Читать книгу Muslimaniac - Ozan Zakariya Keskinkiliç - Страница 8
2. Kanak Attak Reloaded
ОглавлениеBereits der Schnurrbart war preisverdächtig, wie er so stolz über die Lippen des begnadeten Poeten Aras Ören ragend einen langen Schatten auf das Publikum warf. Über 100 Menschen waren der Einladung der Heinrich-Böll-Stiftung in die Schumannstraße in Berlin gefolgt, um den 80. Geburtstag dieses Menschen und sein literarisches Schaffen zu feiern, das den meisten im Lande bis heute unbekannt geblieben ist. Bis vor kurzem zählte auch ich zu diesen Ignoranten, denen das Langgedicht Was will Niyazi in der Naunynstraße?, obwohl bereits 1973 im Rotbuch Verlag veröffentlicht, rein gar nichts sagte.
Ein verrückter Wind eines Tages wirbelte den Schnurrbart eines Türken, und der Türke rannte hinter seinem Schnurrbart her und fand sich in der Naunynstraße.
– ARAS ÖREN, Frau Kutzers Nachbarn
Spätestens bei dieser Szene hatte mich Ören gefangen genommen. Viele Male flanierte ich durch den Kreuzberger Kiez, ohne zu wissen, dass hier ein 1939 in Istanbul geborener Schriftsteller und Radio-Macher bereits vor 47 Jahren das Berliner Gastarbeiterinnen- und Gastarbeiter-Leben poetisch verewigt hatte.
An so vielen Abenden,
an so vielen Morgen
wurde jeder in dieser Straße
jedem vertraut,
und jedes Ding von jedem in dieser Straße
ein gewohntes Stück,
so daß heute
die Naunynstraße ohne Türken
zwar noch die Naunynstraße wäre,
aber an ihren alten Tagen
ohne neuen Anfang.
– ARAS ÖREN, Frau Kutzers Nachbarn
Ein »großer Dichter des Einwanderungslands Almanya«42 titelte die taz im Mai 2017. Der Kulturredakteur Ulrich Gutmair berichtet, Ören tue es weh, dass sich die dritte Generation von Eingewanderten aus der Türkei nicht für ihn interessiere. Ören erklärt sich das so: »Sie wollen nicht an das Leben ihrer Großeltern erinnert werden, die in einem fremden Land zurechtkommen mussten, die in heruntergekommenen Häusern der Innenstädte lebten, als Menschen nicht anerkannt waren, nicht gesehen wurden.«43
Doch Unwissenheit entspringt nicht immer einem Desinteresse. Manchmal werden Dinge verschwiegen, unter den Teppich gekehrt. Manchmal ignoriert auch der Kanon, ja der literarische Betrieb das Werk. Ich begegnete Kritikerinnen und Kritikern, die Örens Niyazi zum Gegenstand der Turkologie erklärten, um so das an den Pforten zur Germanistik abzuweisen, was doch »von uns« erzählte. Ich teile Gutmairs Einschätzung: »Aras Örens Werk ist das Werk des ersten deutschen Autors, der auf Türkisch schreibt.«44 Es mag pathetisch klingen, aber mir kamen die Tränen, als ich bei der Buchpräsentation 2019 Aras Örens Worten folgte, wie er die neu verlegte Trilogie der ersten und zweiten Generation aus der Türkei widmete. »Sie haben einen unvergeßlichen Anteil an unserem heutigen Wohlstand und kulturellen Reichtum. Und nicht zuletzt waren sie historischer Prüfstein für unsere Demokratie und Toleranzfähigkeit«, las Ören am besagten Abend aus der Einleitung seines Werkes.45
Das Publikum jubelte, wir waren begeistert. Und trotzdem wurde ich den bitteren Geschmack im Mund nicht los. Denn für diesen Ehrentitel müssen Menschen mit dem ominösen Migrationshintergrund, die unter Menschen ohne Migrationshintergrund leben, einen hohen Preis zahlen. Seit dem Fall der Mauer zählt die behördliche Statistik 83 Todesopfer rechtsextremer Gewalt.46 Die Amadeu Antonio Stiftung kommt auf eine höhere Zahl, sie spricht von mindestens 213 Toten.47 Mit ihrem Namen erinnert die Stiftung an den Angolaner Amadeu Antonio, der am 25. November 1990 von Rechtsextremen in Eberswalde ermordet wurde. Die 1990er Jahre sind voll von Ereignissen wie diesem …
Am 17. September 1991 greifen Rechtsextreme im sächsischen Hoyerswerda Wohnheime von Migrantinnen und Migranten an, die weiße Anwohnerschaft jubelt den Täterinnen und Tätern zu. Das Foto- und Videomaterial gibt Zeugnis für die sich mitten im öffentlichen Raum abspielende Gewalt und das Versagen der Behörden. Statt gegen Rassist:innen durchzugreifen, werden die Angegriffenen mit Bussen aus der Stadt gefahren.
Wenige Wochen später, der Tag der Deutschen Einheit jährt sich zum ersten Mal, verüben drei Rechtsextreme einen Brandanschlag auf eine Unterkunft von Geflüchteten in Hünxe, Nordrhein-Westfalen.
Im November 1992 folgen Brandanschläge in Rostock-Lichtenhagen auf eine Aufnahmestelle für Geflüchtete und im schleswig-holsteinischen Mölln auf zwei Häuser türkischer Familien. Zwei Mädchen, 10 und 14 Jahre, und ihre 51-jährige Großmutter sterben.
Im Mai 1993 sterben in Solingen bei einem Brandanschlag fünf Frauen und Mädchen mit türkischer »Migrationsgeschichte«.48
Zwischen 2000 und 2008 fielen dann noch zehn Menschen – neun Menschen mit »Migrationsgeschichte« und eine weiße Polizistin – der Mordserie des NSU zum Opfer; die Terrorzelle blieb insgesamt 13 Jahre unerkannt. Die Behörden ermittelten jahrelang in die falsche Richtung. Sie verdächtigten Familienangehörige und ignorierten umgekehrt den Verdacht der Betroffenen, dass es sich um rassistische Morde gehandelt haben musste. Statt in Richtung rechter Terror zu ermitteln, wurde in der Sonderkommission Bosporus nach migrantischen Tätern gefahndet, Polizeibeamte sprachen von »Verbindungen mit türkischen Drogenhändlern«49 im Ausland. Eine andere Sonderkommission trug den einfallslos-eindeutigen Namen Halbmond.
Im baden-württembergischen Landeskriminalamt war man sich ganz sicher, dass die Mörder Ausländer sein mussten. In der Gesamtanalyse der bundesweiten Serie von Tötungsdelikten an Kleingewerbetreibenden mit Migrationshintergrund von 2007 heißt es aus der Feder des Kriminalhauptkommissars beim LKA-BW und hauptverantwortlichen Fallanalytikers: »Vor dem Hintergrund, dass die Tötung von Menschen in unserem Kulturkreis mit einem hohen Tabu belegt ist, ist abzuleiten, dass der Täter hinsichtlich seines Verhaltenssystems weit außerhalb des hiesigen Normen- und Wertesystems verortet ist.«50
Das ist nicht nur absurd und gefährlich, sondern auch gegenwarts- und geschichtsvergessen. Das klingt fast so, als hätte es hierzulande keinen Genozid an jüdischen Menschen, an Angehörigen der Sinti und Roma gegeben, als würden in der Bundesrepublik keine Neonazis existieren, die Brandanschläge organisieren, Ausländer:innen jagen und ermorden, als würde es hier nicht unter Hintanstellung aller Gruppenzugehörigkeiten mehr als 2000 Tötungsdelikte pro Jahr geben51. Und auch der Medienbetrieb versagte. Das Bündnis NSU-Komplex auflösen identifizierte im Zusammenhang mit der NSU-Berichterstattung rassistische Klischees in vielen auflagenstarken Zeitungen. In der Berichterstattung konnte man Dinge lesen wie »Kamen die Täter aus der türkischen Türsteherszene?« und »Oder aus dem Rotlichtmilieu?«.52 Aus Opfern wurden Täter gemacht, indem die Hinterbliebenen der Opfer nicht als trauernde Angehörige wahrgenommen, sondern als Mittäter:innen verdächtigt wurden. Die Geschmacklosigkeit verdichtete sich im medial zirkulierenden Begriff »Döner-Morde«. Es wurde kein Grillfleisch am Spieß ermordet, sondern Menschen. Menschen, an die wir uns erinnern müssen.
Enver Şimşek
ermordet am 9. September 2000 in Nürnberg.
Habil Kılıç
ermordet am 29. August 2001 in München.
Mehmet Turgut
ermordet am 25. Februar 2005 in Rostock.
Ismail Yaşar
ermordet am 9. Juni 2005 in Nürnberg.
Theodoros Boulgarides
ermordet am 15. Juni 2005 in München.
Mehmet Kubaşık
ermordet am 4. April 2006 in Dortmund.
Halit Yozgat
ermordet am 6. April 2006 in Kassel.
Michèle Kiesewetter
ermordet am 25. April 2007 in Heilbronn.
Abdurrahim Özüdoğru
ermordet am 13. Juni 2011 in Nürnberg.
Süleyman Taşköprü
ermordet am 27. Juni 2011 in Hamburg.
Diesen Getöteten folgten am 19. Februar 2020 weitere, als ein rassistischer Attentäter in zwei Shisha-Bars in Hanau zehn Menschen erschoss. Ihre Namen lauten: Ferhat Unvar, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Kaloyan Velkov, Vili Viorel Păun, Said Nesar Hashemi und Fatih Saraçoğlu.
Hanau hatte sicherlich auch etwas mit antimuslimischem Rassismus zu tun, selbst wenn nicht alle Ermordeten tatsächlich muslimischen Glaubens waren. Es geht um die Logik des Täters, darum, wie er aufgrund bestimmter Zuschreibungen Menschen in den Shisha-Bars als muslimisch angenommen hat; aber auch darum, wie das gesellschaftliche Klima dazu beitrug, dass Rassismus unter dem Deckmantel der Religions- und Kulturkritik salonfähig geworden ist. In seinem Manifest schrieb der rassistische Terrorist, dass bestimmte Völker vernichtet werden müssten, deren Ausweisung aus Deutschland nicht mehr zu schaffen sei. Er listete auf: »Marokko, Algerien, Tunesien, Libyen, Ägypten, Israel, Syrien, Jordanien, Libanon, die komplette saudische Halbinsel, die Türkei, Irak, Iran, Kasachstan, Turkmenistan, Usbekistan, Indien, Pakistan, Afghanistan, Bangladesh, Vietnam, Laos, Kambodscha bis hin zu den Philippinen«. Er sprach von einer ersten »Grob-Säuberung«. Auch auf die Bevölkerung in Deutschland hatte er es abgesehen. Er könne sich »eine Halbierung der Bevölkerungszahl« vorstellen, denn nicht alle mit deutschem Pass wären »reinrassig«. Den Islam bezeichnete er als »destruktiv«, er würde keinen Beitrag leisten zur Weiterentwicklung der »Völker«.53
Die Botschaft war unmissverständlich und klar. Von Verschwörungstheorien bis zu rassistischen Vernichtungsfantasien war alles dabei. Und was machte die Presse daraufhin? Auf Focus Online las ich von »Shisha-Morden«. Ein neues Unwort, nur wenige Jahre nach den »Döner-Morden«. Da hatte jemand in der Redaktion offenbar wieder die Opfer verwechselt – es wurden nicht Shishas, sondern Menschen ermordet. Und das ausgerechnet an Orten, an denen insbesondere migrantisierte Menschen Freundschaften pflegen, wo sie Erholung von den Strapazen des Alltags und, ja, auch Sicherheit und Normalität suchen. Doch es sind stigmatisierte Orte, die seit Jahren regelmäßigen Razzien der Polizei ausgesetzt sind und unter dem Verdacht der »Clan-Kriminalität« stehen.54
Es wäre fatal zu glauben, dass Hanau nichts mit der Mitte der Gesellschaft zu tun hat und das Problem von Rechtsaußen käme. Der Tat geht ein gesellschaftliches Klima voraus, in dem Rassismus sich strukturell und institutionell manifestiert. Er ist fester Bestandteil der Gesellschaft, er lässt uns nicht los. Die Bilder des Anschlags waren für die nächsten Wochen und Monate meine täglichen Begleiter. Es war schlichtweg nicht möglich, zur normalen Tagesordnung überzugehen. Ich merke, wie sich mit jedem rassistischen Anschlag auch meine Bewegung im öffentlichen Raum verändert hat. Seit den rechtsextremen Anschlägen auf Moscheen in Christchurch im März 2019 und den jüngsten Berichten über rechtsterroristische Gruppierungen in Deutschland, die Anschläge planen und Muslim:innen töten wollen, war ich nicht mehr beim Freitagsgebet. Und auch in Bussen und U-Bahnen bin ich wachsam, die Erfahrung zwingt einen dazu, besonders aufzupassen. Rassismus beginnt nicht immer erst mit dem Wort, allein der Blick reicht, um zu verstehen: Darf ich hier sein oder nicht.
Ich fühlte mich wieder an einen Traum erinnert, der mich in meiner Kindheit über Jahre hinweg heimsuchte. Er lief jedes Mal so ab: Ich steige das Treppenhaus hinauf, meine Eltern sitzen im 3. Stock auf der Wohnzimmercouch, als zwei weiße Männer durch die Eingangspforte hereinplatzen und sich mit einem morbiden Lächeln auf mich werfen. Sie treten auf mich ein, ihr Gebrüll hallt durch das ganze Treppenhaus, aber niemand kommt zur Hilfe. Ich reiße meinen Mund auf, bringe aber keinen Ton heraus. Ich habe meine Stimme verloren, da liegt sie wenige Treppenstufen über meinem Kopf entfernt, auf den sie eintreten.
Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie ich mich im Traum darüber wunderte, dass ich keine Schmerzen empfand, dass ich die Tritte, so gewalttätig sie auch waren, erduldete und verstummte – als stünde all das dafür, wie normal und unspektakulär rechte Gewalt erscheint, dafür wie die Gesellschaft abstumpft, und dafür wie Betroffene sich daran gewöhnen, dass ihre Hilferufe nicht gehört werden können.
Die Grenzen des Sagbaren über »die Anderen« verschieben sich, und damit auch die Grenzen des Machbaren. Der rechte Terror knüpft nahtlos an den gesellschaftlichen Diskurs über Migration, Integration und Flucht an. Rechtsextreme Täter fühlen sich in ihren Taten ermutigt, sie haben das Gefühl, im Interesse »ihres Volkes« zu handeln, und antworten unmittelbar auf Vorstellungen einer Überfremdung Deutschlands – dass viele von denen, die solche Vorstellungen hegen, Mord und Terror ablehnen, ändert nichts, wenn ihre Überzeugungen die gleichen bleiben.
Bei einer Wahlkampfveranstaltung im thüringischen Eichsfeld im Jahr 2017 fantasierte Alexander Gauland (AfD) von einer »Entsorgung« der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung Aydan Özoğuz »in Anatolien«.55 Ein Jahr später bezeichnete Horst Seehofer (CSU) die Migration als »Mutter aller Probleme«.56 Und im Frühjahr darauf empörte sich Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer (Die Grünen) über eine Werbekampagne der Deutschen Bahn, auf der nichtweiße Menschen abgebildet waren, und fragte: »Welche Gesellschaft soll das abbilden?«57
Solche Hetzrede ist nicht neu. Im Gegenteil blickt sie auf eine lange Tradition zurück und baut auf dem auf, was seit Jahrzehnten eine Gesellschaft umtreibt, die sich nach dem Anwerbeabkommen für sogenannte Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter lange weigerte, sich als Einwanderungsland zu begreifen, und darauf wartete, dass das Fremde bald wieder von alleine geht. Die »eingeladenen« Menschen sind aber nicht gegangen, sondern haben Familien gegründet, Existenzen aufgebaut, sie haben das Land, die Gesellschaft, wie Aras Ören richtig sagt, bereichert. Ören wusste, dass diese Menschen in Deutschland nicht zu Gast, sondern dass sie eingewandert waren, und er wusste um die Notwendigkeit, sich dieser Realität anzunehmen.
Im Juli 1973, genau in dem Jahr, als Aras Ören sein erstes Langpoem Was will Niyazi in der Naunynstraße? veröffentlichte, titelte Der Spiegel »Ghettos in Deutschland. Eine Million Türken«58. Auf dem Cover war eine achtköpfige Familie dargestellt, die aus dem Fenster nach draußen blickt, es soll wohl überfüllt wirken. In der Ausgabe gibt es einen Artikel mit einer weiteren reißerischen Überschrift »Die Türken kommen – rette sich, wer kann«. Darin heißt es: »Der Andrang vom Bosporus verschärft eine Krise, die in den von Ausländern überlaufenen Ballungszentren schon lange schwelt.« Die Rede ist von einer »Invasion« in Berlin, München und Frankfurt, die kaum noch zu bewältigen sei.59
Ören schrieb weiter Gedichte. Sein zweites Langpoem Der kurze Traum aus Kagithane erschien 1974.
Als in München der Zug in die Bahnhofshalle fuhr, da murmelte er »In Gottes Namen«, schnappte seine Koffer, und während die Griffe in seine Hände drangen, setzte er, wie der Glaube es will, den rechten Fuß zuerst, ein wenig nervös auf den Boden von Almanya.
– ARAS ÖREN, Fazil Usta war einer von ihnen
Auch Der Spiegel schrieb weiter. Nur klingen Szenen wie diese im Magazin weniger romantisch, eher bedrohlich. »Die Türken machen zur Invasion der Bundesrepublik mobil«, heißt es zum Beispiel im Juli 1976.60
Örens drittes Langpoem Die Fremde ist auch ein Haus erschien 1980. Im Januar desselben Jahres bezeichnete Der Spiegel Berlin als »größte Türkenstadt diesseits des Bosporus«. Moscheen und Koranschulen werden der »Abgrenzung von den Ungläubigen« beschuldigt. Die Rede ist von Radikalisierung, von gescheiterter Hoffnung und von Zorn.61 »Die hunderttausend Orientalen, bis vor kurzem noch anscheinend selbstgenügsam im Abseits der Hinterhöfe, verschaffen sich öffentlich Gehör«,62 berichtet die Zeitschrift. Sie beklagen Diskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt und auch in der Schule, die zweite Generation der Menschen mit Migrationshintergrund verlangt gleiche Bildungschancen. Die wenigsten unter ihnen finden einen Ausbildungsplatz. Sie träumen vom sozialen Aufstieg und stoßen auf dicke Mauern. Das weiß auch Aras Ören. Er wird für diesen Artikel interviewt, allerdings nicht als Dichter, sondern als »Landsmann« vorgestellt. Wahrscheinlich meint die Redaktion damit »der Türke«. Ören wird gefragt, woher die Wut der Jugendlichen komme. Er antwortet: »Die wollen beweisen, daß sie leben, so oder so. (…) Was die alles schlucken müssen, sucht sich ein Ventil.«63
Jahrelang hatte auch die Lyrikerin Semra Ertan, geboren in der Türkei und als Tochter einer »Gastarbeiterfamilie« in den 1970er Jahren nach Deutschland gekommen, gegen Rassismus und Unrecht die Stimme erhoben. Als letzten Ausweg wählte sie schließlich eine tödliche Protestform. Am 24. Mai 1982 rief die 25-Jährige beim NDR-Hörfunk und beim ZDF an. Sie las aus ihrem bekannten Gedicht Mein Name ist Ausländer und sagte: »Ich möchte, dass Ausländer nicht nur das Recht haben, wie Menschen zu leben, sondern auch das Recht haben, wie Menschen behandelt zu werden. Das ist alles.«64 Sie wollte ein Zeichen gegen den zunehmenden Rassismus in der Bundesrepublik setzen und vor den Augen der Öffentlichkeit sterben. Am 26. Mai 1982, gegen fünf Uhr morgens, übergoss sich Ertan mit fünf Litern Benzin und zündete sich an der Kreuzung Simon-von-Utrecht-Straße / Detlef-Bremer-Straße im Hamburger Stadtteil St. Pauli an. Sie erlag ihren Verbrennungen im Krankenhaus.
Semra Ertans Name, ihr literarisches Schaffen − über 350 Gedichte hinterließ die Künstlerin − und ihr Kampf gegen Rassismus sind den wenigsten im Land bekannt. Ihre Nichte Cana Bilir-Meier will daran etwas ändern. Sie drehte 2013 den Film Semra Ertan, um, wie sie selbst erklärt, »ihre Geschichte neu zu schreiben – als die eines Menschen, der gegen Unrecht aufbegehrt, nicht als die eines Opfers«.65 Ertans gesammelte Gedichte brachte sie zusammen mit Zühal Bilir-Meier im Dezember 2020 im Verlag edition assemblage heraus, der Band trägt den Titel Mein Name ist Ausländer.
Mein Name ist Ausländer, Ich arbeite hier, Ich weiß, wie ich arbeite, Ob die Deutschen es auch wissen? Meine Arbeit ist schwer, Meine Arbeit ist schmutzig. Das gefällt mir nicht, sage ich. »Wenn dir die Arbeit nicht gefällt, Geh in deine Heimat«, sagen sie. Meine Arbeit ist schwer, Meine Arbeit ist schmutzig, Mein Lohn ist niedrig. Auch ich zahle Steuern, sage ich. Ich werde es immer wieder sagen, Wenn ich immer wieder hören muss: »Suche dir eine andere Arbeit.« Aber die Schuld liegt nicht bei den Deutschen, Liegt nicht bei den Türken. Die Türkei braucht Devisen, Deutschland Arbeitskräfte. Mein Land hat uns nach Deutschland verkauft, Wie Stiefkinder, Wie unbrauchbare Menschen. Aber dennoch braucht sie Devisen, Braucht sie Ruhe. Mein Land hat mich nach Deutschland verkauft. Mein Name ist AUSLÄNDER.
– SEMRA ERTAN, Mein Name ist Ausländer
Um an die Lyrikerin und ihren Protest zu erinnern, gründete Cana Bilir-Meier im Sommer 2018 die Initiative »Gedenken an Semra Ertan«66. Sie fordert eine Gedenktafel und Straßenumbenennung. Mit ihren künstlerischen Ausstellungen und politischen Interventionen rüttelt sie an den dicken Mauern des deutschen Kulturbetriebs. Bilir-Meier würdigt verschüttete Familienarchive und die viel zu lange aus dem öffentlichen Raum verdrängten Stimmen migrantischer Communities, die seit Jahrzehnten mit Begriffen wie »Integrationsunwilligkeit« und »Parallelgesellschaft« stigmatisiert werden.
Was es heißt, unter diesen Zuschreibungen und Bedingungen zu existieren, hat auch den Schriftsteller Feridun Zaimoğlu umgetrieben. »Wie lebt es sich als Kanake in Deutschland?«, formulierte er die Frage etwas eigenwillig in seinem 1995 veröffentlichten Buch Kanak Sprak.67 Er griff, wahrscheinlich zur Verwirrung einiger Leserinnen und Leser, auf ein Schimpfwort zurück.68 »Kanake, ein Etikett, das nach mehr als 30 Jahren Immigrationsgeschichte von Türken nicht nur Schimpfwort ist, sondern auch ein Name, den ›Gastarbeiterkinder‹ der zweiten und vor allem der dritten Generation mit stolzem Trotz führen«,69 schreibt Zaimoğlu. Er reiste über mehrere Monate durch das Land, um »die Wortgewalt des Kanaken«, diesen »eigenen Jargon«,70 mit dem sich die zweite und dritte Generation ihrer eigenen Situation bemächtigt, einzufangen, wie er schreibt.
Zaimoğlus Vorwort liest sich wie eine Parodie auf eine ethnologische Studie. Er stellt sich selbst als teilnehmenden Beobachter dar und berichtet von den Schwierigkeiten, Zugang zu seinem Forschungsobjekt zu finden: »Ich tauchte ab in den ›Lumpen-Hades‹, suchte den Kanaken auf in seinen Distrikten und Revieren, Ghetto-Quartieren und Stammplätzen, in seinen Verschlägen und Teehäusern. Es war nicht einfach, gegen das anfängliche Mißtrauen anzukämpfen, das der Kanake ›dem Studierten‹ gegenüber empfindet«, reflektierte Zaimoğlu den Prozess.71 Ausgestattet mit Aufnahmegerät und Notizblock, erklärte der Schriftsteller, »hier Kanaken in ihrer eigenen Zunge zu Wort« kommen zu lassen − wobei die Texte künstlerisch bearbeitet sind, Zaimoğlu spricht von »Nachdichtung«.72 Unter den »24 Misstöne[n] vom Rande der Gesellschaft«, wie der Untertitel des Buches lautet, findet sich zum Beispiel der 29-jährige Akay vom Flohmarkt. Auf die Frage, was es heißt, Kanake in Deutschland zu sein, antwortete er: »Die haben schon unsre heimat prächtig erfunden: kanake da, kanake dort, wo du auch hingerätst, kanake blinkt dir in oberfetten lettern sogar im traum, wenn du pennst und denkst: joker, jetzt bist du in deiner eigenen sendung. Als hättest du’n krebsklumpen mitten in der visage und würdest dich verstricken in so schleifen aus luft, von jedem und allem fortgewirbelt, um in einem fort zu grübeln, was dir verdammt noch mal den boden unter’n füßen wegzieht, (…) es gibt die saubere kanakentour und die schmutzige, was auch immer du anstellen magst, den fremdländer kannst du nimmer aus der fresse wischen.«73
Ich erinnere mich sehr gut daran, wie ich dieses Wort das erste Mal hörte. Ich war drei Jahre alt, kam neu in den Kindergarten, als zwei blonde Jungen, ich sehe ihre Gesichter noch heute vor mir, die Laute wie einen Felsen an meinen Kopf schleuderten: Kanake. Ich wusste nicht, was das bedeutete, und doch war klar, so wie sie es sagten und sich dabei amüsierten, der fiese Blick und die Art, wie sie es jedes Mal wiederholten, wie mein Ich in diesem Kindergartenalltag keinen Platz fand: Es sollte schmerzen, und das tat es. Ich lernte, Kanaken steht kein eigener Name zu.
Das Wort hat mich in die Schulzeit begleitet, auf den Pausenhöfen, auch mal beim Bäcker oder auf offener Straße. Als ich erlebte, wie mein Vater von einem weißen deutschen Mann als Kanake beschimpft und angegriffen wurde, begriff ich, dass es, egal wie alt ich bin, nicht aufhören wird. Ich lernte, Kanaken dürfen sich nicht sicher fühlen. Sie haben keine eigene Geschichte und keine Zukunft. Es war ein Wort, das demütigte. Das einem das Recht absprach, hier sein zu dürfen. Ein Wort, an dem Schmutz und Schuld klebte.
Meine Jugend verbrachte ich damit, diese Schande, denn so fühlte es sich an, abzulegen. An warmen Tagen mied ich die Sonne und wechselte auf die Schattenseite des Bürgersteigs, um ja zu vermeiden, dass meine Haut dunkler wurde. Ich bettelte meine Mutter an, mir die Haare zu färben. Blond natürlich, das wollte sie nicht. Rot war der Kompromiss. Von meinem Patenonkel, der als Optiker arbeitete, erschlich ich mir blaue und grüne Kontaktlinsen. Einmal die Welt aus dem Zentrum bewundern, einmal sich selbst vergessen und unsichtbar sein.
Aber egal wie sehr ich mich auch anstrengte, die Transformation war niemals vollkommen. Schließlich war es nur eine Illusion, der ich mich hingab. Weißsein und blonde Haare haben, das war das Idealbild, mit dem ich in dieser Gesellschaft aufwuchs. Rassismus ist mehr und zugleich subtiler, als beschimpft oder ausgeschlossen zu werden. Rassismus ist ein Lehr- und Lernsystem. Es unterrichtet die Gesellschaft darin, was normal ist. Es lehrt, was sein darf und was nicht sein darf. Auch jene, die davon negativ betroffen sind. Rassismus kann dazu führen, dass du als nichtweißer Mensch nicht mehr du selbst sein willst oder kannst. Dass du deinem eigenen Körper, deiner Herkunft, deiner »fremden« Sprache und Biografie mit Ekel begegnest und dich selbst ablehnst.
Irgendwann glaubte ich, dass die Mehrheit recht haben musste. Dass ich dümmer, hässlich, nicht richtig war. Ich nahm an, verantwortlich dafür zu sein, nicht akzeptiert zu werden. Ich begann auf jedes Detail zu achten: wie ich mich bewegte, wie ich mich kleidete, wie ich sprach. Denn nur ein kleiner Fehler in der Aussprache und alle würden denken, es liege an meiner Fremdheit, und nicht daran, dass es normal ist, sich mal zu versprechen. Der Anzug aus deutschen Klischees, den ich mir über Kopf, Haut und Bewusstsein warf, musste gut sitzen: Mit jeder Falte, die er warf, würde ich riskieren, auf ewig fremd zu sein. Ja, es war eine Illusion, der ich mich hingab. Sie zerfraß mein Selbstvertrauen, sodass ich alles, was nur irgendwie »ausländisch« war, von mir wies. Ich konnte mir als Jugendlicher nicht vorstellen, dass jemand »Kanake« sein wollte oder auch nur das Wort freiwillig in den Mund nehmen würde.
Ich muss ungefähr 14 oder 15 Jahre alt gewesen sein, als ich im Bus auf dem Weg zur Schule von einem Jungen angesprochen wurde, der sich als Serkan vorstellte. Er trug eine glänzende Goldkette um den Hals, das schwarze Haar penibel nach hinten gegelt. Er fragte, wie ich heiße. Ich nannte schüchtern meinen Namen, mit großer Wahrscheinlichkeit sprach ich ihn falsch aus, so sehr war ich gewohnt, mich an das mehrheitsdeutsche Ohr anzupassen. Dann sagte Serkan etwas, das mich lange beschäftigte: »Du bist ein Kanake so wie ich, sei stolz.« An der nächsten Haltestelle stieg er aus, ich habe ihn seither nicht mehr gesehen. Wie ein Geist trat er ein, wie ein Geist verschwand er aus meinem Leben. Ich lernte, Kanaken können widersprechen. Ich begriff, dass das Wort, wenn es aus dem eigenen Mund kam, seine Bedrohlichkeit verlor, das nahm einem die Angst. Der Name, der mir eine so klare gesellschaftliche Rolle gab, mich auf einen unteren Platz verweisen sollte und mich als Fremder ins öffentliche Leben einführte, hatte plötzlich eine andere Bedeutung bekommen. Ja, ein Schimpfname verletzt, er setzt herab und erniedrigt; aber ein Schimpfname kann angeeignet und umprogrammiert werden und dadurch eine neue Tür öffnen.
»Durch den Namen, den man erhält, wird man nicht einfach nur festgelegt. Insofern dieser Name verletzend ist, wird man zugleich herabgesetzt und erniedrigt. Doch enthält der Name auch eine andere Möglichkeit, da man durch die Benennung auch eine bestimmte Möglichkeit der gesellschaftlichen Existenz erhält und erst in ein zeitliches Leben der Sprache eingeführt wird, das die ursprünglichen Absichten, die der Namensgebung zugrunde lagen, übersteigt. Während also die verletzende Anrede ihren Adressaten scheinbar nur festschreibt und lähmt, kann sie ebenso eine unerwartete, ermächtigende Antwort hervorrufen«,74 schreibt die Philosophin Judith Butler in ihrem Buch Haß spricht.
Butler geht es um einen Handlungsspielraum, darum, dass Menschen, die von Hassrede betroffen sind, sich zwar den Schimpfnamen nicht entziehen können, sie sind ihnen permanent ausgesetzt. Aber es besteht die Möglichkeit, sie aufzugreifen und so zu verwenden, dass die Bezeichneten selbst in den Diskurs eintreten und ihren eigenen Platz einnehmen, indem sie an das Wort anknüpfen, nur unter anderen, widerständigen Vorzeichen.
Das tun heute beispielsweise die Journalisten Malcolm Ohanwe und Marcel Aburakia mit Kanackische Welle, einem beliebten Podcast rund um die Themen Identität, Rassismus, Gender, Musik und Popkultur. Oder Taudy Pathmanathan und Tamer Düzyol, die das Kunst- und Kultur-Kollektiv Kanakistan in Erfurt gegründet haben, mit dem sie poetisch-politische Impulse setzen, wie z. B. in der vielbeachteten Gedichtanthologie Haymatlos.
Andere Gruppen wie Kanak Attak sind heute etwas in Vergessenheit geraten. Das Bündnis gründete sich 1998 mit dem Ziel, »die Kanakisierung bestimmter Gruppen von Menschen durch rassistische Zuschreibungen mit allen ihren sozialen, rechtlichen und politischen Folgen anzugreifen«75. Lange vor der Hashtag-Bewegung #MeTwo gegen Alltagsrassismus, die im Sommer 2018 bundesweit für Aufsehen sorgte, hatte Kanak Attak es satt, in welchem negativen Licht Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund medial dargestellt und zum Objekt klischeebehafteter Berichterstattung über »Parallelgesellschaften« werden. Sie kritisierten: »Wie sie mit der Linse über ein x-beliebiges Straßenbild schweifen und fast immer beim selben Motiv kleben bleiben: Die kopftuchbedeckte Frau. Sie suggerieren: Die vormodernen Fremden. Die sie sich niemals von vorne zu filmen trauen. O. k., es reicht! Wir als KanakInnen lassen nicht den Blick auf uns richten.«76
Das Netzwerk machte mit einer Reihe aktivistischer Maßnahmen und kultureller Aktivitäten auf sich aufmerksam. Mit öffentlichen Protestaktionen, Panels, Lesungen und Filmen rückte die Gruppe migrantische Widerstände ins Zentrum, um die sozialpolitische Situation von Kanakinnen und Kanaken zu formulieren und den Rassismus, »der versucht, Kanaken am gesellschaftlichen Rand zu halten oder aber als exotische Aufsteiger zu feiern, aus der Perspektive vergangener Kämpfe klarer (zu) erkennen«77.
Man könnte sagen, dass sich hier bereits die Vorläufer einer »Desintegration« finden lassen, wie sie der Publizist Max Czollek in seiner Streitschrift Desintegriert Euch! 2018 als Kritik an dem vorherrschenden Integrationsparadigma forderte. Czollek schrieb, dass »das Denken in Kategorien der Integration und Leitkultur die Phantasien von ethnischer Homogenität und kultureller Dominanz nicht nur nicht verhindern kann, sondern seinen Anteil daran hat, dass diese Konzepte nicht auf dem Schrottplatz der Geschichte bleiben, auf den sie gehören«.78
Bei Kanak Attak hieß es damals »No Integracion!«.79 Dazu gehört(e), der Mehrheitsgesellschaft die Deutungshoheit über das eigene Leben zu entziehen und Geschichten zu erzählen, die im öffentlichen Diskurs keinen Platz fanden und noch immer nicht finden. Sie drehten den Spieß um: Nun waren sie es, die der Mehrheit die Fragen stellten. Im Jahr 2002 reiste Kanak Attak in besonderer Mission nach Köln-Lindenthal.80 Die Kamera schwenkte durch Supermärkte und Straßen, die Szene erschreckend: fast nur weiße Deutsche zu sehen. »Wie haben die Deutschen es geschafft, Lindenthal so ausländerfrei zu halten?«, fragte die kanakische Reporterin weiße Passantinnen und Passanten auf der Straße. Die waren sichtlich verwirrt und konnten mit der nächsten Frage, wie sich Deutsche besser in die Gesamtgesellschaft integrieren können, nichts anfangen. »Die Deutschen? … Ich denke, wir sind integriert«, antwortete eine ältere Frau zögerlich. Ein Mann versuchte die Kontrolle zurückzuerlangen und markierte das Revier. »Die Deutschen bilden hier zunächst einmal die Gesellschaft, sie sind die primäre Gesellschaft und die Anderen haben die Aufgabe, sich zu integrieren.« Die befragten Passantinnen und Passanten wollten auch nicht selbst etwas zur Integration beitragen: Die meisten beharrten darauf, dass sie am richtigen Platz seien und nichts ändern, keine Privilegien aufgeben müssten. Das Ergebnis dieser nicht nur ironischen Reportage über den »sozialen Brennpunkt in Köln-Lindenthal«: »Die Deutschen schotten sich ab, es gibt weiße Ghettos.« In weniger als acht Minuten stellte Kanak Attak das Integrationsparadigma auf den Kopf.
Rund ein Jahrzehnt vor den Interventionen von Kanak Attak formierte sich auch die afrodeutsche Community und gab antirassistischen Bewegungen und Konzepten in Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Kunst wichtige Impulse. Um 1985 / 86 gründete sich die bundesweite Organisation Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland (ISD). Schon bei der Gründung dabei war auch die prominente Wissenschaftlerin und Lyrikerin May Ayim. In ihrer Diplomarbeit in Pädagogik widmete sich Ayim der Schwarzen deutschen Geschichte. Die Arbeit wurde zur Grundlage für die bahnbrechende Veröffentlichung Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte.81 Das 1986 erschienene Buch bündelte persönliche Erinnerungen afrodeutscher Zeitzeuginnen, historische Forschungen, Gedichte und Interviews. In Gedichten wie grenzenlos und unverschämt, gegen leberwurstgrau – für eine bunte republik oder deutschland im herbst rückte May Ayim die Erfahrungen von Schwarzen, Jüd:innen, Rom:nja und Sinti:zze, Türk:innen, Migrant:innen und migrantisierten Menschen vor dem Hintergrund der zunehmenden rechten Gewalt nach der Wende ins Zentrum. In ihren wissenschaftlichen und lyrischen Texten schrieb sie gegen die Leugnung rassistischer Diskriminierung an.
im vereinten deutschland das sich so gerne viel zu gerne wiedervereinigt nennt dort haben in diesem und jenem ort zuerst häuser dann menschen gebrannt erst im osten dann im westen dann im ganzen land
– MAY AYIM, deutschland im herbst
Die Gewalt, die sich nach dem Fall der Mauer in so vielen Orten gegen nichtweiße Menschen richtete, war auch schon damals kein reines Ostphänomen und ebenso wenig ein Einzelfall. Wenn ich zurückblicke, welche Kämpfe bereits in der Vergangenheit geführt wurden und wie vehement rassismusbetroffene Menschen ihre Stimme erhoben haben, überkommt mich ein ambivalentes Gefühl. Zum einen ist es erschreckend zu sehen, wie ähnlich die Debatten damals und heute einander sind, dass das Schreckgespenst der »Parallelgesellschaft« noch immer durch das Land geistert und der rechte Terror noch immer unterschätzt wird. Andererseits kann es Mut machen zu wissen, auf welchem Erbe künstlerischer Kämpfe und selbstbewusster Gegenreden wir heute aufbauen können, um daraus zu lernen und uns für die Zukunft zu wappnen.