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Kapitel 2: Der erste Tag

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Du weißt, dass es schlimm ist, wenn das Essen deinen Tag strukturiert. Du schaust auf die Uhr und rechnest aus, wann du die nächste Mahlzeit einnehmen darfst. Du sehnst dich danach, denn du hast fürchterliche Magenschmerzen. Hungerschmerzen. Um den Bauch zu füllen, trinkst du Wasser. Sehr viel Wasser. Mindestens fünf Liter am Tag. Deswegen musst du ständig auf die Toilette und je mehr du trinkst, umso stärker wird dein Durst. Du meinst, innerlich zu verdursten, aber der Hunger hört nicht auf. Während der Anfangszeit hast du noch zuckerfreie Bonbons gegessen. Gegen den Hunger. Nun weißt du es aber besser. Ein Bonbon hat zwischen sieben und zehn Kalorien. Seit dir das bewusst ist, isst du nur noch Kaugummi. Und hasst dich für jeden einzelnen, der den Weg in deinen Mund findet, denn ein Kaugummi hat zwei Kalorien. Deswegen kaust du den ganzen Vormittag auf demselben herum, obwohl der schon nach wenigen Minuten an Geschmack verloren hat und sich dein Gaumen nach Abwechslung sehnt. Am Nachmittag gönnst du dir einen zweiten Kaugummi und du schließt die Augen, weil du die Süße genießen willst. Die Schmerzen im Magen sind aber immer noch da, denn dein Mittagessen war eine Scheibe Vollkornbrot mit Salat. Du legst den Eisbergsalat so darauf, dass man meinen könnte, es sei Aufschnitt. Dazu isst du Gurken. Sie enthalten viel Wasser. Machen satt. Für ein paar Stunden. Wirklich Energie zum Denken liefert so ein Essen aber nicht, deswegen fühlst du dich um 14 Uhr schon wie ein ausgelaugtes Häufchen Elend. Dein Kopf zieht sich genauso wie dein Magen zusammen. Es fällt dir schwer, Unterhaltungen zu folgen oder gar selbst zu denken. All deine Gedanken kreisen um das Abendessen. Da du den ganzen Tag gehungert hast, willst du abends deinen Magen so richtig füllen. Deswegen kochst du ausgiebig. Kohl, Pilze, Spinat, Salat. Dazu ein Knäckebrot. Während du alles auf deinen Teller schaufelst, ist dir bewusst, dass dieser Berg an Essen nicht normal sein kann. Aber im Hinterkopf hast du die Kalorien deines Essens beim Kochen genau mitgezählt und weißt, 260 Kalorien ist nicht zu viel für das Abendessen. Das ist noch okay. Du zerteilst das Essen in winzige Stückchen, willst lange brauchen. Denn das Sättigungsgefühl kommt erst nach 20 Minuten, das weiß doch jeder. Du schaust auf die Uhr und merkst, dass du schon seit 40 Minuten isst. Im Hintergrund läuft eine Dokumentation über den Klimawandel auf dem Laptop. Du fragst dich, warum die Welt so ungerecht ist und warum du denn einfach nicht satt wirst. Natürlich kennst du die Antworten auf die Fragen. Zumindest auf die zweite: Ohne Kohlenhydrate wird man schlecht satt. Neben dem Teller liegt ein Knäckebrot. Du wirst es aber nicht anrühren. Genau wie gestern. Und vorgestern. Du legst es immer nur neben den Teller, um es nach dem Aufessen des Gemüses wieder in den Schrank zu packen. Dabei wirst du dich gut fühlen. Wieder ein Erfolg. Du bist so diszipliniert! Glückwunsch. Während du den Teller wäschst, kullern deine Tränen in das Spülwasser und du fragst dich, wie lange du diese Einsamkeit noch aushalten kannst.

***

Nach dem ersten Essen in der Klinik ging es mir furchtbar und ich dachte ernsthaft darüber nach, mir den Finger in den Hals zu stecken und die fettige Sahnesoße direkt wieder aus mir heraus zu befördern. Mein Magen schmerzte und brodelte. Er war solche Art von Essen nicht gewöhnt. Dazu kam die Stimme in mir, die mich für jede Gabel Nudelauflauf rügte. Die mir sagte, dass ich zu fett war und so etwas nicht essen sollte. Ich hasste mich und jeder Bissen, den ich aß, verschlimmerte dieses Gefühl. Im Grunde liebte ich Essen. Immer schon habe ich gerne geschlemmt, weswegen ich wohl so dick gewesen war. Dann entwickelte sich das schlechte Gewissen, sobald ich Essen genießen wollte, weil immer der Hintergedanke mitschwang, dass jeder Bissen mich noch dicker machte. Jede Mahlzeit war ein Zeugnis meines Versagens. Ich wollte aber eine Gewinnerin sein. Ich wollte etwas leisten, auf das ich stolz sein konnte. Ich wollte Erfolge. Und Abnehmen war ein Erfolg. Der größte Erfolg in meinem Leben. Vielleicht auch der einzige. Und ich bekam Komplimente zu meiner neuen Figur. Dabei fror mein Herz jedes Mal zu Eis. Warum meinen die Leute, dass es toll ist, sich herunterzuhungern? Wieso gratulieren sie mir? Das ist nicht gesund, was ich tue. Warum sieht es denn keiner?

Während ich im Bad meines Patientenzimmers stand, die Hände auf meinem Bauch, der sich erschreckend nach außen wölbte, klopfte es zaghaft an der Zimmertür.

„Ja?“ Ich öffnete und sah auf spitze Wangenknochen, über denen zwei eng stehende, eingefallene Augen ragten. Obwohl sie müde und erschöpft aussahen, schimmerte ein freundliches Grün durch sie hindurch. Der knochige Kopf steckte auf einem noch knochigeren Körper, dessen Anblick bei mir das Bedürfnis weckte, diesem Menschen kalorienhaltige Trinknahrung zwischen die Lippen zu stecken. „Iss, Forest, iss“, rief ich in Gedanken. „Iss um dein Leben.“

Es war Pascal. Mitte 40, bestimmt zwei Meter groß. Geschätzter BMI von 16. Auch ein Essgestörter. Nach dem Mittagessen hatte er mir erklärt, dass er für die ersten Tage auf der Station mein Pate wäre und mir gerne in Ruhe die Räumlichkeiten zeigen würde. Er war zwar nett gewesen, doch ich hatte mit meinen Gedanken und meinem Selbsthass zu tun, weswegen ich ihn auf später vertröstet hatte. War jetzt schon später? Noch immer fühlte ich mich nicht bereit für zwischenmenschliche Interaktion, Therapie und das Leben an sich.

„Hallo Scarlett, ich wollte einmal schauen, wie es dir geht. Das erste Essen ist immer das schwerste.“

Ich biss mir auf die Lippen, um nicht in Tränen auszubrechen. Mein Gott, warum war ich nur so labil? Pascal sah mich sofort mitleidig an und legte mir eine seiner zarten Händchen auf meine Schulter. „Alles gut, Liebes. Es wird besser, glaub mir.“

Glauben wollte ich ihm gerne, also ließ ich ihn herein, schluckte und deutete auf einen der beiden Stühle, die an einem seltsam ovalen Tisch am Fenster standen. Er setzte sich, sah mich an und ich erwartete schon, dass er endlos viele Fragen stellen würde, dass ich nun Gefühle erklären müsste, die ich selbst nicht verstand. Pascal jedoch lächelte und begann selbst zu erzählen. Von sich, seinen Kindern, seinem Anfang hier. Er war schon seit fünf Wochen in der Klinik. Sein Untergewicht war auf einen stressigen Alltag als selbstständiger Architekt zurückzuführen. Seine jüngste Tochter hatte vor Kurzem ein Baby bekommen und er nahm ihr das Kleine ab, wo er konnte. „Vielleicht war das alles aber doch etwas zu viel für mich.“ Ein verlegenes Lachen hallte durch das Zimmer. Von einer Ehefrau erwähnte er nichts und ich hütete mich davor, ihn zu fragen. Vielmehr war ich dankbar, dass er mich abgelenkt und mir einen Teil seiner Geschichte anvertraut hatte. Dieser Mann war mir direkt sympathisch und strahlte trotz seines schmalen Körpers eine beruhigende Stärke aus.

„Darf ich dir einen Tipp geben?“

Ich nickte.

„Je schneller du die volle Portion isst, desto eher wirst du wieder gesund. Arschbacken zusammenkneifen, Augen zu, Mund auf und essen.“

Pascals Tipp klang einfach, erweckte in mir aber sämtliche Horrorvorstellungen, dass ich wieder einen gewaltigen Bauch vor mir herschieben würde. Spottgesänge aus der Schulzeit schwirrten in meinem Kopf umher.

„Ich meine es ernst, Liebes.“ Mit sorgenvollem Blick sah er an mir herab und ich schämte mich für meinen Körper. „Du bist so dünn, es ist höchste Zeit, dass du hergekommen bist.“ Nein, du lügst. Schau doch mal richtig hin! Da ist noch genug Fett, das da nicht hingehört. Da, dort und hier auch! Für einen kurzen Augenblick wollte ich das tatsächlich sagen. Dann schwieg ich aber, denn ein kleiner Teil in mir wusste, dass Pascal nicht ganz Unrecht hatte.

Bevor er mit mir auf Erkundungstour gehen wollte, sah er auf meinen Therapieplan und entdeckte, dass ich gleich mein erstes Einzel- und gleichzeitig Aufnahmegespräch mit meinem Therapeuten haben würde. Also brachte er mich nur wenige Meter über den Flur, tätschelte mir nochmals den Arm, sprach mir Mut zu und ließ mich allein.

Kurz darauf öffnete sich die Tür und eine schwarze, junge Frau schüttelte mir energisch die Hand.

„Frau Schweighart? Willkommen, willkommen. Ich bin Katharina Kleist, Ihre Psychotherapeutin. Kommen Sie rein in die gute Stube!“ Sie zeigte auf einen Stuhl und wirbelte in ihrem Büro umher. Der Beistelltisch vor mir war die einzig leere Fläche des Raumes. Ihr Schreibtisch, die Regale und Schränke waren von oben bis unten zugemüllt. Ordner und Unterlagen stapelten sich auf jeder freien Fläche. An den Wänden hingen erdrückend viele Bilder von Schmetterlingen und ich fragte mich, ob diese Einrichtung ein Test war, um Zwangsstörungen bei Patienten zu entlarven. Wie viele Patienten würden nervös auf das Chaos auf dem Schreibtisch starren, bis sie fragen würden, ob sie nicht mal eben ein bisschen Ordnung schaffen dürften.

„Moment, ich muss nur kurz – wo ist denn Ihre Akte?“ Sie drehte mir den Rücken zu und ich nahm mir die Gelegenheit, sie zu mustern. Sie trug einen engen, sehr kurzen schwarzen Rock, dazu eine weiße Bluse mit rosa Flamingos, die transparent genug war, damit man ihren schwarzen BH durchscheinen sah. An ihren dicken Beinen schlängelten sich Dehnungsstreifen hinauf zu der Cellulite ihrer Oberschenkel. „Sodele, hier habe ich alles. Wir können starten.“ Mit einer dünnen Akte setzte sie sich an den kleinen Tisch mir gegenüber, klickte zweimal mit ihrem Kugelschreiber und sah mich an. „Erster Tag heute. Wie aufregend! Was haben Sie schon alles Schönes entdeckt? Wurden Sie gut aufgenommen? Haben Sie schon Ihren Paten gefunden?“

Ihre energische Art war überraschend und einschüchternd.

„Ähm, na ja.“

„Bei der Ankunft ist man immer ein kleines bisschen überfordert, das wird sich legen, keine Sorge.“ Wieder klickte sie mit ihrem Kugelschreiber und ich hoffte, dass das kein nervöser Tick von ihr war. Menschen, die keine Sekunde stillsitzen konnten, brachten mich zur Weißglut.

„Also, ich habe mir Ihre Akte angesehen. Ihre Leberwerte sind katastrophal und Ihr Kaliummangel ist in einem Bereich, in dem wir strengstens Ihr Herz im Blick behalten müssen. Kurzum: Ihr Blut zeigt deutlich Ihre Mangelernährung. Ein Wunder, dass das so lange kein Arzt festgestellt hat.“ Sie schlug den Ordner auf, überflog eine Tabelle und schüttelte den Kopf. „Blutabnahme mindestens zweimal wöchentlich. Das wird dauern, bis sich die Werte normalisieren. Aber Sie sind ja noch ein Weilchen da, oder? An welchen Zeitraum haben Sie gedacht?“

Ich? Woher sollte ich das wissen? Wer war hier der Psycho und wer der Therapeut? Das musste sie mir doch sagen!

„Ähm.“ Ich fixierte einen handgroßen Porzellan-Schmetterling, der neben dem Fenster von der Decke baumelte. „Ich weiß nicht, ich habe ein bisschen recherchiert … Meist sind es so neun, zehn Wochen.“

Sie nickte, klickte mit dem Kugelschreiber und schrieb etwas in ihren Block. „Das kommt natürlich darauf an, wie viel Sie laut Ihrem Gewichtsvertrag pro Woche zunehmen wollen.“

Gewichtsvertrag? Zunehmen? Mein Magen zog sich bei diesen Worten zusammen und ich spannte meinen Körper an, um Fassung zu bewahren. Schließlich hatte sie recht: Ich war nicht zum Spaß hier.

„Im Vorgespräch haben Sie erzählt, Sie hätten erst in den letzten zwei Jahren so viel abgenommen?“

„Ja, also ich habe immer wieder mal abgenommen. Dann auch wieder zugenommen. Ein Auf und Ab. Aber in den letzten Jahren dann nur noch ab.“

„Wie?“

„Mit Sport und gesundem Essen“, antwortete ich. Das war der Satz, den ich schon sehr oft zu sehr vielen Menschen sagen musste, um meinen neuen Körper zu erklären. Frau Kleist aber hob eine Augenbraue.

„Viel Sport“, ergänzte ich. „Und wenig Essen.“

Sie nickte und notierte fleißig, was ich sagte. „Erbrechen Sie auch?“

„Nein, das habe ich nie getan! Kein einziges Mal“, sagte ich fast zu energisch. Das war ein Versprechen, an Robin. Auch wenn es Tage gegeben hatte, an denen ich mich derart vollgestopft gefühlt hatte, dass der Selbsthass mich fast umgebracht hätte, habe ich mir nie den Finger in den Hals gesteckt. Robin zu enttäuschen wäre das Letzte, was ich jemals tun wollte.

„Was treiben Sie für Sport?“

„HIIT-Workouts. Also, High Intensity Intervall Trainings bei mir in der Wohnung. Ich mache nicht gern draußen Sport, wenn mir jemand beim Schwitzen zusieht.“

„Leben Sie alleine?“

„Ja.“

„Keine Beziehung?“

„Nein.“

„Wie lange sind Sie schon Single?“

„Bitte?“

„Wie lange sind Sie schon Single?“

Langsam wurde mir dieses Aufnahmegespräch mehr als unangenehm. Frau Kleist hingegen wiederholte die Frage ein drittes Mal und beäugte mich mit einem Röntgenblick, der mir eine Gänsehaut bereitete.

„Wieso ist das wichtig?“

Lächelnd wechselte sie ihr übereinandergeschlagenes Knie. „Frau Schweighart, wichtig ist alles, was Ihnen auf dem Herzen liegt. Dinge, die Ihnen auch noch so kleinlich erscheinen, sollten in diesem Raum trotzdem gesagt werden. Trauen Sie sich ruhig, spontane Gedankengänge mit mir zu teilen! Jedes Wort, jeder Gedanke, kann Ihnen bei der Genesung helfen. Welche Themen wir auf der Prioritätenliste für Ihren Therapiefolg nach oben oder unten schieben, entscheiden wir im Therapieverlauf gemeinsam.“

Langsam konnte ich mich etwas entspannen. Mir gefiel die Tatsache, dass meine Worte nicht auf die Goldbahre gelegt werden sollten. Eine ganz neue Erfahrung für mich.

„Etwa zwei Jahre“, sagte ich.

„Haben Sie vor oder nach der Trennung mit der rapiden Gewichtsabnahme begonnen?“

„Danach.“

„Ah ja.“

„Behaupten Sie jetzt bloß nicht, dass ich ‘nen Kerl brauche, um gesund und glücklich zu sein!“, sagte ich bestimmt und krallte mich in die Stuhllehnen. Angriffsstellung.

„Ich behaupte gar nichts, Frau Schweighart. Ich sitze hier, höre Ihnen zu und notiere mir die ein oder andere Äußerung. Da Sie es aber ansprechen: Glauben Sie, dass Sie eine Beziehung brauchen, um glücklich zu sein?“

„Nein, natürlich nicht! Ich bin sehr glücklich. Allein sein tut mir gut. Ich mag die Einsamkeit.“ Wieder sah mich die Frau einschüchternd an, sodass ich ihren Blick nicht halten konnte. Mir wurde heiß und ich hatte das Gefühl, mich selbst verraten zu haben. „Ich meine, ich bin nicht einsam. Ich lebe allein, aber ich bin nicht einsam.“

„Wie lange hat Ihre Beziehung gehalten?“

„Fast drei Jahre.“

„Ihre erste Beziehung?“

Ich nickte und nutzte den kurzen Moment des Schweigens, um tief Luft zu holen und mich zu beruhigen. Frau Kleist merkte wohl, dass ich zutiefst gestresst war und wechselte das Thema. Nur war das nicht weniger stressig.

„Wie viel wollen Sie zunehmen? Ihr BMI beträgt 15,1. Unteres Normalgewicht läge bei einem BMI von 18,5 in Ihrem Alter. Um die elf Kilo müssen drauf.“ - Mein Herz begann zu rasen – „Das ist stattlich, wenn Sie das in zehn Wochen schaffen wollen. Normalerweise pendeln wir im Gewichtsvertag um die 750 Gramm pro Woche an. Das schaffen die meisten.“

„Ich habe von dieser Klinik gar keinen Gewichtsvertrag online gefunden …“

„Nein, das stimmt. Wir haben keine vorgefertigten Verträge auf unserer Webseite. Aber“ - sie reichte mir ein Blatt - „Hier ist eine Vorlage, an der Sie sich orientieren können. Sie schreiben den Vertrag selbst. Zu Beginn notieren Sie die Motivation für Ihre Gewichtszunahme. Dann fügen Sie eine Tabelle ein, in der Sie Ihre wöchentliche Zunahme als Richtwert eintragen. Last but not least, erstellen Sie eine Belohnungsliste für jeden erreichten Soll-Wert.“

„Ich soll mich dafür belohnen, wenn ich zugenommen habe?“

„Genau!“ Sie strahlte über das ganze Gesicht, mir aber wurde übel und ich musste darüber nachdenken, wie ich mich denn belohnen könnte.

„Ich mag Tee. Ist Tee trinken Belohnung genug?“

„Es wäre besser, wenn Sie Genussmittel nicht in Ihr Belohnungssystem aufnehmen würden.“

Na toll. Für mich war Essen und Tee stets mit dem Gedanken verbunden, „sich etwas zu gönnen“. Wie sollte ich mich sonst belohnen, wenn nicht mit einem schönen Tee? Oder einem saftigen Apfel? Was blieb übrig, wenn Essen wegfiel?

„Sich selbst zu belohnen, fällt vielen Patienten mit Anorexie schwer. Deswegen schreiben Sie sich Ideen zur Belohnung am besten auf. Machen Sie sich einfach bis zum nächsten Mal Gedanken. Am Freitag reden wir über Ihren erstellten Vertrag.“ Erneut klickte sie mit dem Kugelschreiber. „Zum Gewichtsvertrag gehört auch ein Abschnitt mit Konsequenzen. Was tun Sie also, wenn Sie am Wiegetag nicht genug zugenommen haben? Meist wird dann eine Bewegungseinschränkung vereinbart. Viele Patienten beschließen, auf der Station zu bleiben. Für etwa acht Stunden. Bei einer weiteren Konsequenz sind es bereits 16 Stunden. Bei der dritten erfolgt Stationsgebot. Wenn Sie partout nicht zunehmen, kann auch Bettruhe verordnet werden. Zusätzlich besteht die Möglichkeit, Ihnen hochkalorische Trinknahrung zu verabreichen.“ Angespannt überflog ich die Vorlage des Gewichtsvertrages und kämpfte gegen die Tränen. Plötzlich war alles real. Ich opferte also tatsächlich meine Semesterferien, um in einem Mastbetrieb als Mastschwein zu leben und meine Erfolge der letzten Jahre zunichtezumachen. „Sie enthält alle lebenswichtigen Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelemente in einem ausgewogenen Verhältnis. Die Aufbaunahrung ist aber nur unser Ass im Ärmel. Uns wäre es lieber, wenn Sie auf konventionellem Weg Gewicht aufbauen. Dazu essen Sie drei volle Mahlzeiten am Tag. Später kommen bis zu drei Zwischenmahlzeiten hinzu. Aber Schritt für Schritt, um das Refeeding-Syndrom zu umgehen.“ Frau Kleist war im Redefluss und ich maßlos gestresst. „Es tritt auf, wenn massiv mangelernährte Menschen zu schnell auf eine normale Nahrungszufuhr umsteigen. Der Körper braucht Zeit, um sich an vollwertige Kost zu gewöhnen.“

Lachend verschränkte ich die Arme. „Das würde bei mir nicht zutreffen. Ich habe nie nichts gegessen.“ Nein, ich war nicht magersüchtig. Ich war kein Klischee. „Ich hatte immer meine drei festen Mahlzeiten. Ich weiß, wie man gesund isst.“

„Ach so? Ja und was wollen Sie dann überhaupt hier?“ Das Kugelschreiber-Klicken passte zu ihrem aufmerksamen Wimpernaufschlag. „Wollen Sie überhaupt zunehmen?“

Tränen schossen in meine Augen. Nein, ich will nicht zunehmen. Natürlich nicht. Aber ich musste. Denn so ging es einfach nicht mehr weiter.

„Ich will einfach ganz normal essen, ohne mich dafür zu hassen.“

„Das klingt doch nach einem guten Ziel für Ihren Gewichtsvertrag.“ Frau Kleist lächelte und mir lief der Rotz die Nase hinunter. Ich musste schniefen und sah mich nach einem Taschentuch um. Sie musste doch sehen, dass ich eins brauchte. Warum bot sie mir keins an?

„Kann ich vielleicht ein Taschentuch haben? Bitte?“, wimmerte ich.

„Natürlich.“ Ohne hinzusehen, griff Frau Kleist hinter sich auf den Boden und reichte mir eine Nachfüllbox Papiertaschentücher. Herzhaft schnäuzte ich mich und zwang mich dazu, ruhig sitzen zu bleiben und nicht heulend aus der Klinik zu rennen. Nein. Ich werde es versuchen. So schnell gebe ich nicht auf.

„Dann bitte ich Sie noch, bis zur nächsten Sitzung eine Liste Ihrer Tabu-Lebensmittel anzufertigen.“

„Tabu-Lebensmittel?“

„Es gibt bestimmt einige Lebensmittel, die Sie schon eine Weile nicht mehr gegessen haben?“

„Bananen“, fiel mir als Erstes ein und wieder erntete ich einen skeptischen Blick, der in mir das Bedürfnis wachrief, mich zu erklären. „Also, weil – Ich meine, Bananen sind-“ Offensichtlich konnte ich es aber nicht erklären. Ich war aufgelöst und am Ende mit meinen Nerven. Nie und nimmer wollte ich zum Mastschwein werden. Nicht wieder. In mir pochte die wilde Angst, innerhalb weniger Wochen wieder so fett zu werden wie früher. „Sexy Scar“, sang es in meinem Inneren und ich erschauderte. Mit diesem Gewichtsvertrag würde ich innerhalb weniger Tage den Erfolg von mehr als zwei Jahren ruinieren. Meine Errungenschaften wegessen.

Und wofür das alles?

„Um erfolgreich die Therapie durchzuführen, ist es wichtig, dass Sie stets Ihre Ziele und Motivationen im Blick behalten.“ Konnte sie Gedanken lesen? Was aber, wenn ich weder Ziele noch Motivationen hatte? Was, wenn mein einziges Ziel der letzten Jahre immer gewesen ist, eine noch niedrigere Zahl auf der Waage zu sehen? Was, wenn meine Motivation stets war, den Hunger und den Muskelkater zu spüren, um mir selbst zu beweisen, wie willensstark und diszipliniert ich war?

„Wissen Sie, was der medizinische Fachbegriff für Magersucht ‚Anorexia nervosa‘ bedeutet?“

Noch immer schluchzend schüttelte ich meinen Kopf.

„Anorexie leitet sich aus dem Griechischen ab und bedeutet Appetitlosigkeit. Nervosa kommt aus dem Lateinischen und meint in etwa so viel wie ‚nervlich bedingt‘. Wörtlich übersetzt würde man Ihr Krankheitsbild also ‚nervlich bedingte Appetitlosigkeit‘ nennen. Dabei handelt es sich jedoch eher um psychisch bedingte Kontrolle der eigenen Nahrungszufuhr. Man verhungert den eigenen Körper und spürt natürlich noch Appetit. Eventuell will man es sich nicht eingestehen. Viele Patienten mögen das Hungergefühl. Warum man sich nichts gönnt, hat unterschiedliche Ursachen. Die depressiven Stimmungen dahinter rauszufinden, das wird unsere gemeinsame Aufgabe während der nächsten Wochen sein.“

***

Ich bin ganz aufgeregt. Gerade erzählt Nils, dass er Pilot werden möchte. Das finde ich total cool! Nach ihm werde ich dran sein. Vor anderen laut zu sprechen, macht mir immer ein bisschen Angst. Oft werde ich ausgelacht. Vor allem von den Jungs. Weil ich dick bin.

Es ist Berufswahl-Woche in der dritten Klasse. Wir haben einen ganzen Tag Zeit bekommen, uns zu überlegen, was unser Traumberuf ist. Jetzt müssen wir unsere Ergebnisse der Klasse vorstellen.

„Scarlett will bestimmt mal weniger fett werden“, flüstert einer der Jungen in der Reihe hinter mir und alle lachen.

„Sssch“, macht Frau Schnautz und nickt Nils zu. Er soll weiterreden.

„Oder Model.“

Wieder lachen sie. Am liebsten will ich gar nicht nach vorne gehen. Ich habe Angst. Seit ein paar Wochen fühle ich mich nicht mehr wohl in meinem Körper. Ich kann mich gar nicht daran erinnern, einmal nicht gehänselt geworden zu sein. Aber als ich einmal mit Mama in der Eisdiele war und das so seltsam lief … das tut noch immer weh. Ich hatte wohl blöd ausgesehen, weil ich die Hände auf dem Rücken verschränkt hatte.

„Stell dich nicht so hin, da drückt sich dein Bauch raus“, hat Mama gesagt. Jetzt weiß ich, wie ich richtig stehe, damit ich nicht so dick aussehe. Hände einfach vor den Bauch. Das tue ich jetzt immer. Trotzdem lachen mich die anderen aus.

„Du bist dran, Scarlett.“

Sofort laufe ich zur Tafel. Irgendjemand nuschelt: „Fettsack.“ Das Lachen tut weh. Vorne angekommen, suche ich Nicole und Tammy. Sie anzusehen, gibt mir Halt. Beide beachten mich aber gar nicht, sondern tuscheln und kichern mit Frederik.

„Mein Traumberuf-“

„Lauter!“, ruft Gregor. Wieder Lachen. Mir ist heiß. Hoffentlich sehen die anderen nicht, wie sehr ich zittere.

„Ich will Sängerin werden“, sage ich etwas lauter und klammere mich an meine Karteikarten. Noch mehr Lachen.

„Ich singe gerne und-“

„Du bist doch viel zu fett!“, ruft jemand.

„Sängerinnen müssen hübsch sein!“

„Sssch“, macht Frau Schnauz und sieht mich erwartungsvoll an. Aber ich kann nicht mehr weiterreden. Mein Hals ist trocken. Ich will weinen. Aber nicht vor den anderen.

„Ich … muss aufs Klo“, sage ich stattdessen, renne auf das Schulklo und heule. Sängerin werden, ist mein absoluter Traum. Mein Ziel, das ich mir fest vorgenommen habe. Bin ich wirklich zu dick dafür? Kurz denke ich an die Sängerinnen, die ich toll finde. Alle sind sehr dünn. Sehr schön. Die Jungs haben wohl recht. Wie peinlich, dass ich überhaupt auf die Idee gekommen bin, dass der Beruf zu mir passen könnte! Aus Scham schließe ich mich im Klo ein und warte, bis die Stunde vorbei ist.

Auf dem Heimweg hänseln mich Gregor und die anderen. Wie immer. Jetzt tut es aber mehr weh, weil sie auf meinem Traum herumtrampeln. Hätte ich doch nur die Klappe gehalten! Blöde, fette Scarlett! Einfach still sein. Dann tut dir niemand weh.

Aus der Ferne sehe ich, wie Robin uns entgegenkommt. Ich will im Erdboden versinken. Mein großer Bruder holt mich ab und zu von der Schule ab. Aber heute will ich das nicht. Er soll nicht sehen, wie unbeliebt ich bin. Erst winkt er. Als er sieht, wie mich die anderen auslachen und schubsen, wird er böse und rennt auf uns zu. Mein großer Bruder ist drei Jahre älter als ich und sehr dünn, schmächtig. Aber weil er recht groß ist, hat er die Jungs schnell verscheucht.

„Lasst meine Schwester in Ruhe, ihr Blödmänner!“

„Pfoten weg, du Arsch!“, mault Gregor und haut Robin. Robin schlägt zurück. Blöderweise sind wir nun direkt vor Frederiks Haus. Er hat einen großen Bruder. Der kann Karate. Plötzlich steht auch er da und schlägt meinen Bruder, bis er auf dem Boden liegt.

„Frechheit“, sagt Mama später und rührt im Kochtopf. „Unerzogene Bengel. Ich gehe nachher direkt hin und stelle die Mutter zur Rede.“

„Nein, bitte nicht“, flüstert Robin. Wir sitzen am Esstisch. Robin kühlt seine aufgeplatzte Lippe mit einem feuchten Tuch.

„Würde ich auch nicht“, sagt Papa. Es ist selten, dass er beim Mittagessen auch da ist. Heute hat er Spätschicht. Es freut mich, dass ich ihn sehen kann. „Der Junge ist selbst schuld“, meint Papa. Er blättert in seiner Zeitung. „Hätte sich wehren können.“

Robins Augen sind glasig, seine Wangen rot. „Genau“, sagt er. „Ich war nicht stark genug.“

„So ein Mist!“, kreischt Mama. „Die Soße ist angebrannt.“

„War ja klar“, murrt Papa.

„Was soll das denn heißen?“

„Wann ist dir je eine Soße nicht angebrannt?“

„Koch doch einfach selbst.“

„Was muss ich noch alles machen?“

„Bitte?“

„Für irgendwas wirst du wohl auch noch gut sein.“

Mama und Papa schreien sich an. Ich mag das nicht. In letzter Zeit passiert das häufiger. Meistens gehe ich dazwischen, Robin aber gibt mir heute unter dem Tisch einen Tritt und schüttelt den Kopf. Warum soll ich still sein? Ist Schweigen besser als Reden? Jetzt fallen ganz böse Wörter und ich muss weinen.

„Schau, was du angerichtet hast!“, schreit Papa. „Jetzt heult die schon wieder.“

„Ich? Sie heult deinetwegen!“

„Wenn du einmal was auf die Reihe kriegen würdest, wäre das nicht passiert.“

Robin nimmt den Löffel, der neben seinem Teller liegt, reibt die Innenfläche und drückt ihn auf seine Nase. Er muss den Kopf etwas heben, aber er kann ihn tatsächlich balancieren. Es sieht lustig aus. Ich lache. Er auch. Dann fällt der Löffel runter. Ich will das auch können! Robin und ich spielen weiter mit den Löffeln. Dass Mama und Papa nicht mehr streiten, bekomme ich gar nicht mit. Irgendwann sitzen auch sie am Platz. Unsere Teller sind gefüllt: Spaghetti und Tomatensoße. Mein Lieblingsessen! Papas Teller ist sehr voll. Fast läuft die Soße über. Mama hat nur ganz wenig auf dem Teller. Während wir essen, steht sie oft auf, wäscht Geschirr, geht aufs Klo oder schreibt Einkaufslisten.

Das Essen schmeckt komisch. Überhaupt nicht angebrannt. Aber traurig. Mein Bauch tut weh. Bin ich satt?

„Esst, damit ihr groß und stark werdet“, sagt Papa. „Und euch wehren könnt gegen andere.“ Robin bekommt eine zweite Portion. Ich auch. Papa isst schon den dritten Teller. Ich esse weiter, bis die letzte Nudel weg ist. Mein Bauch tut sehr weh. Mir ist schlecht.

„Vollgefressen“, lacht Papa, reibt sich über den Bauch und rülpst. „Soße war noch im Rahmen“, sagt er zu Mama. „Man konnte sie essen.“

***

Mein Handy-Display zeigte fünf verpasste Anrufe von meiner Mutter. Robin und meine Freunde hatten mir im Laufe des Tages auch einige Nachrichten geschrieben. Keine davon habe ich gelesen, denn im Grunde kannte ich die Fragen, aber die passenden Antworten darauf nicht: Wie ich wohl angekommen war, ob alle nett zu mir waren, wie es mir ginge. Mir ging es miserabel, die Bestie in mir rebellierte lauthals, sodass ich drauf und dran war, die Therapie zu beenden, bevor sie überhaupt angefangen hatte. Meine Freunde und meine Familie wollte ich mit der Wahrheit nicht beunruhigen. Gleichzeitig wollte ich sie nicht anlügen. Deswegen schwieg ich. Und litt, während ich beim Abendessen voller Ekel in die Butter pikste und mich für meine Schwäche hasste. Warum konnte ich nicht einfach die verdammte Butter auf das verdammte Vollkornbrot schmieren, den Vollfett-Käse darauflegen und abbeißen? Wie normale Menschen? Jedenfalls tat das die Essbegleitung. Und sie sollte ja das Vorbild am Tisch der Essgestörten sein. Neben mir saß Pascal. Er aß langsam, aber wenigstens aß er seine Butter, ohne zu weinen. Meine Tränen hat er als erster mitbekommen und direkt angefangen, von seinem Garten daheim zu erzählen. Von seinen liebsten Blumen und Sträuchern. Ich war ihm endlos dankbar, dass er nicht versucht hat, mich zu trösten. Ich denke, ich wäre auf der Stelle zusammengebrochen.

Mir gegenüber saß Lisa. Eine normalgewichtige, mittelalte Frau, die innerhalb von wenigen Minuten zwei Brote, 20 Gramm Butter und eine gefühlte Tonne fetten Frischkäse runtergeschluckt hat. Konfrontationstherapie Deluxe. Ihr gegenüber zu sitzen, machte die ganze Sache nicht leichter. Und jetzt, da sie fertig war, aber warten musste, bis entweder der letzte aufgegessen oder die goldenen 30 Minuten der „normalen Essenszeit“ vorbei waren, saß sie da und sah mich an. Sah mir beim Weinen zu. Ihr Blick drang stumpf durch ihre schiefe Brille. Was hält sie wohl von mir? Voller Übelkeit legte ich mein Besteck neben den Teller. Bisher hatte ich nur eine Gabel Rotkrautsalat gegessen. Salat zog ich zwar allen Kohlenhydraten vor, aber Rotkraut zählte für mich nicht zu Salat. Es hatte zu viele Kalorien. War seit Jahren ein Tabu-Lebensmittel, das ich gar nicht wirklich auf dem Schirm hatte. Also saß ich da. War teilweise stolz auf mich, dass ich dieses Tabu-Lebensmittel bereits besiegt hatte, fand diesen Stolz aber im selben Moment lächerlich, denn mein Hunger tötete mich. Ich musste die Brote essen. Ich wollte aber nicht. Dann auch noch Lisa mir gegenüber. Diese Blicke. Diese Bewertung. Abwertung. Sie hasste mich. Ich mich auch. Alles war dunkel.

„Kommst du mit, Scarlett?“

„Was?“

Neben dem Adlerauge, mir schräg gegenüber, aß Penelope ihre Vollkornbrote. Sie war außergewöhnlich schön. Nicht nur hübsch. Nein, schön. Ihr Wesen strahlte eine besondere Wärme aus, die ich in dieser Form bisher noch nicht bei vielen Menschen erleben durfte.

„Mittwochs wird immer in der Kapelle gesungen. Zwei ehrenamtliche Frauen mit Gitarre und Klavier begleiten alle Patienten, die mitsingen wollen. Jeder darf kommen, sich ein Gesangbuch schnappen und mitmachen. Man kann sich sogar Lieder wünschen. Pascal und ich und ein paar andere gehen immer hin. Magst du nachher mitkommen?“ Mein Herz überschlug sich fast bei dem Gedanken, meinen ersten Abend nicht allein verbringen zu müssen, sondern direkt Anschluss an die Gruppe zu erhalten. Die letzten Monate hatte ich mich immer mehr von meinen Freunden distanziert, mich ganz der Beziehung zu meiner Essstörung hingegeben. Die Einsamkeit fraß mich und meinen Appetit auf. Dass ich mich nach menschlicher Nähe sehnte, war mir schon vor einiger Zeit klargeworden. Wie ich das ändern sollte, war mir jedoch schleierhaft. Immerhin war ich vielbeschäftigt. Ich musste lernen, Sport treiben und mein gesundes Essen intensiv planen. Für Freunde hatte ich einfach keine Zeit mehr gehabt.

„Es sind natürlich christliche Lieder. Das gefällt nicht jedem …“

„Das macht nichts, ich liebe es zu singen und komme gerne mit.“

Sie lächelte mir zu, aber ihre Augen blieben glanzlos und ich fragte mich, warum sie hier war. Nicht, warum sie an dem Tisch war, ich wollte über niemanden urteilen. Essstörungen treffen die verschiedensten Menschen aus den unterschiedlichsten Gründen und wirken sich auf viele Arten aus. Aber meistens hat es etwas mit Selbstverachtung oder Vernachlässigung zu tun. Penelope war aber bildhübsch und was ich bisher von ihrem Lebenslauf erfahren hatte - Studentin der Physik, Hund, Freund, Ehrenamt - schien sie sehr erfolgreich und intelligent zu sein. Warum war sie nicht glücklich? Warum war sie nicht zufrieden mit sich, so schön und klug, wie sie war?

„Die Uhr“, sagte Herr Specht, die heutige Essbegleitung. Tatsächlich hatten wir nur noch vier Minuten Zeit. Penelope hatte noch ein halbes Brot, das sie schweigend und mit leerem Blick nun schneller kaute. Ich hatte mein Brot bisher nicht angerührt. Aber ich wollte gesund werden. Deswegen nahm ich das Brot in die Hand. Wie lange war es her, dass ich Brot gegessen habe? Gar nicht so lange. Es war vorgestern gewesen. Eine Viertel-Scheibe. Dazu eine riesige Schüssel Salat. Ich konnte Brot essen. Ich war stark. Von einem Bissen Brot würde ich nicht zunehmen. Und eigentlich wollte ich zunehmen. Mein Kampf mit meinen Gedanken machte mich fertig. Die Uhr zeigte noch 30 Sekunden an. Da musste ich an meine Mutter denken, holte tief Luft, biss ab und kaute. Langsam zermahlten sich die Körner in meinem Mund und das trockene Brot wurde zu Brei. Eigentlich ganz lecker, das Vollkornbrot. Nein! Es darf nicht schmecken! Es schmeckt nicht! Aber irgendwie doch? Ich schluckte und die Zeit war vorbei. Ich habe verloren, denn ich habe nicht die volle Portion geschafft. Aber ich habe auch gewonnen, denn ich habe mich überwunden.

„Bereit für den Blitz?“, fragte Herr Specht und ich bekam den nächsten Schub Aggressionen. Der Blitz war das Schlimmste, was die Menschheit bis dato erfunden hatte. Wahrscheinlich ging es auch um die Kopplung von Gefühlen und Essen und Hass. Oder aber die Krankenpfleger geilten sich an unseren depressiven Gedanken auf. Oder benutzten das erlangte Wissen, um schlechte Bücher über Depressionen zu schreiben. Vielleicht traf alles zu.

„Wer möchte begi-“

„Also ich bin total genervt“, fiel Lisa Herrn Specht ins Wort. „Ewig und drei Tage hier rumzusitzen und denen beim Essen zuzusehen. Was für eine Zeitverschwendung.“

„Frau Holz“, begann Herr Specht in einer Tonlage, die man sonst nur bei Kindern, Tieren oder Geistesgestörten benutzt. Dann fiel mir ein, dass wir alle hier wohl geistesgestört waren. Oh Mann. „Sie wissen, dass sich das Sättigungsgefühl erst nach etwa zwanzig Minuten einstellt. Diese Zeit sollten Sie mindestens für Ihr Essen brauchen. Sie waren heute noch etwas zu schnell.“

„Wenigstens esse ich meine Portion und sitz nicht einfach nur blöd rum und-“

„Frau Holz, Sie kommen nachher noch ins Pflegebüro.“ Sein Tonfall war plötzlich sehr bestimmt und er gab das Wort an Pascal weiter. Auch, wenn er sie unterbrochen hatte, ist mir nicht entgangen, dass Lisa mich meinte. Dass sie mich angegriffen hatte. Dass ich ein Störenfried war. Dass meine Anwesenheit sie belästigte. Warum war ich hier? Warum war ich überhaupt am Leben? Wenn ich doch nur eine Last war?

„Ich habe alles gegessen und bin pappsatt“, lachte Pascal und rieb sich über den Bauch. „Das wird wieder eine schwierige Nacht werden.“

„Wenn Sie Schmerzmittel brauchen, dann-“

„Bisher tut’s auch die Wärmeflasche, danke.“

„Frau Samt?“

„Also, ich habe alles gegessen. In der richtigen Zeit“, sagte Penelope kurz und knapp.

„Und das Sättigungsgefühl?“

Sie lachte unbeholfen, biss sich auf die Unterlippe und nickte. „Is okay.“

„Es wird sich bald einstellen“, meinte Herr Specht und stützte sein Kinn auf den Ellbogen ab. „Sie sind auf einem sehr guten Weg. Denken Sie zurück, wie Sie vor drei Wochen hier ankamen und-“

„Ja, ja. Ich hab doch gesagt, is okay.“ Penelope klang nicht verärgert, aber bestimmt. Sie zog die Hände unter den Tisch und meine Erfahrung sagte mir, dass sie sich gerade entweder kratzte oder kniff.

„Frau Schweighart? Wie geht es Ihnen jetzt nach dem Essen?“

„Nicht gut“, antwortete ich knapp. Noch wusste ich nicht, wie ausführlich ich meinen Selbsthass in diesem Rahmen schildern sollte oder wollte.

„Sie haben nicht die vereinbarte halbe Portion gegessen.“

„Nein.“ Die zwei Butterpackungen neben meinem Teller lachten mich aus. Auch das Vollkornbrot verhöhnte mich. „Aber ich hab mich bemüht.“

„Und darauf kommt es an. Aller Anfang ist schwer. In ein paar Tagen schaffen auch Sie eine volle Portion.“

Wollte ich überhaupt eine volle Portion „schaffen“? Wollte ich mir 20 Gramm Butter reinpfeifen?

Nach dem Blitz standen wir auf und mussten den Tisch abräumen. Lisa stellte nur ihren Teller in die Spüle und verschwand. Ich sah ihr hinterher, Pascal lachte aber nur und rieb mir über den Oberarm.

„Wundere dich nicht, Liebes. Lisa ist etwas speziell.“

„Und lass dich nicht von ihrem bösen Blick oder ihren Kommentaren runterziehen“, ergänzte Penelope. „Oder von der Art, wie sie frisst.“

„Penelope!“

Sie verdrehte die Augen. „Essen. Wie sie isst. Fressen soll man nicht sagen. Hast ja recht, Pascal.“

Etwas unbeholfen versuchte ich, meinen Teil zum Aufräumen beizutragen, stellte die Döschen mit Butter, Käse und Aufstrich in den Kühlschrank. Da spürte ich, wie mich jemand von hinten umarmte.

„Ich bin unglaublich stolz auf dich!“, flüsterte mir Pascal zu. All meine Kraft benötigte ich, um ihn nicht von mir zu stoßen und ihn anzuschreien, was er sich überhaupt erlaubte. Was er sich erlaubte, mich anzufassen und nett zu mir zu sein. Immer, wenn jemand etwas Nettes zu mir sagte, vermutete ich entweder Spott oder zwielichtige Absichten dahinter.

„Stolz? Dass ich einen Biss Brot gegessen habe?“

„Ja! Ich habe gemerkt, wie schwer es für dich war, aber du hast nicht aufgegeben und in der letzten Minute noch gezeigt, was für eine Kämpferin du bist.“

Ich? Eine Kämpferin?

„Wo bleibt ihr denn? Wir kommen schon wieder zu spät!“, rief es aus dem Gang. Penelope sah auf ihr Handy und packte noch schnell die letzten Gläser in die Spülmaschine.

„Kommen schon!“

Im Gang warteten zwei ältere Frauen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Die eine klein, dick und sehr schick angezogen. Die andere groß und mit einem verwahrlosten Äußeren. Neben ihnen stand ein Mann im Anzug. Schnell stellte Pascal mich den Mitpatienten vor und ich hatte Mühe, mir die Namen zu merken. Alle drei wirkten recht nett, wenn auch zurückhaltend. Auf dem Weg zur Kapelle wollte keiner der drei mit mir reden. Dafür hielt Pascal alle bei Laune und erzählte, dass er sich wie ein Masthähnchen fühlte. Während er sprach, rieb er immer wieder seinen Bauch. Tatsächlich war eine deutliche Wölbung zu erkennen, die nicht zu seinem sonst so mageren Körper passte.

„Wie lange bist du nochmal hier?“, fragte ich ihn und hoffte, dass er mir die wiederholte Nachfrage nicht übelnahm. Schließlich hatte er mir das heute Mittag erst erzählt.

„Fünf Wochen. Und ich hoffe, dass ich bald im Aufenthaltsraum essen darf. Meine Bezugspflege meint, dass es nicht mehr lange dauern kann.“

„Das wären aber ausgesprochen gute Nachrichten“, sagte die Kleine. „Wir werden dir einen Platz an unserem Tisch freihalten.“

„Komm lieber an unseren Tisch, bei uns ist es viel lustiger“, sagte die Große und Pascal wurde rot, als sich die Damen um seine Anwesenheit stritten. Es war ein schöner Moment. Ich gönnte ihm die Anerkennung und sah zu Penelope. Ihr Blick war streng nach vorne gerichtet und seltsam leer. Wie mechanisch stellte sie einen Fuß vor den anderen, bewegte eine scheinbar leere Hülle zur Kapelle. Als wir ankamen, sangen sie bereits.

Es waren fünf weitere Patienten in der Kapelle, alte und junge. Die zwei Frauen sangen sehr gut, etwas hoch vielleicht, aber sie waren nett und forderten uns dazu auf, unsere Wünsche zu äußern. Die Große, die Kleine und Mr. Anzug hatten keine Bedenken, sich ständig neue Lieder zu wünschen. Wir sangen ältere, aber auch neuere Lieder. Singend Gott zu preisen, fühlte sich paradox an, denn wenn es einen Gott gäbe, warum hat er zugelassen, dass ich so in die Scheiße rutschen konnte? Nein, mit Gott hatte ich meine Probleme. Mein Vater war ein frommer Kirchgänger und meine Mutter quasi der Antichrist 2.0. Jeder hatte immer versucht, mich auf „den richtigen Weg“ zu bringen. Das hatte nur dafür gesorgt, dass ich immer das Gefühl hatte, in einer Zwischenwelt zu sein und niemals irgendwo richtig anzukommen.

In den kurzen Gesangspausen blätterte Penelope ständig zu einem bestimmten Lied und haderte wohl mit sich, ob sie ihre Bedürfnisse artikulieren sollte. Pascal stand links, ich rechts von ihr. Als die Gitarristin nach dem letzten Liedwunsch für heute fragte, meldete sich Pascal, schielte auf Penelopes Gesangsbuch und wünschte sich das Lied, das Penelope offensichtlich viel bedeutete. Sie lächelte und umarmte Pascal. Dann begann sie aus vollem Herzen zu singen. Zuvor hatte sie zwar auch gesungen, aber eher leise. Ich hatte sie gar nicht gehört. Jetzt stellte ich fest, dass sie die Stimme eines Engels besaß. Sie singen zu hören, ließ mich doch über die Existenz eines Gottes nachdenken. Als ich noch ein Kind war, war ich eher auf der Seite meines Vaters. An Gott zu glauben, war mir damals nicht schwergefallen. Mit zunehmendem Mobbing zweifelte ich aber immer mehr an der Existenz von jemandem, der alle Menschen liebte, egal, was sie sich für Verfehlungen leisteten. Penelopes Augen strahlten und ich beneidete sie dafür, offensichtlich etwas in ihrem Leben zu haben, aus dem sie Hoffnung schöpfen konnte. Es musste schön sein, sich geliebt und sicher zu fühlen. Das Lied war noch nicht vorbei, als ich mein Buch schloss. Auch wenn ich Singen noch so sehr liebte, bei diesem Lied brachte ich keinen Ton über meine Lippen. Die Worte schienen zu echt zu sein, um von jemandem wie mir gesungen zu werden, die nicht an Gott glauben konnte.

„Und, wie hat es dir gefallen?“

Pascal, Penelope, die drei anderen Mitpatienten und ich liefen aus der Kapelle wieder zur psychosomatischen Station.

„Sehr gut. Danke, dass ihr mich mitgenommen habt.“

„Gerne.“

Es brannte mir auf der Zunge, mich nochmal bei Penelope zu bedanken, ihr zu sagen, wie schön es für mich war, nicht mehr allein sein zu müssen, aber ich traute mich nicht. Deswegen dankte ich ihr schweigend und beschloss, in Zukunft meinen Teil dazu beizutragen, das Lächeln, das sie stets anderen schenkte, auch einmal für sich selbst aufbringen zu können.

Sophia machte spät abends noch etwas Gymnastik. Es war nicht annährend so schweißtreibend wie die HIIT-Einheiten, die ich jeden Morgen absolvierte, aber ihr zuzusehen genügte, um meinen Sportzwang wieder aufleben zu lassen. Ich musste mich bewegen. Jetzt. Ich brauchte das Gefühl meines pulsierenden Herzens, das Pochen in meinem Kopf, den Schweißfilm auf meinem ganzen Körper. Nein. Ich brauchte Ruhe und Entspannung. Mein Körper hatte die letzten Jahre genug Sport gemacht. Eine Auszeit war mehr als angemessen. Weil ich ihr aber nicht zusehen wollte und konnte, ging ich in den Aufenthaltsraum. Dort saß die große, schweigsame Frau von vorhin auf dem Sofa und sah fern. Weil sie ganz allein war, setzte ich mich zu ihr und dachte, ich beginne ein nettes Gespräch. Das ging allerdings recht schnell nach hinten los. Einfühlsamkeit zählte wohl nicht zu ihren Stärken.

„Und dir macht es nichts, dass euch da drüben in der Lehrküche beim Essen zugesehen wird? Ist doch schon krank, oder? Ich habe gehört, die Pfleger passen ganz genau auf, wie viel man nachwürzt.“

Irgendwo zwischen „Natürlich stört es mich. Du hast ja keine Ahnung! Ja, das ist krank. Aber wir sind ja auch krank. Wir brauchen diese Unterstützung“ und „Das alles geht dich gar nichts an!“ war ich gefangen. Ich entschied mich für einen Mittelweg.

„Naja, es ist schon schwer, aber ich bleibe bestimmt nicht lange an dem Tisch.“

„Das glaub ich auch.“ Sie musterte mich und wandte sich wieder an den Fernseher. „So dünn bist du doch gar nicht.“

Autsch.

Hilfe.

Essstörung hallo!

Mein Herz zog sich zusammen, denn sie hatte recht. Was tat ich nur hier? Ich war fett. Es war paradox, dass ich hergekommen war, um zuzunehmen. Nein, das musste nicht sein. Ich brauchte keine Butter. Ich brauchte Sport und Salat. Und noch mehr Sport. Ich brauchte das Magenknurren, um zu spüren, wie stark ich war. Wie konnte ich nur für einen Augenblick denken, ich sei wirklich krank? Wortlos stand ich auf und schlenderte in Richtung Ausgang.

„Ach, Frau Schweighart!“, rief es durch den Flur. Ich ballte meine Fäuste und biss mir auf die Unterlippen, um nicht direkt in Tränen auszubrechen. In diesem Moment konnte ich mit niemandem reden. Ich wollte einfach nur weg, raus hier. Raus aus meinem Körper. Raus aus der Welt. Nicht mehr ich sein. Nicht mehr sein. „Wie schön, dass ich Sie noch erwische!“ Ein strahlend grünes Augenpaar tauchte vor mir auf. Arielles Lächeln wich schnell einem besorgten Blick. „Ist alles in Ordnung, Frau Schweighart?“

„Mhm“, machte ich, nickte und schluckte. „Kann nur nicht einschlafen.“

„Ach, das ist völlig normal!“ Sie winkte ab und lächelte wieder. „Die erste Nacht ist immer die schlimmste. Aber denken Sie daran, wie stolz Sie auf sich sein können!“

„Stolz?“

„Freiwillig in eine Klinik zu gehen, ist ein Zeichen äußerster Disziplin. Es ist die richtige Entscheidung, dass Sie sich um Ihre Gesundheit kümmern wollen. Sie können stolz sein, hier her gekommen zu sein.“

Ich blinzelte gegen meine Tränen. Konnte sie Gedanken lesen? Wie war es möglich, dass sie mich genau in diesem Moment traf und diese Worte zu mir sagte, die den Sturm in mir ein kleines bisschen beruhigen konnten?

„Jedenfalls wollte ich Ihnen noch sagen, dass ich Ihre Bezugspflege bin. Das heißt, ich bin im Besonderen dafür verantwortlich, dass Sie sich hier wohlfühlen. In den ersten Wochen ist es üblich, engen Kontakt zu haben. Ich schlage vor, wir führen gleich morgen unser erstes Gespräch. Wann hätten Sie Zeit?“

Wann hatte ich Zeit? Wollte sie mich verarschen? Wann hatte ich keine Zeit? Ich war in einer Klinik, nicht auf einem wichtigen Kongress einer Aktiengesellschaft.

„Ähm, ja, mir egal.“

„Wann sind denn Ihre Therapien?“

„Äh.“

Sie lachte ein unglaublich wärmendes Lachen und legte den Kopf schief. „Es dauert, bis man einen Überblick über den Therapieplan hat. Sagen wir 20:00 Uhr? Dann haben Sie bestimmt keine Therapie mehr.“

„Okay.“

„Können Sie dann bitte auf das Stationszimmer kommen?“

„Klar.“

„Vielen Dank, Frau Schweighart. Dann wünsche ich Ihnen noch eine gute, erste Nacht bei uns. Auf eine gute Zusammenarbeit.“

Bevor sie ging, zwinkerte sie mir zu. Verdammt. Sie war so nett. A. Best. Für was wohl das A stand? Na klar, Arielle! In Gedanken lachte ich über meinen eigenen Witz und schlenderte noch ein bisschen durch die leeren Flure, während ich versuchte, meine Gedanken zu sortieren.

Bananenangst

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