Читать книгу Das Böse bleibt! - Patrice Parlon - Страница 4
Der letzte Nachkomme
ОглавлениеEs war einer dieser Tage, die man gerne vergessen will. Schon früh morgens ging alles schief. Jeder kennt das, man drückt den Wecker aus, dreht sich noch mal um und verschläft. Dann schreckt man hoch und verfällt in Panik. Jetzt geht es nicht mehr schnell genug und hastig greift man nach den Klamotten vom Vortag. Man hat ja keine Zeit mehr, um etwas Besseres zu finden. Überhastet stürmt man aus dem Haus und stolpert über alle möglichen Dinge. Hat man es endlich hinaus geschafft, stellt man fest, dass man nicht vom Fleck kommt. Ganz gleich ob mit dem Auto, dem Bus oder der Straßenbahn. Plötzlich steht man ratlos am Straßenrand und hofft, dass es nicht allzu viele Probleme nach sich zieht, wenn man zu spät kommt. Genau in solch einer Lage befand sich Loana. Ihr steckten eindeutig noch die zahllosen Albträume der letzten Nacht in den Knochen. In ihrer Verzweiflung blieb nur noch ein Anruf. Aber auch das sollte nicht sein! Ihr Telefon streikte. Gerade als sie zurück ins Haus gehen wollte, stellte sie fest, dass sie ihren Schlüssel auf dem Küchentisch vergaß. Doch damit hörten die Katastrophen noch nicht auf. Sie machte nur einen Schritt auf die Straße, da geschah es! Ein PKW erfasste sie und schleifte sie meterweit mit, ehe er zum Stehen kam. Aber es war nicht irgendein Auto, es gehörte Johanna! Loana lag blutend am Boden, als die ersten Passanten stehen blieben und weitere heran stürmten. Nur eine hielt sich abseits und starrte gebannt in ihre Richtung, aber erst als Johanna floh, rannte sie auf Loana zu und schrie: „Mein Kind! Bist du verletzt?“ Loana verlor ihr Bewusstsein. Sie bekam nicht mehr mit, wie sie ins Krankenhaus gebracht wurde. Erst geschlagene drei Stunden später erwachte sie. Benommen sah sie sich um. Indem erschien ihr Arzt und fragte nach ihrem Namen. Loana sah ihn verwirrt an und stammelte: „Ich weiß nicht.“ Er fragte, wo sie wohnte, aber auch das konnte sie nicht beantworten. Er beruhigte sie und versicherte, dass ein Gedächtnisverlust nach solch einem Unfall nicht ungewöhnlich und außerdem nicht von Dauer wäre. Das tröstete sie überhaupt nicht. Sie war den Tränen nah, da sagte er: „Laut Ihrem Ausweis heißen Sie Loana Crepprit. Sie sind 25 Jahre jung und wohnen im Kamkertal Eins in Wechnais.“ So sehr sie sich auch anstrengte, sie erinnerte sich nicht. Einzig und allein der Vorname kam ihr bekannt vor. Dennoch konnte sie nicht mit Sicherheit sagen, dass sie auch wirklich so hieß. Loana musste es erst einmal so akzeptieren. Sie hatte keine andere Wahl. Der Doktor riet ihr zur Ruhe. Kaum war er gegangen, da erschien die starre Beobachterin. Sie beugte sich an Loanas Ohr und flüsterte: „Du hättest mich fast im Stich gelassen.“ Loana musterte sie irritiert und fragte: „Woher kennen Sie mich?“ „Ich bin deine Urgroßmutter.“ Loana fühlte, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Zumal diese Frau nicht älter als Dreißig aussah. Also fragte sie nach. „Wie heißen Sie?“ „Mein Name ist Coline!“ Verdutzt stammelte Loana: „Sie lügen! Sie sind viel zu jung, um meine Uroma zu sein. Ich bin mir sicher, dass ich Sie noch nie in meinem Leben gesehen habe!“ Coline stimmte ihr zu, versicherte aber, dass es die Wahrheit wäre. Sie trat den Rückzug an. Loana rief erschrocken: „Wo wollen Sie hin?“ Und bekam zur Antwort: „Du bist noch nicht bereit. Ich komme ein anderes Mal wieder.“ Coline war kaum zur Türe raus, da entdeckte sie Loanas Pflegeeltern. Schnell versteckte sie sich und beobachtete aus der Ferne. Nach einer Weile drehte sich Loanas Mutter zu ihr um und schickte ihr einen verärgerten Blick. Coline verstand nur allzu gut, was er bedeutete. Immerhin sah sie ihn schon oft genug bei Loanas Vorgängerinnen. Nun blieb ihr nichts anderes übrig, als zu gehen. Sie wollte sich nicht schon wieder rechtfertigen. Auf halben Weg zur Tür kamen ihr drei Gestalten entgegen. Sie schaute nur kurz auf und erkannte sie sofort. Sie glichen alten, verhassten Bekannten. Johanna und ihre Handlanger! Es gab nur einen Unterschied. Diese waren jüngere Ausgaben ihrer Peiniger. Sofort drängten sich böse Erinnerungen in Colines Kopf. Diese Drei nahmen ihr fast alles. Auf eine bestialische Art und Weise. Coline wusste genau, warum sie gerade jetzt auftauchen. Sie wollten ihr grausames Werk fortsetzen. So oft haben sie es schon getan. Bisher ohne echten Erfolg. Schließlich „lebte“ Coline noch. Ihr Druckmittel sollte diesmal Loana sein. Nun galt es, alles Erdenkliche zu versuchen, um diese schier endlose Folterorgie zu beenden. Dazu brauchte sie nur eine günstige Gelegenheit, um auch Loana davor zu bewahren. Stunden vergingen und so geduldig sie auch warte, Johanna ließ Coline nicht mehr an Loana heran. Sie hatte keine andere Wahl, als sie weg zu locken. Nur wie? Coline wusste genau, dass sie ihr nicht nachlaufen würden. Aber wer sagte denn, dass sie es mussten? Es genügte sicher schon, Johanna als Unfallfahrer zu entlarven und sie würde abgeführt. So jedenfalls die Theorie. Ein kurzes Gespräch mit der Oberschwester und Coline wurde aus der Klinik gezerrt, nur weil ihr Johanna zuvor kam. Aber das war nur ein winziger Rückschlag. Noch konnten sie Loana nicht schaden. Dazu brauchte sie ihr erstes Opfer! Oder vielmehr den Ring - den Träger des Fluches. Doch den bekam sie nicht so einfach.
Nur eine Stunde später kehrte Coline mit den Polizisten zurück. Es gab schließlich genug Augenzeugen, die Johanna als Fahrerin entlarvten. Kaum erkannte sie ihre missliche Lage, floh sie, dicht gefolgt von ihren Handlangern und den Polizisten. Coline machte sich schleunigst daran, ihren Plan umzusetzen. Sie stahl sich einen OP-Kittel und das nötige Besteck für eine Amputation. Loana lag friedlich schlafend im Bett, als Coline das Zimmer betrat und alles vorbereitete. Sie nahm ihre linke Hand und machte eine Faust daraus, dann bog sie den Mittelfinger hervor und setze eine Art Miniguillotine an. Damit wollte sie den Finger abtrennen, denn nur das allein schützte Loana vor Colines Peinigern. Unvermittelt ging die Tür auf! Die Nachtschwester kam herein! Coline ließ sofort ihr Werkzeug verschwinden. Sie tat, als würde sie den Puls fühlen. Rasch redete sie sich heraus: „Die Patientin schläft. Ich werde morgen früh wiederkommen.“ Gerade noch mal gut gegangen! Doch nun brauchte sie eine Idee, einen Plan B!
Als Loana erwachte, entdeckte sie ein Buch auf dem Tisch. Es trug ein Symbol, das sie als Tätowierung auf ihrer Schulter hatte. Was sollte sie davon halten? Je länger sie es betrachtete, umso neugieriger wurde sie. Was mochte wohl in diesem Buch stehen? Vielleicht erfuhr sie die Bedeutung ihrer Tätowierung, denn sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie dieses Bild bekam! Es gab nur einen Weg, um es herauszufinden. Sie musste das Buch lesen. Also nahm sie es und schlug es auf. Sie entdeckte ein Gedicht, das lautete: Eine Warnung vor dem Buch, in dem steht ein wahrer Fluch. Lass ihn nicht zu nah heran, weil er dich sonst töten kann. Loana lehnte sich zurück. Ihre Augen wichen aber nicht von diesem mysteriösen Schriftstück. Heftige Widersprüche plagten sie. Irgendwie wagte sie nicht, dieses Ding aufzuschlagen. Indem klopfte es an der Zimmertür. Sie zuckte zusammen. Mutig rief sie: „Wer ist da?“ Niemand regte sich. Plötzlich durchbrach ein Peitschenknall die angespannte Stille! Loana rutschte unwillkürlich unter die Decke. Sie war unfähig aufzuspringen oder wegzulaufen. Kurz darauf öffnete sich die Zimmertür. Da stand Coline! Nach einer Weile kam sie näher. Sie sah das Buch auf dem Tisch und griff danach. Sofort funkte Loana dazwischen und riss es an sich. Coline warnte: „Wenn du auch nur ein Wort davon liest, bist du verdammt! Du wirst niemals sterben und auf ewig Folterqualen erleiden!“ Loana glaubte kein Wort. Sie fragte nach: „Ist das ein schlechter Scherz? Das da ist doch nur ein Buch!“ Coline wiederholte ihre Warnung und fügte noch etwas hinzu: „Ich weiß, wovon ich rede. Ich war sein erstes Opfer und habe alle anderen bei ihrem Höllentrip begleitet. Keiner von ihnen hat Hoffnung auf Rettung! Es sei denn, du hilfst ihnen!“ Loana fragte ungläubig: „Warum ich?“ Die Antwort darauf gefiel ihr gar nicht. „Das Buch folgt einer Blutlinie. Ich habe all meine Nachkommen mit ins Unglück gestürzt.“ Loana hakte nach: „Was geht’s mich an? Ich bin nicht mit dir verwandt!“ Coline schnaubte abfällig und murmelte: „Du warst ihre letzte Hoffnung, jetzt werden sie niemals Frieden finden! Ich werde mich nicht opfern, nie wieder!“ Loana war nun noch verwirrter. „Warum ich? Meine Mutter ist eine angesehene Frau. Sie lebt nicht weit von hier und ich weiß, dass sie niemals verletzt wurde. Ich kann kein Nachfolger deiner Familie sein!“ Coline kehrte ihr mit einem verkniffenen Lachen den Rücken und ging in das winzige Bad. Loana folgte ihr sofort, doch war sie längst verschwunden. Es gab nur eine Tür. Dennoch war sie weg! Loana erschreckte der Gedanken, dass sie vielleicht einem Geist gegenüberstand. Verwirrt setzte sie sich auf die Bettkante, stierte auf das Buch und ließ sich einige Fragen durch den Kopf gehen. Knallte Coline mit der Peitsche? War das ein Schauermärchen? Einerseits interessierte sie, warum das Buch dieses Bild trug. Andererseits scheute sie den Blick hinein. Je länger sie da saß, umso schwerer wurde es, nicht danach zu greifen, um es vielleicht doch zu lesen. Es reizte sie immer mehr. Aber ihr ging die Warnung nicht aus dem Kopf. Schon bald kam ihr die Idee, dass sie dieses Buch nicht ohne Grund bekam. Loana hoffte inständig, dass alles nur ein böser Traum war. Doch nur um Klarheit zu bekommen, griff sie zum Telefon. Sie wählte die Nummer ihrer Eltern. Als sich ihr Vater meldete, platzte Loana einfach heraus: „Bin ich adoptiert?“ Es wurde gespenstisch still in der Leitung. Also fragte sie noch einmal. Plötzlich stotterte er: „Macht das einen Unterschied?“ Jetzt war alles klar! Loana zögerte einen Moment und plärrte durchs Telefon: „Ich will Antworten!“ Er versprach, ihr alles zu erzählen, sobald sie wieder gesund war. Aber Loana wollte es sofort wissen. So lenkte er ein und kam ins Krankenhaus. Er ließ den Kopf hängen, als er eintrat und sagte leise: „Ja, es ist wahr. Du bist adoptiert! Wir haben es dir nicht gesagt, weil wir uns nie als Fremde gesehen haben. Wir waren doch eine Familie!“ Loana atmete einmal tief durch und bat: „Erzähl mir trotzdem alles, was du weißt!“ Er zog ein fast schon antikes Album aus seiner Jacke und hielt es ihr entgegen. „Da drin steht alles, was du wissen kannst.“ Was meinte er? Gab es etwas, das sie nicht erfahren durfte? Zum Beispiel die Sache mit dem Buch? Sie wollte ihn fragen, aber zuerst sah sie in das Album. Vielleicht verheimlichte er ja etwas anderes.
Neugierig setzte sie sich auf und sah sich den Einband an. Es wirkte wie ein Relikt aus einer anderen Zeit. Sie stierte vor sich hin, aber sie brauchte Antworten, also schlug sie es auf. Schon das erste Foto jagte ihr einen eisigen Schauer über den Rücken. Es zeigte eine junge Frau, die kaum älter als Loana sein konnte. Ihre Gesichter ähnelten sich so stark, dass Loana ihren Vater fragte. „Ist das meine Mutter?“ Er stammelte: „Woher weißt du eigentlich, dass du adoptiert wurdest?“ Jetzt konnte sie einen guten Rat brauchen. Sollte sie ihm von Coline und dem Buch erzählen oder eine Ausrede erfinden? Noch ehe sie sich entscheiden konnte, riss er sie aus ihren Gedanken. „Das ist deine Großmutter!“ Loana erwiderte: „So sah Oma Anna aus?“ Er schüttelte den Kopf. „Nein! Das ist sozusagen deine leibliche Oma!“ Sofort dachte sie wieder an Coline, obwohl diese Frau anders aussah. Konnte es trotzdem wahr sein? Gehörte Loana zu einer verfluchten Familie? Was nun? Sollte sie sich auf den Weg machen, um ihre leibliche Mutter zu suchen? Doch wozu? Immerhin ließ diese Frau ihre Tochter im Stich. Trotz allem reizte Loana die Chance, ihre Vergangenheit zu erforschen. Sie fragte nach ihrem Namen, aber ihr Vater kannte ihn nicht. Dann wollte Loana wissen, woher er das Bild hatte und er erwiderte: „Als wir dich abholten, gehörte es zu deinen Sachen. Wir haben es für dich aufbewahrt. Doch hatten wir keinen Kontakt zu deinen Blutsverwandten. Wir kennen nicht einmal ihre Namen.“ Auch auf die Frage woher die Tätowierung stammte, konnte er nichts sagen, denn dieses Bild hatte sie schon als Baby. Loana zweifelte daran, dass irgendwer ein Baby tätowieren würde, doch sie war der Beweis. Sie musste sich damit abfinden, dass der einzige Hinweis auf ihre Herkunft in diesem ominösen Buch steckte. Doch die Warnung bremste ihre Neugier. Sie beschloss, erst einmal darüber zu schlafen und verschob jede weitere Frage auf ein anderes Mal. Loanas Vater blieb aber noch eine Weile und blätterte das Album durch. Er versuchte klarzustellen, dass es keinen Unterschied machte, ob sie blutsverwandt waren oder nicht. Loana beruhigte ihn, denn sie wollte sicher nicht fortlaufen, um jemanden zu suchen, der sie niemals wollte.
Als sie wieder alleine war, betrachtete sie die Fotos noch intensiver. Irgendwann fiel ihr etwas auf. Bei jedem Urlaubsbild oder öffentlichen Veranstaltungen tauchten immer dieselben vier Personen im Hintergrund auf. Sie standen ausnahmslos abseits und sahen in Loanas Richtung. In diesem Moment wünschte sie sich eine Lupe, um mehr Details zu erkennen. Leider hatte sie keine, so vertagte sie die Nachforschungen. Die Nacht wurde zur Tortur. Ein Albtraum folgte dem nächsten. Loana sah sich schreiend auf der Erde. Neben ihr standen fünf Gestalten mit Masken. Jeder von ihnen wollte sie verletzen. In ihrer Panik versuchte sie zu fliehen, schaffte es aber nicht. Diese Träume rissen sie immer wieder aus dem Schlaf. Schweißgebadet saß sie im Bett und starrte die Tür an. Ihr Blutdruck stieg bis an die Grenze zum Herzinfarkt. Nach vier solcher Albträume war es mit dem Schlafen vorbei. Loana stand auf, zog sich einen Morgenmantel über und schwankte ziellos durch die Klinik. Als sie zurückkam, war das Album verschwunden und das Buch lag auf ihrem Kopfkissen. Es war geöffnet und ein geflochtenes Lederband klemmte darin. Auf der rechten Seite befand sich das Bild eines Saals und links der Text. Ein flüchtiger Blick auf das Bild zeigte ihr interessante Dinge. In diesem Saal gab es einen Altar und ein riesiges Kreuz, an dem etwas hing. Wieder war die Neugier groß. Sie wollte wissen, was es war und näherte sich dem Buch. Da schallte die Warnung durch den Raum. Loana sah sich erschrocken um und antwortete: „Ein Bild kann man nicht lesen!“ Doch erneut erklang Colines Stimme: „Jeder Blick in das Buch ist gefährlich. Du wirst es bereuen!“ Loana dachte einen Moment darüber nach und entschied, die Finger davon zu lassen. An den vielen Warnungen musste etwas Wahres sein. Also legte sie es weg. Sie vergrub sich unter der Bettdecke. Etwas später nickte sie ein. Der nächste Albtraum begann. Diesmal träumte sie sich in den Saal aus dem Buch. Sie ging langsam auf das Kreuz zu. Dabei tappte sie in eine Pfütze. Als sie nach unten sah, stand sie knöcheltief in einer Blutlache. Erschrocken sprang sie heraus. Plötzlich lachte eine Frau ganz gehässig. Loana drehte sich im Kreis und suchte nach ihr. Aber niemand ließ sich blicken. So wandte sie sich wieder dem Kreuz zu. Je näher sie kam, umso schauriger wurde es. Es ähnelte der Kreuzigung Jesu. Mit dem Unterschied, dass Loana dort oben hing. Dieser Anblick versetzte sie so in Panik, dass sie schreiend aufwachte. Das war zu viel! Sie wollte nichts mehr davon wissen. Sie griff das Buch und warf es in den Müll. Dieser Akt verschaffte ihr erst einmal Ruhe.
Schon am folgenden Tag durfte sie das Krankenhaus verlassen. Sie fuhr nach Hause und erschrak. Irgendwer hatte ihre Wohnung verwüstet und nichts an seinem Platz gelassen. Loana überlegte nicht lange und packte hastig die wichtigsten Sachen. Sie wollte keinen Augenblick länger bleiben. Dann griff sie zum Telefon und rief sich ein Taxi. Der Fahrer kam schnell. Loana stieg ein und nannte ihm die Adresse ihrer Eltern. Dorthin wollte sie flüchten. Bei ihnen erhoffte sie sich Schutz, auch wenn sie nur Pflegeeltern waren. Immerhin wollten sie für Loana sorgen. Der Taxifahrer fuhr los. Loana sah ein letztes Mal zurück, da entdeckte sie eine winkende Schattengestalt an ihrem Küchenfenster. Sie forderte ihn auf, schneller zu fahren und er trat aufs Gas. Nach einer rasanten Fahrt standen sie vor Loanas Elternhaus. Sie warf ein Bündel Scheine auf den Vordersitz und sagte: „Stimmt so!“ Dann sprang sie aus dem Wagen, holte ihren Koffer und rannte hinter das Haus. Der Taxifahrer rief noch: „Das ist doch viel zu viel!“ Loana interessierte das nicht. Also fuhr er schulterzuckend weiter. Sie stand inzwischen an der Haustür und trommelte heftig dagegen. Erst nach Minuten ging das Licht an und ein fremder Mann schaute aus dem Fenster heraus. Sie erschrak. Sie glaubte am falschen Haus zu stehen, aber es war das Richtige. Aufgeregt fragte sie nach ihren Eltern und der Mann sah sie verärgert an. Er knurrte: „Die wohnen seit Jahren nicht mehr hier!“ Loana schrie ihn an: „Das kann überhaupt nicht sein! Ich war erst kürzlich hier!“ Er drehte sich weg und schloss das Fenster. Loana verzweifelte fast. Sie ließ ihren Koffer zurück und ging zum Nachbarhaus. Diesmal klingelte sie. Allerdings vergeblich. Es schien niemand da zu sein. Jetzt wusste sie sich keinen Rat mehr. Sie setzte sich auf die Türschwelle, stand rasch wieder auf und lief die Straße entlang. Schon bald stand sie vor einem Laden. Im Schaufenster spiegelten sich die Gestalten von den Fotos und Loana schnellte herum. Sie sah niemanden und fragte sich, ob sie verfolgt wurde. Plötzlich erschien ein stattlicher Mann. Er tippte ihr auf die Schulter und hielt ihr einen Ring entgegen, in dem ihre Tätowierung graviert war, neben sechs anderen Zeichen. Loana sah den Mann an und fragte nach seinem Namen. Er reagierte gar nicht darauf. Er versuchte nur, ihr den Ring aufzudrängen. Das war ihr alles zu viel und sie schrie ihn an: „Was soll das? Warum lasst ihr mich nicht in Ruhe? Was habe ich euch getan?“ Er grinste schadenfroh und warf ihr den Ring vor die Füße. Sie sah eine Weile auf ihn herunter, doch aufheben wollte sie ihn nicht. Irgendwie ahnte sie, dass er ihr nur Ärger bereiten würde. Einmal tief durchgeatmet lief Loana zurück zu ihrem Elternhaus. Sie holte ihren Koffer und machte sich auf den Weg zum Bahnhof. Noch wusste sie nicht, wohin sie gehen sollte. Sie fühlte sich überall beobachtet. Tagelang irrte sie umher. Sie nahm ein Hotelzimmer nach dem anderen und verkroch sich darin. Das machte sie zwei Wochen lang. Dann wurde ihr Geld knapp. Zu Hause lag noch ihre Notreserve, die sie in ihrer Eile vergaß. Aber sie weigerte sich zurückzugehen. Jetzt brauchte sie einen Plan. Sie hatte keine andere Wahl, als zu arbeiten. Ihre Angst war aber so groß, dass sie nicht an ihren alten Arbeitsplatz zurück wollte. Also musste sie eine neue Stelle finden. Sie ging in ein Internetcafé und durchsuchte die Stellenanzeigen. Nach einer Stunde fuhr sie los und fand sich in einer ländlichen Gegend wieder. Einer Anzeige zufolge, suchten die Bewohner einer Villa ein Zimmermädchen. Das war ein willkommener Anfang, weit weg von den Menschen, die ihr nachstellten. Das Vorstellungsgespräch verlief erstaunlich gut, obwohl Loana keinerlei Referenzen hatte. Der Herr des Hauses interessierte sich kein Stück für ihre Qualitäten und stellte sie sofort ein. Nach einer kurzen Einweisung zeigte er ihr ein Zimmer. Dort sollte sie wohnen. Es war gemütlich und großzügig eingerichtet. Sie hatte alle Annehmlichkeiten. Es erschien ihr märchenhaft. Dieses sagenhafte Glück konnte sie kaum fassen. Auch die Arbeit war leicht. Andererseits auch etwas zu leicht. Sie versuchte aber nicht darüber nachzudenken. Es würde sich schon alles von selbst regeln. Die erste Nacht im neuen Bett verging ohne Albträume. Loana hoffte nun auf einen Neuanfang. Aber ihre Gedanken hafteten noch immer am Buch. Die Neugier war noch viel zu groß, als dass sie es vergessen konnte.
Die Tage vergingen wie im Flug. Loana kannte sich im Haus immer besser aus und lernte nun die Hausherrin kennen. Sie ähnelte der Frau, die sie mit dem Auto überfuhr. Doch irgendetwas war anders. Sie stellten sich einander vor. Loana hörte wie sie sagte: „Nennen sie mich Johanna oder Frau Köhler.“ Loana fragte vorsichtig: „Haben wir uns schon einmal gesehen?“ Das knappe Nein genügte ihr nicht als Antwort. Doch eine weitere Frage durfte sie nicht stellen. Stattdessen bekam sie einige Arbeiten zugewiesen. Sie wusste nun, wer in diesem Haus die Hosen anhatte.
Der Tag zog sich endlos hin. Loana spürte die wachsamen Blicke ihrer Arbeitgeberin und hörte sie flüstern: „Ist es nicht verblüffend, wie ähnlich sie sich sind! Man sieht, dass sie aus einer Sippe stammen!“ Loana stutzte und hörte genauer hin. Sie schnappte einige Worte auf, die sie sehr beunruhigten, doch wusste sie noch nicht, wie sie reagieren sollte. Das Gespräch der beiden beschäftigte sie bis in die Nacht hinein. Als sie endlich einschlief, begann ein neuer Albtraum. Diesmal war er noch schrecklicher. Sie spürte zahllose Nadelstiche auf ihrer Schulter und sah den Mann, der ihr den Ring aufzwingen wollte. Jetzt versuchte er es wieder. Loana schreckte hoch. Sie war hellwach und saß im Bett. Sie überlegte angestrengt, was ihr dieser Traum sagen wollte. Plötzlich spürte sie diesen brennenden Schmerz auf ihrer Schulter und fasste an die Stelle. Sofort hatte sie feuchte Finger. Sie machte Licht und sah ihre Hand an. Blut! Sie war voller Blut! Loana sprang auf und lief ins Badezimmer. Sie drehte ihren Rücken zum Spiegel und schielte nach hinten. Ihre Tätowierung blutete, als würde sie gerade gestochen. Panisch rannte sie durch das Haus zum Ausgang. Dort stoppte sie Johanna, die seelenruhig fragte: „Was ist denn los?“ Loana rief verängstigt: „Was los ist? Ihr habt…, meine Tätowierung…, als ich geschlafen habe!“ Ein böses Grinsen legte sich über Johannas Gesicht. „Mal ganz langsam! Das war sicher nur ein Traum. Wer käme denn auf so eine Idee?“ Loana wollte es ihr beweisen und drehte sich um. „Und was ist das? Ist das ein Traum?“ Johanna blieb ruhig. „Ich weiß nicht wovon du sprichst. Leg dich wieder schlafen. Morgen wartet eine Überraschung auf dich.“ Loana sah noch einmal in den Spiegel. Das Tattoo war wieder ganz normal. Sie war sich aber so sicher, dass es jemand verändern wollte. Nun konnte sie nicht mehr einschlafen. Die ganze Nacht starrte sie aus dem Fenster und zählte die Sterne. Da fielen ihr einige schwache Lichter auf. Sie schimmerten durch den nahen Wald. Loana öffnete ihr Fenster und sah hinaus. Sie hörte mehrere Frauen, die einen Spruch aufsagten. Sie sagten immer wieder „Eine Warnung vor dem Buch, in dem steht ein wahrer Fluch. Lass ihn nicht an dich heran, weil er dich sonst töten kann.“ Sie mussten das Buch meinen, das Loana überhaupt erst in dieses Haus brachte. Am nächsten Morgen fragte sie ihren Boss nach den Frauen. Er zuckte unwissend mit den Schultern und ließ sie stehen. Johanna reagierte ganz anders. Sie verhöhnte die Frauen: „Diese Möchtegern-Hexen jagen einer fixen Idee nach. Sie denken, dass sie verflucht wären und suchen nach einem, der sie erlöst!“ Loana wollte mehr darüber wissen, aber Johanna verstummte. Sie hielt ihr nur ein schön verpacktes Geschenk entgegen und sagte: „Das ist eine kleine Aufmerksamkeit. Das lenkt dich vom Alltag ab!“ Loanas Freude hielt sich in Grenzen. Sie spürte, dass etwas daran nicht stimmte und legte es erst einmal in ihr Zimmer. Die Hausarbeit ging vor. Der Feierabend nahte und Loana nahm sich vor, die Gegend zu erkunden. Sie machte sich auf den Weg in die Stadt. Dort schlenderte sie durch die Straßen und sah in die vielen Schaufenster. Sie entdeckte ein kleines Gasthaus und beschloss, erst einmal einen Kaffee zu trinken. Das sollte sie auf andere Gedanken bringen. Sie suchte sich einen Platz in der hintersten Ecke, um sich den Rücken frei zu halten. Sie dachte nur noch daran, dass ihr etwas passieren könnte. Im Minutentakt kamen neue Gäste und füllten die leeren Stühle. Schon bald war nur noch ein Platz frei. An ihrem Tisch! Doch schon kurz darauf erschien ein junger Mann, der höflich fragte, ob er sich zu ihr setzen durfte. Loana hatte so ihre Bedenken, aber sie willigte ein. Dieser Herr versuchte sie in ein Gespräch zu verwickeln. Sie reagierte aber nicht auf ihn, denn er machte ihr Angst. Er war zwar ein attraktiver Mann, aber er wirkte gefährlich. Also beeilte sie sich, ihren Kaffee zu trinken, um wieder zu gehen. Er ließ dennoch nicht locker. Loana wollte zur Theke gehen, um zu zahlen, doch er bat sie sitzen zu bleiben, da er ihr etwas zu sagen hatte. Aber sie überhörte seine Worte. Unwillkürlich griff er nach ihrem Arm und zog sie an sich heran. Er flüsterte in ihr Ohr: „Das Buch ist dein Untergang!“ Loana riss sich los. Sie lief aber nicht weg. Im Gegenteil, sie sah ihm direkt in die Augen und sagte: „Das Buch habe ich sowieso nicht mehr! Was soll das alles überhaupt?“ Seine Antwort war erschreckend. „Es ist der Fluch deiner Familie! Deiner richtigen Familie!“ Jetzt reichte es ihr endgültig. Sie packte ihn voller Wut am Kragen und drohte: „Ich werde die Polizei rufen, wenn du mich nicht in Ruhe lässt!“ Er blieb gelassen. „Wenn du meinst. Ich wollte dir nur helfen. Aber du bist genauso stur wie deine Mutter!“ Mit diesen Worten ließ er sie stehen. Loana blieb verdutzt zurück. Sie wusste nicht mehr weiter. Also machte sie einen Spaziergang. Sie brauchte Zeit, um über die Geschehnisse nachzudenken. Sie stand erst spät abends in ihrem Zimmer und entdeckte Johannas Geschenk. Jetzt fragte sie sich, was da wohl so hübsch eingepackt war. Irgendwie ahnte sie es, aber sie wollte Gewissheit. Langsam näherte sie sich dem Päckchen. Sie nahm es in die Hand und drehte es in alle Richtungen. Ein kalter Schauer lief über ihren Rücken. Loana nahm allen Mut zusammen und packte es aus. Wieder ein Buch! Es war aber nicht dasselbe wie im Krankenhaus. Dieses war wesentlich dünner, hatte einen anderen Titel und eine deutlichere Abbildung der Tätowierung. Loana öffnete das Fenster und wollte es hinaus werfen. Da fiel ihr ein, wenn sie es in den Hof warf, würde es Johanna finden und sicher nicht sehr erfreut darüber sein. Also warf sie es zurück auf den Tisch. Sie war den Tränen nah. Wie sollte sie diesem Martyrium entkommen? Gab es eine Chance zur Flucht? Nach allem, was sie bisher wusste, war es aussichtslos. Sie musste sich der Herausforderung stellen. Vielleicht hatte sie das Zeug dazu, den Teufelskreis zu durchbrechen. Immerhin hielt sie schon eine ganze Weile stand.
Grübelnd machte sie sich bettfertig. Sie sah noch einmal auf den Tisch. Da entdeckte sie einen Brief. Sie öffnete ihn und las halblaut: „Der Weg zur Freiheit führt nur an der Ratte vorbei ...“ Wirre Worte. Was für eine Ratte war gemeint? Sicher nicht das Nagetier. Loana steckte den Brief in das Buch, ohne den Rest zu lesen. Sie legte sich hin und starrte die Decke an. Der Mann aus dem Gasthaus ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Vielleicht konnte er ihr weiter helfen. Sie schlief ein und träumte von den fünf Peinigern. Jeder von ihnen schien scharf auf ihr Blut zu sein. Die einzige Frau in der Truppe kam auf Loana zu. In ihrer offenen Hand hielt sie den Ring. Sie forderte Loana auf, ihn anzunehmen und an den Mittelfinger ihrer linken Hand zu stecken. Loana lehnte ab. Sie wollte gehen, da bremste sie ein Mann mit Peitsche. Er hielt sie ihr direkt unter die Nase und drohte mit Prügel, falls sie nicht gehorchte. Loana ließ sich aber nicht darauf ein. Sie machte einen Schritt zur Seite und ging an ihm vorbei. Sofort schlug er zu. Die Peitsche traf Loanas Rücken. Sie schrie und wachte auf. Johanna stand neben ihrem Bett und fragte mitleidig: „Hat dich der große, böse Mann gehauen?“ Loana rieb sich den Schlaf aus den Augen, sah sie ratlos an und fragte: „Was? Woher wissen Sie ...?“ Johanna unterbrach sie: „Ich habe wohl dasselbe geträumt.“ Loana glaubte ihr kein Wort. Wie sollten sie den gleichen Traum haben? Dafür gab es nur eine Erklärung. Johanna wusste über das Buch Bescheid. Sie konnte ihr verraten, was das alles zu bedeuten hatte. Doch verhallte ihre Frage ungehört. Schon am nächsten Morgen versuchte Loana mehr herauszufinden. Johanna grinste, als hätte sie ein Spiel gewonnen. Sie fordert Loana auf, das Buch von vorne bis hinten zu lesen und keine Seite auszulassen, dann würde sie wissen, worum es ging. Das war nicht das, was sie sich erhoffte, denn sie wollte gerade das vermeiden. Aber es blieb ihr wohl keine andere Wahl. Wenn sie noch länger wartete, dann würden sie die Träume umbringen. Also holte sie sich das Buch. Johanna sah mit Freude, dass sich ihre Angestellte zum Opfer machte. Jetzt war es nur noch eine Frage der Zeit, bis sie ihren Blutdurst stillen durfte.
Loana saß inzwischen auf der Gartenbank. Noch blieb das Buch in ihren Händen geschlossen. In ihrem Kopf spukte Colines Warnung. Sie zeigte sich nicht umsonst. Je länger sie zögerte, desto mehr lockte es. Schließlich griff sie beherzt zu. Sie schlug es auf und entdeckte wieder das Symbol, das ihr schon beinahe überall begegnete. Auf der nächsten Seite stand eine Widmung. „Dies ist ein kleines Dankeschön an Sie, weil Sie mir zum Erfolg verholfen haben...“ Wer bedankte sich da bei wem? Diese Frage konnte nur das Buch beantworten. Loana stellte schnell fest, dass es nur der Autor namens Rainer C‘loppta sein konnte. Unwillkürlich vertiefte sie sich in die Geschichte. Sie las von einer Schülerin, die gegen ihre Lehrerin rebellierte und viele Rückschläge einstecken musste. Der Name der Schülerin war Coline. Wieder entdeckte Loana vertraute Szenen. Parallelen zu ihrer Vergangenheit. Das konnte kein Zufall sein. Der Text ließ nur einen Schluss zu. Coline hatte in allen Punkten Recht. Sie war also das erste Opfer und somit Loanas Urahnin. Trotzdem wollte sie nicht glauben, dass es diesen Fluch wirklich gab. In Johannas Buch war keine Rede davon. Gebannt klebten ihre Augen auf den Seiten. Sie interessierte sich weder für ihre Arbeit, noch bemerkte sie Johanna, die schon lange neben ihr stand. Sie beobachtete genau, wie sich Loana immer tiefer in den Fluch verstrickte. Somit gab es kein Zurück mehr. Loana las das Buch bis zum Ende, sah sich ängstlich um und erwartete die Folterknechte aus der Geschichte. Da erblickte sie Johanna, die höhnisch sagte: „Es ist Zeit! Wir müssen dich in dein neues Heim bringen.“