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Was die Sterbenden sehen

Das Phänomen

des Nahtod-Bewusstseins

Der Speisesaal der West Island Palliativ Care Residence ist ein unerwartet fröhlicher Ort. Als meine Schwester im Sterben lag, wurde er von einem Wellensittich namens Blueberry überwacht, der von seiner Stange auf den Boden, auf die Schaukel und aufs Regal flatterte und mit allen Schwätzchen hielt. Ab und zu tauchten Freiwillige auf, die zu leichter Rockmusik singend Scones buken und frische Smoothies zubereiteten, die die Sterbenden durch Strohhalme trinken konnten. Es ist drei Jahre her, dass ich die köstlichen Suppen und Törtchen verzehrt habe, die den schreckstarren Familien hier angeboten werden.

Jetzt bin ich wieder da, in ruhigerer Verfassung, um mich mit Monique Séguin, einer von Katharines Pflegerinnen, über ein Phänomen zu unterhalten, welches von Hospiz-Angestellten in Nordamerika »Nahtod-Bewusstsein« genannt wird.

Monique, eine Frau mittleren Alters mit lockigem, schwarzem Haar und Adlernase, war uns in unserem überreizten emotionalen Zustand als herrisch erschienen, als sie eines Nachmittags energisch eine Schar von Besuchern aus dem Zimmer scheuchte, damit sich meine Schwester ausruhen konnte. Ich hatte sogar angefangen, ihr einen Brief zu schreiben, in dem ich sie in großen, handgeschriebenen Zeilen anfauchte, es gehe sie nichts an, und jemand, der sich bald für immer ausruhen würde, bräuchte schließlich bis dahin nicht zu schlafen. Ich beendete den Brief nie und bin heute froh darüber. Ich begriff erst Monate später, dass Hospiz-Pflegekräfte und -Ärzte ihre Patienten aus einem anderen Blickwinkel sehen, als die meisten – mit dem Sterben noch unvertrauten – Familien auf ihre Lieben schauen.

In früheren Zeiten, in denen alle um die spirituelle Bedeutung des Sterbens wussten, war das sicher anders. Doch heute werden Pflegekräfte wie Monique zu leidenschaftlichen Anwälten für die Bedürfnisses der Sterbenden nach einer gedämpften, lauschenden Atmosphäre, denn sie haben aus Erfahrung gelernt, dass das Bewusstsein und die Stimmung der Menschen in den Hospiz-Betten eine subtile Verwandlung durchläuft.

Die Ellbogen auf dem hölzernen Esstisch aufgestützt, erzählt mir Monique, die meisten Menschen, die sie im Laufe der Jahre betreut habe, hätten zu einem bestimmten Punkt genau gewusst, wann sie sterben würden. Für das Personal ist diese Gewissheit unheimlich. »Wir wissen alle, dass wir sterben werden … eines Tages«, sagte Teresa Dellar, die Leiterin des Hospizes, in einem Interview, welches ich nach Katharines Tod fand. »Doch das hier ist anders.«

Viele Sterbende beginnen in den drei Tagen vor ihrem Tod in Reise-Metaphern zu sprechen. Sie sind dabei nicht euphemistisch – es geht ihnen nicht mehr darum, die anderen zu schonen. Oft haben sie schon tagelang nicht mehr gesprochen und sagen dann plötzlich etwas, das mit Reisen zu tun hat. Sie wollen dringend wissen, wo ihre Fahrkarten, ihre Wanderstiefel oder die Gezeitentabellen sind.

Monique berichtet von einem Beispiel. »Wir hatten eine Patientin, die sehr unruhig war. Es war an einem Freitagabend. Sie sagte immer wieder: ›Ich will einkaufen gehen.‹ Sie war in ihrem Leben sehr viel und gerne einkaufen gegangen. Ich fragte: ›Wann wollen Sie denn einkaufen gehen?‹, und sie antwortete: ›Montag.‹ Ich erwiderte: ›Gut, dann gehen wir Montag einkaufen.‹ Aus meiner Sicht sagte sie mir: ›Ich gehe.‹ Und sie starb tatsächlich an jenem Montagabend.«

Die Familien halten einen solchen Wunsch, wie am Montag einkaufen zu gehen, oft für Wahngerede, für sinnloses Geplappere. Für sie wären jene letzten Worte, die sie aus Filmen kennen, bedeutsamer – ein geflüstertes »Ich liebe euch« oder »Sorge gut für die Kinder«, bevor der Kopf auf das Kissen zurücksinkt. Doch die Hospiz-Mitarbeiter wissen, wenn ihre Patienten anfangen, über das Reisen zu sprechen, steht das Ende kurz bevor. Die Sterbenden verhalten sich nicht wie im Film. Statt bedeutsamer letzter Worte über ihr Leben fragen sie nach Schiffspassagen und Zugfahrkarten. Manche bitten um ihren Mantel, andere erkundigen sich nach den Busabfahrtszeiten. Sie sind ganz mit ihrer Abreise beschäftigt, ohne darüber nachzudenken, was sie hinter sich lassen. So wie meine Schwester fragte: »Wann gehe ich?«, nachdem sie ihre Flugbegleiter als nutzlos entlassen hatte. Sie fragte es auf eine Weise, wie ich meine Abflugzeit nach Newark noch mal nachschauen würde.

David Kessler, der Vorsitzende des Hospital Association of Southern California’s Palliative Care Committee, hat dieses Phänomen unzählige Male bei seiner eigenen Arbeit und in Gesprächen mit seinen Kollegen beobachtet. »Die Neigung der Sterbenden, sich auf eine Reise vorzubereiten, ist weder neu noch ungewöhnlich«, schreibt er in seinem Buch Am Ende ist da nur Freude. »Interessanterweise bezieht es sich jedoch immer auf irdische Reisen. Sie sprechen darüber, ihre Koffer zu packen, sie suchen nach den Fahrkarten – sie erwähnen keine vom Himmel herabschwebenden Prachtkutschen oder einen anderen Aufbruch in die Ewigkeit.«

Kessler erinnert sich an einen 96 Jahre alten Mann, der plötzlich in seinem Hospiz-Bett aufwachte und seiner Tochter sagte: »Gail, es ist Zeit, zu gehen.«

»Wohin zu gehen?«

»Raus! Lass uns ausbrechen – ich muss frei sein.«

»Sie wusste nicht, was sie antworten sollte«, berichtet Kessler. »Sie half ihm, sich aufzusetzen, da es schien, als wolle er das Bett verlassen. ›Ist das Auto bereit?‹, fragte er. Sie versicherte ihm, es stünde direkt vor der Tür des Hospizes. ›Gut‹, sagte er. ›Ich bin bereit. Du auch?‹ Sie fragte ihn, wohin sie fahren würden, und er meinte, er sei sich nicht sicher. ›Ich weiß nur, dass ich diese Reise vor mir habe und es jetzt Zeit dafür ist.‹ Er beschloss, vor ›der Reise‹ noch ein wenig zu ruhen, und verstarb am selben Morgen.«

Es gibt keinen medizinisch bekannten Grund, weshalb die Sterbenden so ein genaues Gespür für ihren Abgang haben. Auf Konferenzen über Palliativ-Versorgung wird oft über die Möglichkeiten beraten, die medizinischen Sterbeprognosen zu verbessern. Wenn die Patienten ihre Reiseankündigungen machen, gibt es oft noch wenig körperliche Anzeichen für den unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruch der Systeme, wie eine deutliche Verschlechterung des Blutdrucks oder des Sauerstoffgehalts des Blutes. Die physischen Symptome stellen sich oft erst danach ein. »Ich gehe heute Nacht fort«, hatte der Soulsänger James Brown am Weihnachtsabend 2006 zu seinem Manager gesagt – einen Tag, nachdem er mit einer als nicht lebensbedrohlich eingestuften Lungenentzündung ins Krankenhaus eingeliefert worden war –, und sein Atem wurde langsamer.

In der umfassendsten US-amerikanischen Studie über Erfahrungen auf dem Sterbebett bestätigten die Psychologen Karlis Osis und Elendur Haraldsson, dass solche Vorahnungen des Abschieds selbst bei Leuten auftreten, die nicht als sterbenskrank gelten. Das Folgende ist ein Fall, den ein Arzt den Forschern berichtete:

Ein männlicher Patient in seinen Fünfzigern sollte am siebten Tag nach einer Operation wegen einer Hüftfraktur entlassen werden. Der Patient war fieberfrei und bekam keine Beruhigungsmittel. Dann bekam er Brustschmerzen, und ich wurde zu ihm gerufen. Als ich kam, erklärte er mir, er würde sterben. »Warum sagen Sie das? Ein wenig Brustschmerzen bedeuten noch nicht, dass man sterben muss«, erwiderte ich. Er erzählte, er habe direkt, nachdem die Brustschmerzen begannen, eine Halluzination gehabt, bei vollem Bewusstsein. Er habe sich ein paar Sekunden lang wie nicht in dieser Welt gefühlt, sondern woanders … »Ich gehe«, sagte er und verschied wenige Minuten später.

Sanitäter erleben dieses erstaunliche Wissen auch immer wieder in ihren Rettungswagen auf dem Weg ins Krankenhaus, wie einer von ihnen in dem Radioprogramm Coast to Coast AM mit George Noory erklärte.2 »Es ist ziemlich unheimlich«, meinte er. »Sie wissen Bescheid, warum auch immer. Es ist mehr als eine Vorahnung, es ist das deutliche Gespür, dass sie jetzt sterben werden, und ich würde sagen, in 95 Prozent der Fälle sterben sie dann auch vor meinen Augen. Für mich ist das wirklich schwierig.«

Warum ist das so schwierig für ihn? Weil es der medizinischen Logik und damit seiner ganzen Ausbildung widerspricht. »Es gab viele Fälle, wo ich wirklich der Ansicht war, der Patient sei nicht krank genug, um zu sterben, und dann hörte aus irgendeinem Grund plötzlich sein Herz auf zu schlagen, und ich dachte: ›Mein Gott, und er hat es mir noch gesagt.‹«

Hat die moderne Medizin bislang versäumt, den Geist-Körper-Prozess des Sterbens zu dokumentieren? »Mein Patient sagte: ›Oh ja, ich werde heute sterben‹«, erinnert sich ein Palliativ-Arzt in einem Bericht über die Auswirkungen des Sterbens auf das persönliche Leben der Ärzte, der 2011 im Canadian Medical Association Journal erschien. Der Arzt dachte jedoch: »›Es gibt überhaupt keinen Grund, warum der sterben sollte …‹, und er starb innerhalb von 48 Stunden. Ich staune darüber. Da gibt es ein Mysterium.«

Diese Art von Reaktion ist offensichtlich nicht ungewöhnlich. »Verschiedene medizinische Beobachter brachten ihr Staunen und ihre Überraschung zum Ausdruck, wenn sie mit Patienten konfrontiert waren, die trotz guter medizinischer Diagnosen starben«, berichteten zwei Psychologen, die amerikanische und indische Sterbeerfahrungen verglichen.

Zum Beispiel kam ein Patient in seinen Sechzigern wegen Bronchialasthma in die Klinik. Der Arzt prognostizierte eine sichere Genesung.

Der Patient selbst erwartete und wünschte, am Leben zu bleiben. Plötzlich erklärte er jedoch: »Jemand ruft mich.« Er hielt einen Moment inne, denn es überraschte ihn, und tat es dann ab und sagte seiner Familie, sie sollten sich keine Sorgen machen. Doch zehn Minuten später war er tot.

Die in Florida lebende Palliativ-Psychologin Kathleen Dowling Singh beschrieb diese Art der Erkenntnis als etwas Ähnliches wie einen Übergang in einen anderen Bewusstseinszustand. Manchmal ereignet er sich so schnell und unerwartet, dass keine Zeit bleibt, um zu begreifen, was geschehen ist. In anderen Fällen, wie bei langsamen, unheilbaren Krankheiten, dämmert allmählich das Bewusstsein um einen anderen Bereich heran, welcher einen erwartet. Singh saß einmal bei einer Pflegerin aus ihrer Klinik am Krankenbett, die jetzt selbst im Sterben lag und im Koma zu sein schien. Singh fragte eher gewohnheitsmäßig, wie es ihr ginge, und streichelte ihr dabei sanft über den Arm. Zu ihrer Überraschung antwortete die Frau: »Ich bin halb da.« Singh schreibt:

Ich … werde nie erfahren, ob sie … sich damit auf die Zeit bezog, das heißt den Verlauf der Ereignisse von Samstag (als sie eingeliefert wurde) bis Mittwoch (als sie starb), oder ob sich ihre Worte auf eine psycho-spirituelle Bewegung von der Tragödie zur Gnade bezogen. Ich weiß, dass sie sich auf einen Prozess bezog, dessen Verlauf ihr bewusst war, und dass dieser Prozess für sie einen Anfangspunkt und einen Endpunkt hatte, an denen sie ihre Position der Hälfte bemaß.3

Wenn wir davon ausgehen, dass Sterben etwas an sich hat, was sich von allen vorhergehenden persönlichen Lebenserfahrungen unterscheidet, sollte der Prozess dann nicht eher unvertraut sein, als mit solch einer genauen Gewissheit einherzugehen? Kann eine Frau, die zum ersten Mal gebärt, wissen, was sie in jedem Moment zu erwarten hat, und mit innerer Sicherheit sagen: »Das Kind kommt am Montag«? Natürlich nicht. Warum wissen manche Sterbende, wann sie sterben werden?

»Weiß meine Frau mit den Ausweisen und den Fahrkarten Bescheid?«

Die Hospiz-Schwester Maggie Callanan hörte diese heiser geflüsterte Frage von einem weit gereisten Mann, der in den 1980er-Jahren dem Wüten seines Bauchspeicheldrüsenkrebses erlag. Sie wusste, was er meinte: Weiß meine Frau Bescheid, dass ich sterbe? Aber sie begriff nicht, warum er es auf diese Weise ausdrückte, nicht an diesem frühen Punkt ihrer beruflichen Laufbahn. Callanan begann in ihrem Beruf ungefähr ein Jahrzehnt, nachdem die Hospiz-Bewegung angefangen hatte, den Familien eine Alternative zu dem medikamentös dominierten Sterben im Krankenhaus anzubieten. Als ausgebildete Notaufnahme-Schwester erkannte sie in der stilleren Atmosphäre des Hospizes ein deutliches Verhaltensmuster ihrer sterbenden Patienten, welches nicht dem speziellen Wesen medikamentös verursachter Halluzinationen entsprach, mit denen sie aus der Klinik vertraut war. Doch sie fand keine Fachliteratur darüber. Die bahnbrechenden Forschungsarbeiten von Osis und Haraldsson, die diese 1977 unter dem Titel Der Tod – ein neuer Anfang veröffentlicht hatten, galten als Parapsychologie und kamen deshalb selten in die Hände von medizinischem Fachpersonal. Während dieser Zeit inspirierte die berühmte Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross die Hospiz-Versorgung und führte das psychologische Konzept der fünf Phasen des Sterbens ein, welches eigentlich eher ineinander übergehende Geisteszustände sind: Verleugnung, Wut, Depression, Verhandeln und Akzeptanz.

Callanan hatte die bahnbrechenden Forschungsarbeiten über Nahtoderfahrungen des Psychiaters Raymond Moody aus Atlanta gelesen, die er 1975 veröffentlicht hatte. In der Palliativ-Versorgung können Menschen Tage oder Wochen vor ihrem eigentlichen Tod Nahtoderfahrungen haben. Doch was Callanan und ihre Kollegin Patricia Kelley beobachteten, bezog sich nicht wirklich auf Moodys klassische Berichte über Dinge wie Bewusstseinsverlust, das Gefühl, aus dem Körper zu schweben, oder den Eindruck, in gleißend weißes Licht gehüllt zu sein. Ihnen ging es mehr um das, was die Sterbenden sahen und sagten und zu fühlen schienen, während sie noch ganz in ihrem Bewusstsein und in der hiesigen Welt verankert waren. Sie begann, ihre Hospiz-Kollegen und -Ärzte zu befragen, ob diese auch solche Dinge bemerkt hätten. Merkwürdiges Vorauswissen um den Zeitpunkt des eigenen Todes? Erscheinungen von verstorbenen Freunden und Verwandten im Zimmer? Eine bemerkenswert friedliche Ausstrahlung? Mitteilungen über eine bevorstehende Reise? Die Kollegen hatten diese Dinge durchaus bemerkt und ebenfalls nicht gewusst, was sie davon halten sollten.

Elisabeth Kübler-Ross berichtete 1982 in einem Vortrag in der Schweiz darüber: »Plötzlich verabschiedet sich jemand, von dem Sie nicht denken, dass er so bald sterben wird.« (Und diese erstaunlichen Feststellungen setzen sich fort: 2009 stellte eine Studie in fünf Hospiz-und Pflegeeinrichtungen fest, dass 62 Prozent der Ärzte und des Pflegepersonals während des Jahres der Studie Dinge erlebt hatte, die man als »paranormale Sterbebett-Phänomene«4 bezeichnen könnte, dass viele es jedoch immer noch als Tabu betrachteten, darüber zu sprechen.)

Callanan und Kelley beschlossen, ihre Beobachtungen als einen eigenen Bewusstseinszustand zu definieren, den sie als »Nahtod-Bewusstsein« bezeichneten. Sie hielten es für enorm wichtig, den Familien ein Verständnis dessen zu vermitteln, was ihre sterbenden Lieben kommunizierten, damit diese möglicherweise wichtige Botschaften nicht mehr auf die Nebenwirkungen von Medikamenten schoben oder für Wahnvorstellungen hielten.

1992 veröffentlichten die beiden Pflegerinnen ihre Arbeit unter dem Titel Mit Würde aus dem Leben gehen. Ein Ratgeber für die Begleitung Sterbender. Es wirkt ein wenig wie eine moderne Fassung von Ars morendi5, einer Abhandlung über die Kunst des Sterbens, die im mittelalterlichen Europa verbreitet war. Callanan und ihre Koautorin hofften, die Ärzte und Pfleger würden lernen, mehr auf die in unserer Kultur nicht mehr gewürdigten psychospirituellen Transformationen der Sterbenden zu achten.

Als »die beste PR-Agentin des Todes«, wie sich Callanan mit dem Humor ihrer irischen Abstammung bezeichnet, verbreitet sie Aufklärung darüber, was eigentlich alles zum Sterben gehört, welches ihrer Ansicht nach viel weniger furchterregend ist, als die meisten von uns meinen. »Ich glaube, wir sind moralisch, ethisch und menschlich verpflichtet, unsere Geschichten zu erzählen, egal wie oft sie auf taube Ohren stoßen.«

Die Hospiz-Schwester Monique Séguin stimmt dem zu: »Wir müssen eine Öffnung erschaffen, damit zugehört werden kann. Wer daran nicht glaubt, mag seine Arbeit als Pfleger oder Pflegerin machen, aber er verpasst ein paar Dinge.« Auf ihren Runden durch die West Island Palliative Care Residence achtet Séguin inzwischen auch darauf, ihre Patienten nach ihren Träumen zu fragen. Dies ist eine weitere Ebene, auf der sie mitteilen können, was sie auf sich zukommen spüren. Sie erzählen ihr, sie hätten geträumt, in einem gelben Bus zu fahren, ohne zu wissen, bei welcher Haltestelle sie aussteigen müssen, oder sie seien in einem Segelboot über ein ruhiges rosa Meer geglitten. Die Frau, die Séguin diesen Traum erzählte, meinte: »Mein [verstorbener] Vater war in dem Boot. Mein Vater kommt, um mich abzuholen.« Manchmal träumen sie, ihren verzweifelten Familien etwas nicht mitteilen zu können. Eine über 80-jährige Frau träumte, sie versuche frustriert, einen Maiskolben in eine zu kleine Öffnung zu stecken.

Ob Reiseankündigung oder Traumbild – Séguin versucht, wo immer sie kann, es den Familien zu übersetzen. »Ich erinnere mich an eine Patientin, die ihrem Sohn immer wieder sagte: ›Hol mich heim‹, und er argumentierte jedes Mal: ›Mutti, du weißt doch, dass du zu krank dafür bist.‹ Sie wurde immer frustrierter. Eines Abends legte ich ihm die Idee nahe, sie mal zu fragen: ›Mutti, wann willst du denn heimgehen?‹, denn vielleicht wolle sie ihm etwas sagen. Er wollte es nicht hören.« Sie lächelt und zuckt mit den Schultern. »Als Personal bewegen wir uns da auf dünnem Eis«, meint sie. Die Frau starb wenige Tage später.

Ein faszinierender Aspekt des Nahtod-Bewusstseins ist die Neigung mancher Sterbenden, in den Tagen und Stunden vor ihrem Tod Erscheinungen von verstorbenen Verwandten, Freunden oder bedeutenden spirituellen Gestalten zu sehen. Laut einer Studie von Emily Williams Kelly von der University of Virginia aus dem Jahr 2000 berichten 41 Prozent der Sterbenden von Visionen. Waren es ähnliche Präsenzen, wie sie meine Schwester in jener Nacht, als unser Vater starb, wahrgenommen hatte, die kommen, um verunsicherte, verängstigte Seelen zu trösten? 54 Prozent der Mitarbeiter jener Studie über die fünf Hospize berichteten von Patienten, die in zeitlicher Nähe zu ihrem Tod »Besuche« von verstorbenen Verwandten hatten. Pflegerinnen nutzten diese Visionen oft als informelle Anzeichen für ein baldiges Ableben.

»Wenn ein Patient sagt, er sei von einem ihm nahestehenden Verstorbenen ›besucht‹ worden, wissen wir, dass seine Zeit gekommen ist«, erzählte mir die frühere Notaufnahme-Schwester und jetzige Medizinerin Penny Sartori. Sie beschrieb das erste Mal, als sie dieses Phänomen erlebte. »Ich war damals noch in der Ausbildung. Bei einer Übergabe von der Nachtschicht sagten die Kollegen in völlig sachlichem Ton: ›So-und-so redet seit fünf Stunden mit seiner verstorbenen Mutter, er wird sich also bald verabschieden.‹ Ich dachte, die machen einen Scherz. ›Vielleicht sagen sie das nur, weil ich neu bin und sie mir einen Schrecken einjagen wollen‹, dachte ich. Ich schaute immer wieder nach diesem Patienten, und tatsächlich, er redete mit jemandem, den ich nicht sehen konnte. Er lächelte über das ganze Gesicht. Ein paar Stunden später starb er. Es war mir unheimlich, aber ich erkannte schnell, dass es ziemlich verbreitet ist.«

Die frühere Leiterin des Elisabeth-Kübler-Ross-Zentrums in Houston, Dianne Arcangel, erinnert sich an einen Fall, bei dem sie regelmäßig einen 80-Jährigen besuchte, der durch eine kongestive Herzinsuffizienz geschwächt war. Nichts deutete darauf hin, dass er bald sterben würde, doch eines Tages bat er seine Tochter, Dianne Arcangel anzurufen, um sie zu sich zu bitten. Als sie bei ihm war, berichtete er schüchtern, er hätte Besuch von seinem seit Langem verstorbenen Onkel gehabt, der ihm versichert habe, alles würde gut und er solle »Dianne fragen, wie es hier ist. Sie weiß es.« Arcangel war perplex; etliche Jahre zuvor hatte sie eine Nahtoderfahrung gehabt, und sie vermutete, die Botschaft der Onkel-Erscheinung bezöge sich darauf. Oder nicht? Passte eine geheimnisvolle Halluzination zufällig zu einem außergewöhnlichen Traum? Wie auch immer – sie entschied sich, dem Patienten ihre Nahtoderfahrung zu beschreiben und ihm zu versichern, dass ihn ein wundervoller Ort erwarte.

Laut den Forschungsarbeiten von Osis and Haraldsson berichteten von den 10 Prozent der Sterbenden, die in ihrer Todesstunde bei Bewusstsein waren, die meisten von solchen Visionen. In 83 Prozent der Fälle sahen sie Verstorbene oder religiöse Archetypen wie Engel (in den USA) oder Todesgeister (in Indien). Unklar bleibt, was die verbleibenden 17 Prozent sahen. Zwerge? Elefanten? Einen Becher heißen Kakao? Die Sterbenden scheinen jedenfalls eine deutliche Tendenz zum Geisterhaften zu haben. 61 Prozent der Patienten dieser Studie hatten keinerlei Beruhigungsmittel erhalten und 20 Prozent nur ganz leichte.

»Solche Erfahrungen können auch Menschen widerfahren, die überzeugt sind, wieder zu genesen, und überhaupt nicht bereit sind, sich zu ›verabschieden‹«, berichteten die Wissenschaftler.

Ein 56 Jahre alter Herz-Patient mit klarem Bewusstsein sah die Erscheinung einer Frau, die kam, um ihn abzuholen … Er wich nicht vor ihr zurück, er war nur ein bisschen ängstlich. Er sagte: »Da ist sie wieder, sie kommt mir näher.« Er wollte eigentlich nicht unbedingt gehen, aber er widersetzte sich auch nicht. Er wurde ruhiger. Diese Erfahrung machte ihn gelassener. Einen Tag später starb er.

Auf der Suche nach anderen möglichen Ursachen stellten Osis und Haraldsson fest, dass weniger als 10 Prozent der Patienten hohes Fieber hatten, was Halluzinationen auslösen kann. 12 Prozent befanden sich in einer Krankheitsphase, in der manchmal Halluzinationen auftreten, wie Schlaganfall, Gehirntrauma oder Urämie. Doch krankheitsbedingte Bewusstseinseinschränkungen »reduzierten die Anzahl der wohlwollenden Erscheinungen enorm«, berichten die Forscher. Je verwirrter oder stärker medikamentös beeinflusst die Patienten waren, desto geringer war die Wahrscheinlichkeit, dass sie eine tröstliche oder segensreiche Erscheinung wahrnahmen. Schätzungen zufolge verfällt in den USA ungefähr die Hälfte der Sterbenden zu einem gewissen Zeitpunkt in einen Zustand namens »präfinale Unruhe«6, der mit Rastlosigkeit, Angst und flackernden psychotischen Zuständen einhergeht. Zu den Ursachen gehören Organversagen und Opiat-Vergiftung. Meine in einem Krankenhaus in Nova Scotia unter Leber- und Nierenversagen leidende Schwiegermutter versuchte ängstlich, einem Ansturm von Schwarzbären zu entkommen. Ihre verwirrte Pein verfolgte meinen Mann noch monatelang.

Diese beiden Bewusstseinszustände – das Nahtod-Bewusstsein und die präfinale Unruhe – sind radikal verschieden. Ersterer geht mit einem klaren Bewusstsein und guter Orientierung einher und vermittelt eine tiefe Ruhe, in der oft Informationen über den Zeitpunkt des Ablebens auftauchen. Wie eine Schwester in einer britischen Studie beschreibt:

Wenn sie hohes Fieber haben und Dinge sehen, hat es mit Ängsten zu tun. Man kann sehen, dass sie sich fürchten, weil sie es nicht verstehen … Im Nahtod-Bewusstsein ist es jedoch eher wie ein Prozess, und wer ihn erfahren hat, geht auf eine andere Ebene über. Es ist wie eine Reise.7

Was bedeutet das? Was für ein Prozess? Es scheint, als würde ihnen etwas eröffnet, ein Zustand oder eine Ebene, die tiefe Sicherheit gibt und den Weg erhellt. In fast 80 Prozent der Fälle von Osis und Haraldsson schien die Aufgabe der Erscheinungen auf dem Sterbebett zu sein, die Patienten zu begleiten oder fortzuführen. Sofern es in den Visionen um noch lebende Personen oder Tiere ging, war dieses »Fortbegleiten« in keinem Fall ein Thema. Die Bären, die meine Schwiegermutter in ihrer durch Vergiftungen ausgelösten Psychose gequält hatten, luden sie nicht ein, mit ihnen über den Jordan zu gehen.

Die zwei Psychologen untersuchten auch den sogenannten »Mirage-Effekt«. Entsprangen die Besuche von Geschwistern, Onkeln und Engeln vielleicht einer Art Wunschprojektion, wie ein durstiger Reisender in der Wüste den Schimmer fernen Wassers zu sehen vermeint? Projizieren sich die Patienten vielleicht aus Angst vor der Auslöschung des Selbst einen Begleiter, der mit ihnen zum Abgrund geht?

Eine Reihe von Faktoren machen diese Erklärung weniger wahrscheinlich. Ängstliche oder unter Druck stehende Patienten neigten weniger dazu, Erscheinungen zu sehen als Patienten in ruhigerer Stimmung. Und wie gesagt, erfuhren auch etliche Patienten solche Visionen, die nicht damit gerechnet hatten, zu sterben.

Sind die Familien und das Personal, die Zeugen von Sterbebett-Visionen werden, vielleicht darauf eingestellt, Übernatürliches wahrzunehmen und die Sterbenden daher in diese Richtung zu ermutigen? Nein. Tatsächlich reagieren viele Familien eher entgegengesetzt im Sinne dessen, was ihnen die Schulmedizin als real verkauft.

Zum Beispiel in dem Fall von Barbara Cane, von der der Neurowissenschaftler Peter Fenwick folgende Geschichte erzählt: Cane saß am Bett ihrer 90 Jahre alten Mutter, die wegen einer Lungenentzündung im Dezember 2005 ins Krankenhaus gekommen war. Die alte Dame war bei klarem Verstand, ihre Sauerstoff- und Blutwerte waren den Aussagen der Schwestern zufolge stabil, und ihre Familie unterhielt sich über ihre Weihnachtspläne. Im Verlauf der Situation fing Canes Mutter an, »diese Leute« im Zimmer zu bemerken. Sie erwähnte sie ab und zu, sie schienen ihrem Bett näher zu kommen, nicht auf bedrohliche Weise, sondern ganz allmählich und sanft. »Schließlich«, erzählte Cane Fenwick, »sagte sie, sie würde am nächsten Tag nicht da sein, weil ›diese Leute ihr aufhelfen würden, wenn sie fiele, und sie auf eine Reise mitnehmen wollten‹.« Am folgenden Tag, Heiligabend, starb die kranke Frau. Die Cane-Familie beeilte sich, Fenwick zu versichern, es gäbe bestimmt eine medizinische Begründung für die Vision der Sterbenden. »Vielleicht wird da ein Gift im Gehirn freigesetzt, oder es lag an den Medikamenten, oder ihr fehlten bestimmte Stoffe im Blut – aber es war schon merkwürdig, so mitten in einem ganz normalen Gespräch, und dass sie so gut über ihren unmittelbar bevorstehenden Tod Bescheid wusste.«

Das eigentlich Merkwürdige ist meiner Ansicht nach jedoch, dass wir in einer Epoche der Menschheitsgeschichte leben, in der eine Familie, die beobachtet hat, wie ihre Mutter im Sterben nicht allein ist, meint, dem Arzt versichern zu müssen, es gäbe dafür sicherlich eine medizinische Erklärung.

An einem drückend heißen Sommernachmittag besuchte ich Audrey Scott, eine mir bis dahin unbekannte Frau, um sie zu interviewen. Ich hatte mit meiner Recherche für dieses Buch begonnen, und sie hatte Krebs im Endstadium – das war unsere Verbindung. Durch gemeinsame Freunde hatte sie mich eingeladen, sie zu besuchen.

Ich fand sie in ein leichtes Laken gewickelt auf einem ausgeliehenen Krankenhausbett in der Mitte ihres Wohnzimmers liegend, mitten zwischen knarrenden Sofas und vollgepackten Tischen. Ihr Gesicht war unter einem kühlenden Waschlappen verborgen, ihr Körper war schmal und leicht wie ein Vogel. Es fühlte sich an, als ob das Haus, in dem sie jahrzehntelang gelebt hatte, sie still und leise absorbierte.

Es war ein vollgestopfter Bungalow in einem winzigen Ort. Das Grundstück war von Ahornbäumen und Kiefern überschattet, Katzen räkelten sich in der Sonne, ab und zu rumpelte ein Auto vorbei. Audreys Körper verschwand allmählich – der Krebs hatte sich bereits in den Knochen ausgebreitet –, doch mit ihren 83 Jahren war ihr Verstand immer noch hellwach. An jenem Tag war sie damit beschäftigt, ein Buch, welches sie über einige Abenteuer in ihren jüngeren Jahren geschrieben hatte, von der Druckerei zurückzuerhalten, bevor sie endgültig das Bewusstsein verlieren würde. Sie wollte die Endfassung noch einmal prüfen.

Ich zog mir einen harten Holzstuhl an ihr Bett und setzte mich. Sie hob den Waschlappen ein wenig, um mich mit eindringlichen blauen Augen abzuschätzen. Ihre Haut war glatt und durchscheinend. Es war 35 Grad Celsius heiß, und ihre Stirn war schweißglänzend.

»Ich fühle mich geehrt, dass Sie mich kommen ließen«, sagte ich zu ihr. Wir hielten uns an den Händen und betrachteten einander offen und direkt. Angesichts des Sterbens neigt man dazu, sich nichts mehr vorzumachen.

Wir sprachen ein paar Minuten lang über ihr Buch, wie viel es kostet, ein Buch selbst zu verlegen, und andere praktische Dinge, als lernten wir uns in einem Café kennen und nicht an ihrem Sterbebett. »Ich will mein Buch nicht einfach nur Freunden und Verwandten hinterlassen«, betonte sie. »Es soll ein Bestseller werden.«

Ihr Buch bestand offenbar aus einer Sammlung von Briefen, die sie aus Europa nach Hause geschrieben hatte, als sie mit Anfang 20 ihre große Reise machte. Sie hatte es Bobbies, Blisters and Beaux genannt. Später erfuhr ich, dass diese Europareise in ihr eine lebenslange Begeisterung für Architekturgeschichte ausgelöst hatte. Sie hatte sogar ein Malbuch mit den viktorianischen Gebäuden von Wayne Gretzkys Heimatstadt Brantford, die ganz in ihrer Nähe lag, zusammengestellt.

War dieser Kommentar über ihren Bestseller ein echtes Verlangen nach Ruhm am Ende ihres Lebens, oder war es scherzhaft gemeint gewesen? Ich hatte keine Ahnung. Ich lernte sie ja erst kennen, als sie schon im Gehen war.

»Was sollen die Menschen aus Ihrer Sicht über das Sterben wissen, Audrey?«, fragte ich sie.

»Sie sollten keine Angst haben«, sagte sie, ohne zu zögern. (Nach dem anstrengenden Gespräch über ihr Buch hatte sie sich wieder den Waschlappen über die Augen gelegt und begann zu husten.) Sie sprach mit Nachdruck und einem Hauch von Ungeduld, vielleicht weil sie ihr Leben lang die Fragen ihrer 14 biologischen und adoptierten Kinder beantwortet hatte. »Das Leben erstreckt sich von der Geburt bis zum Tod; es gehört einfach alles dazu.«

»Erleben … oder sehen Sie irgendwas … Ungewöhnliches?«, fragte ich sie. Ich hatte mir die ganze Nacht den Kopf darüber zerbrochen, wie um alles in der Welt ich diese Frage formulieren könnte.

Sie schob sich den Waschlappen nach oben auf die Stirn und beäugte mich mit einer gewissen Vorsicht. »Ich sehe Dinge im Zimmer herumwirbeln«, bot sie mir an. »Es ist ganz unterhaltsam.« Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Mein Sohn Frankie besucht mich. Er sitzt dort.« Sie wies auf einen Sessel zu meiner Linken.

Unsere gemeinsame Freundin Judy, die sich diskret ans Fenster gestellt hatte, um unser Gespräch nicht zu stören, holte von dem Fensterbrett hinter Audreys Kopf einen alten, lackierten Fotorahmen aus den 1970ern mit dem Bild eines lächelnden jungen Mannes mit dicken, eckigen Brillengläsern und glattem Pony. Das war Frankie, ein Junge, den Audrey und ihr Mann adoptiert hatten, nachdem er durch einen Autounfall behindert worden war. Er war 2002 im Alter von 35 Jahren an Krebs gestorben, erklärte mir Judy später.

Ich hielt Audrey den Fotorahmen hin, sodass sie ihn auch sehen konnte, aber sie bekundete kein Interesse. Offenbar hatte sie keinen Bedarf für nostalgische Fotos, wenn der junge Mann doch eben noch dort im Sessel gesessen hatte. Ich versuchte vergeblich, einen leeren Platz auf einem Tisch zu finden, um das Bild abzustellen. Unsicher behielt ich Frankie in der Hand.

»Sehen Sie das im Traum oder im Wachzustand?«, fragte ich.

Sie zuckte die Schultern, offensichtlich war sie entschlossen, pragmatisch zu bleiben. »Mit all dem Morphin im Leib kann ich das, glaube ich, nicht mehr klar unterscheiden.«

»Spricht er mit Ihnen?«

»Wir haben über meine Bücher gesprochen.« Audrey gehörte zu der Sorte Mensch – und ich bin davon nur wenigen begegnet –, deren Interesse von solcher Intensität war, dass sie, selbst wenn sie sprach, noch zuzuhören schien. Sie sah oder träumte von niemand anderem, erklärte sie. Nicht von ihrem verstorbenen Mann oder ihren noch lebenden Kindern oder Freunden. Keine Bären, keine Marienerscheinungen. Aus welchem Grund auch immer begegnete ihr Frankie.

Ich fragte sie, ob sie etwas davon wissen wolle, was ich bislang über das Sterben herausgefunden hatte; ob ich zum Beispiel erzählen solle, was ich über Nahtoderfahrungen wisse. Ihre Aufmerksamkeit schien erregt, und sie nickte. Sie sei nicht so der Typ für die »Sonntagsschule«, wie sie es nannte, sie hoffe jedoch, an einen »Ort des Wohlbefindens« zu kommen. Ohne Schmerzen. Unter dem Waschlappen heraus schaute sie mich wieder prüfend an. Eine Katze schlich durch den Raum. Die Grillen zirpten im Hof.

Ich erzählte ihr, was andere über den Moment des Todes berichtet hatten, wie sie sich in Licht gehüllt, geliebt und sicher gefühlt hatten. An einem gewissen Punkt dieser kurzen Beschreibung bemerkte ich, dass ich vibrierte. Es war ein seltsames Gefühl. Ich spürte es nicht in der Kehle, wo der Kummer sitzt, sondern mehr in meinem Leib. Es war eher das Summen einer unpersönlichen Energie als eine nervöse Überreiztheit. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte – und ich weiß es immer noch nicht. Wir ordnen Erfahrungen sofort in bekannte Kategorien ein: Das ist Übelkeit, das ist Ärger, das ist Schmerz. Empfindungen, die für unser Gehirn nicht sofort zuzuordnen sind, verflüchtigen sich oft schnell. War es wirklich ein Vibrieren, oder nenne ich es nur so, weil ich keinen besseren Begriff dafür weiß? Vielleicht war ich einfach so von der Schwere und Bedeutung dessen, was ich erzählte, ergriffen, von meiner Verantwortung gegenüber einer Sterbenden, die mich anschaute und mir hoffnungsvoll lauschte.

Später beschrieb mir ein Freund, der ehrenamtlich in Hospizen geholfen hatte, ein seltsames Gefühl von einer Energie, die die Sterbenden umgibt. Er sei davon einmal fast in Ohnmacht gefallen. Die beste Freundin meiner Schwester übrigens auch, wie mir gerade wieder einfällt: Sie massierte Katharines Schläfen, als sie plötzlich spürte, dass sie sich sofort hinsetzen müsse, jetzt, direkt auf den Boden, um nicht umzufallen. Als ob man zu nah an einem Strudel sei oder an einem Brandungsrückstrom. Vielleicht hat es damit zu tun, dass sich die Lebenskraft zurückzieht.

»Ich danke dir dafür, Patricia«, sagte Audrey. »Ich werde jetzt ein wenig ruhen.«

Judy und ich gingen in ihren Garten und nahmen einen Karton mit ihren unveröffentlichten Texten und Büchern mit, die wir uns im Schatten anschauten. Sie hatte eine Reihe kleiner Bücher über ihre Adoptivkinder geschrieben und illustriert. Ihre Zeichnungen waren bezaubernd und die Verse dazu liebevoll. Mir wurde klar, dass sie einen großen Teil ihres Lebens der Umgestaltung der Lebensgeschichten gebrochener, verletzter Menschen gewidmet hatte: ein blindes, geistig behindertes Kind aus Indien; ein Mädchen, inzwischen mittleren Alters, mit der geistigen Kapazität einer Sechsjährigen; Frankie. War er jetzt zurückgekommen, um ihr auf ihrem Weg zu einer Art Heilung zu helfen?

Zehn Tage später starb Audrey, in ihrem Haus.

Ein Jahr nach den Todesfällen in meiner Familie flogen meine Mutter und ich nach Frankreich. Wir landeten in Paris, wo Katharine zur Welt gekommen war. Meine Mutter wollte eine Art Pilgerreise machen; sie wollte den Bogen nachvollziehen, den das Leben ihrer Tochter geschlagen hatte, und ich war ihre Zeugin. Hier, in der Rue de Bellechasse, war die Wohnung, in der meine Mutter im Sommer 1957 ihre zweite Tochter erwartet hatte. Hier war der kleine Park, in den sie Katharine im Kinderwagen schob. Hier in der schmalen Straße hatte ihr »Quecksilber-Kind« seinen ersten Wutanfall. Und hier war die Schule, in der meine stets charmante Schwester einen sehr französischen Preis für Coquetterie gewann.

Wir nahmen den Zug nach Bordeaux und fuhren zu den Kalksteinhöhlen in Südfrankreich, in denen so viele berühmte prähistorische Malereien gefunden worden waren. An dem Morgen, als wir die Höhlen besuchten, schüttete es wie aus Kübeln. Wir flüchteten in den Schutz des weiten, flachen Höhleneingangs und schüttelten unser nasses Haar aus. Die Höhle ersteckte sich anderthalb Kilometer weit in den felsigen Körper Frankreichs. Ein kleiner elektrischer Wagen würde uns in ihr lichtloses Inneres befördern, gesteuert von Führern, die, wie uns gesagt wurde, durch ihre ständigen maulwurfsartigen Reisen unter Tage hin und wieder den Verstand verloren.

Der Wagen ruckelte vom Eingang fort in die Dunkelheit, einer wackligen Spur folgend und ab und zu anhaltend. Unsere Führerin stieg dann mit ihrer Taschenlampe aus und erleuchtete die nahen Felswände. In dem blassen Lichtstrahl sahen wir, dass jemand hier während der Französischen Revolution etwas in den Fels geritzt hatte. »Pierre war hier« – so etwas in der Art. Ein Anflug von Zeitreise. Wir fuhren noch fast einen Kilometer weiter durch die Dunkelheit, bevor die wahren Tiefen der Geschichte sich in dem tanzenden Licht der Lampe offenbarten. Höhlenbären hatten sich hier Kuhlen in den Stein gekratzt, so breit wie Jacuzzis. Vor 17.000 Jahren legten sich Menschen in diese Kuhlen und zeichneten perfekte, großartige Kunstwerke an die Höhlendecke. Die Lampe der Führerin wanderte hin und her, und wir starrten staunend auf die bezwingenden Bilder. Klare, sichere Linien – wenn man bei Feuerschein mit Kohle auf Kalkstein arbeitet, gibt es kein Vertuschen. Nur ein Versuch, ein altes Mammut mit hinkendem Bein erscheinen zu lassen, oder ein offensichtlich temperamentvolles Pferd. Perspektive, Dynamik, eine Art natürliche Sixtinische Kapelle.

Wer weiß, was sie damit beabsichtigten, so tief in einer Höhle solche Kunstwerke anzulegen? Kannten sie die Malereien in Chauvet in der Ardèche, die mindestens 15.000 Jahre zuvor entstanden waren? Diese Künstler waren keine Amateure, so viel ist klar. Manche Forscher meinen, in ihren Zeichnungen eine frühe Version von Animation zu erkennen – mehrere Beine, die so gezeichnet sind, dass sie im flackernden Licht der Fackeln eine fließende Bewegung erscheinen lassen. Sie waren kluge Köpfe. Später besuchten wir das französische prähistorische Museum und sahen eine Ausstellung, in der behauptet wurde, die »Höhlenmenschen« seien nicht mit zerzaustem, struppigem Haar herumgesprungen, sondern hätten sich gezielt frisiert. Natürlich taten sie das. Wenn sie solche Kunstwerke hervorbringen und Elfenbeinflöten schnitzen und spielen konnten, dann konnten sie auch ein visuelles Konzept von Stil entwickeln.

An dieser Stelle traf mich mit voller Wucht die Erkenntnis, welch ungeheures Vorurteil darin steckt, anzunehmen, vor dem Zeitalter der Aufklärung seien alle Menschen beschränkt gewesen. Gefangen in der Idee von Evolution als einer Art linearem Prozess von buckligen Einfaltspinseln zu aufrechten Staatsbürgern, haben wir die Möglichkeit aus den Augen verloren, unsere vor- und frühgeschichtlichen Vorfahren könnten klug beobachtend, skeptisch, humorvoll und weise gewesen sein. So können wir annehmen, Spiritualität sei von einer abergläubischen Bevölkerung aus Abwehr gegen Todesängste entstanden. Die Vorstellung, die spirituelle Welt sei den Menschen selbstverständlich gewesen – den Sterbenden, ihren Familien, ihren Schamanen –, ist dem wissenschaftlich geprägten Denken fremd geworden. In den französischen Kalksteinhöhlen begann ich mich zu fragen, ob diese Haltung eigentlich belegbar oder ein reines Vorurteil ist. Was wissen wir wirklich über spirituelle Erfahrungen?

»Was den Geist betrifft«, erzählte mir der Wissenschaftsjournalist Jeff Warren, der viel über Neurologie und Bewusstsein geschrieben hat, »wissen wir nicht, ob ihn das Gehirn erzeugt oder überträgt. Bringt das Gehirn den Geist hervor, wie eine Lampe Licht erzeugt? Oder wirkt es eher wie ein Prisma oder eine Linse, die ein bereits existierendes Phänomen in das volle Spektrum unserer Persönlichkeit projiziert? Viele Philosophen haben argumentiert, es sei zumindest theoretisch möglich, dass der ›Geist‹ – die Fähigkeit zur Erfahrung – eine Art grundlegende kosmische Komponente ist, wie Zeit und Raum. Neurologische Aktivitäten als solche sagen nichts darüber aus, welche Art von Funktion der Wahrheit entspricht.«

Wie können wir dieser Frage nachgehen? Die frühesten wissenschaftlichen Forschungen, von denen wir wissen, versuchten nicht, die Existenz der Seele nachzuweisen. Dies war selbstverständlich; sie wollten vielmehr wissen, wo sie verankert ist. Wo steckte das »Prisma« oder die »Linse«? Der im 3. Jahrhundert v.u.Z. lebende griechische Arzt Herophilus von Alexandrien ist als erster Mensch bekannt, der menschliche Leichen aus Interesse sezierte. Ein Teil seiner Neugier galt dem Sitz der Seele. Er beschloss, sie säße im vierten Hirnventrikel. Das war eine radikale Abkehr vom klassischen ägyptischen Verständnis, dass die Seele im Herzen sitzt. Dieser herzzentrierten Sicht folgend, wurde den Leichen bei der Mumifizierung das (unwichtige) Gehirn entfernt, während das Herz sorgfältig dringelassen wurde, damit es der Gott Anubis wiegen könne.

Im 1. Jahrhundert u.Z. forderte Kaiser Hadrian den Rabbi Joshua ben Hananiah auf, ihm den »Seelenknochen« zu zeigen, dessen Existenz einige jüdische Autoritäten behauptet hätten. Dieser »Luz« genannte Knochen solle irgendwo im Bereich der Wirbelsäule sein. Sein besonderes Merkmal war seine Unzerstörbarkeit.

»Er brachte einen«, schrieb Hadrian später, »und warf ihn ins Feuer, aber er verbrannte nicht. Er tat ihn in eine Mühle, aber er wurde nicht zermahlen. Er legte ihn auf einen Amboss und schlug mit dem Hammer darauf. Der Amboss zerbrach, und der Hammer zersplitterte, aber der Luz blieb unversehrt.« Dieser Bericht ließ viele Männer jahrhundertelang nach dem »Luz« suchen. Manche vermuteten ihn im Sacrum, manche im Steißbein und manche im Sesamknochen der großen Zehe.

Im 2. Jahrhundert entwickelte der römische Arzt Galen, der unter anderem die Gladiatoren versorgte (und so oft wie möglich in ihre aufgerissenen Leiber spähte), die Theorie, die Seele würde das Bewusstsein auf ähnliche Weise beleben, wie die römischen Badehäuser beheizt würden. Die Menschen würden mit dem Atem auch die Seelenkraft der Welt aufnehmen, und dieser Spiritus flösse dann wärmend und kühlend durch die Röhren und Organe und bewirke verschiedene Funktionen, zum Beispiel die Verdauung.

René Descartes wühlte Hunderte von Stunden in den Kadavern von Kühen herum, um dem Sitz der Seele auf die Spur zu kommen. Schließlich beschloss er, sie sitze irgendwie in der Zirbeldrüse oder würde durch diese empfangen oder übertragen. Heute wissen wir, dass die Zirbeldrüse das Melatonin-Niveau regelt. Descartes glaubte, der Geist ströme zu der Zirbeldrüse hin und von ihr aus durch ein Nervensystem, welches er mit einer Kirchenorgel verglich, mit winzig kleinen Blasebälgen.

Der im 19. Jahrhundert lebende Anatom Franz Gall aus Wien war einer der Ersten, die dem Bewusstsein einen etwas diffuseren Ort zuwiesen. Seine Vermutungen waren zwar grundsätzlich richtig, doch im Detail lag er eher daneben. Zum Bespiel meinte er, im Gehirn gäbe es 27 einzelne Organe, darunter ein »Organ für dichterische Begabung«, ein »Organ für Metaphysik« und ein »Organ für Besitzinstinkt und das Horten von Nahrungsmitteln«. Die am stärksten entwickelten Organe würden gegen den Schädel drücken und wahrnehmbare Beulen verursachen. Gall hatte eine Sammlung von 221 Schädeln, an denen er seine Ansichten demonstrierte. Als Beweis für den Sitz des »Organs für den Glauben an die Existenz Gottes« verwies er auf eine Reihe von Raphael-Gemälden, auf denen Christus oben auf dem Schädel eine deutliche Beule aufweist. Seine Theorien führten zu der explosiven Ausbreitung der Popularität der Phrenologie, der Zuordnung bestimmter Hirnareale und Schädelformen zu Charakter- und Geistesgaben.

Mitte des 19. Jahrhundert beschloss ein neugieriger amerikanischer Arzt namens Duncan MacDougall, zu versuchen, die Seele durch Wiegen zu verorten. Er schaffte es, sich die Zustimmung einiger Patienten zu verschaffen, die in einem Heim für Schwindsüchtige in Dorchester, Massachusetts, an Tuberkulose starben. Als der erste dieser Patienten kurz vor dem Sterben war, legte ihn Duncan auf eine Bahre, die auf eine Waage montiert war, und wartete dann geduldig auf seinen letzten Atemzug, um in genau diesem Augenblick auf den Zeiger der Waage zu schauen. So kam er zu dem Schluss, dass die Seele 21 Gramm wiegt (wie in dem gleichnamigen Hollywood-Film).

Um dieselbe Zeit, Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts, begannen andere Forscher die Frage auf den Kopf zu stellen. Statt anzunehmen, die Seele existiere, und zu versuchen, sie körperlich zu verorten, widmeten sie sich der Frage, ob es die Seele überhaupt gibt. Dafür verwendeten sie aus Beobachtungen abgeleitete Schlussfolgerungen. Eine brauchbare wissenschaftliche Analogie sind vielleicht Methoden, die in der Astronomie angewandt werden. Astronomen, die durch ein Teleskop schauen, sehen kein schwarzes Loch. Sie leiten dessen Existenz ab, weil sie beobachten, dass etwas in gewissen Teilen des Universums eine enorme Schwerkraft auf die Planeten und Sterne ausübt, und sie sich fragen, was das sein könnte. In ähnlicher Weise beobachten Ärzte und Wissenschaftler, dass Sterbende unter dem Einfluss von irgendetwas stehen, was sich nicht durch Medikamente, Körperchemie oder einen körperlichen Zustand erklären lässt. Was kann das sein?

Der erste zeitgenössische Bericht über Visionen auf dem Sterbebett stammt von Lady Florence Barrett, einer der ersten Gynäkologinnen, die mit einem Arzt des Royal College of Science in Dublin verheiratet war. Am 12. Januar 1924 stand Lady Barrett einer Frau namens Doris im Wochenbett bei, die aufgrund von Komplikationen und Blutverlust im Sterben lag. Lady Barrett schrieb später:

Plötzlich schaute sie sehr interessiert in eine bestimmte Ecke des Raums, und ein strahlendes Lächeln breitete sich über ihr ganzes Gesicht aus. »Oh, wie wundervoll, wundervoll«, sagte sie.

Ich fragte: »Was ist wundervoll?«

»Was ich sehe«, antwortete sie mit leiser, nachdrücklicher Stimme.

»Was sehen Sie?«

»Wundervolles Licht – wundervolle Wesen.« Es ist schwer, die Echtheit zu beschreiben, die ihre intensive Versunkenheit in die Erscheinung vermittelte. Dann schien sie ihren Fokus einen Moment lang stärker auf einen Ort zu fokussieren – und rief dann plötzlich: »Ach, es ist Vater! Oh, er freut sich so, dass ich komme, er freut sich so! Es wäre perfekt, wenn nur W. [ihr Mann] auch kommen könnte.«

Doris sprach mit den Anwesenden darüber, ob sie vielleicht um des Kindes willen bleiben solle. Doch dann sagte sie: »Ich kann nicht – ich kann nicht bleiben; wenn ihr sehen könntet, was ich sehe, würdet ihr verstehen, dass ich nicht bleiben kann.«

Dann sah Doris etwas, was sie verwirrte: »Er hat Vida bei sich«, erzählte sie Lady Barrett. Ihre Schwester Vida war drei Wochen zuvor gestorben, doch man hatte es wegen ihrer fortgeschrittenen Schwangerschaft vor Doris verheimlicht. »Vida ist bei ihm«, wiederholte sie verwundert.

Nachdem er von seiner Frau von diesem Ereignis erfuhr, beschloss Sir William Barrett, die Sache formell zu untersuchen. Er holte von allen im Raum Anwesenden schriftliche Berichte ein: von Lady Barrett, der Krankenschwester, dem diensthabenden Arzt, der Oberschwester Miriam Castle und von Doris’ Mutter Mary Clark of Highbury. Die Berichte bestätigten sich gegenseitig, was den zu diesem Zeitpunkt im Ruhestand befindlichen Sir William veranlasste, andere Fälle zu untersuchen, die er 1926 unter dem Titel Deathbed Visions publizierte. Dieses Buch inspirierte dann später Osis und Haraldsson, amerikanische und indische Sterbebett-Visionen zu vergleichen. (Wie die meisten Menschen, die sich diesem Thema widmen, entsprang auch Osis’ Motivation einer eigenen Erfahrung des Phänomens. Er war als Jugendlicher in Litauen Zeuge der Sterbebett-Visionen seiner Tante gewesen.)

Seitdem scheint sich das Forschungsinteresse in dialektischen Wellen entwickelt zu haben: einem Aufflammen des wissenschaftlichen Interesses Ende des 19. Jahrhunderts, dem Anfang des 20. Jahrhunderts eine Zeit der Rückschläge folgte. Und auch nach einer Fülle von Studien in den 1960ern und 1970ern kam wieder eine Zeit des Rückzugs.

Das Phänomen der sogenannten »terminalen Geistesklarheit« – ein Bewusstseinszustand, in dem Menschen mit schweren geistigen Erkrankungen oder Demenz kurz vor ihrem Tod plötzlich wieder ganz klar sind – fiel zuerst in den Irrenanstalten des 19. Jahrhunderts auf. Alle psychotischen oder amnestischen Symptome lösen sich dabei auf. Sie erkennen ihre Familie wieder – manchmal seit Jahren zum ersten Mal. Sie können sich orientieren und verabschieden. In Deutschland, Frankreich und den USA wurde dies von den Irrenärzten, wie sie damals genannt wurden, dokumentiert. Die Diskussion darüber schlief jedoch ein, bis in den 1970ern in der UdSSR ein Artikel darüber erschien. Nachdem die Hospiz-Bewegung populärer wurde, begannen auch in den USA immer mehr Pfleger und Ärzte dergleichen zu bemerken.

Elisabeth Kübler-Ross korrespondierte mit Karlis Osis über ihrer beider Beobachtungen von Schizophrenen und Schlaganfall-Patienten, die eine Stunde bis zu einem Tag vor ihrem Tod plötzlich klar und orientierungsfähig wurden.

2007 schrieb der Arzt Scott Haig einen Bericht über seinen Patienten David, dessen Lungenkrebs sich aggressiv im Gehirn ausgebreitet hatte. Davis Sprache wurde zunächst schleppend und dann unzusammenhängend. Die Krebszellen verdrängten die Gehirnzellen, und er verlor allmählich völlig seine Fähigkeit zu sprechen und dann auch, sich zu bewegen. Ein Hirn-Scan seines Onkologen zeigte, dass kaum noch Hirnmasse vorhanden war. »Die zerebrale Maschinerie, die spricht und staunt, winkt und singt, die sich an Witze, an Geburtstage und an Plätze, wo an heißen Tagen die Fische gut beißen, erinnert, war praktisch verschwunden«, schrieb Haig. »An ihrer Stelle saßen nur noch Klumpen von wild wachsendem grauem Zeugs.« Lungenkrebszellen. Der Patient zeigte tagelang »keinen Ausdruck, keine Reaktion auf irgendetwas, was wir mit ihm machten«.

Als Haig eines Freitags seine Abendrunde durch seine Station drehte, bemerkte er, dass David angefangen hatte, agonal zu atmen – jenes Schlucken und Nach-Luft-Schnappen, welches mit dem aktiven Sterbeprozess einhergeht. Doch etwa eine Stunde, bevor er dann starb, erwachte er und sprach ruhig und schlüssig mit seiner Frau und seinen drei Kindern, lächelte sie ein Weilchen an, streichelte ihre Hände und kehrte dann zu seinem Sterbeprozess zurück.

Haig schrieb: »Sein Gehirn stand David nicht zur Verfügung, um sich an jenem Freitag zu verabschieden. Sein Gehirn war bereits zerstört.« Was war es dann?

In einem anderen Beispiel berichtet der Psychiater Russell Noyes von einer 90 Jahre alten Frau, die durch zwei Schlaganfälle unfähig war, zu sprechen oder sich zu bewegen. Doch kurz vor ihrem Tod durchbrach sie plötzlich diesen Zustand. Sie lächelte angeregt, wandte den Kopf, setzte sich mühelos auf, hob die Arme und rief glücklich ihrem bereits verstorbenen Mann etwas zu. Dann legte sie sich zurück und starb. Ob die Wahrnehmung ihres Mannes eine Halluzination war oder nicht – viel erstaunlicher ist, wie es ihr auf einmal wieder möglich war, zu sprechen und sich zu bewegen.

Die Hospiz-Ärztin Pamela Kircher aus Colorado schrieb in den 1990ern über ihre erste Begegnung mit terminaler Geistesklarheit bei einem Patienten mit fortgeschrittener Demenz. Zu jenem Zeitpunkt hatte sie jedoch noch keinen Begriff dafür, denn ihre medizinische Ausbildung hatte sie in keiner Weise auf so etwas vorbereitet. »Es war eine sehr wichtige Lernerfahrung für mich«, berichtet sie. »Ich hatte immer angenommen, jemand mit so starker Demenz wäre unfähig, in seinem Leben je wieder Kontakt mit anderen Menschen zu haben.«

Die Hospiz-Versorgung steht nach wie vor nur einem gewissen Anteil der Bevölkerung zur Verfügung, auch wenn es seit der Zeit, als Maggie Callanan und Patricia Kelley 1992 den Begriff des Nahtod-Bewusstseins prägten, immer mehr geworden sind. In jenem Jahr konnten 28 Prozent der US-Amerikaner in einer Hospiz-Einrichtung sterben. 2011 waren es schon 44,6 Prozent. In Großbritannien sind es weniger: 2008 starben unter 20 Prozent der Briten außerhalb von Krankenhäusern. In Kanada sind es ungefähr 30 Prozent. Die Hospiz-Bewegung verhilft allmählich immer mehr Menschen zu der in Vergessenheit geratenen Erfahrung eines Sterbens im Familienkreis, und die damit Verbundenen stellen die vom Maschinenzeitalter geprägten Annahmen des 20. Jahrhunderts zunehmend infrage.

Doch gleichzeitig verdanken wir diese Wende in gewisser Weise auch den Maschinen. Das heutige Sterben unterscheidet sich vom Sterben in früheren Zeiten vor allem durch die medizinischen und pharmazeutischen Möglichkeiten der Schmerzkontrolle. Wir könnten uns einer Zeit in der Menschheitsgeschichte nähern, in der wir zum ersten Mal das körperliche Leiden lindern können, ohne das Bewusstsein zu beeinträchtigen. So können uns die Sterbenden vielleicht endlich mitteilen, was sie empfinden und was sie über die ihnen bevorstehende Reise erahnen.

Aber woher erfahren sie eigentlich, wohin sie gehen? Dieser Frage – so beunruhigend sie auch sein mag – wollen wir uns als Nächstes widmen. Von den Toten? Was geschah tatsächlich in jener Vorfrühlingsnacht, als mein Vater starb?

Blick ins Jenseits

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