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Bloß eine Giraffe

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Mein Rechenschlüssel

Ein Marsmännchen müsste man sein! In jenem Jahr war’s im Sommer dermaßen schwül, dass ich solche Spinnereien ausschwitzte. An meiner Handelsoberschule hatten wir Sommerferien, elendslang. Ohne ein paar Spinnereien hätte ich die Zeit gar nicht über die Runden gebracht. Nicht bloß, dass der Sommer so nicht enden wollend war, riss es mich auch noch zwischen zwei Jobs hin und her. Nachmittags jobbte ich in einer Tankstelle, abends in einem Minisupermarkt. Dass ich hier wie dort auch ein paar Kolleginnen hatte, machte die Angelegenheit für mich auch nicht lustiger, die Tussis waren leider in jeder Hinsicht vernachlässigenswert. Um einen Vergleich zu wagen: Ein Sonnenstrahl schrammt den Merkur und die Venus, rast an ein paar vernachlässigbaren Asteroiden vorbei und landet schließlich auf der Erde. Ob der dann wohl ähnlich übel gelaunt ist wie damals ich? Der gute Mars, der wär’s gewesen. Ein schönes Plätzchen, wohltemperiert, doch leider weit verfehlt!

Wenn man zwischen mehreren Jobs rotiert, passiert einem natürlich auch so manches. So war das auch bei mir der Fall in jenem Sommer. An der Tankstelle bekam ich pro Stunde tausendfünfhundert Won, im Minisuper tausend. Ein Bettel, darum war ich auch permanent angefressen. Das heißt, eigentlich war’s ganz am Anfang nicht schlimm gewesen, aber mit der Zeit staute sich der Frust auf. Der Ladenbesitzer meinte: „Weißte, so lernste das Leben kennen.“ Meine unausgesprochene Erwiderung war: „Wär’s schlecht für meinen Lernerfolg, wenn ich von dir zwei Tausender die Stunde bekäme? Aber mal angenommen, es wär so: warum stopfst du dann deiner eigenen Brut so viel Taschengeld in den Hintern?“ Und so ungeschickt konnte ich mich doch nicht einmal mit Absicht anstellen, dass meine stündliche Leistung nicht, allemal noch, zumindest zweitausend Won wert gewesen wäre. Also echt, so was von einem Hungerlohn! Knickrige, schwüle Erdkugel ...

Es war also zu jener Zeit, da bekam ich im Minisuper, schon fast am Ende meiner Nachtschicht, wieder mal Besuch von Coach, meinem besten Kumpel. „Wie steht’s denn so?“ ‒ „Alles bestens.“ Was hätte ich schon anderes sagen sollen? Über ihn hatte ich ja den Job bekommen. Die Informationen über Gelegenheiten zum Geldverdienen liefen in unserem Viertel wohl alle bei ihm zusammen, auf jeden Fall hatte er schon vielen anderen vor mir einen Job zugeschanzt, außerdem stand er einem dann noch immer mit Rat und Tat zur Seite. Unbezahlbar, so ein Kontakt. Ich griff nach einer Packung Capri Sun und drückte sie Coach in die Hand: „Geht auf meine Rechnung.“ Ich grinste, als ich das sagte, aber dabei schielte ich nach der Uhr und dachte: „Trink’s in dem Bewusstsein, dass das 25 Minuten meines Lebens entspricht.“ Er fing an zu quatschen: „Dort wo ich arbeite, der Chef, so ein Arsch! Hat er heut schon wieder eine Mitarbeiterin betatscht, Pfote zwischen die Schenkel geschoben ... Mich regt das so was von auf! Darf sich der alles erlauben?“ Im Stillen dachte ich da bei mir: Ob der Chef sich das erlauben darf oder nicht, würde ich dahingestellt lassen; allerdings sollte er, wenn er schon unbedingt grapschen muss, seiner Angestellten wenigstens einen Zehntausender pro Stunde zahlen. Nicht das Hingrapschen war das Böse. Das eigentlich Böse war, das Opfer nur mit einem Tausender die Stunde abzuspeisen. Fand zumindest ich, für meinen Teil.

„Aber lassen wir das, bist du gut im Bankdrücken?“ – „Was? Bankdrücken?“ – „Oder sagen wir Liegestütze.“ Musste ich natürlich sagen, dass ich ein Ass bin. Anders kam man nie zu einem Job, das war schließlich auch damals schon das Fundamentalste vom Fundamentalen. „Die Knete ist gut, dreitausend die Stunde. Körperlich allerdings ein bisschen anstrengend.“ – „Was, drei Tausender?“ Ohne noch richtig zu wissen, worum es ging, bloß wegen diesem „dreitausend die Stunde“ wurde ich plötzlich hellwach und spitzte die Ohren. Gab es tatsächlich, hier irgendwo rund um mich, ein Unternehmen mit einer dementsprechend hohen Wertschöpfung? Schon allein, dass mir so ein Posten angetragen wurde! Von einem Moment auf den andern fühlte ich mich zum wichtigen Rädchen einer hochentwickelten Industriegesellschaft befördert. „Da bin ich dabei, sofort!“ Um einen Vergleich zu wagen: Ein Sonnenstrahl passiert den Merkur, die Venus und auch die Erde und landet schließlich sanft auf dem Mars. Ob der wohl ähnlich glücklich ist wie damals ich? „Vernachlässigbare Erde, ich weiß mir was Besseres! Tschüss!“

So nahm ich also diesen Pushmann-Job an. „Das Gute dran: du fährst gratis U-Bahn, trainierst deine Armmuskulatur. Und das Beste: Unvereinbarkeit mit deinen anderen Jobs gibt’s auch keine. Malen wir uns das mal aus: Du bist hier im Minisuper fertig, schlenderst lässig zum U-Bahnhof, dort ein wenig Schubsdi-Schubsdi, und die Sache ist gegessen. Schwuppdiwupp, kurz und schmerzlos. Betrieb in öffentlicher Hand, sprich: bombensichere Lohnauszahlung. Arbeit quasi sportliche Betätigung – macht, dass dir dein Futter besser schmeckt. Folglich schläfst du auch besser, kannst infolgedessen auch den Tankstellenjob weiter machen.“ Coach war in Fahrt. Dass er im Geist schon alles für mich durchgespielt hatte, war vielleicht auch ein Grund dafür, dass ich die Arbeit annahm, aber die Hauptsache waren ja doch die drei Tausender. „In Nullkommanix ’n Hauf’n Kohle. Das ist doch der springende Punkt, oder?“ – „Wie? Nun ja, so kann man es natürlich auch zusammenfassen.“ Coach mochte verdutzt dreinschauen, aber wozu sollten wir uns denn was vormachen? Bleiben wir nüchtern. Ich hatte es mir schon fertig ausgerechnet, dank Rechenschlüssel. Es mag blöd klingen, aber es gibt nun mal Leute, die nicht anders können. Die müssen immer eins und eins zusammenzählen, kalkuliert nach ihrem jeweiligen höchstpersönlichen Rechenschlüssel. Die Welt ist so eingerichtet.

„Dein Vater hat ein ganz schlechtes Gewissen.“

Mein Herr Papa ließ sich so vernehmen. Schon wieder! Jedes Mal, wenn ich ihm eröffnete, dass ich einen neuen Job ergattert hatte, kam dieser Spruch. Anfangs war der ja noch nett anzuhören gewesen, aber mittlerweile ging er mir nur mehr bei einem Ohr rein und beim anderen wieder raus. Mit seinen 45 Jahren bekam mein Vater 3500 Won pro Stunde, will sagen: das war seine Rechenformel. Auf jeden Fall arbeitete er in irgendeiner Handelsfirma, oder jedenfalls in einem Betrieb, über den sich nicht viel mehr sagen lässt, als dass er eben „irgendeine Handelsfirma“ war. Ein einziges Mal habe ich ihn dort besucht. Ich war vielleicht vierzehn, da musste ich ihm eines Tages sein Essen vorbeibringen. „Ist womöglich die Zeichnung falsch?“ Ich studierte den Zettel, den mir die Mutter gegeben hatte, wieder und wieder und irrte dabei durch die Gassen. Zu guter Letzt schlug ich mich doch noch durch zu Vaters Büro, – immerhin existierte es, und viel mehr gab es daran auch nicht zu loben. Ein dunkler Flur, in dem sich wohl die Ratten tummelten, eine Neonröhre, eine Sperrholztür, von der der Lack abblätterte. Mein unwillkürlicher Gedanke dabei: „Hat es mich in irgendein Ausland verschlagen?“ Dermaßen armselig, dieser Ort. Hoppla, ich hatte das Wörtchen „armselig“ auf Lager! Nun ja, auch wenn wir nicht betucht waren, hatte ich doch immer uneingeschränkt Musik hören können, Metallica beispielsweise. Von der Welt und vom Leben insgesamt hatte ich ja nur eine sehr ungefähre Vorstellung, malte mir aber jedenfalls was Cooles drunter aus, so cool wie eine ESP Flying V (so hieß ein Gitarrenmodell, das sie bei Metallica hatten). Mit diesen Illusionen war jedoch Schluss, als ich die Tür zu jenem Büro öffnete, wo mein Vater mit eingefallenem Gesicht seinen Dienst tat. Man sah es ihm an, dass er all die Jahre immer nur kümmerlich aus Mutters Proviantdose Mittag gegessen hatte. „Hallo, Papa.“

Ursprünglich war ich immer ein lustiger Kerl gewesen, aber dieser Tag machte komischerweise aus mir einen Leisetreter. In jenen Momenten dort in Vaters Büro formte sich nämlich in meinem Kopf, auch wenn mir das damals nicht bewusst war, jener besagte Rechenschlüssel. Zumindest glaube ich das heute. Fröhlichkeit war nicht damit verbunden, aber auch keine Trauer, und schon gar kein Groll auf wen auch immer. Das Ganze war sozusagen rein wie eine reine Zahl. Ich wurde also zwar still und maulfaul, umso fleißiger fing ich dafür an, zu jobben und Geld zu sparen. „Mensch, kauf dir doch lieber ein Lotterielos“, so der mitleidige Rat von Leuten, mit denen ich früher herumgehangen hatte. Aber mir war eins klar: Auch sie würden letzten Endes nicht drum herumkommen, sich einen Rechenschlüssel zuzulegen. Wie stehts denn mit dir, was willst’n du später machen?“, fragte ich die Mitleidigen manchmal. Und bekam dann beispielsweise zur Antwort: „Ich? Weiß nicht recht, in letzter Zeit denk ich mir, Schauspieler oder Sänger wär vielleicht was für mich.“

Ein jeder hat seine eigene Art zu rechnen im Kopf. Und irgendwann im Lauf seines Lebens entdeckt das auch jeder. Natürlich gibt es auf der weiten Welt auch Leute, die eine hochgeistige Mathematik brauchen, aber bei der Mehrheit ist es mit einem bloßen Rechnen getan. Ein kleines Sümmchen mühselig wo dazurechnen, anderswo ein kleines Sümmchen wieder wegrechnen – und so läppern sich die Sümmchen wie das Laub unterm Herbstbaum, bis irgendwann vom letzten Zweig das letzte Blatt gerupft ist. Dann hat es sich ausgerechnet. Schlussstrich. In gewisser Weise war ich wohl an jenem Tag Zeuge von „Vaters Art zu rechnen“ geworden oder hatte gleich die Lösung gesehen oder vielleicht überhaupt den Schlüssel zu seinen Rechenoperationen übernommen. Keine Ahnung. Auf jeden Fall irgendwas in der Art. Mutters Lunchpaket übergeben, den Rechenschlüssel übernommen. „Da haste das Lunchpaket.“ – „Danke, erbste dafür meinen Rechenschlüssel.“ Und mit der „Papa, ’n bisschen Taschengeld“-Tour hatte es ein Ende. Wäre mir nicht einmal mehr im Traum eingefallen, dass ich meinen Vater anschnorre.

Es ist schon ein rechtes Kreuz, das mit meinem Rechenschlüssel.

„Tust mir so leid, mein Junge, ich hab wirklich ein ganz schlechtes Gewissen.“ Meine unausgesprochene Erwiderung war immer: „Lass nur Papa, ich üb’ mich eben auch schon im Rechnen.“ Ein Sparbuch, ein zweites Sparbuch und noch ein Extra-Bankkonto. Dachte ich an meine Sparbücher, wo sich, auf dem einen, mein Tausendfünfhundert-Won-Stundenlohn und, auf dem andern, mein Tausend-Won-Stundenlohn läpperten, konnte mir die Welt nichts mehr anhaben. Rund um mich gab’s genug von meiner Sorte. Coach war ein gutes Beispiel. Der hatte sogar fünf Sparbücher. Seine Familie war zwar vaterlos, dafür hatten sie aber auch keine kranke Großmutter so wie wir. Gleichstand. Seine Mutter: Köchin oder Kellnerin in einem Restaurant. Viel war’s ja nicht, was ich wusste, über seine private Existenz ließ sich Coach nicht gern aus. Dem Vernehmen nach war er früher mal ein berüchtigter Schnüffeljunkie gewesen. Als ich das zum ersten Mal hörte, wollte ich es absolut nicht glauben. Aber was soll’s, jeder sucht nach den für ihn richtigen Formeln. In diesem Sinne

halte ich mich an meinen Rechenschlüssel.

Zug fährt ein

Laut Ansage sollen die sehr geehrten Fahrgäste zu ihrer Sicherheit hinter die gelbe Sperrlinie treten, aber das ist wirklich sehr viel verlangt. Die Leute müssen fahren, dabei ist im Zug bereits kein Platz mehr. Steigt man jedoch nicht ein, verspätet man sich. Die Sicherheit für Leib und Leben ist diesseits der Sperrlinie, aber was Beruf und Existenz anlangt, ist man nur dann auf der sicheren Seite, wenn man es in den Zug hinein schafft. Wie würdest du die Prioritäten setzen, mein lieber Leser?

Den Augenblick, als mein erster Zug einfuhr, werde ich nie vergessen. Von wegen Zug, es war ein grausiges Monstrum, ein Untier. Es wälzte sich in die Station herein und ließ seine Flanke aufplatzen, und – ein Luftholen, ein Ausatmen: „Phhha, Hhhha!“ – die Menschen spritzten heraus wie Erbrochenes, wurden von der Bestie ausgekotzt. Ganz unwillkürlich löste sich aus meinem Innern ein tiefer Seufzer: „Mein Gott!“ Bei einem Dammbruch gab es sicher ähnliche Bilder. Und mir war, als schwappe die Brühe mir durch die Augen, die Ohren und die Nase in den Kopf, um dort alles zu überschwemmen. „He!“ Womöglich wäre ich der Bestie noch selber zum Fraß geworden, hätte Coach nicht so herübergeschrien. Ich erfing mich und sah dem Untier zu, wie es scheinbar dabei war, über seine offene Flanke den Schwall des Erbrochenen wieder in sich hineinzusaugen. Als wollte es sich so mit Energie aufladen. „Los!“, schrie Coach jetzt. Daraufhin wurde ich zum Berserker, griff wahllos mal in was Schwabbeliges, mal in was Festes, und schob wild drauflos. Was das war, daran kann ich mich bis heute nicht erinnern. Oder doch, aber darf ich mich wirklich zur Aussage versteigen, es sei die Menschheit gewesen?

Als der Zug abfuhr, kam Coach gleich zu mir herüber, um meine Moral zu stärken: „Nicht schlappmachen!“ ‒ „Schon gut!“, erwiderte ich. Aber auch wenn ich noch so tief durchatmete, zitterten mir doch die Beine. „Die Fahrgäste darfst du nicht als Menschen sehen. Ich meine, sieh sie als Frachtgut an oder was weiß ich! Verstehst du? Kapiert?“ Coach hatte gerade mal sein „Kapiert?“ fertig artikuliert, da fuhr auch schon der zweite Zug ein, und wir mussten uns wieder gefechtsbereit machen. Dieser zweite Zug war einer von denen, die tatsächlich bis zur äußersten Endstation fuhren. Vielleicht war es deshalb, auf jeden Fall strömten scheinbar doppelt so viele Menschen heraus wie beim ersten. „Phhha, Hhhha!“ War das nun nicht wirklich schon die komplette Menschheit?

In dieser Tonart verging gut eine Stunde. In einem Moment der Klarheit fand ich mich schwerfällig auf meinem Hintern sitzend wieder, diesseits der Sicherheitslinie, also ausreichend „zurückgetreten“. Vor meinen Augen lagen da drei Krawattennadeln, zwei Knöpfe und ein abgebrochener Brillenbügel. Der stammte von einer Hornbrille und erinnerte mich irgendwie an einen Blindenstock. Als ich diese Fundsachen der Menschheit einsammelte, merkte ich erst, dass ich am ganzen Körper klatschnass war. Na eben, ein Marsianer müsste man sein, dann hätte man’s bestimmt besser, viel besser.

Eine Woche verstrich. Morgens war ich immer Augenzeuge am gnadenlosen Menschheits-Schlachtfeld, am späteren Vormittag war dann Zeit für einen kurzen Schlummer zu Haus, danach machte ich meinen Tankwartjob, und den Abschluss bildete die Nachtschicht im Minisuper. Nachdem mir nach dem ersten Mal den ganzen Tag Head, shoulders, knees and toes höllisch wehgetan hatten, waren es am nächsten Tag Head, shoulders, knees and toes, knees and toes und noch einmal die Knie, und am Tag darauf war’s dann soweit, dass mir praktisch à la Head, shoulders, knees and toes, knees and toes and eyes and ears and mouth and nose sowieso schon alles wehtat. „Also echt ... Sollte man dafür pro Stunde nicht mindestens drei Zehntausender kriegen?“ Einmal mehr packte mich der Frust, aber es war richtig, was Coach sagte: „Wenn du jetzt alles hinschmeißt, hast du dich ganz umsonst gequält.“ Darum biss ich die Zähne zusammen und trat weiter jeden Morgen zum Dienst an. Am Ende war ich damit gar dem geheimen Erfolgsrezept beim Pyramidenbau auf der Spur. „Hör ich jetzt auf, war der bisherige Aufwand umsonst“, rechnete ich mir nämlich immer vor; und ähnlich, aber noch einfacher, ging wahrscheinlich die Kosten-Nutzen-Rechnung der seinerzeitigen ägyptischen Sklaven: „Schuften wir eben weiter. Kommt ja doch nur ein Blödsinn raus, wenn wir sagen, wir wollen nimmer.“

Es war merkwürdig. Während ich mich da mit eisernem Willen durchboxte, fand ich allmählich Gefallen an der Arbeit. Die Schmerzen und das Stechen in Head, shoulders, knees and toes, knees and toes gaben sich, und, wahrhaftig, die Sache machte sogar irgendwie Spaß. Bei Tagesanbruch war es selbst im Sommer angenehm kühl. Wenn ich in Gaebong im U-Bahnhof eintraf, stand da meist schon Coach, eine Zigarette im Mund. Vom Chef – so nannte Coach den Bediensteten am Fahrkartenschalter – bekamen wir dann eine Gratis-Fahrkarte ausgehändigt. Mit der betraten wir den Bahnsteig, um uns dann ganz vorn, an der Spitze des zu erwartenden Zugs, aufzupflanzen, als hätten wir ein Privileg darauf. Als gewöhnlicher Fahrgast hatte ich mich zum Warten immer dort postiert, wo eine Bodenmarkierung besagte, dass da der achte Waggon zu halten habe; kostete mich einfach die wenigsten Schritte, wenn ich von zu Hause über „meine“ Stiege in die Station geschlurft kam. In diesem Sommer aber war ich nun mal in Amt und Würden ‒ also vorspaziert zur Nummer eins. Wenn ich mich dann mit Coach vor dem Fahrer zum höflichen Gruß verbeugte, öffnete uns der meistens die Seitentür zu seiner Kabine. Solche Sachen waren wirklich fein.

„Für die Leute da draußen sind wir schon lebende Legenden.“ Die Ansprachen oder Predigten, oder wie auch immer, des „Regisseurs“ im Aufenthaltsraum waren ein eigenes Vergnügen. Alter, Berufserfahrung, Kraft im Ärmel, kompromisslose Professionalität und abgedroschene Lebensphilosophie – er war uns einfach in allem über, und so war er zu seinem Spitznamen gekommen. In der Realität war er eine Art Sprecher und Anführer von uns Pushmännern, und insofern galt uns, was er sagte, zwar nicht absolut als das Evangelium, aber nichtsdestoweniger konnte man ihm stets nur beipflichten: „Aha, genau, stimmt, ja, klar!“ Sein Hauptpunkt war immer: Wir sind eine Stütze der Wirtschaft unseres Landes. Wir sind gleichsam wie jener berühmte holländische Knabe, ihr wisst schon, dieser Achtjährige, der Haarlem vor der Flut rettet, weil er zufällig ein Loch im Deich entdeckt und es beherzt mit seinem Finger zustopft (denn jedes kleine Loch wird schnell ein großes); er harrt dann frierend die ganze Nacht aus, bis am Morgen endlich wer vorbeikommt. Genauso opfern wir uns auf, damit das Verkehrssystem nicht zusammenbricht. Und wir Pushmänner von Sindorim, dem ärgsten Knotenpunkt von allen, sind überhaupt die größten Helden unserer ganzen Zunft. „Hört, hört!“

Für bloß drei Tausender pro Stunde wollten wir nicht unbedingt gleich so weit gehen wie der kleine Holländer, aber mit einer Aussage des Regisseurs waren wir alle vorbehaltlos einverstanden, nämlich der, dass wir die Crème de la crème darstellten. Unablässig predigte er es uns vor: Wer nicht zur Elite gehörte, zu den Auserlesenen, zur Crème de la crème eben, der hat nicht das Zeug zum Pushmann in der Station Sindorim. Außerdem hatte er Tricks für uns, wie man die Leute noch effektiver schob, brachte uns bei, wie man einen Fahrgast rettet, dessen Fuß in den Spalt zwischen Waggon und Bahnsteigkante gerutscht ist und sich dort verkeilt hat, wusste, wie viele Leute wirklich in einen Waggon hineingehen und dergleichen Sachen. Und urplötzlich kam er einem mit so was wie: „Da sind jetzt neue Kekse am Markt, heißen Oh yes. Hab sie schon probiert, wirklich lecker. Auf was stehst du mehr: Choco pie oder Oh yes?“ Damit brachte er jeden aus dem Konzept, das war eine Extrabegabung von ihm. Pflichtschuldig lachten wir dazu immer ganz herzlich.

Im Übrigen passierte so allerhand. Einmal hatten wir ein Kind, das, eingezwängt unter lauter Erwachsenen, in Ohnmacht gefallen war. Was waren das für Menschen, die ihr Kind in der Stoßzeit mit der U-Bahn fahren ließen? Aufgeregt ließ der Regisseur die Eltern ausrufen. Aber es war absehbar, dass Rabenmutter und Rabenvater sich nicht in der Station befanden. Im Bereitschaftsraum kam das Kind wieder zu sich und weinte bitterlich. Es müsse doch zum Mathematik-Wettbewerb, Mutter werde schimpfen. Der Regisseur wollte dem Häufchen Elend, das vom andern Ende der Stadt, aus Bucheon, gekommen war, eine Cola und ein Oh yes schenken. Er beauftragte mich mit dem Einkauf und gab mir das nötige Geld: „Du bist der Jüngste, sei so gut.“ Ich nahm die dreißig Minuten seines Lebens und sagte bloß, dem Ernst der Situation entsprechend, also nüchterner als sonst: „Kein Problem.“

Und einmal stand da eine hübsche Frau vor mir: „Ich flehe Sie an! Ich bin doch schon viel zu spät dran.“ Damals fiel es mir immer noch sehr schwer, bei einem weiblichen Körper einfach aufs Geratewohl hinzugreifen und draufloszuschieben. Möglichst nur am Rücken oder an den Schultern Hand anlegen, das war mein Prinzip. Wegen meiner Hemmungen fuhren der Ärmsten zwei Züge vor der Nase davon. Sie brach in Tränen aus, da fühlte ich mich endgültig überfordert. Also rief ich Coach um Hilfe. Doch als der Zug – wie es der Teufel wollte, einer von denen, die tatsächlich die komplette Strecke bis zur Endstation absolvieren – einfuhr, war der derart gesteckt voll, dass sogar Coach scheiterte. Es war dann der Regisseur, dem es endlich gelang, die Frau in einen Waggon hineinzupressen. „Fräulein, schauen Sie nicht zum Zug. Sie müssen mir zugewandt sein, mir!“ Die Angesprochene tat wie geheißen, und der Regisseur legte ihr einfach seine Pranken auf das, was ihre Brüste sein mussten, – und schob. Wusch. Schneller als man schauen konnte, war sie auch schon im Waggon drin. „Schreibt’s euch hinter die Ohren: Bei den Männern klappt’s im Vorwärtsgang am besten. Die Frauen müsst ihr aber zu euch drehen, sonst kriegt ihr sie nie rein.“ – „Wie kommt das?“ – „Was weiß ich. Auf jeden Fall ist es nun einmal so.“

Es kam auch mal vor, dass einer von uns, ein Pushmann, selber in den Waggon hineingeschoben wurde. Im Handumdrehen war er drin, weil hinter ihm zu viele Leute nachdrängten. So was konnte einem Pushmann im Prinzip immer mal passieren, war ja auch bloß der Beginn des eigentlichen Problems. Fängt nämlich drin im Waggon ein Fahrgast an zu stänkern – wir Pushmänner seien alle Rüpel, wir pressten die armen Leute ohne Rücksicht auf Verluste in die Züge hinein – und verpasst unserem Kollegen eine Kopfnuss. Unser Kollege aber auch ein Heißsporn, und so wächst sich die Sache ungeheuer aus, mit dem Ergebnis, dass er von einer ganzen Meute verdroschen wird. Drei Wochen pflegebedürftig. Die Fahrgäste, die ihn so schlimm zugerichtet hatten, haben sich alle schnell aus dem Staub gemacht, von denen wurde keiner gefasst, und am Ende musste unser Kollege den Zahnersatz, den er vorn brauchte, selber berappen. Nach der ganzen Geschichte ließ er sich aber sowieso nicht mehr viel blicken.

Was ich dafür nun öfter zu Gesicht bekam, das waren diverse Unholde. Beziehungsweise konnte man sie so oft nun auch wieder nicht sehen, aber dafür war meist einfach dem Notschrei einer Frau zu entnehmen, dass da irgendwo tief im Menschenknäuel drin ein Perverser steckte. Einmal wurde ein Vierzigjähriger, der den Rock eines weiblichen Fahrgasts besudelt hatte, noch am Tatort gefasst. War da denn überhaupt genug Platz gewesen für die entsprechenden Handbewegungen? Ich fand die Sache doppelt bemerkenswert: Zum einen die Dreistigkeit der Tat mitten in der zusammengepressten Masse, zum andern aber wiederum der Umstand, dass der Täter nicht einfach in dem Gewühle hatte untertauchen können. Coach wiegte sein Haupt: „Solche Fälle gibt’s zuhauf.“ – „Aber, hör mal, auch wenn er noch so drauf steht ... mir geht nicht ein, wie man sich bloß deshalb so eine schreckliche U-Bahn-Fahrt antun kann.“ – „Was weiß ich. Keine Ahnung, was in so einem Perversen vorgeht. Ich hab einen Bekannten, der gerade als Polizist angefangen hat. Eines Tages rückt er auf eine Anzeige hin aus und erlebt, wie ein Nackter, ein Mann Mitte dreißig, in einer städtischen Blumenrabatte Blumen frisst.“ – „Er hat wirklich gesagt: Blumen?“ – „Ja, Blumen.“

Der Typ, den man bei seinem Ejakulations-Happening auf frischer Tat ertappt hatte, wurde als Wiederholungstäter identifiziert. Er machte einen verschlossenen Eindruck, hatte eine sehr helle Haut und ein Gesicht voller Sommersprossen. Weil er den Kopf gesenkt hielt, warf sein fetter Hals Falten, aus denen unentwegt der Schweiß rann. „Na, biste in deiner Eigenschaft als Perversling sogar mal nach Hawaii gereist?“ Unser Regisseur war sehr sarkastisch, aber der Typ blickte einfach nie auf. Sein geblümtes Aloha-Hemd nahm sich im Kontrast zu den Uniformen der Polizisten, die neben ihm standen, gar so wunderschön aus, und nur aus diesem Grund gingen mir aus heiterem Himmel allerlei Fragen durch den Kopf: Ob’s wohl auch auf Hawaii eine U-Bahn gab? Und in den Rabatten Blumen fressende nackte Männer? Und Pushmänner? Ich hätte es gern selber rausgefunden, frei nach dem Kinderlied: Die Erde ist doch rund, brauchst nur immer gradaus gehn ... Lebt wohl hier, Aloha Oe!

Und was ich mir noch dachte: Ob nicht letzten Endes alle Menschen Wiederholungstäter waren? Man wiederholte sich, indem man eine U-Bahn nahm, arbeitete, seine Mahlzeiten einnahm, Geld verdiente, ausging, sich was einbildete, Leute anlog, Leute drangsalierte, Leuten begegnete, sich mit Leuten unterhielt, an irgendwelchen Besprechungen teilnahm, sich weiterbilden ließ, Schmerzen in Kopf, Schultern, Knien und Zehen hatte, sich einsam fühlte, schlief, sich sexuell betätigte. Und indem man starb, wiederholte man auch nur, was schon andere vor einem getan hatten. „He, Seungil, den ganzen Körper einsetzen, den ganzen Körper!“ Machte ich mich also wieder ans Werk, schob mit vollem Einsatz, ein Wiederholungstäter.

Als der August kam, hatte ich schon viel Abgebrühtheit entwickelt, war praktisch schon ein alter Hase. Außerdem gab es ja immer mehr Frischlinge. Die Prügel, die unser Kollege bezogen hatte, hatten nämlich viel nachhaltigen Schrecken verbreitet. So mancher warf das Handtuch auch deshalb, weil ihm der Job schlicht zu anstrengend geworden war. Sukzessive rückte ich zur Zug- und Bahnsteigmitte hin auf. Je näher man dieser Mitte kam, umso mehr Fahrgäste hatte man zu schieben, und oft schob man nur mit dem Effekt, dass links und rechts wieder Leute aus dem Waggon herausquollen. Gewiss, die Vorgesetzten und Kollegen wurden immer freundlicher, alle schätzten meine Zuverlässigkeit, das Arbeitsklima war prima. Diesbezüglich gab es wirklich nichts zu beanstanden. Und klar,

mit der Bezahlung war ich nach wie vor zufrieden,

doch Morgen für Morgen Augenzeuge der Qualen unzähliger Menschen zu werden, das entwickelte sich für mich immer mehr zu einer Art Stress. Mit knapper Not schließt sich die Waggontür, und ich sehe mich schon wieder Aug’ in Auge mit einer flach an die Fensterscheibe gedrückten Fratze. Schau sich einer diesen Ballon an! Wangen und Lippen so flachgepresst, als sollten sie im nächsten Moment aufplatzen. Zu Schweinsrüsseln plattgedrückte Nasen. Bei solchen Anblicken hielt ich mir anfangs den Bauch vor Lachen, aber dieses Lachen verging mir mit der Zeit. „Schön und gut, aber jetzt beschreiben Sie doch einfach mal das Antlitz der Menschheit schlechthin, so wie Sie es im Gedächtnis haben.“ Nähme mich einer vom Mars so in die Mangel, wäre das für mich keine kleine Pein. Meine Gedächtnis-Collage, zusammenmontiert aus entstellten Gesichtsfragmenten, würde die Bewohner anderer Sterne sicher zutiefst deprimieren. Das „Zug fährt ein!“ riss mich aus meinen Gedanken. „Phhha, Hhhha!“ Eben, eben, bleiben wir bescheiden bei der U-Bahn. Die Fantastereien von einer Milchstraßenbahn oder so lassen wir besser sein. Solang die Menschheit so ist, wie sie ist.

Schließlich landete ich, weil wieder ein Neuer zu uns stieß, ganz in der Mitte, beim Waggon Nummer 8. Als ich auf die gelb in den Boden eingelassene Zahl runterblickte, kam mir auf einmal wieder mein Rechenschlüssel in den Sinn. „Warum bloß muss ich mich so abstrampeln?“ Mochte zunächst nur eine dumme, müßige Frage sein, nichtsdestoweniger hielt ich es für nötig, mir selber gut zuzureden. Meine Rechenschieberei war, sagte ich mir, ja doch nur eine harmlose Zahlenspielerei. Es war ein Morgen, an dem ich plötzlich wieder ungewohnt schwere Gewichte auf Head, shoulders, knees and toes lasten spürte. „Phhha, Hhhha!“ Wieder fuhr ein Zug ein, die Türen gingen auf, jemand wurde von der Menschenmenge auf den Bahnsteig hinausgedrückt. Genauer besehen war dieser Jemand

mein Vater.

Wie soll ich es ausdrücken? Mir die Kleider vom Leib reißen, ins nächste Blumenbeet springen und dort Blumen fressen, gleich unmittelbar nach Dienstschluss – das war’s, wonach mir da zumute war. „Ah, Papa ...“ Ich kann mich nicht recht erinnern, ob ich etwas in der Art gesagt habe oder nicht. Nur, dass ich meinen Vater, der ja zur Arbeit musste, wieder in den Zug zurückschob, das aber gerade so wie seinerzeit, als ich diese hübsche Frau schieben sollte. Ich schob fest, nein, zu schwach, aber eben doch einigermaßen, und er bewegte sich doch, ... doch nicht hinein. Zu schlechter Letzt schloss sich die Tür. Ich beugte mich nach vorn, stütze mich mit den Händen auf den Knien ab und hechelte: „Phhha, Hhhha!“ Vater besserte an seiner Krawatte herum. Sie hatte einen schiefen Sitz bekommen, den er nun mit einem schiefen Lächeln korrigierte. Und ganz kurz, so eine kurze Zeit nur, wie man braucht, um eine Krawatte zu binden, flocht etwas mich und meinen Vater zusammen, zu einem absolut unlösbaren Knoten. Kuriose Empfindung. Außerhalb dieses Knotens war ein Höllenlärm wie eh und je, aber innerhalb sammelte sich so was wie die Stille des Weltalls. Und durch die Lärmwand hindurch, die uns beide – die wir uns freilich dennoch nicht direkt in die Augen sehen konnten – so einfriedete, in unsere Stille herein, drang dann doch die Lautsprecherdurchsage:

„Zug fährt ein.“

Entenbootweltbürger und andere Erzählungen aus Südkorea

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