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1. Koloniale Diagnosen

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An einem warmen Septembermorgen ging ich mit einem neugeborenen Kind, eingewickelt in ein weißes Leinentuch, zur Kinderärztin nebenan. Die Mutter lag noch erschöpft von der mehrstündigen Hausgeburt im Bett, während ich nervös die Untersuchung in der Praxis abwartete. Wenige Minuten nach der Anmeldung war es so weit. Die Ärztin beglückwünschte mich zur Geburt dieses Wunders und begann mit geschulten Händen das Kind zu inspizieren. Sie zählte Finger und Zehen ab, wog das Kind und legte ein Messband an. Die Gesellschaft beginnt sehr früh mit der Normvermessung, es muss ja schließlich alles seine Ordnung haben, nicht wahr? Zehn Finger, zehn Zehen. Reflexe scheinen okay zu sein. Aber siehe da. Die Ärztin legte das Kind auf den Bauch, strich mit dem Finger über den Nacken bis hinunter zum winzigen Po. Dort blieb der Finger stehen. »Sehen Sie diesen blauen Fleck, Herr Keskinkılıç?«, fragte sie mich. »Das ist der Mongolenfleck.« − »Ein Mongolen-was?«, fragte ich verwirrt zurück. »Keine Sorge«, antwortete sie. »Das ist eine harmlose Ansammlung von Pigmentzellen, eine Pigmentstörung sozusagen. Sie verschwindet nach ein paar Jahren. Das ist so bei turkvölkischen und asiatischen Menschen, ja, das ist typisch für alle Menschen, die ursprünglich aus Asien kommen.«

Eigentlich kam das Kind ja gestern aus dem Bauch der Mutter. Und ich übrigens aus Hessen. »Ja, aber nicht wirklich«, konterte die Expertin völlig unbeeindruckt. »Sie wissen doch, was ich meine«, sagte sie und griff nach dem Stethoskop.

haymat ist enşöligensi ih möhte şiş köfte enşöligensi ih essı kaynı şinkın enşöligensi ih şprehe doyç zer şön enşöligensi fiştehin zi mih? enşöligensi / aynwanderunk – nix sürük.

– TUNAY ÖNDER, Enşöligensi

Zuhause angekommen, legte ich das frisch vermessene Kind mit zertifiziertem MH (Migrationshintergrund) wieder sanft neben die noch schlafende Mutter, goss mir einen Pfefferminztee ein und schaltete den Computer an. Und während ich mich eigentlich über unseren süßen Nachwuchs freuen wollte, tauchte ich ein in die Geschichte des »Rassendenkens« – schwer verdaulich, aber notwendig, um in den Debatten über die Anderen, die ich mir einmal mehr nicht ausgesucht hatte, navigieren zu können.

Googelt man »Mongolenfleck«, erscheinen in Sekundenbruchteilen über 6000 Ergebnisse. Das Online-Wörterbuch Duden.de fasst sich kurz. Der Mongolenfleck: »bläulicher oder bräunlicher, meist im Kreuz auftretender, später verblassender Fleck in der Haut von Neugeborenen besonders des mongoliden Menschentypus«.16 Das eröffnet aber mehr Fragen, als es Antworten gibt. Was soll bitte ein »mongolider Menschentypus« sein?

Auch bei Wikipedia fällt die Antwort eindeutig aus. Der »Mongolenfleck«, auch »Asiatenfleck« oder »Hunnenfleck« genannt, trete bei 99 Prozent der Kinder von Chinesen, Japanern, Koreanern, Vietnamesen, Mongolen, Turkvölkern, Indochinesen und indigenen Gruppen der Amerikas auf.17

Schnell stoße ich auf ein medizinisches Handbuch von 2006, Pädiatrische Dermatologie. Darin heißt es, der Fleck komme bei ca. 90 Prozent aller asiatischen und nichtweißen Neugeborenen und bei bis zu 10 Prozent »weißhäutiger« Säuglinge vor. Ausgelöst werde der Fleck durch eine »unvollständige Migration der Melanozyten von der Neuralleiste in die Haut«.18

Der »Mongolenfleck« − eine aberwitzige Sammelbezeichnung also, die Menschen mit blauem Fleck ihrer Unterschiede zum Trotz in eine Gruppe zusammenwürfelt und von Menschen ohne blauen Fleck abgrenzt, den sogenannten Europäer:innen. Obwohl von diesem Fleck keine gesundheitliche Gefahr ausgeht, er im Grunde überhaupt keine medizinische Relevanz hat, wird er relevant gemacht. Der zehnte Treffer meiner schnellen Onlinesuche führte mich auf ein sehr suspektes Forum namens Genealogy.net. Holli, eine unregistrierte Nutzerin, schrieb am Mittwoch, dem 27. September 2006 um 11:58 Uhr (auch ein Septembermorgen …): »Unser jüngster Sohn hat einen Mongolenfleck. Und wir wüssten doch allzu sehr woher …«19 Sie sind nicht die Einzigen, die die deutsche Abstammungslinie ihrer Familie nun in Frage stellen und auf biologische Spurensuche gehen wollen. Gaby, eine andere Userin aus Hessen, antwortete darunter: »Es wäre schon interessant, wenn man mit einem Gentest feststellen könnte ob der Fleck von der Mutter oder dem Vater vererbt wurde. Mich würde das schon interessieren. Auch ob wirklich mongolisches Blut in den Adern meiner Tochter fließt oder ob es von der französischen Linie meines Mannes. (…) Allerdings hat auch meine Nichte solch einen Fleck. Das hilft jedoch nicht sehr viel, denn ihre Mutter ist Thailänderin und der Fleck kommt ja gerade in asiatischen Ländern sehr häufig vor. Meine Tochter darf ich darauf allerdings nicht ansprechen, sie will nichts davon hören.«20

Ich verstehe nicht ganz: Wenn der Fleck typisch für Menschen aus »asiatischen Ländern« ist, was hat er dann mit der französischen Linie von Gabys Ehemann zu tun? Das hat meine Neugier geweckt. In mehreren Internetforen diskutieren besorgte Eltern über ein Überbleibsel der Hunnen im Genpool Europas. Besonders in Frankreich soll es Regionen geben, wie in der Champagne, wo Ärztinnen und Ärzte überdurchschnittlich oft auf den »Mongolen-« oder eben »Hunnenfleck« treffen. Denn nach der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern 451 hätten sich Attilas verwundete Hunnen dort niedergelassen. 1570 Jahre – da hält sich ein Migrationshintergrund mal richtig lang …

Meine Recherche führt mich über Umwege zum Namensgeber. Ausgerechnet ein deutscher Landsmann hat den blauen Fleck am Po fremder Völker entdeckt. Er hieß Erwin Bälz, lebte von 1849 bis 1913 und war ein deutscher Internist und Anthropologe. Bekannt ist er für seine Tätigkeit als Leibarzt am japanischen Kaiserhaus. Zufällig hatte er eine Affinität zur »Rassenforschung«, wie viele andere Wissenschaftler dieser Zeit. Den »Mongolenfleck« bei Säuglingen beschrieb Bälz als typisches Merkmal der »mongolischen Großrasse«. Der Name geht also direkt auf die alte rassenkundliche Bezeichnung »Mongolide« zurück. Dass die Forschung am Menschen besonderer Fähigkeiten bedarf, dessen war sich der Entdecker des blauen Flecks bewusst: »Es scheint sehr einfach, den lebenden Menschen zu studieren, ist es aber gar nicht.«21 Stimmt, einfach ist es nicht, denn auch Bälz schaffte es nicht, sich dem Menschen abseits rassistischer Ideen anzunähern. Sein Blick war nicht »objektiv«. Genauso wie der von nachfolgenden Generationen europäischer Wissenschaftler; diese Geschichte ist belastet und der Begriff nicht unschuldig.

In dem 1932 veröffentlichten Fachbuch Angeborene Anomalien heißt es, der »Mongolenfleck« stelle bei »sog. weißen Kindern« eine »Anomalie« dar, weil er »noch viel seltener sein dürfte, als es die Statistiken beinhalten, da die betroffenen Kinder oft Mischlinge sind«.22 Ein »Ausländer« in der Familiengenealogie reicht plötzlich aus, um Menschen aus der eigenen Box herauszudenken. Strukturell steckt hinter dem Begriff des »Mischlings« unter Menschen eine Vorstellung von »Degeneration«, von biologischer Grenzübertretung und skurriler »Kreuzung«.

Die wissenschaftlichen Ausführungen zum »Mongolenfleck«, das wird hoffentlich klar, müssen unbedingt kritisch aufgearbeitet werden. Schließlich dreht sich hier alles um das biologische Konstrukt »Rasse«, eine Erfindung!, deren Karriere bis in die Zeit der hochgelobten Aufklärung zurückreicht. Im Namen der Wissenschaft wurden menschliche Körper vermessen, Haut- und Augenfarben eingeordnet und Schädel untersucht. Daraus wurden Charakter, Entwicklungsgrade, intellektuelle Fähigkeiten oder sogar Ästhetik abgeleitet.

Der deutsche Zoologe Johann Friedrich Blumenbach (1752 – 1840) vermaß gleich 245 Köpfe und kam zu dem Ergebnis, der schönste Menschenschädel sei unter den Georgierinnen und Georgiern im Kaukasus zu finden. Deshalb plädierte er dafür, die »weiße Rasse« nach dem attraktivsten Modell zu benennen: kaukasisch.23 Auch der deutsche Philosoph Christoph Meiners (1747 – 1810), ein überzeugter Verfechter des transatlantischen Sklavenhandels, unterschied zwischen der weißen, »kaukasischen Rasse« und der »mongolischen Rasse« unter dem Aspekt der Schönheit. In seinen Publikationen benannte er »weiße Rassen« in schöne und »mongolische« in hässliche um.24 Es ist natürlich nur ein Zufall, dass europäische »Rassenforscher« der schönsten und klügsten Variante des Menschen angehörten …

Die medizinische Fachdebatte über den »Mongolenfleck«, die auf eine über hundertjährige Geschichte zurückblickt, ist nicht »neutral«. Im Gegenteil, sie ist durch und durch von der »Rassentheorie« durchdrungen. Auch deutsche Mediziner trugen zur Karriere eines Konzeptes bei, das den Weg zur systematischen Ermordung von Jüd:innen, von Sinti:zze und Rom:nja in Europa ebnete. Darunter Eugen Fischer, Fritz Lenz und Erwin Baur mit dem Werk Grundriss der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene (1921). Sie griffen, wie andere, auf den Diskurs um Medizin und Gesundheit zurück und konstruierten Jüdinnen und Juden als ihrem Blut nach krank, schmutzig und minderwertig.25 Die konstruierte Liste angeblich »jüdischer« Krankheiten war lang. Sie reichte von psychischen Störungen über körperliche Normabweichungen (Beschneidung, Nasenform und »mauscheln«), Diabetes und Blindheit bis hin zu Hysterie und der Syphilis.26 Diese Geschlechtskrankheit wurde im ausgehenden 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch als typisch für andere Gruppen gesehen, u. a. für arabische und muslimische Menschen. Auch im deutschen Kolonialismus bemühten Missionare, Kolonialbeamte und Wissenschaftler medizinisches Vokabular im Kampf gegen »den« Islam in ihren Kolonien. Sie setzten die Verbreitung der Religion mit der Ausbreitung einer Infektion gleich, machten Araber:innen und Muslim:innen für die Syphilis verantwortlich und legitimierten koloniale »Zivilisierungsmaßnahmen« als »Gesundung«.27

Seuchen und Geschlechtskrankheiten zu übertragen wurde auch nach dem Ersten Weltkrieg Schwarzen und arabischen Männern unterstellt. Als das Deutsche Reich im Ersten Weltkrieg den Siegermächten unterlag, beklagten öffentlichkeitswirksame Kampagnen die »Schwarze Schmach am Rhein«, also die Stationierung französischer Kolonialsoldaten aus dem Senegal, aus Marokko und Algerien im Rheinland. Schnell verbreiteten sich Gerüchte, dass Schwarze und arabische Männer weiße Frauen vergewaltigen, gesundheitliche Gefahren mit sich bringen und so »das deutsche Volk« zerstören würden. Diese Hetzkampagnen waren die Vorboten der Verfolgung. 1933 wurden Kinder aus den Beziehungen zwischen Kolonialsoldaten und deutschen Frauen statistisch erfasst. Es wurden Untersuchungen an den sogenannten »Rheinlandbastarden« vorgenommen, die auf Basis rassistischer Erblehren geistige und körperliche Schwächen attestieren sollten. Um weitere »Rassenvermischungen« zu verhindern, wurden diese Kinder 1935 zwangssterilisiert.28

Für Frantz Fanon (1925 – 1961), Psychiater in Algerien und Wegbereiter der Postkolonialen Theorie, war es nicht verwunderlich, dass Ärzte auch im Kolonialismus eine prominente Rolle einnahmen. »Die westliche medizinische Wissenschaft, die zugleich mit dem Rassismus und der Demütigung nach Algerien gebracht wurde, hat als Teil des Unterdrückungssystems beim Einheimischen stets eine zwiespältige Reaktion hervorgerufen«, schrieb Fanon in seiner Kritik Kolonialismus und Medizin.29 Fanon ging es nicht nur um die Sympathien französischer Ärzte mit der Kolonialregierung oder ihre Komplizenschaft bei der Folterung algerischer Kolonisierter. Er klagte zudem ideologische Verbindungen der Psychiatrie zum kolonialrassistischen Projekt an. Der gebürtige Martiniquaner, bekannt für seine Schriften Schwarze Haut, weiße Masken (1952) sowie Die Verdammten dieser Erde (1961), studierte Medizin in Lyon, bevor er 1953 eine Anstellung als Chefarzt in Blida-Joinville annahm. Die algerische Stadt wurde in dieser Zeit auch »Stadt der Irren« genannt, hier befand sich eine der bekanntesten Psychiatrien auf dem afrikanischen Kontinent.

Das Hôpital Psychiatrique de Blida trennte nicht nur zwischen den Geschlechtern, sondern auch zwischen »Europäern« und »Einheimischen«. Es gehörte der renommierten École d’Alger (Schule von Algier) an und baute seine Arbeit auf die Haupttheorie der französischen Kolonialpsychiatrie auf, der mentalité primitive, einer angeblich mentalen Primitivität des nordafrikanischen Menschen. Diese einflussreiche Schule, die auf den französischen Arzt Antoine Porot (1876 – 1965) zurückgeht, dominierte die französischen Fachdebatten von den 1930er bis in die 1950er Jahre. Sie diagnostizierte eine vermeintlich anatomisch unvollkommene Hirnentwicklung unter Einheimischen in Nordafrika und identifizierte typische Eigenschaften: Das Leben der Menschen des Maghreb sei von primitiven Instinkten beherrscht; sie seien willenlos, faul und pathologisch leichtgläubig; sie könnten nicht logisch denken; es läge in ihrer Natur, zu lügen und kriminell zu sein.30 »Später wird man ›Moslems‹ sagen«31, schrieb die algerische Psychoanalytikerin Alice Cherki in ihrer fulminanten Fanon-Biografie. Und tatsächlich wich die Bezeichnung »Einheimischer« in kürzester Zeit dem Begriff »Moslem«. An den Zuschreibungen hat das nichts geändert, sie blieben erhalten. Krankheit zu simulieren und zu lügen, Ehen zu brechen und zu stehlen, nicht kausal denken zu können und kein Gefühl für Zeit zu haben – all das gehörte laut psychiatrischer Diagnose zu ganz normalen muslimischen Charaktereigenschaften.32

Die Kolonialdiagnose – auch dafür steht Muslimaniac – pathologisiert das muslimische Leben insgesamt. Sie macht die Anderen zum Problemfeld der Medizin, der Integration, der Sicherheit. Sie fordert Korrektur, Eingliederung und Kontrolle. Sie erfindet muslimische Menschen zum Gegensatz europäischer Menschen: irrational, primitiv, gewalttätig. Sie beschuldigt sie der Kriminalität und Lüge, sie dämonisiert sie und überschattet so ihr ganzes Dasein.

Die École d’Alger, mit ihrem Fokus auf der mentalité primitive, sah sich als Autorität nicht nur für Fragen der Psychopathologie, sondern für das gesamte tägliche Leben der Muslime Nordafrikas.

– NINA SALOUÂ STUDER

Gegen solche Kolonialdiagnosen ergriff Fanon das Wort. Er wies rassistische Argumente zurück, die sich auch gegen ihn als Schwarzen Mann richteten, und schloss sich dem algerischen Befreiungskampf an. Fanon hatte es auch auf die Psychiatrie abgesehen: Er strebte die Einführung einer Sozialtherapie an und realisierte früh, dass das nicht ohne den antikolonialen Kampf funktionieren würde. Die Gegenwehr war massiv: »Wollte Fanon seine Prinzipien auch auf die Moslems anwenden? Wie naiv! Wie kann man nur denken, daß die Moslems auf solche Methoden positiv reagieren könnten? Sie sind zu primitiv«, fasste Cherki die skeptischen Reaktionen der französischen Kollegen damals zusammen.33

Früh machte Fanon darauf aufmerksam, dass der biologische Rassismus mit der Zeit einem kulturellen wich. Es ging bald nicht mehr um Schädelform, Nasengröße oder biologische Minderwertigkeit: »Der Rassismus, der sich rational, individuell, genotypisch und phänotypisch determiniert gibt, verwandelt sich in einen kulturellen Rassismus«, lautete Fanons Resümee. »Das Objekt des Rassismus ist nicht länger der einzelne Mensch, sondern eine bestimmte Existenz-Form.«34

Die »Schule von Algier« hat überlebt. Heute wird zwar nicht mehr Porot zitiert, dafür aber der »Morbus Bosporus« oder der »Morbus Mediterraneus«, manchmal auch der »anatolische Schmerz«. Mit diesen Bezeichnungen wird im Praxisalltag unter Menschen, deren Herkunft im Mittelmeerraum vermutet wird, eine geringe Schmerztoleranz diagnostiziert.35 Es heißt dann auch, sie würden lügen und simulieren, das sei kulturell bedingt und nicht ernst zu nehmen.

Ganz in der Tradition der mentalité primitive wurde auch mir »herkunftsbedingt« unterstellt, wehleidig zu sein. »Südländische« Menschen wären zu schmerzempfindlich. Das musste sich auch mein Cousin anhören, dessen entzündeter Blinddarm erst sehr spät erkannt wurde, weil der Hausarzt davon ausging, dass er ebenfalls, weil »türkisches Kind«, übertreibt. Zum Glück holte meine Tante noch weitere Meinungen ein, sodass ihr Sohn gerade noch rechtzeitig operiert werden konnte.

Die Diagnose »Morbus Mediterraneus« kann tödlich enden, wenn Fälle heruntergespielt und Patientinnen oder Patienten abgewiesen oder ungenügend behandelt werden. Kein Wunder, dass Schwarze Menschen und People of Color in Zeiten der Covid-19-Pandemie ihre Sorge darüber teilen, im Gesundheitswesen diskriminiert zu werden.36

Zeitgleich gewinnt der antiasiatische Rassismus unter dem Label Corona an Fahrt. Asiatisch gelesene Menschen werden medial und öffentlich mit dem Virus in Verbindung gebracht und auf offener Straße angegriffen, so, wie auch Sinti:zze und Rom:nja pauschal unter Corona-Verdacht stehen.37 Zudem kursieren antisemitische Verschwörungstheorien, die jüdische Menschen für das Virus verantwortlich machen. In Indien werden muslimische Menschen zum Sündenbock gemacht und körperlich angegriffen. Unter dem Hashtag #CoronaJihad kursieren Mythen in den sozialen Medien, dass indische Musliminnen und Muslime das Virus als Waffe für den »Heiligen Krieg« verwenden würden.38 Auch auf deutschen Straßen zirkuliert für Corona das Wort »Kanaken-Seuche«39 unter rechten Demonstrantinnen und Demonstranten. Sie nutzen die Corona-Krise, um sich zu mobilisieren.

Schon bei den Dresdner »Montagsspaziergängen« warnten die angeblich so besorgten Bürger mit medizinischen Argumenten vor der »Islamisierung des Abendlandes«. Einige plädierten dafür, Ausländer und Geflüchtete zu isolieren und ihre Einwanderung zu stoppen, schließlich würden sie Krankheiten einschleppen, gegen die die deutsche Bevölkerung nicht immun sei. »Weil ja, wir sind ja ganz anders aufgebaut irgendwie, ne«, erklärte ein »Spaziergänger« dieses »ganz normale medizinische Problem an sich« vor laufender Fernsehkamera im Winter 2015.40

Das biologische Argument ist also nicht verschwunden, auch wenn das Wort »Rasse« heute tabuisiert ist. Es kann ein Ventil in Begriffen der Kultur, Religion und Herkunft finden, sich als Meinung und Sorge tarnen, um im nächsten Moment wieder den vermeintlich natürlichen, unüberwindbaren Unterschied zwischen »uns« und »den Anderen« zu propagieren.41

Um eines klarzustellen: Menschenrassen gab und gibt es nicht − keine »Europiden«, keine »Mongoliden« oder sonst eine. Rassismus aber gibt es sehr wohl und immer noch. Das Denken in »Rassen« ist nicht verschwunden, auch wenn das Wort selbst unsagbar geworden ist. Wer weiß das besser als Kinder, die als Ergebnis einer skurrilen »Vermischung« wahrgenommen und neugierig beäugt, ja zur Zielscheibe ganz wahnwitziger Diskussionen über »Mongolenflecken« und Menschen in Viertel-, Halb- und Achtelstücken werden?

Auch im engen Freundeskreis kam die Verwunderung über die »Zusammensetzung« unserer Tochter immer wieder zur Sprache. Laut darüber nachzudenken war eben kein medizinisches Phänomen. Es war ein gesellschaftliches Spektakel. Denn unser Kind mit »deutscher«, blonder Mutter und »ausländischem«, schwarzhaarigem Vater hatte nicht nur einen blauen Fleck am Po, sondern blonde Haare noch dazu. Immer wieder wurde an die Biologiestunde damals in der Schulzeit erinnert und genetisches Halbwissen hervorgekramt: Wer darf wem ähnlich sehen und warum?

In solchen Momenten bleibt mir nur die Verwunderung über diese Leidenschaft, den Menschen zu normieren, ihn in eindeutige Kategorien zu zwängen, Grenzübertritte zu bestrafen oder wenigstens mit Verwirrung und Erstaunen zur Kenntnis zu nehmen. Und irgendwann fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Integration ist eine Zumutung für »die Anderen«. Sie leben in einer Gesellschaft, in der ihre Körper, Namen, Biografien und Herkünfte zum ewigen Thema werden und niemals unkommentiert bleiben.

Mittlerweile sind ein paar Jahre seit der Geburt unserer Tochter vergangen, und ihre Haare sind, trotz meiner anfänglichen Hoffnung, nicht über Nacht schwarz geworden. Für mich ist es kein Problem, ich bin tolerant. Nur ist es auf Dauer ermüdend, nicht als der Vater seines eigenen Kindes wahrgenommen zu werden. Im Supermarkt und auf dem Spielplatz werde ich regelmäßig von besorgten weißen Eltern gefragt, ob das wirklich mein Kind ist, sie wollten ja nur sichergehen. Andere fragen mich tatsächlich, ob meine Tochter irgendwann Kopftuch tragen muss, ob sie einen Freund (ich frage mich, warum denn nicht eine Freundin?) haben darf, ob sie Sex vor der Ehe haben darf, und ob sie ihren Ehemann (warum denn wohl nicht Ehefrau?) später frei wählen darf. Mein Kind ist fünf, es ist fünf Jahre alt.

Die Blicke und Bemerkungen gehen auch an ihr nicht spurlos vorbei. Sie merkt, dass wir in den Augen der Öffentlichkeit nicht zusammenpassen. Kürzlich fragte sie mich beim Abendessen, warum ich anders aussehe und warum meine Haare schwarz sind. Sie sagte: »Du musst goldene Haare und goldene Haut haben wie ich.«

An diesem Abend habe ich lange geweint. Es war das erste Mal, dass es aus ihrem eigenen Mund kam, sie war sich der Differenz bewusst, die Gesellschaft hat jeden Tag mit den Fingern darauf gezeigt. Das beobachten auch meine Eltern. »Lasst die Kleine doch gerne mal bei uns, damit sie sich an uns gewöhnt«, baten sie. »Nicht dass sie sich irgendwann fragt, wer denn diese Ausländer sind, und uns abschiebt.« Wir haben gelacht, es war ein Scherz. Irgendwie aber auch nicht. Die Angst, vom eigenen Kind abgelehnt zu werden, begleitet viele Eltern. Bei mir kommt die Angst dazu, dass sich meine Tochter wegen ihrer Herkunft schämen könnte. Dass sie mir nicht verzeiht, weil ich ihr diesen Namen, diese Biografie und Geschichte vererbt habe. Ich weiß nicht, ob sie es schaffen wird, standhaft zu sein, oder mich ablehnen und sich vielleicht selbst verleugnen wird. Das weiße Privileg ist verführerisch. Ich könnte es ihr nicht verübeln. Der Wunsch dazuzugehören ist groß. Davon berichten unsere Bemühungen. Sie erzählen von der Sehnsucht nach Normalität. Der blaue Fleck wird irgendwann verbleichen. Unsere Grenzerfahrungen werden es aber nicht.

Willkommen in unserem Haus Leg Deine Sachen ab Hier ist Dein Gewand Deine Schuhe, Deine Lautstärke.

Achte genau auf meinen Rhythmus

unsere Sprache

unsere Bewegungen

Vergiss nicht, dass Dein Leben uns gehört

dann wird Dir nichts passieren.

white passing privilege

– SHIRIN SIMA EGHTESSADI, Hausordnung

Muslimaniac

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