Читать книгу Das Scheiße-Gold-Prinzip - Panagiota Petridou - Страница 5
DIE WAHRE KUNST BESTEHT DARIN, BEIM HINFALLEN SO AUSZUSEHEN, ALS OB MAN ES GEPLANT HÄTTE.
ОглавлениеWas ich überdies im Kindergarten lernte: Man wurde nicht nur mit Lob überschüttet, wenn man seine gesammelten Kritzeleien zeigte, man wurde geradezu geliebt, wenn man sich nützlich machte. Egal ob kehren, den Tisch decken, die Spielecke aufräumen oder den kleineren Kindern beim Anziehen der Jacken helfen, Panagiota Petridou war immer die Erste, die „Hier!“ schrie, wenn es irgendwo eine Aufgabe zu erledigen gab.
Dafür wurde ich gemocht, von allen. Von den Erzieherinnen, die meine Hilfsbereitschaft und das Verantwortungsgefühl schätzten, die ich nach und nach entwickelte. Von den fremden Eltern, die mich dabei beobachteten, wenn ich ihren lieben Kleinen zeigte, wie man einen Schnürsenkel bindet. Von den anderen Kindern in meinem Alter, weil ich ihnen Arbeiten abnahm, die sie nicht machen wollten. Plötzlich war ich der Star in der Regenbogen-Gruppe, das beliebteste Mädchen von allen, und ich badete in meinem hart erarbeiteten Ruhm. Ich konnte sehr früh schon vieles allein. Na ja, eigentlich konnte ich schon als Kind fast alles, zwangsläufig.
Ich war vielleicht erst vier Jahre alt, aber ich hatte verstanden, dass es für ein gutes Gefühl sorgte, wenn ich anderen meine Hilfe anbot. Nicht nur wegen der Dankbarkeit, die mir entgegengebracht wurde, sondern auch, weil ich mich nützlich fühlte. Ich saß oder stand nicht irgendwo im Weg herum, wurde angemeckert oder zur Seite geschoben. Nein, ich tat etwas, und diese Taten sorgten dafür, dass ich gemocht wurde. Im Grunde waren meine Kindergartenjahre die logische Weiterentwicklung der langen Nachmittage und Abende im Bergischen Hof, wenn ich mich an die Waden der sich betrinkenden Männer geschmiegt und ihren Problemen gelauscht hatte: Ich hatte mir selbst eine Aufgabe gesucht, etwas, in dem ich gut war, und das sorgte dafür, dass mir Wertschätzung entgegengebracht wurde. Ich habe also wirklich aus der sprichwörtlichen Scheiße Gold gemacht.
Wie jedes andere Kind auch – zumindest einige in den ausländischen Familien, bei den deutschen und ihrem Überangebot an elterlicher Liebe bin ich mir nicht so sicher – wollte ich manchmal von zu Hause abhauen. Dann sagte ich, gern auch nach einem Streit, zu meiner Mutter: „Mama, mir reicht’s! Ich hau ab. Ich gehe woanders hin!“
Und meine Mutter entgegnete: „Gut. Aber nimm die Jacke mit, ist kalt draußen.“
Sie nahm meine kindlichen Fluchtversuche nie besonders ernst. Und sie machte sich offenbar auch wenig Sorgen, dass ich eines Tages doch mal die Kurve kratzen könnte, da sie mich als Überlebenskünstlerin, als eine Katze mit sieben Leben betrachtete.
Ein paar Mal versuchte ich wirklich abzuhauen. Ich marschierte mit tränenüberströmtem Gesicht von Solingen-Wald nach Solingen-Merscheid (bibbernd und frierend, denn natürlich hatte ich die Jacke nicht mitgenommen, wie Mama empfohlen hatte) und suchte … ja, was suchte ich eigentlich? Eine neue Familie? Die standen ja nun auch nicht an jeder Ecke herum, mit „Free hugs“-Plakaten in der Hand. Als mein Magen zu knurren begann, sah ich ein, dass mein Fluchtplan vielleicht etwas unausgereift und meine Abreise vorschnell gewesen war. So schwer es mir fiel, ich kehrte nach einer Weile schließlich um und lief nach Hause zurück, während ich dachte: Okay, dann mache ich die ganze Scheiße morgen einfach noch mal und bereite mich besser vor.
Aber natürlich hatte ich die ganze Angelegenheit am nächsten Tag schon längst wieder vergessen. Und so kam es, dass ich weder mit fünf noch mit sieben oder mit zwölf von zu Hause abhaute, sondern maximal einen halben Nachmittag in Solingen herumstreunte, mich in den Stadtpark setzte und mit den Obdachlosen, sofern nüchtern genug, quatschte, bis mich mein Hunger wieder nach Hause trieb, wo meine Mutter mich mit den Worten begrüßte: „Ah, da bist du ja wieder. Magst du ein Bifteki?“ Denn wie bei allen ordentlichen Griechen geht bei meiner Mutter Liebe durch den Magen. Oder wie Mutti sagt: Hackfleisch heilt alle Wunden.
Einerseits ist es schade, dass es nie jemanden gab, der meinen Gefühlen auf den Grund ging. Der fragte, warum ich traurig war, der wissen wollte, warum ich darüber nachdachte, abzuhauen. Andererseits hat mich das auch zu der Kämpferin gemacht, die ich heute bin. Es ist wirklich anstrengend, beleidigt zu sein, wenn sich niemand dafür interessiert. Man kann schmollen, aber wenn keine Sau Notiz davon nimmt, ist das Ganze irgendwie witzlos.
Ich lernte, all die negativen Gefühle, die ich an niemanden adressieren konnte, relativ schnell hinter mir zu lassen und weiterzumachen. Letztendlich sind auch hier meine Eltern meine Vorbilder, vor allem meine Mutter. Im Lexikon sollte unter „Pragmatismus“ ihr Bild erscheinen. Statt sich darüber aufzuregen, dass mein Vater schnarchte, statt ihn zu nerven, dass er in einem anderen Zimmer oder auf der Couch schlafen sollte (was er ohnehin niemals getan hätte), drehte sie sich im Bett einfach um hundertachtzig Grad herum, um möglichst viel Abstand zwischen ihr Ohr und sein schlaffes Gaumensegel zu bringen. Heißt: Sie schlief mit dem Kopf an den Füßen meines Vaters. Offenbar war der Geruch nicht so schlimm wie das Geräusch.
Ich hielt das für ganz normal, denn als im Kindergarten einmal die Weihnachtsgeschichte vorgelesen wurde, in der auch ein Bild von Josef und Maria nebeneinander im Bett liegend gezeigt wurde, lachte ich laut und sagte: „Wie schlafen die denn? Das ist ja falsch herum!“
Und die anderen erklärten mir: „Nein, Panagiota, das ist richtig so.“
Es war das erste Mal, dass ich dachte: Irgendetwas läuft bei uns anders.
Die Ehe meiner Eltern war, da muss man ehrlich sein, eine Zweckgemeinschaft. Das hat verschiedene Gründe. Zum einen liegt das an der Art und Weise, wie sie sich kennengelernt haben. In den frühen Sechzigern war das in Griechenland nämlich nicht so einfach, wie es heutzutage ist. Anstatt Tinder wurde gekuppelt, und einen Partner und potenziellen Ehemann suchte man sich auch unter ganz anderen Gesichtspunkten aus als im Jahr 2018.
Mir wurde früher erzählt, mein Vater sei eines Tages auf dem Rücken eines Esels in das kleine Dorf meiner Mutter gekommen und habe gefragt: „Ich gehe nach Deutschland, wer kommt mit?“ Und meine Mutter sei die Erste gewesen, die die Hand gehoben hatte.
Mittlerweile weiß ich, dass sich die Geschichte ein wenig anders zugetragen hat. Fast zwei Jahrzehnte nach Kriegsende erlebte die Bundesrepublik gerade ihre Wirtschaftswunderjahre und wusste gar nicht, wohin mit den ganzen Arbeitsplätzen. Also gingen zahlreiche Gastarbeiter aus europäischen Ländern nach Deutschland, vor allem aus dem ärmeren Süden wie Italien, Griechenland und dem damaligen Jugoslawien. Auch mein Vater hatte von den „Wundern“ in dem fremden Land gehört und beschlossen, in der Ferne sein Glück zu versuchen. Doch nach sechs Jahren hatte er bemerkt, dass es fast unmöglich für ihn war, eine Frau zu finden. Also reiste er zurück in seine alte Heimat und suchte eine Begleiterin.
Meine Mutter indes wusste, dass es nur eine Möglichkeit gab, aus der Armut und Ödnis des winzigen Dorfes, aus dem sie stammte, zu entkommen: indem sie heiratete.
Es kam, wie es kommen musste. Nikolaos Petridou war auf Besuch in seiner alten Heimat und hielt die Augen auf nach einer Dame, die ihn ins kalte Wirtschaftswunderland begleiten wollte. Die junge Evdokia hatte keine Ahnung, worauf sie sich einließ, als die Nachbarin sie zum Kaffee einlud und da dieser schlanke, vierzehn Jahre ältere Mann saß. Sie plauderten ein Weilchen über dies und das, dann machte Evdokia sich vom Acker.
Am nächsten Tag wurde sie wieder zu ihrer Nachbarin gerufen. Sie fragte Evdokia: „Wie hat dir denn der Mann gefallen?“
„Welcher Mann?!“
„Der gestern hier war.“
„Nett.“
„Der sucht eine Frau.“
„Aha.“
„Die mit ihm nach Deutschland geht.“
„Soso.“ Evdokia schwieg und wartete, was als Nächstes käme.
„Ich habe ihm gesagt, dass du zwar klein bist, aber dass man sich vor dir in Acht nehmen muss“, erklärte die Nachbarin. „Du kannst arbeiten wie ein Pferd. Das stimmt doch!“
Evdokia zuckte mit den Schultern. „Das stimmt. Und ich bin nicht klein. Ich bin aufs Beste reduziert.“
„Also, willst du ihn wiedersehen? Du willst doch raus aus Lefkouda, oder?“
Und Evdokia sagte: „Na gut. Warum nicht.“
In Lefkouda gab es nichts außer Staub und ein paar Hühnern. Also traf Evdokia den stattlichen Herrn bei der nächsten Gelegenheit wieder und unterhielt sich mit ihm. Er versprach ihr ein gutes Leben in Deutschland, Heirat, Kinder und alles, was dazugehörte. Bescheidenen Wohlstand – was für eine Griechin in diesen Zeiten purem Luxus gleichkam.
Evdokia willigte in die Heirat ein. In aller Eile wurden ein Kleid gekauft und das Aufgebot bestellt. Drei Tage später heirateten sie in Thessaloniki. Nikolaus musste wieder zurück nach Deutschland, sein Urlaub war vorbei, und Evdokia fuhr zwei Wochen später mit dem Zug hinterher. In ein fremdes Land. Zu einem ihr vollkommen fremden Mann. Mit einem Koffer.
Ich habe nie gesehen, wie meine Eltern sich geküsst, umarmt oder in irgendeiner anderen Form liebkost, geschweige denn einander „Schatz“ oder „Liebling“ genannt hätten. Das kann mit der Generation meiner Eltern im Allgemeinen, aber auch mit ihrer Beziehung im Besonderen zusammenhängen. Sie waren ein Team, das zusammen durchs Leben ging, kein Liebespaar, und sie hatten sich gemeinsam zur Aufgabe gemacht, dass wir Kinder es eines Tages besser haben sollten als sie, weswegen sie möglichst viel Geld verdienen wollten. Papa war im Jahr 1927 geboren, Mama 1942. Der Altersunterschied barg Schwierigkeiten, und das Wertesystem der beiden war ein anderes als das der Eltern von Kindergarten- oder später Schulfreunden.
Als ich in die Schule kam, bemerkte ich wieder einmal, dass ich von meinen Eltern anders behandelt wurde als die anderen Kinder meines Alters. Am deutlichsten wurde mir das im Vergleich mit meiner Freundin Pamela Heiße bewusst, die auf der gegenüberliegenden Seite der Schule wohnte.
Ich habe sie und ihre Eltern immer unendlich bewundert. Pamela hatte wunderschöne Haare, die von ihrer Mutter jeden Morgen geflochten wurden, zu Zöpfen, und immer mit schönen Schleifen im Haar. Sie hatte bunte Haarspangen. Ihre Kleider waren stets gebügelt, und sie hatte tolle Blusen und schöne bunte T-Shirts an und immer zusammenpassende Socken!
Pamelas Schulweg war gerade mal fünfzehn Meter weit, allerdings durchkreuzte ihn die „gefährliche“ Wittkuller Straße einmal in der Mitte. Pamela hätte dennoch nichts anderes zu tun gehabt, als aus dem Haus zu treten, zu warten, bis keine Autos kämen, die Straße zu überqueren, und schon wäre sie auf dem Schulgelände gewesen.
Es war nur eine einzige Ampel. Eigentlich ein Klacks.
Trotzdem wurde Pamela jeden Morgen von ihrem Vater in die Schule gebracht.
Jeden. Verdammten. Morgen.
Während ich mich den zwei Kilometer langen Schulweg wie Jesus entlang der Via Dolorosa schleppte, sah ich jeden Morgen meine Klassenkameradin und ihren Vater vor der Haustür stehen. Hand in Hand hüpften sie die Stufen hinunter, an der Straße blieben sie stehen und beobachteten gemeinsam den Verkehr. Dann liefen sie über die Straße, und vor der Schule legte Pamelas Vater ihr seine Hände auf die Schultern und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Manchmal trug er sogar ihren Schulranzen – es war wie in diesen amerikanischen Filmen. Ich habe das immer so extrem wahrgenommen, jede Berührung fiel mir auf. In meinem Kopf wurde die Szene manchmal sogar in Zeitlupe abgespielt. Sie lachten immer, und es schien jeden Tag die Sonne. Wenn ich die beiden sah, musste ich immer lächeln und dachte: Pamela hat Jackpot-Eltern. Wenn ich mal groß bin, will ich auch so Eltern haben.
Einmal bekam ich sogar mit, dass Pamela mit dem Auto zur Schule gebracht wurde. Das verstand ich nun gar nicht. Sie wohnte doch nur über die Straße? Als ich sie fragte, erklärte sie: „Alle anderen werden immer mit dem Auto zur Schule gebracht.“
Ich wusste nicht genau, wen sie mit „alle“ meinte, denn ich gehörte definitiv nicht dazu. Trotzdem fragte ich: „Ja, und?“
„Ich hab meinen Papa gefragt, ob er mich auch mit dem Auto bringen kann. Und er hat Ja gesagt.“
„Aber“, stammelte ich, „der Weg ist doch nur so kurz!“
Pamela strahlte. „Wir sind einfach einmal um den Block gefahren, bevor Papa mich an der Schule rausgelassen hat.“
Ich war sprachlos. Mein Vater hätte mir, wenn ich denselben Wunsch geäußert hätte, den Vogel gezeigt. Und mich ganz sicher nicht mit dem Auto irgendwohin gebracht! Meine Eltern erkannten ja noch nicht einmal die Notwendigkeit, mich auf den zwei Kilometern entlang der gefährlichen Wittkuller Straße zu begleiten. Sie waren der Meinung, dass ich es auch allein schaffen würde, immerhin war ihr eigener Schulweg früher ungefähr viermal so lang gewesen. Und sie behielten recht. Ich verlief mich während meiner gesamten Schulzeit nur ein einziges Mal – und zwar nicht auf dem Weg zur Schule, sondern auf dem Nachhauseweg vom Freizeitpark. Aber davon später mehr.
Ein Ereignis aus meiner Kindheit, an das ich mich bis heute in schillernden Farben erinnere, ist meine Einschulung. Ich war an diesem besonderen Tag ganz in Rot angezogen, rote Hose, roter Pulli, rote Socken, rote Schuhe – keine Ahnung, warum Rot meine Lieblingsfarbe war. Angeblich ist es die Farbe der Herrschenden. Manchmal muss man sich selbst ja eine Krone aufsetzen, damit die anderen kapieren, mit wem sie es zu tun haben – und da ich grade keine Krone zur Hand hatte, nahm ich wohl einfach die königliche Farbe.
Jedenfalls war ich ganz in Rot gekleidet und freute mich sehr auf die Schule, denn nach meinen ersten schwierigen Tagen im Kindergarten hatte ich es geliebt, dorthin zu gehen. Immerhin war mir an diesem Ort die letzten drei Jahre eine Menge Liebe und Wertschätzung entgegengebracht worden. Und jetzt sollte ich auch noch Lesen, Schreiben und Rechnen lernen? Dinge, die meine älteren Geschwister schon lange konnten? Ich war im siebten Himmel.
Noch viel besser wurde das Ganze durch die Schultüte, die meine Mutter mir am Morgen in die Hand gedrückt hatte. Den ganzen Schulweg über habe ich mir die Tüte aus Karton fest an den Körper gedrückt und dem leisen Rascheln mit wachsender Aufregung gelauscht. Ich wusste ja, was es mit diesen Schultüten auf sich hatte. Darin befanden sich Geschenke!
Im Klassenzimmer angekommen, wurden wir von der Lehrerin begrüßt und mit einigen grundsätzlichen Regeln des Unterrichts vertraut gemacht. Wir würden einander ausreden lassen, waren nicht gemein zueinander, halfen uns gegenseitig … Bla, bla, bla, das wusste ich natürlich schon, ich war ja nicht auf den Kopf gefallen. Mich interessierte viel mehr, was sich im Inneren meiner Schultüte befand!
Endlich war es so weit. Wir durften die Tüten öffnen. Weil ich neugierig war, was die anderen bekommen hatten, sah ich erst einmal staunend dabei zu, was meine Tischnachbarn aus ihren riesigen Schultüten ans Tageslicht zauberten: Wachsmal- und Buntstifte in allen Farben des Regenbogens, Aufkleberhefte, glitzerndes Bastelpapier, Radiergummis in Form von kleinen Ponys und Rennautos, Schulhofkreide, Flummis, Jo-Jos – und jede Menge Süßigkeiten. Sofort begannen meine Mitschüler, die Spielsachen und Geschenke, die sie nicht mochten oder schon besaßen, untereinander zu tauschen. Ein richtiger Basar wurde da im Klassenraum der 1b eröffnet, und bald schon war der Raum erfüllt von glücklichen Kinderstimmen.
Mein Herz begann schneller zu schlagen. Das alles war bestimmt auch in meiner Tüte! Und sicher konnte ich etwas eintauschen, vielleicht gegen einen dieser tollen Monchichis? Oder so ein Gummitwist, mit dem man die coolsten Stunts machen konnte. Mit nervösen Fingern löste ich das Band, mit dem die Tüte zugebunden war, und spähte ins Innere. Ich sah das glitzernde Papier der Schokoladeneier, die es an Ostern immer bei uns gab …
Und Zeitungspapier.
Zeitungspapier?
Ein schrecklicher Verdacht machte sich in mir breit. Meine Mutter hatte die Schultüte mit Zeitungspapier ausgestopft und ganz oben nur eine Handvoll Schokoladeneier verteilt, noch dazu welche vom letzten Osterfest. Mir rutschte das Herz in die Hose. Ich würde mich blamieren. Ich würde wie der Idiot der Klasse dastehen! Das hier war schlimmer als die Sache mit den Bastelsachen aus dem Kindergarten, denn diesmal hatte ich Zeugen.
Die meisten Kinder hätten in dieser Situation vermutlich angefangen zu weinen, aus Enttäuschung, Wut oder Scham. Ich jedoch tat etwas vollkommen anderes. Ich nahm das Band, mit dem die Tüte zugebunden gewesen war, und verschloss den oberen Teil wieder fest.
„Was hast du denn bekommen, Jutta?“, fragte meine Banknachbarin, die bis dato mit ihren Geschenken beschäftigt gewesen war. „Vielleicht können wir ja was tauschen?“
Ich zuckte mit den Achseln. „Das weiß ich nicht. Ich warte, bis ich zu Hause bin, bevor ich die Tüte aufmache.“
Der Junge links neben mir drehte sich mir verwundert zu. „Warum?“ Die Zweifel standen ihm mehr als deutlich ins Gesicht geschrieben.
„Ich mag Überraschungen“, erklärte ich im Brustton der Überzeugung.
Damit war das Thema vom Tisch. Glücklicherweise. Ich wusste, dass meine Mutter es nicht böse meinte. Das tat sie nie. Aber mir war klar, dass sie anders war – und damit auch ich. Allerdings hatte ich schon viel früher in meinem Leben beschlossen, aus dieser unveränderlichen Tatsache kein Theater zu machen, sondern es so zu nehmen, wie es war. Es war ja nicht persönlich gemeint. Mama wollte mich nicht linken oder hinters Licht führen, indem sie mir Zeitungspapier in die Schultüte stopfte. Sie wusste es einfach nicht besser. Und immerhin hatte ich überhaupt eine Schultüte bekommen.
Dennoch nahm ich mir an diesem ersten Tag in der Schule vor, sie später, wenn ich nach Hause gekommen war, zu fragen. Denn ich hatte keine Lust, noch häufiger „Überraschungen“ dieser Art zu erleben. Vermutlich gab es eine ganz einfache Erklärung für alles. Vielleicht hatte Mama deswegen das Zeitungspapier in die Schultüte getan, weil sie Griechin war und nicht wusste, wie die Deutschen es machten. Und wenn Kosta und Simela sie nach ihren ersten Schultagen nicht darauf hingewiesen hatten, wie es richtig ging … Meine Mutter hatte keinen Kontakt zu Sabine-Eltern. Und auch nicht so viel Zeit wie die Deutschen. Die konnten sich einen ganzen Nachmittag mit dem Befüllen einer Schultüte beschäftigen, denn die meisten deutschen Mamas, die ich kannte, arbeiteten nur halbtags und waren am Nachmittag immer zu Hause, um mit ihren Kindern zu spielen, sie vom Kindergarten abzuholen oder Hausaufgaben mit ihnen zu machen. Selbst wenn sie den Brauch der Schultüte kannte, hätte sie kaum Zeit gehabt, sie mit „richtigen“ Sachen vollzumachen.
Warum konnte ich meine Mutter selbst als Sechsjährige schon entschuldigen? Weil ich sie immer nur unter Strom sah. Meine Mutter arbeitete immer, selbst dann, wenn sie eigentlich schlief. Sie stand im Morgengrauen auf, um zum Großmarkt zu fahren und die Lebensmittel zu besorgen, dann putzte sie die Gaststätte, stellte sich in die Küche und bereitete das Essen zu, versorgte zum Mittagsansturm die Gäste, bereitete die Feierabendschnitzel vor, nahm die Lieferungen der Getränkefahrer an, füllte die Bestände auf, und schon war es wieder siebzehn Uhr, und bei Grossmann klingelte die Glocke.
Ich habe bis heute keine Ahnung, wie es ihr gelang, unsere Wohnung auf Vordermann zu halten, immer eine warme Mahlzeit für ihre drei Kinder vorbereitet zu haben und nebenbei noch eine Kneipe zu führen, an sieben verdammten Tagen in der Woche, zehn Monate durchgehend. Ich weiß jedenfalls, dass mein Vater ihr keine große Hilfe dabei war – und trotzdem schaffte sie alles. Wenn ich heute manchmal jemanden jammern höre, weil seine 38,5-Stunden-Woche auf 40 Stunden aufgestockt wurde, weiß ich nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Ich kann mich an keinen einzigen Moment in meiner Kindheit erinnern, an dem meine Mutter auf dem Sofa gesessen und ferngesehen hätte. Nie gab es bei uns Fertiggerichte, Konserven oder gar Fast Food. Mama hat immer frisch für uns gekocht – weiß der Kuckuck, wann sie das tat. Manchmal bereitete sie sogar verschiedene Gerichte zu, weil Papa etwas anderes wollte als wir Kinder.
Neben der Arbeit in der Kneipe ging meine Mutter außerdem putzen, um die Haushaltskasse aufzubessern. Auch hier weiß ich nicht, wie sie das eigentlich noch geschafft hat. Ich erinnere mich an Jahre, in denen sie mich ein paar Mal in der Woche morgens gegen vier, halb fünf weckte – mitten in der Nacht also. Das Licht der Deckenlampe meines Kinderzimmers war so grell, dass meine Augen brannten. Mama brachte mich irgendwie dazu, aufzustehen und mir die Zähne zu putzen, verfrachtete mich ins Auto, wo ich natürlich sofort wieder wegdämmerte, und fuhr mit mir in eine Förderschule, um dort vor Unterrichtsbeginn zu putzen. Ich half ihr, indem ich mit einem Spatel bewaffnet unter die Tische kroch und die angetrockneten Kaugummis von der Tischplatte pfriemelte. Nach zwei Stunden, wenn Mama fertig war, brachte sie mich zur Schule und fuhr dann zurück nach Hause, um den Bergischen Hof zu öffnen.
Warum sie mich mitnahm? Das habe ich sie später auch einmal gefragt. „Zum einen, weil ich Hilfe brauchte“, erklärte sie mir. „Ich wollte das ja ordentlich machen, und das ging nicht in zwei Stunden. Zum anderen, weil du ansonsten nicht aufgestanden wärst. Genau wie dein Vater bist du ein schreckliches Murmeltier und kommst morgens nicht aus dem Bett.“
Da hat sie leider recht. Ich finde, es grenzt an Körperverletzung, wenn man vor neun Uhr morgens einen Termin vereinbart. Mein Wecker hat wirklich Glück, dass er in meinem Smartphone wohnt, ansonsten würde ich ihn jeden Morgen gegen die Wand pfeffern.
Meine Mutter war und ist bis heute ganz anders, sie ist zu jeder Tageszeit wie eine Art Perpetuum mobile. Einmal angeschmissen, rotiert sie bis zum Umfallen. Sie ist ein Kraftwerk. Vielleicht habe ich ihr deshalb nie etwas richtig übelgenommen, ich sah ja, wie sie sich den Allerwertesten aufriss, damit es uns gut ging. Außerdem war mir aber selbst in diesen jungen Jahren schon klar, dass nie irgendetwas, was sie tat oder nicht tat, gegen mich gerichtet war. „Nimm nicht immer alles persönlich“, pflegte sie ein ums andere Mal zu sagen. „Denkst du, ich will, dass es dir schlecht geht, Panagiota?“
Nicht nur einmal schüttelte ich auf diese Frage den Kopf.
„Siehst du. Also kann ich es auch nicht so gemeint haben.“
Logisch, irgendwie.
An diesem Tag, meinem ersten Schultag, knöpfte ich mir meine Mutter jedoch vor. Denn dass ich keine Süßigkeiten und Geschenke wie die anderen bekommen hatte, das nahm ich ihr doch krumm.
„Und, Panagiota?“, begrüßte sie mich, als ich nach den vier ersten Schulstunden meines Lebens wieder in die Kneipe kam. „Wie war dein erster Schultag?“
„Voll schön!“, meinte ich und begann zu erzählen, von der Lehrerin, der Tafel, Pamela und dem Jungen, der neben mir gesessen hatte und den ich schon aus dem Kindergarten kannte. „Aber, Mama“, sagte ich schließlich und schlug einen ernsten Ton an, „die Deutschen hatten alle riesige Schultüten mit ganz, ganz viel Spielsachen und Schokolade drin. In meiner Schultüte war nur Zeitungspapier und eine Packung Schokoladeneier.“
„Ich weiß“, sagte meine Mutter und grinste. „Das habe ich extra gemacht.“
Na also, dachte ich. Hat sie sich doch was dabei gedacht. Nur was?
„Warum hast du das extra gemacht?“, fragte ich.
Sie seufzte. „Was ist denn passiert, als alle ihre Sachen aus der Tüte geholt hatten?“
„Sie haben getauscht mit den anderen“, erklärte ich.
„Siehst du. Und damit dir das nicht passiert, damit dir niemand die leckeren Süßigkeiten wegnehmen kann, habe ich dir nur die Schokoladeneier reingetan. Den Rest habe ich oben in der Wohnung versteckt.“
Oh Mann! Meine Mutter war so schlau. Ich strahlte übers ganze Gesicht. Hatte ich doch gewusst, dass sie mein Geschenk nicht vergessen hatte, sondern es einen Plan dahinter gab.
„Also kriege ich jetzt alles?“, fragte ich aufgeregt, in Gedanken schon auf dem Weg in den ersten Stock.
„Aber nein, Panagiota“, sagte sie ruhig. „Das bekommst du nach und nach. Dann hast du doch viel länger was davon, oder?“
Zufrieden marschierte ich in unsere Wohnung und machte mich über die Schokoladeneier her. Als ich eine halbe Stunde später mit Bauchschmerzen auf dem Sofa lag, dankte ich meiner klugen Mutter, dass sie mir nicht noch mehr Süßkram gegeben hatte – ich hätte womöglich gleich alles in mich hineingestopft, und meine Bauchschmerzen wären noch schlimmer ausgefallen.
Dass ich den Rest der Süßigkeiten und Spielsachen, die sie mir versprochen hatte, niemals bekam? Schwamm drüber. Schon einen Tag später hatte ich vergessen, dass sie mir eigentlich Nachschlag schuldig war.
Wenn mich jemand fragt, wo ich gelernt habe, so gut zu verkaufen, kann ich nur sagen: Meine Mutter ist an allem schuld. Sie war es, die mir schon seit frühester Kindheit für alles immer eine perfekte Erklärung abgab. Sie hat vielleicht keine ausgezeichnete Schulbildung genossen und sich bei manchen ihrer Aktionen mir gegenüber auch nicht mit Ruhm bekleckert, aber bei Zeus, sie ist fantastisch im Verargumentieren. Sie war damals, als ich noch ein Kind war, sogar so gut, dass ich mich ganz oft so fühlte, als würde es mir besser gehen als den anderen. Denn im Gegensatz zu den Sabine-Eltern war meine Mutter mit allen Wassern gewaschen und wusste immer genau, wie der Hase lief. Diese Fähigkeit, diese Bauernschläue, hatte sie sich in ihrer eigenen Kindheit und Jugend aneignen müssen, um dem Hunger zu entkommen. Ausreden, Tricks, Beschwichtigungen waren überlebensnotwendig, denn nur wenn sie argumentativ überlegen war, konnte sie den Bauern in ihrem Dorf Äpfel, Milch und Brot abschwatzen.
Noch ein wunderbares Beispiel dafür: Manchmal passierte es mir, dass ich in der Schule einschlief. Da ich vor regulärem Unterrichtsbeginn meist schon ein bis zwei Stunden in der Schule nebenan Kaugummis von den Tischen gekratzt hatte, war ich natürlich müde. Wie gesagt, ich bin kein Morgenmensch – es ist egal, wann ich ins Bett gehe, um vier Uhr aufstehen ist und bleibt einfach immer zu früh für mich.
Auf jeden Fall lachten mich meine Mitschüler oft aus, wenn ich wieder einmal den Kopf auf die Tischplatte sinken ließ und ins Land der Träume überging. Meist wurde ich vom Kichern und Lachen der anderen wach oder weil meine Lehrerin vor mir stand und mich anschnauzte: „Jutta! Wach auf. Du bist eingeschlafen!“
Einmal versuchte ich mich zu erklären. „Entschuldigung, das liegt daran, dass ich heute Morgen schon arbeiten war.“
Das Gebrüll der Klasse wurde noch lauter. „Aber Jutta!“, riefen die Kinder. „Du lügst doch! Kinder gehen nicht arbeiten.“
„Doch, ich gehe arbeiten. Fast jeden Morgen“, widersprach ich. „Ihr nicht?“
Die Lehrerin mischte sich ein. „Das ist doch Quatsch, Jutta, erzähl doch nicht so eine Geschichte!“
Ich ging nach Schulschluss nach Hause und sagte zu meiner Mutter: „Mama, die haben gesagt, dass ich lüge, weil Kinder nicht arbeiten gehen. Aber ich gehe doch beinahe jeden Morgen arbeiten.“
Sie beugte sich zu mir runter und sagte: „Panagiota, mein Schatz, die anderen haben recht. Kinder arbeiten nicht.“
„Warum muss ich denn dann arbeiten?“, fragte ich und mir stiegen die Tränen in die Augen. Nicht nur, dass ich andauernd mitten in der Nacht aufstehen und dann Kaugummi abkratzen musste, jetzt stand ich vor meiner Klasse auch noch wie eine Idiotin da – obwohl ich die Wahrheit gesagt hatte.
„Na ja, irgendwann, wenn man erwachsen ist, muss jeder arbeiten. Und weißt du was?“
Ich sah sie an und schniefte. „Was?“
„Du hast dann einen entscheidenden Vorteil.“
Ich stand mit beiden Beinen fest auf dem Schlauch. Was sollte denn das für ein toller Vorteil sein, von dem sie da sprach?
„Du kannst dann schon arbeiten. Die anderen müssen es erst noch lernen“, erklärte Mama im Brustton der Überzeugung. „Die anderen haben keine Ahnung, die sind noch so klein, die können nur in die Schule gehen. Du kannst in die Schule gehen und arbeiten. Ist das nicht toll? Du bist wie eine Erwachsene.“
Ich überlegte einen Moment, dann wischte ich mir die Nase ab. „Du hast recht, Mama. Das ist wirklich gut.“
Sie hatte meine Welt wieder geradegerückt. Jetzt fühlte ich mich nicht mehr wie ein Loser, sondern wie eine Gewinnerin, immerhin hatte ich etwas, was die anderen nicht hatten: Erfahrung. Ich fühlte mich stark. Mama gab mir ein gutes Gefühl. Ich war anders, und das war auch gut so.
Und ich war wirklich schlauer als vorher, denn fortan erzählte ich niemandem mehr in der Schule, was meine Mutter und ich vor dem Unterricht so trieben. Ich war ja clever und gewillt, meinen Vorteil auszunutzen.
Dass ich irgendwann in der Lage war, die Argumentationskünste meiner Mutter zu adaptieren, liegt auf der Hand. Ich lernte immerhin von der Besten. Mit einhundertprozentiger Sicherheit wäre sie in der Lage, einem Scheich Sand zu verkaufen. Und ich sah ihr dabei zu und lernte.
Ich erinnere mich an eine Begebenheit, als wir in der Schule alle zusammen frühstücken wollten. Jeder hatte einen Zettel von der Lehrerin mit nach Hause bekommen, auf dem stand, was wir am nächsten Tag mit in den Unterricht bringen sollten. Auf meinem Zettel stand Margarine.
Nach der Schule rannte ich nach Hause und hielt ihr den Zettel vor die Nase. „Mama, Mama, morgen gibt es Frühstück in der Schule, und ich soll Margarine mitbringen!“
Andere Eltern hätten sich vielleicht mit ihren Kindern vor den Kühlschrank gestellt, gemeinsam ins Innere gesehen und gesagt: „Also, Liebling, du solltest Margarine mitbringen. Welches ist denn die Margarine?“
Aber meine Mutter hatte wieder mal alle Hände voll zu tun, deswegen sagte sie: „Panagiota, du weißt doch, wo die Margarine im Kühlschrank steht. Geh und hol sie.“
Am nächsten Tag saß ich an meinem Pult, die Plastikdose mit der Margarine vor mir, den Zettel daneben. Reihum wurden die Lebensmittel und die Wörter abgefragt, und endlich war ich an der Reihe.
„Ich sollte Margarine mitbringen“, verkündete ich laut, machte den Deckel der Margarinedose auf – und erstarrte.
Die Dose war randvoll gefüllt mit schwarzen Oliven.
Oh. Nein.
Ich kannte die Vorliebe meiner Mutter, alle Plastikbehälter, die sich im Laufe einer Woche so angesammelt hatten, zweckzuentfremden und für andere Lebensmittel weiterzuverwenden. Einmal hatte sie Brombeermarmelade in einen Urinbecher und in ein Glas, auf dessen Deckel das Wort „Schweinskopfsülze“ stand, abgefüllt. Nicht nur in einer leeren Sprudelflasche in unserem Haushalt wurde Ouzo aufbewahrt, weshalb ich auch immer dazu angehalten war, erst am Flaschenhals zu riechen, bevor ich mir eingoss.
„Sind das Oliven?“, fragte Feim, der neben mir saß, dann rief er laut: „Panagiota hat Oliven anstatt Margarine mitgebracht!“
Die Klasse johlte. Alle lachten. Ich hörte, wie es von hinten schrie: „Boah, bist du doof!“ Ich war mal wieder ins Fadenkreuz des allgemeinen Spotts geraten, und der fällt bei Kindern ja bekanntlich nicht zimperlich aus. Und zwar nur, weil meine Mutter mir nicht geholfen hatte, mich für das Frühstück vorzubereiten!
Immerhin nahm ich die Schuld in diesem Fall nicht auf mich. Klar, ich hätte auch selbst den Deckel anheben und nachsehen können, ob in dem Behälter wirklich Margarine war, aber auf die Idee war ich nun mal nicht gekommen.
Also sagte ich: „Das war meine Mutter. Sie hat sich vergriffen.“
Feim kicherte. „Aber warum habt ihr denn Oliven in der Margarinedose? Die sind doch normalerweise im Glas.“
Ich dachte fieberhaft nach. Was würde meine Mutter in dieser Situation sagen? Zum Glück hatte ich einen Geistesblitz.
„Die Oliven kommen aus Griechenland. Die kann man hier nicht kaufen. Sie sind etwas ganz Besonderes, die haben wir extra mitgebracht. Und meine Mutter tut sie in eine Margarinedose, weil sie sonst in einem Riesenkanister sind, und der passt nicht in den Kühlschrank. Die Gläser waren alle schmutzig, da hat sie eben die Dose genommen. Damit wir Plastik sparen. Ihr wisst doch, dass man die Umwelt schonen soll.“
Es waren die Achtziger. Selbst Sechsjährige kannten das Symbol vom Blauen Engel und das kratzige Gefühl des recycelten Toilettenpapiers an ihrem Allerwertesten.
Die anderen Kinder nickten beeindruckt. Und auch Frau Rissen, meine Lehrerin, machte ein glückliches Gesicht.
„Toll, Panagiota. Das finde ich richtig gut. Und ich bin schon gespannt, wie die echten griechischen Oliven schmecken“, sagte sie.
In den meisten Fällen gingen die „Zusammenstöße“ dank der Gerissenheit, die ich von meiner Mutter schon gelernt hatte, glimpflich aus, häufig ging ich sogar als moralische Siegerin aus der Sache hervor. Etwa auch, als sie sich einmal, im Winter, weigerte, mir einen Schlitten zu besorgen. Es hatte geschneit und sollte über Nacht noch einen halben Meter Neuschnee geben, also verteilte die Klassenlehrerin Zettel für die Eltern zu Hause, mit der Bitte, uns am kommenden Morgen einen Schlitten und Schneekleidung mit in die Schule zu geben, weil wir rodeln gehen wollten. Endlich war es einmal nützlich, in einer bergigen Gegend zu wohnen!
Meine Mutter las den Zettel zwar, schüttelte aber nur den Kopf. Einen Schlitten besorgen? Nur weil es einmal Schnee gab? Das wurde ja immer besser. Sie hielt nichts von solchen Dingen, nicht von Schlitten, nicht von Fahrrädern, nicht von Rollschuhen. Alles überflüssiger Quatsch, und vor allem gefährlich.
Am nächsten Morgen fragte ich sie: „Ja, aber Mama, was nehme ich denn dann jetzt mit in die Schule, wenn wir keinen Schlitten haben?“
„Du nimmst eine Plastiktüte mit“, verkündete sie mir.
Ich sah mich schon wieder zum Gespött der ganzen Klasse werden, riss die Augen auf und warf die Hände in die Luft, so wie ich es immer an ihr beobachten konnte, wenn sie sich über meinen Vater aufregte. „Eine Plastiktüte? Mama, das kannst du nicht machen!“
„Oh doch. Das haben wir früher ganz genauso gemacht“, erklärte sie und lief davon, um eine Tüte zu holen. Ja, auch in Griechenland liegt in den Bergen zuweilen Schnee. Meine Mutter kam also mit einer riesigen Tüte und einer Schere wieder, schnitt die Henkel ab und die Seiten auf und überreichte mir den Rest.
„Mama, was ist das?!“
„Ein Schlitten. Du klappst die Tüte auf, setzt dich in die Mitte, dann hältst du das Ende vorn und das Ende hinten hoch und lehnst dich nach hinten. Du wirst sehen, das ist eine super Methode.“
Ich sah meine Mutter zweifelnd an. Das würde doch niemals hinhauen! Aus Erfahrung wusste ich aber, dass Lamentieren nichts brachte, also nahm ich die zerschnittene Tüte und ging in die Schule. Ich hatte keine Wahl. Entweder Plastik oder gar nichts.
In der Schule angekommen, rutschte mir das Herz in die Hose. Die anderen hatten richtige Schlitten, aus Holz, aus Plastik, mit Bremsen, einem kleinen Lenkrad … Ich war am Arsch! Doch ich wusste ja, was ich zu tun hatte. Wenn ich den anderen zeigte, dass ich nur eine Plastiktüte dabeihatte, würden sie mich auslachen. Meine Mutter sagte immer, dass man es beim Hinfallen so aussehen lassen müsse, als sei es Absicht. Also drückte ich die mageren Schultern durch, machte mich groß und stiefelte neben den anderen Kindern den schneebedeckten Hang hinauf.
„Jutta, ist das etwa dein Schlitten?“, grölte Milan, als er sah, wie ich meine Plastiktüte aus der Tasche zog.
Ich schluckte schwer. Manchmal war es ganz schön schwer, vorzugeben, dass man ein harter Hund wäre. Trotzdem ließ ich mir nichts anmerken, und meine Mutter hatte ja gesagt, dass es klappen würde. Sie log nie. Warum sollte sie es diesmal tun?
„Wart mal ab“, sagte ich gelassen und grinste. „Abgerechnet wird am Ende.“
Was soll ich sagen? Mama hatte wieder einmal recht behalten. Nicht nur, dass ich dank leichterem fahrbaren Untersatz viel schneller auf den Hügel hinaufkam (immerhin musste ich kein unhandliches Gefährt an einer Schnur hinter mir herziehen), ich kam auch etwa doppelt so schnell den Hang wieder hinunter. Dank der Plastiktüte sauste ich wie der Blitz an Julian, Feim und den anderen Kindern vorbei, die mir von ihren Holzschlitten aus nur sprachlos hinterherschauen konnten. Innerhalb kürzester Zeit wollten alle mit mir tauschen – alle, sogar die Kinder, deren Schlitten ein Lenkrad hatten.
Ich feierte meine Mutter insgeheim für ihre Klugheit und schwor mir, mich in Zukunft nicht mehr so schnell von den anderen Idioten verunsichern zu lassen. Ich war der Star auf dem Rodelhang, und zwar nur dank einer ordinären Tüte und weil Mama wusste, wie man sich geschickt anstellt.
Allerdings währte meine Freude nicht besonders lange. Denn leider hatte meine Mutter mich am Morgen nicht darauf hingewiesen, Handschuhe mitzunehmen. Das Ergebnis war, dass mir nach etwa dreißig Minuten die Hände abfroren. Sie waren blau und klamm und ich konnte sie kaum noch bewegen. Obwohl ich nicht besonders zimperlich war, liefen mir irgendwann die Tränen über die Wangen, weil ich kaum noch in der Lage war, meine Finger zu spüren.
Da kam meine Sportlehrerin, Frau Kurten, und sagte: „Komm mal her, Panagiota, ich helfe dir.“ Sie öffnete den Reißverschluss ihrer Jacke und die Knöpfe der Strickjacke darunter, dann ergriff sie meine Hände und steckte sie, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, in ihre Achselhöhlen.
Es waren die Achtziger. Nicht nur Nena rasierte sich nicht unter den Armen.
Fassungslos nahm ich nach einer halben Minute, in der meine tauben Finger langsam auftauten, zur Kenntnis, dass das lange, flaumige Achselhaar meine kompletten Hände bedeckte. Meine Mitschüler liefen an Frau Kurten und mir vorbei und verdrehten die Hälse vor Neugier. Es muss auch zu albern ausgesehen haben: Ich, der Hungerhaken mit den klappernden Zähnen, stand wie ein Skispringer in der Hocke vor der drahtigen Frau Kurten und vergrub meine Hände in ihren Achselhaaren, die sich wie lange Tentakel auf meiner Haut anfühlten.
Es ist eine Erinnerung, die mich heute noch erschaudern lässt vor Ekel. Schade, dass dieser eigentlich so erfolgreiche Tag mit einer derartigen Vergewaltigung meiner Sinne enden musste.
Dennoch: Plastiktüten waren überall einsetzbar, fand meine Mutter, und die Schlittenepisode hatte sie bestätigt. Also lag es nur auf der Hand, dass ich dazu angehalten war, meine Sportkleider anstatt in einer Sporttasche in einer Aldi-Tüte zu transportieren. Mich störte das nicht besonders, schließlich wusste ich, dass die Plastiktüte so was wie ein Multifunktionstool war, quasi das Schweizer Taschenmesser unter den Aufbewahrungsmitteln. Immerhin konnte man auf einer Plastiktüte Schlitten fahren, und zwar schneller als alle anderen.
Der Klassenpflegschaftsvorsitzenden Frau Heinke passte es aber gar nicht, dass ich keine richtige Sporttasche oder zumindest einen muffig riechenden Turnbeutel hatte. Also schrieb sie einen Zettel, den ich meinen Eltern mitbringen sollte. Darin bat sie meine Mutter, doch einmal zu einem Elternabend zu kommen – wohl weil sie beabsichtigte, dort mit ihr über die Sache zu reden.
Zu Hause zeigte ich Mama den Zettel. Sie warf einen Blick darauf und sagte dann: „Sag dieser Pflegschaftsfrau, für so einen Scheiß habe ich keine Zeit. Wenn sie in der Kneipe kellnern kommt, komm ich in der Zeit auf diesen Elternabend.“
Damit war das Thema für sie abgehakt.
Die Klassenpflegschaftsvorsitzende freute sich allerdings gar nicht über die Antwort. Stattdessen veranstaltete sie bei den Eltern meiner Klassenkameraden eine Kollekte, damit die „arme“ kleine Jutta endlich auch eine Sporttasche bekomme und nicht mehr mit der Aldi-Tüte in die Schule kommen müsse. Ich verstand die ganze Aufregung um die Tüte ehrlich gesagt nicht. Sie erfüllte ihren Zweck, sie beförderte meine Habseligkeiten. Wo war das Problem?
Dennoch, es kam ein stattliches Sümmchen zusammen, und bald schon wurde mir eine hässliche gelbgraue Sporttasche überreicht. Mir war das furchtbar unangenehm, dass andere Leute für mich gespendet hatten, damit ich eine Tasche bekam. Aber wie sagte meine Mutter immer? Dem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul. Außerdem wollte ich niemanden wissen lassen, wie peinlich mir das Ganze war. Also steckte ich meine Turnschuhe, meine Wasserflasche und meine Trainingsklamotten in die neue Tasche und ging nach Hause.
„Was ist denn das?“, fragte meine Mutter, als sie die Tasche sah.
„Meine neue Sporttasche.“
„Wo hast du die her?“
„Hab ich geschenkt bekommen.“
„Von wem?“
Ich druckste herum. Ich wusste, es würde Ärger geben. Meine Mutter würde es gar nicht witzig finden, dass ihre Tochter „Almosen“ bekommen hatte.
Schließlich rückte ich doch mit der Wahrheit heraus. „Die Klasse hat sie mir geschenkt.“
Mama guckte mich mit großen Augen an. „Warum?“
Ich seufzte. „Weil sie denken, dass die Plastiktüte nicht gut genug ist.“
„Was ist an der Plastiktüte nicht gut genug?“, ging sie hoch wie eine Rakete, genau wie ich befürchtet hatte.
Wieder zuckte ich mit den Achseln.
„Eine Plastiktüte ist doch viel besser als eine Sporttasche.“
„Warum?“, wollte ich wissen.
„Deine Klassenkameraden kommen immer mit derselben Sporttasche in die Schule, du hast jedes Mal eine neue Plastiktüte.“
Karstadt, Kaiser’s, Aldi … Da hatte meine Mutter irgendwie recht. Ich konnte jeden Tag mit einer anderen Tüte in die Schule kommen, wenn ich wollte. Wer brauchte schon Sporttaschen?
Als ich vor Jahren einmal den Film Das Leben ist schön von und mit Roberto Benigni sah, wurde mir klar, dass meine Mutter und die fiktive Hauptfigur Guido aus demselben Holz geschnitzt sind. In dem Film erzählt der jüdische Italiener Guido, der mitsamt seiner Familie in ein Konzentrationslager der Nazis deportiert wird, seinem Sohn, dass sie dort ein kompliziertes Spiel zu spielen hätten, dessen Regeln sie genau einhalten müssten, um am Ende als Sieger einen Panzer zu gewinnen. Guido versucht, seinem Sohn mit allerlei Märchen und Geschichten die schrecklichen Bedingungen so angenehm wie möglich zu machen. Meine Mutter hätte garantiert genau dasselbe getan. Anstatt mir die Wahrheit zu sagen, hätte sie mir eine Lügengeschichte nach der anderen aufgetischt – um mich zu schützen – und ihre Argumentationen wären so hieb- und stichfest gewesen, dass ich sie allesamt geglaubt hätte.
„Wer hat denn die Tasche bezahlt?“, wollte sie schließlich wissen.
„Die anderen.“
„Die anderen was? Kinder?“
„Eltern.“
„Waaaas?!“ Sie tobte, riss mir die Tasche aus der Hand und marschierte damit schnurstracks zur Klassenlehrerin. „Was soll das?“, brüllte sie die arme Frau mit ihrem starken griechischen Akzent an. „Wir sind nicht arm! Wir können uns Sporttaschen leisten, wenn wir das wollen, aber wir wollen nicht.“
Meine Lehrerin zuckte mit den Achseln. „Es tut mir leid, Frau Petridou, es war nicht böse gemeint. Betrachten Sie es doch als Geschenk, das die anderen Ihrer Tochter gemacht haben …“
„Geschenk? Es ist ein Almosen, das wir nicht brauchen!“
Ich glaube, sie war kurz versucht, meiner Klassenlehrerin die Tasche vor die Nase zu knallen, auf dem Absatz umzudrehen und zu verschwinden. Das allerdings hätte nicht zu meiner Mutter gepasst. Sie war zwar eine stolze Hellenin, aber sie war vor allem pragmatisch. Also wedelte sie noch ein paar Mal furchteinflößend mit den Armen – bei einer Körpergröße von eins fünfzig –, schnappte sich die Tasche, die sie auf das Pult der Lehrerin geknallt hatte, und marschierte davon.
Mir war es recht. Meine Mutter hatte sich endlich mal in der Schule blicken lassen. Und ich hatte eine Sporttasche und wurde nicht mehr wegen der Plastiktüten gehänselt. Was brauchte ich mehr?