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Autismus, ein individueller Lebensweg

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Jeder Mensch geht seinen ganz eigenen, individuellen Lebensweg und davon sind Menschen mit Autismus nicht ausgeschlossen, auch sie haben einen biographischen Lebenslauf und eine stetige Entwicklung. Daher ändert sich die Wahrnehmung im Laufe eines Lebens teilweise sogar erheblich.

Wenn es darum geht, wie Menschen mit Autismus ihre Umwelt erleben, dann handelt es sich immer auch um Sinneswahrnehmung und ganz besonders auch um die Selbstwahrnehmung. Und die Selbstwahrnehmung von vielen Menschen mit Autismus ist genau der Grund, warum ich für diese Betrachtung den Titel Das fragile Gleichgewicht zwischen Sein und Nichtsein gewählt habe.

Die Fragen, denen ich in diesem Buch nachgehen möchte, sind folgende:

• Warum ist es so schwierig, Autismus zu verstehen?

• Was sind alternative, „Autismus-geeignete“ Kommuni kationsmodelle?

• Wie sieht eine „Autismus-freundliche“ Begleitung aus?

• Darf Autismus sein?

So genannte autistische Symptome wie etwa selbstverletzendes Verhalten, Schreien, ununterbrochene stereotypische Handlungen sind von außen gesehen unglaublich einschneidend und nicht selten schrecklich mit anzusehen. Da die Erklärung, warum das alles geschieht, meist fehlt, sind Begleitpersonen in solchen Situationen oft überfordert und stehen dem Ganzen ohnmächtig gegenüber. Schon das allein ist ein schreckliches Gefühl. Die schwerwiegendste Folge davon ist aber die, dass diese Verhaltensweisen ohne verständliche Erklärung einen großen Spielraum für Mutmaßungen, Interpretationen, Phantasien und Vorurteilen öffnen.

Haben Sie sich schon einmal gefragt, wie es sich anfühlen muss, als Mensch mit Autismus zu leben und das Leid, den Schmerz, die Angst und Verunsicherung der Menschen um sich herum miterleben zu müssen? Wie fühlt es sich an, als Kind die Verzweiflung der Eltern zu spüren und dabei zu wissen, dass die Eltern meinetwegen und wegen meines Verhaltens verzweifelt sind?

Ein weiteres Problem für Menschen mit Autismus liegt darin, dass sie selten als eigenständige Individuen gesehen werden, sondern einfach als Autist*innen, wie sie im Buch stehen oder in einem Film vorkommen. Erschreckend finde ich, dass seit einiger Zeit das Wort „Autismus“ oder „autistisch“ im Journalismus, aber auch in der Fachliteratur gerne benutzt wird, um Missstände in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, die ein egoistisches Ziel verfolgen, zu beschreiben. Hier zeigt sich zugespitzt, was ich mit Interpretationen, Phantasien und Vorurteilen meine.

Niemandem würde es in den Sinn kommen, die heute verbreitete Leseschwäche vieler Menschen als „geistig behindert“ oder eine körperliche Ungeschicklichkeit als „spastisch“ zu bezeichnen. Während bei anderen Formen von Beeinträchtigungen ethische und moralische Zurückhaltung selbstverständlich ist, ist es in Bezug auf Autismus gebräuchlich geworden, Egoismus und rücksichtsloses Handeln mit Autismus gleichzusetzen. Eine solche Pauschalbezeichnung der Gesellschaft auf Kosten von Menschen mit einer Beeinträchtigung sollte unbedingt vermieden werden, denn diese Verknüpfung von Autismus mit gesellschaftlichen Problemen artet schnell in diskriminierende Phantasien in Bezug auf Menschen mit Autismus aus.

Egoismus und Autismus sind sogar Gegensätze, da Menschen mit Autismus oft nicht einmal imstande sind, das Wortpaar Ich-Du (so wie es insbesondere Martin Buber als Ur-Kategorie beschrieben hat, mehr dazu im Kapitel Menschen mit Autismus und ihre Art wahrzunehmen) zu verstehen. Für Buber entsteht das Ich am Du. Egoismus dagegen stellt das Ich ins Zentrum. Das tatsächliche Problem sehe ich darin, dass unsere Ich-zentrierte Gesellschaft durch den Menschen mit Autismus einen Spiegel vorgehalten bekommt. Der Mensch mit Autismus dient der Gesellschaft als Projektionsfläche, da er auf Egoismus und Selbstbezogenheit in keiner Art und Weise anspricht.

Die Tendenz, alles was nicht der „Norm“ entspricht und auch sonst in keine bestimmte Kategorie passt, als „Autismus“ zu bezeichnen, ist eine schädliche Entwicklung und bringt sehr viel Verwirrung, nicht nur in Kreisen von Laien, sondern auch in der Fachwelt. „Autistische Züge“ oder „autistische Tendenzen“ sind nicht Autismus. Immer mehr Eltern sind verunsichert und suchen für ihre ganz „normalen“, vielleicht etwas stillen, scheuen, oder zurückhaltenden Kinder eine Fachstelle für Autismus auf. Kinder, welche Autismus haben, sind in der Regel nicht zu „übersehen“. Und jene, die nur „autistisch angehaucht“ sind, haben keinen Autismus und brauchen keine Abklärung. Die Meinung, dass Autismus immer mehr zunehme, erkläre ich mir durch diese Form von „Hysterie“, die zu voreiligen Diagnosen führt. Zudem lässt unsere zur Gleichförmigkeit neigende Gesellschaft immer weniger Eigenheiten zu. So gibt es heute sicher sehr viele „autistische“ Menschen, die keinen Autismus haben.

Meiner Ansicht nach ist die Bezeichnung Autismus-Spektrum-Störung (ASS) zu hinterfragen, da sie jede Form von „Introvertiertheit“, oder „Anderssein“ ins Spektrum einbeziehen kann. Eine klare Abgrenzung von „normal“ und „pathologisch“ ist aber dringend notwendig, um die Grenzen nicht immer mehr zu verwischen. Das ist auch wichtig, damit die Mittel für Forschung und Unterstützung für tatsächlich vom Autismus betroffene Menschen zur Verfügung stehen.

Wir kommen zu der Frage, wie die Welt auf Menschen mit Autismus wirkt und diese Frage hat mit dem fragilen Gleichgewicht zwischen Sein und Nichtsein von vielen Menschen mit Autismus zu tun. Und genau hier können auch viele Fragen auf das oft so unverständliche Verhalten von Menschen mit Autismus geklärt werden.

Das fragile Gleichgewicht zwischen Sein und Nichtsein

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