Читать книгу Das paradoxe Spiel des Schicksals - Patricia Clara Meile - Страница 3
1 Schule des Leidens
Оглавление„Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht.“ „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.“ Dies sind Sprichworte, die mich tief geprägt haben. Sie werden mich wohl für den Rest meines Lebens begleiten. Die Menschen, die mir am allernächsten standen, haben mich eiskalt belogen, Familienmitglieder sowie Lebensgefährte. Es sind die Menschen, auf die du baust, denen du erst mal blind vertraust, insbesondere der Familie im Sinne von „Blut ist dicker als Wasser“. Doch mein naives Grundvertrauen in die Menschen ist dahin. Wenn selbst engste Verwandtschaft und Partner dir ohne Wimpernzucken ins Gesicht lügen können, wem sonst sollst du dann noch trauen?
Eigentlich habe ich aufgrund der Erlebnisse in meiner Kindheit und Jugend ein außergewöhnlich starkes Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit. Ich lechze richtiggehend danach, mich anlehnen zu können, mich selbst zu sein und mich sogar auch ein Stück weit gehen lassen zu können. Oberflächliche Bekanntschaften sagen mir nicht viel. Ich bevorzuge es, einige wenige Menschen um mich zu haben, die mir wirklich etwas bedeuten und mit denen ich ungehemmt über alles reden kann. Nichtsdestotrotz wünsche ich mir, aus tiefem Begehr nach Bestätigung und Ehre, von meiner ganzen Umgebung akzeptiert zu werden und mich Ansehen und Beliebtheit zu erfreuen.
Wenn ich die Augen schließe, mich nach innen kehre, ganz tief in mich hineinsehe, erkenne ich deutlich diese endlose Leere, dieses schwarze Nichts, in dem meine wunde Seele wie ein hilfloses Staubkorn in einer düsteren bedrohend stillen Nacht herumgetrieben wird. Meine Kehle schnürt sich zusammen. Meine Augen schmerzen von all den vergossenen Tränen, für die ich solche Scham empfinde und von denen dennoch nicht genug geflossen zu sein scheinen. Mein ganzer Leib zittert vor eisiger Kälte. Brechreiz überkommt mich. Mein Schädel pocht und mein Nacken knackst bei der kleinsten Bewegung. Horche ich jetzt in das Innere dieser sinnlosen hässlichen Hülle, die man meinen Körper schimpft, höre ich das müde Schlagen des Herzens und das vergebliche Schreien meiner Seele: „Lass mich gehen! Ich will weg von hier! Ich will tot sein! Lockere deine Krallen! Hör auf, dich an diesem Leben festzuklammern!“ „Ich will das nicht“, rede ich mir ein. Nein, ich habe nicht den Mut dazu. Ich bin schwach und feige. Ich tauge selbst nicht dazu, ein Ende zu setzen. Ich befinde mich in einem Haus, in dem tagtäglich hunderte von Menschen ein- und ausgehen und doch bin ich so allein. Ich glaube mich hier einsamer zu fühlen, als an jedem anderen Flecken auf dieser Erde. Das Zittern wird immer stärker. Die Getränkeflasche auf meinem Pult bewegt sich im Takt dazu. Die Kälte rinnt tiefer in mich hinein, bis ich die eisigen Tropfen auf meiner Seele spüre. Ich habe niemanden, mit dem ich reden und lachen kann, niemanden, den ich meinen Freund oder meine Freundin nennen kann. Warum? Was mache ich bloß falsch? Ich bin krank. Ich bin nicht normal. Ich bin depressiv. Ich will sterben und will es doch nicht. Irgendwo scheint noch etwas zu sein, an dem mir liegt, von dem ich mich nicht lösen kann. Ach, würde ich doch nur erkennen, was es ist! Vielleicht bekäme dann alles wieder einen Sinn. Ich sitze da und starre zu Boden. Das Bild vor meinen Augen verschwimmt. Die Struktur des Linoleumbelages flimmert in nervösen wellenartigen Bewegungen. Mir ist so schlecht, so schwindlig. Eigentlich sollte ich essen. Es ist Mittag. Wenn ich jetzt nicht esse, werden meine Schläfen noch mehr pochen.Lese ich, als inzwischen erwachsene Frau, diese bitteren Zeilen eines jungen verzweifelten Mädchens, geschrieben während einer Mittagspause in einem verlassenen Schulzimmer, berührt mich das sehr. Mein Herz wird von Trauer und Mitleid erfüllt.
Ich schätze meine Freundschaften heute wahrscheinlich mehr wie manch anderer. Ich war ein uncooles Kind und eine uncoole Jugendliche, ein Opfer extremsten Mobbings bis hin zu allnächtlichem Aufschrecken aus dem Schlaf und abrupten Erbrechen. Ich kotzte alles Leid heraus. Das Erbrochene wurde weggewischt und die Gründe wurden ignoriert. Weder Lehrpersonen noch Eltern haben sich ernsthaft mit meiner Situation befasst oder sich für mich und für eine Lösung eingesetzt. Später leugnete meine Familie gar, diesen Psychoterror mitgekriegt zu haben, obschon mein junger Körper keine deutlicheren Hilfeschreie von sich hätte geben können – lächerlich und an Dreistigkeit kaum zu übertreffen. Ich wurde einfach als schwierige Halbwüchsige abgetan, mit der man nicht umgehen konnte. Obendrein wurde ich hart dafür mit Bildungs- und Liebesentzug bestraft. Das würde ich ihnen wohl nie verzeihen können.
Ein katholischer Prediger sagte einst, man solle immer wieder neu Maß nehmen. Ich befand diesen Leitsatz damals für gut und verinnerlichte ihn mir lange. Auch heute noch bin ich der Ansicht, dass jeder eine zweite und vielleicht auch eine dritte Chance verdient hat, aber irgendwann ist das Maß voll, irgendwann ist einfach zu viel passiert, um wiederholt barmherzig vergessen und vergeben zu können. Selbstverständlich spielt das Ausmaß der zu verzeihenden Handlungen eine wesentliche Rolle. Kleinere, alltägliche Fehler begehen wir schließlich alle immer wieder. Es sind die wirklich groben, um die es geht.
Der erste Schultag an der Oberstufenschule in der nächstgelegenen Stadt war der Beginn eines neuen Lebensabschnittes, auf den ich mich ebenso gefreut, wie ich mich auch davor gefürchtet hatte. Zwanzig neue Gesichter mit genauso vielen neuen Charakteren, die mein Leben von nun an prägen würden. Doch ich ahnte nicht wie sehr. Ich war ein scheues Mädchen mit langen Haaren und damals noch plumpen, unförmigen Kleidern. Davor auf dem Dorfe hatten Kleider, Marken und Stilrichtungen keine Rolle gespielt. Meine Haltung war geduckt und verriet jedem, der es zu sehen wünschte, mein mangelndes Selbstvertrauen. Ich bewegte mich unsicher und zögernd. Das kam besonders im Sportunterricht zur Geltung. Heute würd da ich nicht mehr hingehen, damit mich die Sportlehrer gar nicht erst kennenlernten. Sport gehörte ohnehin nicht zum Notendurchschnitt. Ich gehörte zu der Sorte, die stets als letzte gewählt wurde, wenn es um die Bildung der Gruppen für Mannschaftsspiele ging. Meine Unbeholfenheit sorgte gleichermaßen für Ärger und für Belustigung. Ich redete sehr wenig und leise mit einem leichten, kaum hörbaren Zittern in der Stimme. Mein Tonfall war monoton, mein Sprechrhythmus langsam und nicht selten verhaspelte ich mich. Ich war alles in allem das perfekte Opfer, ein kleines graues Mäuschen, das man rücksichtslos niedertrampeln und zerquetschen konnte – eine Zielscheibe von Demütigungen.
Infolgedessen war ich bald alleine, alleine gegen hunderte von anderen Jugendlichen. Ich war an der ganzen Schule bekannt – hässlich, schüchtern, unbeholfen, doof und unbeliebt, aber vor allen Dingen hässlich. Ich war ein Mauerblümchen und hatte große Zähne, die in alle Himmelsrichtungen standen. Bloß als Kind im Babyalter muss ich unglaublich hübsch gewesen sein. Ich war ein Säugling mit vielen dunklen Locken auf dem Kopf und großen mit endlos langen Wimpern umrahmten Augen. Wenn die Schwestern in der Klinik den frisch gebackenen jungen Eltern präsentierten, wie man ein Kind wiegt, wäscht, wickelt und füttert, wählten sie stets mich als Vorführobjekt. Meine Eltern waren total stolz gewesen. Sie erzählten immer wieder gerne davon. Über viele Jahre hatte ich in meinem Kinderzimmer ein vergrößertes schwarzweißes Baby-Foto hängen. Leider ließ diese engelsgleiche Schönheit rasch nach.
Wer mich an dieser zuvor erwähnten Oberstufenschule anfänglich noch nett oder sogar ein wenig süß gefunden hatte, schloss sich der Meute an, um nicht selber unter die Räder zu kommen. Ich erinnere mich an einen Jungen, der in den ersten Schulwochen Gefallen an mir gefunden hatte. Kurze Zeit danach, in einer Mathestunde, meinte er dann laut, sodass es alle hören konnten: „Und ich hab die noch gut gefunden?! Wie konnte ich bloß?!“ Ich habe es vor Augen, als wäre es heute gewesen. Das Ganze unterstrich er mit einem abschätzigen Geräusch. Damit war er aus dem Schneider. Sein Ruf war gerettet.
Wenn ich morgens mit dem Fahrrad in der Schule ankam, plärrte der ganze Schulhof irgendwelche Gemeinheiten. Es war die reinste Hölle – ein über drei lange Jahre nicht enden wollender Spießrutenlauf. Nur ein Mädel, die Katharina, sie war schon ein Jahr älter als die meisten von uns, weil sie eine Klasse wiederholte, hielt stets zu mir, egal was sie dadurch auch einzustecken riskierte. Sie war groß, robust, auch etwas laut und mutig. Ich hatte sie sehr gern und schätzte ihre Courage unendlich. Meine Eltern lästerten über sie, weil sie so gar nicht in unsere stille Runde passte, aber sie war der einzige Strohhalm, an den ich mich klammern konnte.
Manchmal durfte ich über den Mittag mit zu ihr und ihre Mutter bekochte uns mit einfacher leckerer Hausmannskost oder ich begleitete sie am Nachmittag nach der Schule nach Hause. Wir machten zusammen Hausaufgaben am Esstisch im Wohnzimmer, stärkten uns mit Sirup und einer kleinen Zwischenmahlzeit und verzogen uns dann in ihr Zimmer oder gingen mit ihrem karamellbraunen Boxerrüden Oskar raus in den Wald spazieren. Das vermochte mein Problem mit Hunden, was ich überdies habe, allerdings nicht zu heilen. Als Baby hatte eine gute Bekannte meiner Eltern mir einen bunten Luftballon geschenkt. Sie banden ihn beim Sommerspaziergang an meinem Kinderwagen fest, damit ich mich daran erfreuen konnte. Wenig später zerplatzte der Ballon mit einem lauten Knall direkt neben meinen noch sehr zarten, empfindlichen Kinderöhrchen. Die Folge war, dass ich seit diesem Tag eine extreme Hypersensibilität auf abrupte Laute auf einer gewissen Frequenz entwickelt habe. Ich vertrage auch die herrlichsten farbenfrohesten Feuerwerke höchstens aus großer Entfernung oder bei geschlossenen Fenstern nach draußen spähend und Hundegebell schmerzt in meinem Gehör unerträglich. Das ist eine äußerst mühsame Angelegenheit, die viele Missverständnisse hervorruft. Aufgrund meiner panischen und aggressiven Reaktionen argwöhnen die Hundebesitzer, ich würde ihre geliebten Tiere missachten. Sie feinden mich gehässig an und putzen mich verständnislos herunter. Andere lachen und fragen: „Was tust du denn so? Es ist doch bloß ein Hund!“
Ein weiteres von Katharinas Hobbies ist das Reiten. Demnach durfte ich auch einmal mit zu ihrem Reiterhof und, trotz meines gebührenden Respektes vor diesen großen Tieren, auf ein Pferd steigen. Dennoch verkroch ich mich während der großen Pausen, wenn ich wieder besonders gelitten hatte, oft auf dem Mädchenklo und wimmerte leise vor mich. Ich wünschte mir nur noch tot zu sein, damit das alles ein Ende haben würde. Der letzte Schultag an dieser Oberstufenschule war für mich einer der glücklichsten in meinem bisherigen Leben – endlich vorbei! Dieses befreiende Gefühl, das ich so lange herbeigesehnt hatte, werde ich niemals vergessen. Ich ahnte nicht, dass die Welt der Erwachsenen kein Stück besser war. So verfeinern sie doch bloß ihre Methoden einander fertig zu machen – weniger offensichtlich, mehr intrigant.
Jahre später ist die Freundschaft zu Katharina im Sande verlaufen. Das lag zugegebenermaßen in erster Linie an mir. Jetzt, im Nachhinein, bereue ich es. Die Gründe waren möglicherweise darin zu finden, dass sich unsere Leben sehr unterschiedlich entwickelt haben. Ich konnte in der Konversation mit ihr und in ihrem Humor nicht mehr viel finden. Obwohl sie intelligent war, hing sie ihren Wunsch mit Kindern zu arbeiten an den Nagel und gab sich stattdessen mit einer Ausbildung zur Verkäuferin zufrieden. Bald darauf ist sie auf einer Faschingsparty mit einem stadtbekannten Taugenichts zusammengekommen. Ihre Eltern warnten sie vor ihm, doch stießen sie damit bei Katharina auf taube Ohren. Er verkörperte die reine Faulheit und war darüber hinaus nicht gerade mit übermäßigem Verstand gesegnet – unerklärlich, was Katharina an ihm gefunden hatte. Die Mutter jener Bekannten meiner Eltern, die mir als Baby den verhängnisvollen Luftballon geschenkt hatte, wohnte über seiner Familie. Sie sagte, die Augen verdrehend, über ihn: „Er ist ein furchtbarer Mensch!“ Katharina hat ihn bereits mit achtzehn geheiratet und zwei Kinder von ihm gekriegt – einen Jungen und ein Mädchen. Beide hatten sie später mit Hyperaktivität und daraus resultierender Konzentrations- und Lernschwäche zu kämpfen. Ich konnte in diesem Alter nichts damit anfangen. Zu meiner Schande habe ich Katharina immer mehr vernachlässigt.
Natürlich kam es irgendwann zur Trennung von ihrem Mann. Sie hat als Kellnerin gejobbt, bei der Arbeit den nächsten kennengelernt, wieder geheiratet und noch ein Kind bekommen – einen richtigen Wonneproppen. Mein Eindruck von ihrem zweiten Gatten am Hochzeitsempfang war jedoch nicht bedeutend besser wie vom ersten. Mit seinem verbrauchten Gesicht mutete er an wie ein Säufer. Sie war so hübsch, groß gewachsen, schlank und gutmütig mit glänzendem mahagonigefärbtem gelocktem Haar. Das schlichte weiße Brautkleid betonte ihren sonnengebräunten ebenmäßigen Teint. Ihr schöner Charakter erstrahlte ihr Antlitz. In meinen Augen hätte sie wahrlich etwas Besseres verdient gehabt. Eines Tages, als sich der Kontakt längst auf ein Minimum reduziert hatte, ließ ich ihr aus einer plötzlichen Eingebung heraus ein großes Blumengesteck mit einem Herzanhänger aus Kristallglas an einem schwarzen Satinhalsband zukommen. Dazu wählte ich eine Dankeskarte mit Engelsmotiv:
Liebe Katharina,
wenn auch eigentlich viel zu spät, so möchte ich mich trotz dem endlich offiziell bei dir bedanken, dass du für mich da warst und hinter mir standst, in einer der schwierigsten Phasen meines Lebens, auch wenn du deswegen oft selbst ins Abseits geraten bist. Ich werde dir dies nie vergessen. Du wirst stets einen Platz in meinem Herzen haben.
Liebe Grüße, Sophia Anessa
Katharina schien so wenig mit solch einer Geste gerechnet zu haben, dass sie im ersten Moment, als sie die Karte las, gar nicht einordnen konnte, von wem sie kam. Wir telefonierten schließlich miteinander. In einem langen Gespräch, ihrer rauchigen Stimme lauschend, musste ich erfahren, dass sie selbst in der Zwischenzeit so viel durchgemacht hatte mit Verschuldung, Erpressung, Depressionen, Suizidversuch, Kindesentführung durch den Exmann, Krankheiten und schweren Unfällen in der Familie, dass sie vieles, von damals, was mir noch vollkommen präsent ist, vergessen oder verdrängt hat. Wenigstens hatte sie ihren Humor nicht verloren – ihr kehliges Lachen, das mir so vertraut war, begleitete sie noch immer – und mein erster Eindruck ihres zweiten Ehemannes hatte mich offenbar getäuscht. Er war für sie da in schwierigen Zeiten, hat ihr zur Seite gestanden, sie unterstützt und sie haben sich gegenseitig Träume erfüllt.
Ich entsinne mich gut an die erste Hänselei bezüglich meines Aussehens. Ich war etwa acht oder neun Jahre alt und mit meiner Mutter und meiner jüngeren Schwester Louise in einem bekannten Freibad der Region gewesen. Wir schwammen und planschten unermüdlich, machten mit Taucherbrille Handstand im Wasser und ließen uns im Becken mit künstlich erzeugter Strömung treiben. Außerdem gab es dort eine ganz tolle große quietschgelbe Wasserrutsche. Louise und ich liebten sie. Einmal ums andere stiegen wir die Treppe hoch und rutschten wieder die vielen Kurven hinunter. Es war eine Wonne – pure Lebensfreude. Wenn ich heute im Urlaub eine solche Wasserrutsche entdecke und einen guten Moment erwische, in dem kaum Leute anstehen, erfreue ich mich noch immer wie ein kleines Kind daran. Ich hatte seit eh und je sehr helle, fast durchscheinende Haut gehabt. Auf einmal fragte mich ein Junge in meinem Alter, der sich hinter mir für die Rutsche angestellt hatte: „Bist du Schneewittchen?“ Und einen kurzen Augenblick später fügte er hinzu: „Ach nein, dafür bist du viel zu hässlich!“ Ein fieses Grinsen verzerrte seine Fratze. Diese Worte haben sich in meine verletzliche Seele eingebrannt, wie gezeichnet durch einen glühenden Eisenstab. Es gibt keine schlimmere Aussage für ein Mädchen. Ich werde sie bis zu meinem Ende im Kopf behalten, während der Täter selbst sie wohl längst vergessen hat. Genau derselbe rotzfreche Bengel kam unglücklicherweise kurze Zeit später in meine Klasse. Er zog vom Nachbardorf in mein Heimatdorf.
Kinder sind brutal. Sie sprechen aus, was sie denken und sehen, ohne sich bereits der Wirkung ihrer Worte vollends bewusst zu sein. So war ich einmal zu Besuch bei einer Schulkameradin. Selina wohnte in einem alten typischen Schweizer Chalet mit dunklem Holz. Unten, beim Garten, hatten sie Karnickelställe. Sie zeigte mir stolz die putzigen flauschigen Gesellen und meinte mit einem fröhlichen Lachen: „Du hast auch solche Hasenzähne!“ Ich begann zu weinen und ihre Mutter rügte sie. Selina verteidigte sich: „Ich hab das nicht böse gemeint! Das ist doch süß!“ Nichtsdestotrotz hatte mich ihre Aussage getroffen. Ich konnte nicht mehr so einfach wieder zu Heiterkeit übergehen. Über zwanzig Jahre später, sendete mir Selina aus heiterem Himmel ein Klassenfoto aus jener Zeit, in der die Bildaufnahmen noch auf Fotopapier gedruckt wurden. Ich stellte erstaunt fest, dass ich, abgesehen von meiner Zahnstellung, gar nicht so unansehnlich war, wie mich die Jungs immer geschimpft hatten.
Richtig arg los ging das Ganze dann aber eben erst später in der Oberstufe. Ich war zwar immer eher eine stille Einzelgängerin gewesen, doch in der Unterstufe hielt sich die Schmach vergleichsweise noch in Grenzen.
Begonnen hatte die große Quälerei durch folgendes Schlüsselereignis: An einem der allerersten Schultage in der Oberstufe mussten wir zu zweit eine Gruppenarbeit machen. Die Klassenlehrerin hatte die Gruppen willkürlich eingeteilt, alles schön durchmischt, Mädchen und Jungen, älter und jünger sowie aus den verschiedenen Ortschaften, also möglichst Konstellationen, in denen man sich noch nicht kannte. Ich kam mit dem baldigen Anführer der Klasse zusammen – Tom. Er war, wie auch meine zuvor erwähnte Freundin Katharina, ein Jahr älter wie der Großteil der anderen Schüler, weil auch er die Klasse wiederholte. Er war leicht pummelig und sehr vorlaut – Sohn eines Geschäftsmannes. Konstant setzte er sich in Szene und spielte mit seinen frechen Sprüchen den Pausenclown. Vermutlich kompensierte er damit seine Dicklichkeit, für die er sich schämte. Ich, das schüchterne Mädchen vom Lande, getraute mich neben ihm kaum ein Wort zu sagen. Dadurch trug ich denkbar wenig zu unserer Gruppenarbeit bei. Er schätzte meine scheinbare Teilnahmslosigkeit fälschlicherweise als Arroganz ein. Er nahm an, dass ich glaubte, etwas Besseres zu sein. Das war mein Untergang. Von da an tat er alles, um mich zu verletzen und zu erniedrigen. Er holte dazu mit seiner Schlagfertigkeit und seinem Witz die ganze Schule ins Boot. Ich konnte kein Selbstvertrauen entwickeln. Mein Verhältnis zu mir selbst und zu Menschen ganz allgemein war gestört. Alles was ich tat, egal was, wurde von den Klassenführern kritisiert, heruntergemacht und ins Lächerliche gezogen. Die anderen spotteten mit. Man gewährte mir nicht einmal die geringste Chance, mich zu verändern und zu entfalten. Trotz dessen glaubte ich irgendwo immer noch an das Gute in den Menschen und liebte meine Feinde auf eine besondere Art.
Später im Leben erkannte ich, dass es viele Menschen gibt, die Schüchternheit und daraus erfolgende Zurückhaltung als Überheblichkeit werten. Nur weil ich nicht viel rede, heißt das noch lange nicht, dass ich etwas gegen die im Gespräch beteiligte Person oder beteiligten Personen habe! Ein netter Arbeitskollege, Jonas, der mir einmal gefallen hatte und dem ich das dann irgendwann auf Umwegen auch gestanden hatte, bestätigte mir diese Tatsache der Fehlinterpretation ganz offen. Ich bin ihm dankbar dafür. Es half mir zu verstehen.
Das in den Augen der Jungs schönste Mädchen unserer Klasse, vor allem in denen von Tom, hieß Stella. Sie war Sizilianerin, hatte eine zierliche Figur, knusperbraune Haut, große dunkle Augen und kurze schwarze Haare, geschnitten und frisiert im Stil der Sechzigerjahre, wie es damals modisch war – eine typische Südländerin halt. Im Laufe dieser Schulkarriere ließen sich viele der Mädchen die Haare ebenso schneiden, auch ich. Stella war außerdem gut in Sport, Tanzen und Gesang. Sie hatte ein helles Lachen und eine feste, selbstsichere Stimme. Stella war sich ihrer Wirkung sehr wohl bewusst. Sie genoss die Aufmerksamkeit. Einmal, unsere Klasse wartete gerade vor dem Klassenzimmer auf die nächste Stunde, stand ich zufällig zwischen Tom und ihr. Ich verdeckte ihm damit die Sicht auf seine Angebetete. Daraufhin blaffte er mich forsch an: „Trete mir aus der Sonne!“
Unterdessen ist Stella mit einem Landsmann verheiratet und posiert auf sozialen Plattformen, hoch erhobenem Hauptes, mit kugelrundem Babybauch. Ihr seidig schimmerndes Haar reicht ihr jetzt bis über die Schultern. Es sind professionell fotografierte Bilder nach dem Vorbild von Topmodels und anderen Berühmtheiten, die sich so für Hochglanzzeitschriften ablichten lassen. Um ihren bronzefarbenen Bauch trägt sie nicht mehr wie eine grasgrüne Schleife als Symbol für das erwartete Geschenk Gottes.
Eine andere wahrhaftig schreckliche Sache an unserer Oberstufenschule war, dass es im Fach Lebenskunde, in dem es vorwiegend um soziale Themen ging, durch die Klassenlehrerin organisiert, jedes Jahr eine Abstimmung gab, wer in der Klasse beliebt war und wer nicht. Bei dieser Wahl hatte jeder Schüler eine Stimme und konnte seinen Lieblingsmitschüler bestimmen. Die Abstimmung wurde anschließend ausgewertet, auf jeden einzelnen Schüler heruntergebrochen. Man konnte also auch sehen, wenn jemand gar keine Stimme erhielt. Das war bei mir einmal der Fall. Diese Bloßstellung tat mir mindestens genauso weh, wie der Fakt, dass ich niemandes beste Freundin mehr war. Ich frage mich noch heute, wie eine Lehrperson auf eine derart abwegige Idee kommen kann. Es muss einen doch klar sein, wie unnötig verletzend und beschämend sowas für jene Schüler ist, die keine Stimme erhalten. Es grenzt an Sadismus.
In dieser Zeit brachte ich zusammen mit meiner älteren Kusine Saskia aus schierer Verzweiflung eine schlimme Racheaktion in Gange. Im Sommer fuhren wir die fünf Kilometer von unserem Dorf mit dem Drahtesel in die Schule. Im Winter gab es einen Schulbus. Wenn ich in den Bus stieg, ging die öffentliche Belustigung über mich auch immer sofort los. Eine der Federführerinnen war eine unverschämte blonde Göre aus unserem Dorf. Sie war die verwöhnte Tochter wohlhabender Kaufleute. Eines Tages beschloss ich, ihr einen Drohbrief zu schreiben. Eingeweiht habe ich nur Saskia. Ich formulierte die Botschaft, als käme sie von einer aggressiven Jungs-Schlägerbande. Ich beleidigte das Mädchen aufs Übelste und drohte ihr, sie krankenhausreif zu prügeln. Ich wollte ihr Angst einjagen, damit sie für einmal genauso leiden musste wie ich – und es gelang mir. Ich muss heute noch leicht schmunzeln, wenn ich daran denke. Der Brief war das Thema. Die Eltern des Mädchens wollten sogar Anzeige erstatten. Still und heimlich lachte ich mir voller Schadenfreude ins Fäustchen. Der hatte ich es gegeben! Das hatte gesessen! Dummerweise konnte meine Kusine den Mund nicht halten. Sie erzählte einer von ihren zweifelhaften Freundinnen von dem Schreiben. Die plauderte schließlich aus, dass es von mir gekommen war. Zum Glück sahen die Eltern der Mobberin am Ende von einer Anzeige ab. Unter Umständen wussten sie um das fragwürdige Verhalten ihrer süßen kleinen Tochter. Später grüßten sie mich stets überaus freundlich. Als ich ihnen im Erwachsenenalter zusammen mit meiner Patentante und Landpolitikerin im besten, mit Gourmetpreisen gehuldigten, Restaurant unserer Heimatgemeinde begegnete, boten sie mir das Du an. Sie waren mir nicht unsympathisch.
Im letzten Schuljahr kam eine neue Schülerin in unsere Klasse – Loretta. Sie war eine wahre Skandalbraut. Ihre verruchte und dennoch positive Ausstrahlung gefiel mir. Sie rauchte, kiffte – ihre großen grünen Augen waren immerzu glasig – und sie hatte alles andere im Kopf wie Lernen. Ich mochte sie. Das Zusammensein mit ihr, gab mir zum ersten Mal das Gefühl, zumindest ein wenig cool zu sein. Mit ihr machte ich Erfahrung mit Marihuana. Ihr älterer Bruder hatte uns den Stoff besorgt. Wir hatten Spaß. Es war schön, etwas Verbotenes zu tun und völlig gelöst zu lachen. Ich konzentrierte mich immer weniger auf den Unterricht. Meine Noten gingen bergab, vor allem in den Fächern, die mir nicht so leicht ohne Lernen von der Hand gingen. Ich begann, ab und zu die Schule zu schwänzen. Einmal mixten wir bei meiner Kusine Saskia zu Hause mit dem gesamten hochprozentigen Alkoholvorrat ihres Vaters und meines Patenonkels neu erfundene Cocktails. Ein andermal fuhren wir mit dem Zug in die Kantonshauptstadt. Wir kauften uns am Bahnhof einen Snack und spazierten gemütlich am See entlang. Ich hatte Bedenken, dass mein Vater mich entdecken könnte. Er arbeitete nicht weit davon entfernt und hatte von seinem Büro Ausblick auf das Wasser und die Promenade. Auch später in der beruflichen Ausbildung machte ich noch regelmäßig blau. Mit achtzehn konnte ich meine Absenzen mittlerweile selbst unterzeichnen, dann jedoch meist um zu lernen und mich bestmöglich auf anstehende Prüfungen vorzubereiten. Wobei es auch da noch Tage gab, an denen ich mit meiner Banknachbarin lieber „Schiffe versenken“ spielte, als aufmerksam der Stunde zu folgen. Abends, zu Hause am Schreibpult in meinem Zimmer, verfluchte ich mich dann wieder, weil ich nicht zugehört hatte und dafür umso mehr büffeln musste.
Die Erlebnisse in meiner Kindheit und Jugend haben mich einschneidend gezeichnet. Die Frage ist, ob einen solche Dinge stark machen oder ob sie einen, im Gegenteil, sogar noch dünnhäutiger und zerbrechlicher werden lassen – wahrscheinlich beides.
In manchen Situationen bin ich heute eine starke, selbstbewusste, schlagfertige Frau, die sich nichts mehr gefallen lässt. Mit meiner Wucht und Härte schieße ich auch schon mal übers Ziel hinaus und stoße andere beinahe kaltherzig vor den Kopf. Bisweilen grenzt es an Jähzorn. Als Opfer verinnerlichst und übernimmst du, ohne dein bewusstes Wissen und oft gegen deinen bewussten Willen, Persönlichkeitseigenschaften, Werte und Verhaltensweisen deiner Angreifer und machst sie zu Anteilen deiner selbst. Vor allem traumatische Erfahrungen in der Kindheit und Jugend, bei denen das Maß der erlebten Ohnmacht und Abhängigkeit besonders groß ist, führen zur Ausbildung dieser Reaktion. Sie dient dem Schutz des eigenen psychischen Systems und hat den Charakter einer letzten Notbremse vor einem drohenden Zusammenbruch des Innern angesichts überwältigender Attacken und nicht integrierbarer Emotionen. Psychisch von hoher Bedeutung, um hilfsweise die Funktionsfähigkeit des Selbst aufrechtzuerhalten, wirken die Folgen der Identifikation mit einem Aggressor sich tatsächlich jedoch in hohem Maße schädigend auf die seelische Integrität und das Wohlergehen des Inneren aus, da die Entwicklung persönlicher Autonomie unterdrückt wird. Als Betroffener bist du somit häufig nicht bei dir und erschrickst mitunter ob deiner eigenen Handlungen. Entscheidend sind allgemein die Heftigkeit der Überwältigung und die Dauer und Schwere des Traumas. Grundsätzlich geschieht eine Identifikation mit einem Feind als Abwehr gegenüber der nicht vorhandenen Fähigkeit des Leidtragenden, Angriffe auf die eigene körperliche und psychische Unbescholtenheit zu verstehen und gefühlsmäßig einzuordnen. In der Folge kommt es häufig zu schweren Störungen auf der Beziehungsebene, Depressionen, selbstverletzendem Verhalten oder gesteigerter, nach außen gerichteter Aggressivität.
An einem Sonntagnachmittag bin ich von einer kurzen Ausfahrt nach Hause gekommen und wollte mein Auto auf seinen gewohnten Platz in der Tiefgarage stellen. Nun blockierte aber ein vor dem Garagentor geparkter schwarzer sportlicher Kleinwagen den Durchgang. Obschon ich mich unverzüglich leicht aufregte, ging ich davon aus, dass die Person gleich wieder zurück sein würde. Als ich merkte, dass dem nicht so war, begann ich ungeduldig auf die durchdringende Hupe meines Japaners einzudrücken. Ich steigerte mich immer mehr hinein. Sonntag war schließlich mein einzig wirklicher Ruhetag in der Woche! Den sollte mir keiner so dumm und unnötig verkürzen! Inzwischen guckten die Nachbarn und keiften, sich mit mir verbündend, ebenfalls über den wenig schlauen Parker. Als dieser nach einiger Zeit endlich zurückkam, machte er, als er mich sah, auf dem Weg zu seinem Wagen eine entschuldigende Geste und lächelte verlegen. Er war ein junger klein gewachsener Italiener. Ich jedoch war keineswegs versöhnlich gestimmt. Dazu kochte ich innerlich bereits viel zu sehr. Ich öffnete meine Autotür und schrie ihm unaufhaltbar in lautestem und provokativstem Tonfall alle Schande entgegen. Nun tat den gaffenden Anwohnern schon fast der Falschparker leid. Dieser verschwand wortlos und geduckt in sein Fahrzeug und machte sich schleunigst aus dem Staub.
In vielen anderen Momenten jedoch, bin ich wieder so zerbrechlich wie ein rohes Ei. Ich habe das Gefühl als ob mein Herz und meine Seele allein durch eine ganz dünne bröckelige Wand geschützt seien. Wer meine Vergangenheit nicht kennt, kann mein Wesen und meine Verhaltensweisen nicht nachvollziehen. Ich werde oft scharf kritisiert und getadelt dafür.
Doch verurteile einen Menschen nicht, bevor du seine Geschichte kennst!