass den Leser uralte Weisheiten erwarten. Fritz Piccolo aber scheint junge Kälber zu lieben. Als Ragout mit Morcheln auf dem Teller. Ihre Haut auf allem, was Wichtiges schützt, wie Mappen mit Piccolos Visionen.

Auch auf der blauen Mappe eine Lasche mit einem Schloss. Verzichte, die Mappe durchzuschütteln, auf den Boden zu werfen. Gewalt scheint Fritz nicht provozieren zu wollen. Oder soll ich doch?

Schüttele sie kräftig her und hin, rauf und runter. Etwas rutscht verdächtig in ihrem Innen. Rollt hin und her, wie mir scheint. Lege sie vorsichtig auf den Tisch, lasse mir von Justus den Hauptschlüssel geben. Öffne das Schloss und reiße die seitlichen Reißverschlüsse auf. Alles vielleicht ein wenig zu heftig. Ein Glasröhrchen hatte sich aus seiner Kartonhalterung befreit und rollt, rollt, rollt, bis die hohe Innenkante der Mappe es bremst: stopp meine Liebste.

Es ist eines der Röhrchen, wie bei Blutabnahmen üblich. Nur blau das Glas, nicht klar und zu erkennen, was drin ist. Mit einem Pfropfen fest verschlossen. Löse den Pfropfen und siehe da: ein zweites Röhrchen steckt darin. Ob es jetzt so weiter geht wie bei den roten Umschlägen? Halte das größere Röhrchen hoch, die Öffnung nach unten. Heraus rutscht das zweite Röhrchen. Auch blau und verstopft. Am oberen Rand schimmert es heller. Das Innen könnte weiß sein. Ein Papier oder Milch vom Schaf oder Ziege? Man spricht ja von Milch der frommen Denkungsart. Laut Schiller freundliche Gesinnung. Zitiert in Wilhelm Tell IV 3.

Wir komme ich auf Schiller? Goethe könnte es sein mit den zwei Seelen in der Brust seines «Faust». Eine, die stets das Gute und eine, die das Böse will. Ob Johann Wolfgang sich selber gemeint? Als Protestant gebeichtet und gedacht, jetzt habe ich nur eine Seele, die reine der beiden. Ob in dem Gläschen irgendeines Menschen Seele verborgen? Die des Fritz Piccolo vielleicht? Man munkelt, er ließ sie nach jeder Beichte von seinem Pastor in ein Röhrchen legen. Das er in seine linke Westentasche stecke. Um vor sich selbst als guter Mensch da zu stehen. Im Kopf den Ausspruch Chilons von Sparta, eines der sieben antiken Weisen: «Gnóthi seautón» – erkenne dich selbst. Am Apollo-Tempel in Delphy in Stein gemeißelt. Gott Apollo soll, dem Mythos zufolge, von den Menschen Selbsterkenntnis gefordert haben, bevor sie über andere urteilen.

Eigentlich müsste ich mich selbst befragen. Mein Innerstes nach außen kehren, damit ich mich erkenne, geneigt nur Gutes, das Richtige zu tun. Doch das zweite blaue Röhrchen gibt mir Rätsel auf, verwirrt meine Sinne. Ob es Piccolos Absicht war, unerlaubtes Öffnen zu verzögern, gar zu verhindern? Einbrecher sind in der Regel nervös, schnell wieder weg, es könnte sie einer erwischen. Da kommt er an den Falschen. Ich lasse mich nicht irritieren, aufhalten schon gar nicht. Drehe den Pfropfen, ihn zu lösen und herauszuziehen, erfahren im Drehen von Champagnerkorken. Oder muss ich die Flasche drehen, den Stopfen aber festhalten? Wie der bekannte Weintester «Johnson» empfiehlt?

Folge seinem Rat und siehe da, er lässt sich leicht herauslupfen. Werde es genauso bei der nächsten Champagnerflasche machen. Jetzt wird es spannend. Schaue hinein und entdecke tatsächlich ein weiteres Röhrchen, dessen Pfropfen mich ansieht: nun los! Zieh mich raus! Scheint es zu rufen. „Du kannst mich nicht zwingen zu tun, was ich nicht will“, rufe ich laut. Gebe meiner Stimme den Trotz eines beleidigten Mannes.

„Mit wem sprichst Du? Was sollst Du tun“, fragt Justus und zieht seine rechte Augenbraue hoch. „Ach, ich red’ so für mich hin.“ „So kenne ich Dich nicht, was also ist der Anlass? Des Pudels Kern, wenn Du es lieber hörst, Du Faustfanatiker?“

„Leck mich“ und halte das zweite Röhrchen hoch wie das erste, halte es mit der Öffnung nach unten, damit das dritte herausrutscht wie das zweite aus dem ersten Röhrchen. Nichts aber rührt sich, als klebte es fest. „Schnell, hol mir die Pinzette beim Friseur um die Ecke.“

Wo bleibt Justus nur? Blau ist die Farbe der Kälte, jetzt aber in meiner Hand ist es warm, bald wird es heißer, heiß wie Feuer. Aufregung soll den Herzschlag beschleunigen, das Blut erhitzen. In die Glieder, den Kopf steigen und wer weiß was noch. Endlich.

„Merçi danke.“ Versuche mit der Pinzette am Pfropfen zu ziehen, hin und her zu drücken, ihn zu lösen. Nichts. Ob einer beim Reinstecken nicht aufgepasst und es beschädigt hat? Ein Riss im Glas auf die Dauer den Inhalt austreten lassen. Sodass das Röhrchen fest mit dem es umschließenden Glases verklebt. Was jetzt?

Der Inhalt des Röhrchens muss also mit der Zeit fest geworden sein wie Uhu-Alleskleber. Glas mit Glas verbunden. Ist vielleicht Uhu im Röhrchen? Oder ein neuer Klebstoff, den Chef-Chemiker Dr. Bunsen in langen Versuchsreihen entwickelt hat? Was aber hatte Fritz Piccolo im Sinn? Etwa eine zweite Uhu-Marke auf den Markt zu bringen? Wo es ohnehin bereits vier Sorten Uhu gibt. Ganz abgesehen von aberhundert Klebern der Konkurrenz. Klebstoffe für alles, was kurz-, mittelfristig oder lebenslang zusammenhalten muss. Uhu schien lange einmalig zu sein. Wie Piccolos Knirps einmalig ist und bleiben soll. Mit großem Vorsprung vor jeglicher Konkurrenz. Patentamtlich beglaubigt, und Zukunftsvisionen, wie ich jetzt weiß.

Piccolo muss anderes im Sinn gehabt haben. Ist dieses neue Klebewunder vielleicht die Rettung der klassischen Ehe? Von Gott dem Chemiker eingegeben, damit Fritz Piccolo als Retter seiner Schöpfung in die Geschichte eingehen wird? Fritz, der seiner Juliette treu ist und bleibt, wie Justus mir erzählte. Und dabei mit dem linken Auge zwinkerte.

Wie aber soll dieses Wundermittel wirken? Soll Mann es schlucken, Frau in die Vagina träufeln? Klebstoff wäre das schlechteste Mittel zur Festigung einer Ehe. Selbst wenn es «Fidelitas» hieße. Heißa die Fidel, denken die Männer. Frauen an Walter von der Vogelweide, den bekanntesten Minnesänger, und verdrehen verzückt ihre Augen.

Das Mittel müsste, um eheliche Treue abzusichern, anders wirken. Anders verordnet werden, nicht von Ärzten. Als Placebo für Leichtgläubige vielleicht. Verordnet von Pfarrern. Dann müssten alle wieder in die Kirche gehen, sonst wüssten sie nichts davon. Und alte Zeiten wieder da. Eheliche Treue selbstverständlich. Das Wundermittel überflüssig.

Lass die Spintisiererei, befehle ich mir. Tatsache scheint zu sein, dass dieses Weiße im Röhrchen fest geworden, nachdem es eingefüllt. Dann wird es auch in Menschen fest werden. Magen und Gedärm verkleben und innerlich erstarren. Ob Dr. Bunsen es an lebenden Menschen ausprobiert, ist eher unwahrscheinlich. Seinem Chef Fritz Piccolo bestimmt nur vorgegaukelt wie Alessandro Cagliostro der Herzogin von Urbino. Ihm werde ich einen Strick drehen. Falsche Propheten soll man bloß stellen, dass sie nackt da stehen. Wie der Kaiser in seinen neuen Kleidern von Hans Christian Andersen.

Was aber ist das Weiße, das festklebt und sich partout nicht lösen lässt. Schüttele es kräftig, schlage mit der Faust, die das Röhrchen umfasst, auf den Tisch. Zwei, drei, viermal, sechsmal, siebenmal. Sieben eine heilige Zahl. Die Katholische Kirche könnte Recht haben. Sieben Sakramente garantieren ewiges Heil. Allen, die imstande sind zu glauben, was man nicht sieht. Ich aber sehe das Weiß im blauen Glas und bin verdammt. Verdammt zur Untätigkeit. „Justus, ich muss es wissen, hol mir einen Hammer.“

„Bist Du des Wahnsinns, mein Chef wird sofort entdecken, dass eines der Röhrchen fehlt. Glassplitter entdecken und das Schlimmste vermuten.

Ich aber hänge am Fliegenfänger. Wenn ’s das mal nur wäre. Du würdest mich herunterholen, Freund, der Du bist. Geschworen, mir beizustehen in jeder Not und Gefahr. Doch Fritz Piccolo wird es sofort spüren, wie er alles erspürt, bevor es geschieht. Mich vor Gericht zerren, den besten Ankläger bestellen, mich los zu werden für alle Zeit. Lass das Röhrchen sein, was es ist und stecke es wieder in das zweite, in das erste und wieder in das Fach in der Tasche, wo sie waren.“

„Sag bloß, Dich wurmt es nicht, keine Ahnung zu haben, was in dem Röhrchen steckt. Aber sich weigert ohne erkennbaren Grund. Klebstoff ist es ganz sicher nicht. Dein Chef scheint nicht so blöd zu sein, mit einem Mittel, das nur Bekanntes fixiert statt neue Perspektiven zu eröffnen. Es muss doch möglich sein, an sein Innerstes zu kommen. Wir werden es dann identifizieren, wie die Briefmarke im roten Umschlag.

Eine Minute vergeht, während mein Hirn rotiert. Hurra, ich hab eine Idee: Was hältst Du davon, es über eine brennende Kerze zu halten. Nur kurz, damit das erwärmte Glas den Inhalt aufweicht und schmilzt. Vielleicht löst er sich auf, fließt heraus und wir sehen, was es ist oder am Boden darunter versteckt hält.“

„Einverstanden, wollte mir gerade eine Zigarette anzünden. Hier, halte das Röhrchen über die Flamme. Moment, das Feuerzeug klemmt.“ Justus klickt mehrmals, aber der Docht weigert sich, Flamme zu werden. „Hat Du vergessen, Benzin nachzufüllen?“ „Heute Morgen noch, um nach dem Frühstück die übliche Zigarette zu rauchen.“ Schüttelt und klickt erneut. Blickt wütend auf das versilberte Ding in seiner linken Hand. Wechselt in die rechte. Als wäre er in die Front National eingetreten. Von Marine Le Pen beeindruckt. Da, jetzt brennt es.“

Das weiße Etwas löst sich auf, wird flüssig. Schnell die linke Hand darunter, aufzufangen, was heraus will. „Justus schnell, halte den Aschenbecher unter das Röhrchen, wenn ich es jetzt nach unten halte, den Saft aufzufangen. Beeil Dich, sonst verbrennt die heiße Flüssigkeit meine Hand. Du müsstest den Doktor holen oder besser sofort den Rettungswagen bestellen und in die Klinik rasen. Was ist, wäre es zu spät für ein Salbenpflaster? Sie müssten die verbrannte Haut abziehen und eine neue transplantieren. Spüre schon rasenden Schmerz, den Aschenbecher, schnell!“ Am Röhrchen hängt ein Tropfen und zittert. Mein Leben hängt am seidenen Faden.

Da löst sich der Tropfen vom gläsernen Rand. Wird im Herunterfallen groß und größer, zur Kugel aufgebläht. Landet auf dem Boden des blaugläsernen Aschenbechers mit der Aufschrift «Curacao bleu». Groß und rund wie eine weiße Billardkugel, das Blau ihrer Umgebung reflektierend. Fasziniert betrachte ich dieses Gebilde, das sich noch einmal um sich selber dreht wie die Erde. Als wolle sie prüfen, ob alles noch beim Alten ist. Die Sonne scheint und ich große Lust, sie mit dem Billardstock in eins der sechs Löcher zu stoßen.

Doch was hat das mit Fritz Piccolo zu tun? Was versteckt sich in dem Saft, der zur Kugel wird, erwärmt man ihn? Ein chemischer Prozess vielleicht, der z. B. aus einem Minimum ein Maximum werden lässt, wirft man es wie getrocknete Pilze ins Wasser, eine Messerspitze Trockenhefe in den Teig z. B. Will Piccolo jetzt in die Nahrungsmittelbranche wechseln? Nach Industrierohren und Regenschirmen die Konkurrenz überraschen?

Justus hat sich als erster gefangen, entdeckt, die Kugel hat eine Taillenschnur: „Sieh genau hin, es könnten zwei Halbkugeln sein, die man aufschrauben und wieder zusammenschrauben kann. Ihr Inhalt wird des Rätsels Lösung sein.“

„Lass mich sie aufschrauben, Du hast es mir versprochen, erinnere Dich daran, als Du mir die Mappe übergabst.“ Nehme die Kugel in beide Hände und will sie drehen. Nichts rührt sich. Vielleicht muss ich sie rechts herum drehen statt links herum wie üblich beim Öffnen von Dosen und Flaschen. Wieder nichts. Vielleicht sind meine Hände verschwitzt vor lauter Aufregung. Reibe sie an meiner Hose, die Handflächen gegeneinander, trockenen Widerstand zu spüren. Die Kugel wieder links herum gedreht, plötzlich ein Piepton im Ohr. Sehe mich um, ob eine Meise auf der Fensterbank sitzt. Nichts. Probiere es nochmal und wieder piept es. Bei mir piept es, fällt mir ein. Enttäuscht von mir selber lege ich die Kugel zurück in den Aschenbecher.

„Weshalb gibst Du so früh auf? Ausdauer zeichnet den Helden aus. Du bist doch sonst ein Draufgänger. Lass mich mal.“ Nimmt die Kugel, die so hübsche, weiße, bläulich schimmernde Kugel in seine gepflegten Hände. Und schon reflektiert sie nicht mehr blau, sondern das Rosa seiner Haut. Justus sieht mich an, spitzt seine Lippen und flötet das Lied einer einsamen Meise. Dreht dabei die obere Halbkugel nach links, wie ich sehe. Genau wie ich es tat. Da piept es in meinen Ohren wieder. Justus aber scheint es nicht zu hören, lächelt mich an, die obere Halbkugel in der rechten Hand, in der linken die untere. In beider Innenraum nichts. Jedenfalls nichts, was weiterer Anstrengung wert wäre.

Fritz Piccolo scheint ein Witzbold zu sein. Die Neugier von Menschen einzukalkulieren. Den Spieltrieb besonders von Männern, kennt er die Definition des Menschen als «Homo Ludens». Öfter anzutreffen als ein «Homo Sapiens», für die Spielen doch nur Kinderkram ist. Sein Dr. Bunsen könnte eine Mixtur gemixt haben, die bei Erwärmung weich wird und in der Luft rasch eine andere Form annimmt. Kugeln verschiedener Größe. Ein netter Zeitvertreib. Spielzeughersteller werden sich darum reißen. Fritz Piccolo aber wird das Patent darauf schon lange in der Mappe haben. Sind doch Kugeln nichts anderes als ein dreidimensionaler Punkt. „Hör mal Justus, da fällt mir ein, Dein Chef könnte es so gewollt haben, ist doch die Kugel nichts anderes als ein aufgeblasener Punkt. Und Punkte, wie wir wissen, sind seine Leidenschaft.“

Justus aufgeregt, wie ich ihn noch nie sah. Rot seine Wangen, rot die hohe Stirn bis an den Haaransatz. Rot die sonst so vornehme Nase über dem formvollendet geschnittenen Schnauzbart. „Denkst auch Du daran, dass uns das Größte noch bevorsteht? Andere, spektakuläre Visionen als die beim Knirps? Das ist doch das Geheimnis, das wir nicht lösen dürfen. Er wird sofort merken, dass einer die Mappe geöffnet hat, der Verdacht auf mich fallen. Wir müssen die Kugel wieder in ihren Urzustand bringen. Der Chef darf um Gotteswillen nichts merken.“ Pause.

„Du meinst also, wir sollten darüber nachdenken, wie wir die Kugel wieder flüssig machen. Hättest Du keine Sechs in Physik gehabt, wüsstest Du, Wärme hat sie groß und fest werden lassen, Wärme wird sie wieder flüssig machen. Dann können wir sie dahin befördern, wo sie herkam. Durch einen Trichter ins Röhrchen fließen lassen. Pfropfen drauf und zurück ins zweite und die ins erste Röhrchen. Auf denn, lasst uns die Kugel erwärmen.“

Wir haben beide die Kugel in die Hände genommen, gedreht. Gedrückt und gerieben. Sie uns zugeworfen, in die Luft ein paar Mal wie ein Zirkusclown, und wieder aufgefangen. Links- und rechtsherum gedreht. Nichts. Zehn Minuten in siedendes Wasser gelegt. Auch das hat nichts gebracht. Kugel blieb Kugel, als wollte sie, dass wir mit ihr Billard spielen. Die Idee ist mir gerade gekommen: „Justus, wir gehen jetzt in Dein Billardzimmer und spielen eine Partie. Wechseln aber die rote Spielkugel gegen unsere weiße aus.“ „Was ändert das an unserem Problem?“ Meinte Justus und lässt seine rechte Schulter zucken, als hätte die linke keine Lust, mit der rechten zu kooperieren.

„Könnte doch sein, dass die Kugel von Deinem oder meinem Stock gestoßen einen solche Hitze entwickelt, dass sie sich auflöst und wird, was sie war: ein weißes flüssiges Etwas.“ „Du Oberschlauberger, wie willst Du denn die weiße Masse von der Spitze lösen? Gesetzt der Fall, sie löst sich auf, von der Hitze beim Aufprall weich geworden. Das Zeugs klebt wie Du weißt und muss wieder ins Röhrchen. Keine Ahnung, wie das gehen soll. Hast Du Obersuperschlaumeier eine Idee? Dann raus damit. Sonst werde ich meines Lebens nicht mehr froh. Und Du kannst Dich gleich begraben lassen.“

Wir haben es probiert, die Kugel gestoßen, dass es jedes Mal knallte wie ein Schuss. Dann nur leicht angetippt, sie nicht zu erschrecken. Kugeln wie Frauen lieben Zärtlichkeiten. Es hat alles nichts gebracht, die Kugel blieb eine schöne weiße Kugel, die jetzt grünlich schimmert, als wir sie in Ruhe ließen. Sie scheint sich ihrer Umgebung, dem Grün des Spieltisches anzupassen. Vielleicht ist das die Lösung.

„Ich hab eine Idee!“ „Schon wieder eine? Hör auf, mir wieder Hirngespinste vorzuschlagen. Dein Hypocampus ist mit dem meines Chefs nicht zu vergleichen. Der zwar klein von Gestalt, aber groß sein Gehirn. Er wird gewusst haben, was er in Auftrag gab und sich ’s gemerkt. Gäb was drum, ich wüsste es. Vielleicht löst das Rätsel eine weitere Mappe, eine grüne vielleicht. Die Farbe Grün lässt hoffen.“

„Jetzt bist Du zu kurz gesprungen, Justus. Wie willst Du Dich rausreden, bringst Du Deinem Chef nicht, wie verlangt, die blaue Mappe ins Büro? Und zwar sofort. Denn mit unseren Versuchen ist schon viel Zeit vergangen. Du kannst nicht mal eine Stunde später kommen und er schöpft Verdacht. Wie willst Du Dich ausreden? Hast Du schon eine Idee?“

Seine Stirn kraus, von des Gedankens Blässe angekränkelt. Nach einer Weile: „Ich werde ihn anrufen und sagen, meine Großmutter liege im Sterben und ich muss sofort hin. Noch bevor ich ihm die Mappe zurückbringen könnte. Es zähle jede Minute. Sonst sei meine Erbschaft perdu. Perdu verloren auf Französisch. Monsieur Fritz liebt la langue Française. Er wird mir erlauben, die Mappe später zu bringen.“

„Ganz sicher wird er Dich auch fragen, ob Du die blaue Mappe in dem Tresor verschlossen hast, den er Dir überließ. Mit einem Spezialschloss vor fremdem Zugriff gesichert. Am besten sagst Du es ihm selbst. Er wird es Dir hoch anrechnen.“ „Gute Idee, danke für den Hinweis, bis später.“

Monsieur Fritz schien einverstanden, Justus strahlt übers ganze Gesicht: „Aufgeschoben ist nicht aufgehoben“, kann ich mir nicht verkneifen. Wir spielten noch eine halbe Partie, mit den Gedanken bei dem, was passiert, gelingt es uns nicht, den Urzustand wiederherzustellen. Verse eines Studienkollegen fallen mir ein, als hätte er diese Situation gekannt:

wohin wir auch rollen wie Kugeln –

dem Glück entgegen –

an allen Enden –

von Erde und Himmel –

lauert ein Loch –

uns zu verschlucken –

uns glücklose –

glückliche

Visionen des Fritz Piccolo und der Punkt über dem i

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