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Vorwort von Nelli Riesen

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Ich sage „JA“. Und das sage ich oft. Dummerweise ist dies aber das einzige Wort, das ich klar ausdrücken kann. Zudem ist mein „JA“ für meine Mitmenschen oft verwirrend weil es zustimmend, genauso gut aber auch ablehnend sein oder sonst irgendetwas bedeuten kann. Jedenfalls kommt es laut und bestimmt aus meiner Kehle. Sonst sind meine unartikulierten, immer sehr kräftigen Töne eher ein Schreck für die Umgebung. Es kam schon vor, dass eine Basler Tram voller Menschen erschrocken ist, als ich beim Einsteigen dieses eine Wort, begleitet von einem typischen Eselslaut, von mir gab. Einige sind vor Schreck aufgesprungen.

Mein Stimmvolumen hätte mir auch eine Karriere als Operndiva ermöglicht. Zwar nur für sehr moderne Kompositionen, denn ob ich will oder nicht, meine Intonation liegt stets einen Halbton daneben. Dabei liebe ich Musik über alles. Oper für eine Turteltaube, einen Esel und einen Ochsen würde als Titel meinem Lautiervermögen am ehesten entsprechen. – Keine Chance, dass jemand mich so verstehen kann, selbst die Bremer Stadtmusikanten hätte ich in die Flucht geschlagen.

Übrigens neige ich dazu, mir kräftig an die Stirne oder sonst wo an den Kopf zu schlagen. Sei es aus Begeisterung oder aus Verzweiflung

Ich verstehe mich selbst nicht immer. Einzig eines ist mir klar – mein Körper macht oft etwas ganz anderes als mein Geist es bestellt hat. Und zwischen Geist und Körper eingebunden, kommt meine Seele zwischen die Räder und quietscht: Meine Gefühle machen Lärm und den habe ich nicht im Griff.

Ich bin seit meiner Geburt (vor 53 Jahren) auf Begleitung angewiesen. Ab der ersten Stunde im Heim aufwachsen, heißt, viele Begleitpersonen erlebt zu haben. Nicht ganz einfach, wenn man seinen Willen nicht verständlich ausdrücken kann. Zum Glück fand ich meinen Begleiter/Weggefährten, mit dem mich mein Schicksal seit meinem achten Geburtstag zunehmend verbunden hat. Von ihm fühle ich mich ernst genommen und verstanden, denn er urteilt nie, erschrickt nie und lässt sich durch keine Verrücktheiten aus der Ruhe bringen oder gar in die Flucht schlagen.

Heute kann ich mich dank Gestützter Kommunikation (Facilitated Communication, abgekürzt FC) verständlich und einigermaßen klar ausdrücken.

Bis zu meinem 37. Lebensjahr war ich zwar nicht stumm, aber all meine Äußerungen waren völlig unverständlich, besonders weil ich weder Mimik noch Gestik nutzen kann. Auch hier macht mein Körper Unsinn: Wenn ich für ein Foto lächeln soll, verziehen die Muskeln mein Gesicht zu einer Grimasse, beim Zahnarzt beiße ich die Zähne zusammen, obgleich ich doch genau weiß, dass ich den Mund öffnen sollte.

Ich bin ein widerspenstiges Geschöpf in einer doch so gerne geordneten Welt. Meine schier zwanghafte Ordnung, alles an den Rand, an die Wand zu stellen, treibt meine Mitmenschen oft die Wände hoch.

Naja, es ist aber auch zu erwähnen, die chronisch Normalen, oft mehrfach-chronisch Normalen oder Neurotypischen machen das genauso mit mir: Es ist schon ein echtes Problem, gut gemeinte, liebevoll verschnörkelte Ausdrucksweisen zu verstehen. Diese können sich je nach Tagesform des Sprechenden verändern, zum Teil „mit einem Gesicht bis an den Bauch“ (Rudolf Steiner). Humor- und lustlos mir vorgetragen, ist kaum zu erahnen, was der tiefere Sinn ihrer Geräusche sein könnte. Wiederholungen bringen auch fremdsprachigen Menschen kein größeres Verständnis.

Durch das Fehlen der Sprache hatte ich in den ersten 37 Jahren auch keine wirklichen Begriffe. Mein Denken war eher wie ein Nebel, ein vorbeiziehender Duft oder wie eine feine, von fernher klingende Musik. Es gibt östliche Mönche, die gehen, um ihre innere Entwicklung zu fördern, in die Jahre der Stille. Sie gebrauchen die Sprache bewusst nicht mehr. Bei mir war das umgekehrt. Ohne die Sprache, die sich ja nach außen wendet, verband ich mich mit dem Innern. Ich entdeckte, dass ich Gedanken und Gefühle anderer Menschen wahrnehmen konnte. Die geistige Welt war mir näher als die physisch irdische. Das war mein Glück, denn das ermöglichte mir die Bildung, trotz des Umstands, dass ich in der Schule nicht zu gebrauchen war. Ich störte den Unterricht, vor allem die Lehrperson. Aber an Vorträgen, beim Lesen von Büchern und bei Gesprächen war ich innerlich dabei. Physisch nicht im selben Raum zu sein war nie ein Problem. Leider hat diese Fähigkeit, die sich mit dem schriftlichen Spracherwerb etwas zurückgezogen hat, auch problematische Seiten: Ich erlebe meine Mitmenschen in oft sehr verstörender Art. Ich höre, was sie sagen, sehe, wie sie sich geben, und ich erlebe gleichzeitig, wie sie innerlich sind. Ein zuweilen völlig inkongruentes Bild, das mich zu sogenannten Ausrastern bringt: Schlagen, Zerstören und Schreien.

Es ist normal, dass wir nicht immer gleich drauf sind. Wer kennt nicht Tage, an denen wir nicht alles so zustande bringen, wie wir das möchten. Das ist kein Problem. Für mich aber ist es ein schwerwiegendes Problem, mir etwas vormachen zu wollen. Nicht zu sich und der eigenen Eingeschränktheit zu stehen, bringt mich völlig aus dem fragilen Gleichgewicht. Das kommt zuweilen mit dem unsorgfältigen Gebrauch unserer Sprache zustande:

Wir wollen Mittagessen kochen. Die Mitarbeiterin sagt: „Magst du im Keller Kartoffeln holen?“ Das mag höflich und nett gemeint sein, ist aber eine furchtbare Verzerrung der Wirklichkeit. Ohne die Kartoffeln gibt es kein Mittagessen, nicht das geplante Menu. Auf eine solche Frage gibt es nur eins: Sag Nein! (Borchert). Verwirrende Aussagen und sinnloses Gerede wären zu vermeiden, wenn eine klare, auffordernde Bitte ausgesprochen würde: „Hol bitte die Kartoffeln aus dem Keller!“

Mitarbeiter sollen fachlich gut ausgebildet sein. Sie sollen wissen, was die Hintergründe von einzelnen Beeinträchtigungen sind. Das ist eine wichtige Voraussetzung für die Begleitung von Menschen mit Unterstützungsbedarf. Dazu leisten die Ausbildungsstätten einen großen Beitrag.

Das Wissen reicht aber nicht, so wenig mein Wissen genügt, dass ich für eine vernünftige Zahnbehandlung den Mund aufmachen sollte. Die innere, menschliche Entwicklung ist für Menschen wie mich wesentlich. Wenn ich etwas nicht weiß, dann kann ich mir das notwendige Wissen erwerben. Aber meine innere Entwicklung, mein Streben, den anderen Menschen adäquat und auf Augenhöhe auf seinem Weg zu begleiten, das kann ich nicht googlen. Ich muss mir selbst gegenüber, wenn ich eine Begleitperson sein will, streng und freudig auf das noch in mir zu Entwickelnde schauen. Ich muss mich um meine innere Entwicklung selbst bemühen. Da hilft jede Ausbildung nur bedingt.

Denn was brauche ich? Auf jeden Fall keine Besserwisser, keine noch so wissenschaftlich tausendfach Gescheiten, die bringen nur den Untergang. Das, was ich brauche, ist Sicherheit, trotz aller Unsicherheiten auf dieser Welt. Er oder sie müssen nicht alles können, aber ehrlich zu sich und zu mir müssen sie sein. Sie müssen Interesse haben an mir, so, wie ich bin. Verlässlichkeit, was auch als Nächstes geschehen mag, ist unerlässlich. Ich muss sie kennen dürfen, denn ich kann meiner Wahrnehmung oft nicht vertrauen, da bin ich darauf angewiesen, in meiner Begleitung zu lesen, was ich vom Wahrgenommenen halten kann.

Pestalozzi prägte die Begriffskombination: Kopf-Herz-Hand. Das, vorwärts und rückwärts verinnerlicht, ist neben der fachlichen Ausbildung eine perfekte Ausgangslage, um zu einer Haltung zu kommen, die mein Leben sicher und sinnvoll macht.

Vertieft sich das Interesse, kann Liebe entstehen. Nicht die erotische und auch nicht die altruistische ist hier gemeint, sondern die Menschen verbindende Liebe. Die brauchen wir alle. Davon haben wir alle ganz viel. Autismus spielt da keine Rolle.

Ich bin glücklich über mein Schicksal, auch wenn die autistischen Störungen sehr nerven und mir das Leben oft schwer machen. Ich habe mich vor langer Zeit entschieden, dieses Leben zu leben. An die genauen Umstände erinnere ich mich nicht mehr. Aber ich weiß, dass dies völlig stimmig ist. Dadurch habe ich eine Aufgabe auf dieser Welt. Es ist mir wichtig, meinen Beitrag zu leisten, damit sich die Menschen besser verstehen.

Pascale Karlin hat den nachfolgenden Text sehr mutig verfasst. Ohne die übliche Absicherung auf wissenschaftliche Grundlagen beschreibt sie die aus eigenen Erfahrungen möglich gewordenen Beobachtungen. Reflektiert und differenziert, wie mir das nicht möglich ist, beschreibt sie, was sich hinter dem heute Autismus Spektrum Störung (ASS) genannten Phänomen verbirgt: Immer ein Mensch, der mitempfindend mit der Welt sein Leben gestalten und sich mit ihr verbinden will.

Pascale Karlin gibt keine fertigen Antworten, sie ist keine Besserwisserin, sondern stößt aufmerksam und liebevoll Türen auf. Türen, die zu Fragen führen, die es längst zu stellen gibt. Ihre Anregungen sollten bedacht und mit dem Herzen durchdrungen werden, wenn etwas davon durch die Hände fließen wird, ist dies ein Gewinn für uns alle.

Ich danke Pascale!

Und dem Leser, der Leserin dieser Schrift wünsche ich den Mut, sich darauf einzulassen.

Es lohnt sich!

Ich kann nur „JA“ sagen.

Nelli Riesen

Das fragile Gleichgewicht zwischen Sein und Nichtsein

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