Читать книгу Dr. Norden Bestseller Staffel 3 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 6

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Dicht lag der Nebel über dem Flugplatz. Die riesige Düsenmaschine kreiste schon zwanzig Minuten über der Stadt. Ein anderer Platz hatte nicht angewiesen werden können, denn überall herrschte der gleiche dichte Nebel. In Rom war man bei strahlendem Sonnenschein abgeflogen, und nun das.

Die Besatzung wusste schon, dass mit Schwierigkeiten zu rechnen war. Die Passagiere wussten es nicht.

Der Winter neigte sich zwar dem Ende zu, aber es wurde sehr früh dunkel, und einige Minuten Verspätung musste man einkalkulieren. München war nicht Rom, wo der Frühling sich schon sehr deutlich bemerkbar machte.

»Wenn das nur gut geht«, murmelte die Stewardess Gwendolin, die von ihren Kollegen Wendy genannt wurde. Sie war ein apartes Mädchen mit tiefschwarzem Haar und leuchtend blauen Augen. Sie hatte sich oft gegen mehr oder minder eindeutige Anträge männlicher Fluggäste zu wehren, doch für Wendy gab es nur einen Mann, und der trug jetzt die Verantwortung für einhundertdreißig Menschen.

»Du wirst doch nicht nervös werden«, sagte die blonde Anja, die das fröhliche Pendant zu der sanften Gwendolin war. »Die Passagiere werden nämlich schon hektisch. Wir werden zu tun bekommen.«

Ja, es machte sich Nervosität breit. Die Stewardessen wurden mit Fragen bestürmt und gaben immer die gleiche beruhigende Antwort, dass man noch auf die Landeerlaubnis warten müsse.

Flugkapitän Holger Herwart fluchte leise vor sich hin.

»Lange können sie sich jetzt nicht mehr Zeit lassen«, sagte er. »In spätestens zehn Minuten müssen wir unten sein.«

»Aber wie«, brummte sein Kopilot Conny Dahm. »Adieu, Fränzi.«

»Halt die Goschen«, fauchte ihn Holger an. »Es ist nicht das erste Mal …«, er sprach nicht weiter, sondern lauschte angestrengt auf die Kommandos.

Unter den Fluggästen befand sich eine schlanke junge Frau, deren tiefgebräuntes Gesicht verriet, dass sie aus noch weit südlicheren Gefilden als Rom kommen musste. Sie saß still, mit gefalteten Händen, ganz in sich versunken auf ihrem Platz und zeigte keinerlei Nervosität. Wie es in ihrem Innern aussah, hätte niemand ergründen können.

Vielleicht soll es so sein, dachte Miriam Perez. Vielleicht ist es für mich sogar besser so, wenn alles schnell zu Ende ist. Aber die anderen, dachte sie dann und hob den Kopf, als ein Schluchzen an ihr Ohr drang. Neben ihr saß ein junges Mädchen, höchstens sechzehn Jahre alt.

Sie war während des ganzen Fluges genauso still gewesen wie Miriam, und diese hatte das als sehr angenehm empfunden. Sie selbst war nicht von mitteilsamer Natur und mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Manche Menschen waren so geschwätzig, dass sie lästig werden konnten.

Jetzt aber siegte ihr Mitgefühl. Sie griff nach der Hand des Mädchens, die eiskalt und feucht war.

»Nicht aufregen«, sagte sie beruhigend. »Wir werden bald landen.«

»Ich fürchte mich so«, schluchzte das Mädchen. »Es geht schief. Ich werde Papi nie wiedersehen, und ich habe mich doch so auf ihn gefreut.«

»Sie werden Ihren Papi bestimmt wiedersehen«, sagte Miriam tröstend. Sie hatte im Augenblick vergessen, welche Gedanken sie eben noch gehegt hatte.

»Kann ich behilflich sein?«, fragte Wendy leise.

»Vielen Dank«, erwiderte Miriam. »Ich bin Ärztin. Ich kann mich um die junge Dame kümmern.«

Mit tränenfeuchten Augen blickte das Mädchen sie an. »Sie können ruhig du zu mir sagen. Ich bin erst fünfzehn.«

Miriam legte ihren Arm um das zarte Geschöpf und fühlte durch den dünnen Pullover nur Kochen und dann einen Arm, den sie fast mit der Hand umschließen konnte.

Jetzt machte sie sich Vorwürfe. Da bin ich nun schon so lange Ärztin, dachte sie. Eigentlich hätte ich merken müssen, dass da ein krankes Wesen neben mir sitzt. Aber sie war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, und nun in den Sekunden wirklicher Gefahr erst erwachten ihre Lebensgeister wieder.

»Ich heiße Carolin«, flüsterte das Mädchen. »Papi nennt mich Carry. Er wartet auf mich. Endlich darf ich zu ihm und nun …«

»Pssst«, machte Miriam. »Nicht so schwarz sehen, Kleines. Ich habe schon sehr viel stürmischere Flüge erlebt, und wie du siehst, lebe ich immer noch.« Aber wie, dachte sie für sich. Doch sofort dachte sie dann wieder nur an dieses noch halbe Kind an ihrer Seite, das sich jetzt angstvoll an sie klammerte.

»Nonna wollte mich nicht zu Papi lassen«, sagte Carry stockend. »Oh, sie hat immer so böse von ihm gesprochen, und bestimmt trifft mich ihr Fluch, dass ich ihn nie wiedersehen soll.«

»Kind«, sagte Miriam erschüttert, »denk nicht so was.«

Nonna nannte man in Italien die Großmutter, und für Miriam war ihre Großmutter der Mensch, den sie in liebevollster Erinnerung behalten hatte.

»Sie hat das Flugzeug verflucht«, flüsterte Carry. »Bestimmt hat sie das. Sie wird nie richtig tot sein, ihr Hass bleibt lebendig. Das hat sie selbst gesagt.«

»Meine Damen und Herren, Ladies und Gentlemen«, sagte da Wendys Stimme, »wir setzen jetzt zur Landung an. Wir bitten Sie, Ruhe zu bewahren. Wegen der Schlechtwetterlage haben wir keine guten Bedingungen. Ich bitte Sie, sich vornüber zu kauern und die Gurte so fest wie möglich zu ziehen. Bitte, geraten Sie nicht in Panik. Unser Flugkapitän hat sehr viel Erfahrung und wird bemüht sein, alle Schwierigkeiten zu meistern.«

Totenstille herrschte eine Sekunde, dann hörte man Schluchzen, Gebete und Flüche durcheinander, und niemand wusste wohl selbst so recht, was er tat und sagte.

*

Jonas Henneke rannte wie ein gefangener Tiger in der Halle des Flughafens hin und her. Sein flächiges, markantes Gesicht war kreidebleich. Seine Hände zu Fäusten geballt, bohrten sich in die Manteltaschen. Carry, dachte er, Liebling, ich will dich behalten, ich will dich endlich wiedersehen, für mich allein. Es darf nichts geschehen. Herrgott, beschütze mein Kind. Lass es nicht zu, dass ein Unglück geschieht. Ich will Carry nicht verlieren, ich will ihr alle Liebe geben, die ich ihr bisher nicht geben konnte.

Und wie er dachten viele in dieser Halle an andere geliebte Menschen, die sehnsüchtig erwartet wurden.

Und auch anderswo waren Menschen in Sorge. Dr. Daniel Norden war im Schritt durch den Nebel heimgefahren. Man konnte kaum die Hand vor den Augen sehen. Als er aus einem Wagen stieg, hörte er das dumpfe Motorengeräusch des Flugzeuges und blickte unwillkürlich zum Himmel, von dem man aber nichts sehen konnte. Undurchdringlich waren die Nebelschwaden.

Mein Gott, ging es ihm durch den Sinn, da wird doch kein Unglück geschehen. Wie soll sie denn herunterkommen bei diesem gemeinen Wetter?

Seine Frau Fee empfing ihn mit einem erleichterten Lächeln.

»Gott sei Dank, dass du heil da bist«, sagte sie, »und wie bin ich froh, dass vorgestern nicht solch ein scheußlicher Nebel war, als Katja und David aus London kamen.«

»Da oben kreist eine Maschine«, sagte Daniel Norden gedankenvoll. »Hoffentlich kann man sie an einen anderen Platz weiterleiten.«

»Vorhin sagten sie im Radio, dass die Flughäfen Frankfurt und Nürnberg auch gesperrt seien, und wahrscheinlich sieht es auf anderen Plätzen auch so aus«, sagte Fee. »Schrecklich! Ich möchte nicht wissen, was diese Leute für Angst ausstehen, die in solcher Maschine sitzen. Da kann man schon froh sein, wenn man sich nicht um einen Angehörigen sorgen muss.«

»Es ist einfach abscheulich, dass da aller technischer Fortschritt versagt und man nur auf den Allmächtigen die letzte Hoffnung setzen kann«, sagte Daniel. »Wollen wir hoffen, dass wir nicht eine Schreckensnachricht hören müssen, Liebes.«

Er ahnte nicht, dass in jenem Flugzeug eine Frau saß, die in diesem Augenblick an ihn dachte.

Du hast einmal zu mir gesagt, Daniel Norden, dachte Miriam Perez, solange Leben in einem Menschen ist, darf man die Hoffnung nicht aufgeben.

Sie hielt ihren Arm schützend über Carry. Sie dachte nicht an ihr eigenes Leben. Mit diesem hatte sie doch eigentlich schon abgeschlossen. Mit ihrem Körper wollte sie Carry schützen, die sich nach ihrem Vater sehnte und vor Angst bebte. Carry, die den Fluch der Nonna fürchtete und sich an Miriam klammerte, die doch vor wenigen Stunden noch eine Unbekannte für sie gewesen war. Miriam hatte in wenigen Minuten erfahren, dass Carry sich niemals in die liebevollen Arme einer Mutter hatte flüchten können, Carrys Mutter war kurz nach deren Geburt gestorben. Miriam hielt jetzt dieses junge Geschöpf fest an sich gepresst, ohne noch an sich oder irgendjemand zu denken, der ihr selbst nahegestanden hatte und hatte nur einen Gedanken, dass diese junge Carry ihren Vater wiedersehen müsse, nach dem sie sich sehnte, nach dem sie immer wieder rief. »Papi, Papi, liebster Papi«, ein Kind voller Angst war sie, und doch hörte ihre Stimme nur Miriam, denn in dem Dröhnen der Maschinen und dem Geschrei angstvoller und auch in Hysterie ausbrechender Menschen ging diese zitternde Stimme unter.

Herr, betete Miriam im Stillen, beschütze dieses Kind. Nimm mein Leben für ihres. Mich wird niemand vermissen, und mir kann doch niemand helfen, auch nicht Daniel.

Nein, auch sie wurde sich nicht bewusst, welche Gedanken sie bewegten, als die Maschine nun hart aufsetzte und über die Landebahn holperte. Zusammengekauert hockten sie alle, bis die Maschine zum Stehen kam. So recht begreifen konnte es wohl keiner, dass sie nun aussteigen konnten, zitternd, bleich die meisten, doch manche schon wieder lächelnd, als hätten sie nicht auch gezweifelt und Angst gehabt.

»Na also«, brummte Holger Herwart, »nun kannst du dich mit deiner Fränzi amüsieren, Conny.«

Conny murmelte etwas Unverständliches, aber jetzt mussten auch sie beide zum Ausgang, um den schwankenden Passagieren zu helfen.

Holger warf Wendy nur einen kurzen Blick zu, fing ihr dankbares Lächeln auf und zwinkerte ihr aufmunternd zu.

Eine junge Frau fiel Holger um den Hals und küsste ihn spontan ab. »Danke, tausend Dank«, sagte sie bebend und manche Hand mussten sie drücken, bevor einer nach dem anderen durch die Nebelschwaden auf das Gebäude zuwankte, dessen helle Beleuchtung nun gewiss machte, dass das Ziel erreicht war.

Miriam und Carry gingen zuletzt die Gangway hinab.

»Bleib bei mir, Miriam«, flüsterte Carry. So nahe waren sie sich in wenigen Minuten gekommen, dass ihr das Du ganz leicht von den blassen bebenden Lippen kam.

»Nun wirst du deinen Papi gleich wiedersehen«, sagte Miriam weich.

»Er muss dich kennenlernen. Ich will ihm sagen, wie du mir geholfen hast. Oh, ich danke dir so sehr.«

Gibt es das, fragte sich Miriam. Da saß man Stunden nebeneinander, ohne ein Wort miteinander zu sprechen, und nun war es, als würden sie sich eine Ewigkeit kennen. Aber waren diese Minuten der Angst nicht eine Ewigkeit gewesen? Und hatte sie nicht nur Angst um dieses Mädchen gehabt?

In der Halle fielen sich Menschen in die Arme, manche stumm, manche schluchzend und manche mit erleichtertem Lachen. An sein Gepäck dachte kaum jemand. Und dann war da plötzlich ein großer breitschultriger Mann, der Carry an sich riss und ihr kleines bleiches Gesicht mit zärtlichen Küssen bedeckte.

»Mein Liebes, mein Kleines, Herrgott, ich danke dir, dass ich sie wiederhabe.«

Miriam hörte diese tiefe, erregte Stimme, sie sah den Mann, zu dem ein solcher Gefühlsausbruch gar nicht recht passen wollte. Hätte sie Jonas Henneke unter normalen Verhältnissen kennengelernt, hätte sie ihn als einen harten, nüchternen Mann eingeschätzt.

»Miriam hat mir so geholfen, Papi«, sagte Carry. »Ich wäre vor Angst gestorben, wenn sie nicht bei mir gewesen wäre.«

Graue glasklare Männeraugen blickten nun Miriam an, verwundert und ungläubig war ihr Ausdruck. Es war ein ganz eigenartiger Augenblick, als er geistesabwesend seinen Namen sagte, seltsam auch, dass er Miriam sofort im Gedächtnis blieb, obgleich dies ganz selten der Fall war.

»Ich danke Ihnen«, sagte er mit so ernstem Nachdruck, dass sie von einem unerklärlichen Gefühl erfasst wurde. Er sagte es so, als sei er überzeugt, dass sie Carry tatsächlich das Leben gerettet hatte.

»Der Dank gebührt unserem Piloten«, erwiderte sie stockend.

»Nicht allein«, sagte er leise. »Darf ich Ihren Namen erfahren?«

»Miriam Perez«, entgegnete sie.

»Miriam ist Ärztin«, warf Carry ein, und ihre Stimme klang jetzt schon ein bisschen sicherer. »Bitte, komm mit zu uns, Miriam.«

»Aber das geht doch nicht, Kleines«, sagte Miriam unsicher.

»Sie werden erwartet?«, fragte Jonas Henneke.

Nein, auf sie wartete niemand. Es gab keinen Menschen, der wusste, dass sie sich in dieser Maschine befunden hatte. Wäre diese nicht sicher gelandet …, sie konnte nicht zu Ende denken, denn Jonas sagte: »Ich bitte Sie sehr herzlich, unser Gast zu sein, falls München für Sie nur ein Zwischenaufenthalt sein sollte.«

Ein Zwischenaufenthalt? Guter Gott, dachte Miriam. Sie war am Ende, seelisch und auch finanziell. Es gab hier nur einen Menschen, mit dem sie noch einmal, ein einziges Mal sprechen wollte, Dr. Daniel Norden.

Deshalb hatte sie für diesen Flug ihr letztes Geld geopfert, bis auf ein paar Dollar, die sie noch in ihrer Tasche hatte.

»Sag doch ja, Miriam«, bat Carry. »Wir konnten doch gar nicht richtig miteinander reden. Ich wagte nicht, dich anzusprechen, weil du so in Gedanken versunken warst.« Carry sah ihren Vater an. »Erst, als es mit der Landung nicht klappte und ich so schreckliche Angst bekam, dass wir abstürzen, hat Miriam mich getröstet.«

Was ist das für eine eigenartige Frau, dachte Jonas Henneke, aber nun hatte er sein Kind wieder, sah es lebend vor sich und fand seine Selbstsicherheit zurück.

»Dann werden wir uns jetzt mal um das Gepäck kümmern und im Schneckentempo heimfahren«, sagte er.

»Bitte, Miriam, sag ja«, bat Carry wieder.

»Unser Haus hat viel Platz«, schloss Jonas sich an.

Und ich brauche keine Pension zu suchen, dachte Miriam, der Tatsache bewusst, dass ihr restliches Geld ohnehin gerade für eine Übernachtung reichen würde.

»Sie sind sehr liebenswürdig«, sagte sie leise zu Jonas.

»Du hast mir doch so geholfen«, warf Carry ein. »Mein Herz hat schon fast ausgesetzt. Es ist nämlich nicht in Ordnung«, erklärte sie.

»Sie sind Ärztin«, sagte Jonas Henneke. »Sie spürten es wohl.«

Nein, hätte sie erwidern müssen. Denn sie hatte an Carrys Angst gedacht, nicht, dass sie ein krankes Herz haben könnte. Eher noch, dass sie unterernährt wäre. Was hatte sie eigentlich gedacht? Sie hatte geredet und Carry zugehört. Es war alles wie ein Traum gewesen, und sie hatte an ein Weiterleben doch gar nicht mehr geglaubt. Nur instinktiv hatte sie das Mädchen schützen wollen, das sich so vertrauensvoll an sie klammerte. Und sie hatte über Carry nachgedacht, die von ihrer Nonna sprach, als sei sie eine Hexe.

Ja, ich bin Ärztin, dachte sie, aber was für eine. Plötzlich waren die Depressionen wieder da, die verschwunden gewesen waren, als sie dieses angstvolle Kind trösten musste.

Sie war müde, unsagbar müde. Mechanisch griff sie nach ihrer abgeschabten Reisetasche, während Carry auf ihre Koffer deutete, die Jonas an sich nahm.

»Ist das ihr ganzes Gepäck?«, fragte Jonas leicht erstaunt.

Miriam nickte. Es ist alles, was ich noch besitze, hätte sie erwidern müssen. Sie sagte es nicht.

»Es ist schön, dass du mitkommst und Papi dich auch kennenlernt«, sagte Carry. »Wir sind richtige Freundinnen geworden, nicht wahr, Miriam?«

Sie war so naiv, so kindlich, dass es fast ergreifend war. Miriam hatte Mädchen ihres Alters kennengelernt, die schon eifrig Jagd auf Männer machten, die verdorben waren bis auf den Grund ihrer Seele. Sie hatte eines kennengelernt, das nicht viel älter war als Carry, und ihr den einzigen Mann weggenommen hatte, den sie liebte, zu lieben glaubte. Und nicht dies allein. Jenes Mädchen hatte ihr viel mehr angetan.

Jetzt ging sie an der Seite eines Mädchens, das ihr vor wenigen Stunden noch ganz fremd war, hinter einem Mann her, der zielbewusst auf einen hellen Wagen zusteuerte.

Wohin treibt das Schicksal mich jetzt, fragte sich Miriam. Sie fuhren durch den Nebel, langsam und vorsichtig steuerte Jonas Henneke seinen Wagen. Miriam und Carry saßen auf dem Rücksitz. Unwillkürlich hatte Miriams Hand sich jetzt um das Handgelenk des Mädchens gelegt. Der Puls ging nun beschleunigt. Sie überlegte, an welcher Herzkrankheit Carry leiden könnte, und plötzlich wurde es ihr heiß und kalt, weil sie echte Angst um dieses Mädchen hatte, als würde es zu ihr gehören, als wäre es ihr Kind.

Ein eigentümliches Gefühl war das, da sie doch gemeint hatte, gar nichts mehr empfinden zu können.

»Abscheulich, dieses Wetter«, sagte Jonas. »Ausgerechnet heute.«

Er sprach abgehackt und mehr zu sich selbst und auch so, als denke er dabei an etwas anderes. Und Miriam ging es durch den Sinn, dass sie unter normalen Umständen wohl Carrys Bekanntschaft nie gemacht hätte. Sie wären sich am Ende der Reise so fremd gewesen wie am Anfang, denn Carry hätte ihre Scheu nicht ablegen können, und sie wäre weiter in Erinnerungen versunken geblieben.

»Geht es dir jetzt besser, Liebling?«, fragte Jonas seine Tochter.

»Wir sind ja zusammen«, erwiderte Carry leise. Sie lehnte den Kopf an Miriams Schulter.

»Etwas Gutes hätte alles, habe ich einmal in einem Buch gelesen«, sagte Carry. »Miriam hätte ich nicht anzusprechen gewagt, wenn nicht diese schreckliche Situation eingetreten wäre.«

Nun sprach sie Miriams Gedanken aus.

»Warum eigentlich nicht?«, fragte Jonas.

»Weil sie sich gar nicht rührte. Ich dachte, sie würde schlafen«, sagte Carry. »Sie hatte immer die Augen geschlossen.«

»Ich hatte schon eine weite Reise hinter mir«, sagte Miriam. »Rom war nur Zwischenstation.«

»Woher bist du gekommen?«, fragte Carry zögernd, aber schon viel weniger scheu.

»Aus Beirut.«

»Ist das Leben für eine Europäerin dort nicht ziemlich schwierig?«, fragte Jonas.

»Ich war an einer Klinik tätig. Ich hatte meinen Beruf«, erklärte Miriam. »Eine Europäerin bin ich eigentlich auch nicht. Ich bin in Teheran aufgewachsen und habe nur in Deutschland studiert.«

»In München?«, fragte Jonas.

»Ja, in München«, erwiderte Miriam schleppend.

»Es gefiel Ihnen hier nicht?«, fragte Jonas.

»Doch, es gefiel mir sehr.«

Er spürte an ihrem Tonfall, dass sie nichts mehr sagen wollte. Jonas war ein guter Menschenkenner. Für ihn war Miriam bis jetzt ein unerforschtes Wesen, dem er Sympathie entgegenbrachte, weil sie sich seiner Tochter angenommen hatte. Sie müsste Mitte dreißig sein, dachte er. Jünger bestimmt nicht. Sie sieht auch so aus, als hätte sie eine schwere Zeit hinter sich. Die Bräune täuscht. Aber es konnte auch sein, dass die schwierige Landung nicht spurlos an ihr vorübergegangen war. Er hatte sich ja auch aufgeregt, obgleich er nicht zu jenen Menschen gehörte, die immer gleich das Schlimmste vermuten. Er ließ jetzt den Wagen ausrollen. Von Nebelschwaden verhüllt war auch das Haus, das sie dann betraten, aber er hatte, bevor er wegfuhr, alle Räume erhellt. Wärme hüllte sie ein. Eine gemütliche Diele im bäuerlichen Stil sah Miriam, als sie durch die Tür trat, die er aufgeschlossen hatte. Eine etwa sechzigjährige Frau erschien in der gegenüberliegenden Tür.

»Endlich«, sagte sie erleichtert. »Ich war schon bange.«

»Tante Hanne!«, rief Carry aus und fiel ihr um den Hals.

»Endlich bist du da, mein Kleines«, sagte die Frau zärtlich, und ihr herbes Gesicht wurde weich.

Sie musterte Miriam dann kurz und forschend. Mit übersprudelnder Schnelligkeit wurde sie von Carry aufgeklärt, wie sie Miriam kennenlernt hatte, und Miriam erfuhr, dass Tante Hanne die Schwester von Jonas Hennekes Mutter war, die jetzt in seinem Haus lebte.

»Papi hat nichts davon geschrieben«, sagte Carry.

»Es sollte eine Überraschung für dich sein. Schließlich muss sich doch jemand um dich kümmern«, erwidert Jonas.

»Ich wäre doch besser in ein Hotel gegangen«, sagte Miriam zögernd.

»Aber warum denn? Wir haben genug Platz«, sagte Hanne. Miriam bemerkte, dass Jonas sie darauf erstaunt ansah.

Es ergab sich alles wie von selbst. Ein gedeckter Tisch erwartete sie, und Köstlichkeiten, wie Miriam sie schon lange nicht mehr vorgesetzt bekommen hatte.

Ein silberner Leuchter mit drei Kerzen löste das helle Licht der Deckenlampe ab und ließ alle Gesichter entspannter erscheinen.

Carry sprach von der Angst, die sie ausgestanden und über die ihr Miriam hinweggeholfen hatte. Von der Nonna sprach sie nicht. Sie war müde. Man sah es ihr an. Gegessen hatte sie wie ein Spatz.

»Du musst jetzt mal richtig schlafen«, sagte Tante Hanne.

»Und wir trinken vielleicht noch ein Glas Wein, Frau Dr. Perez?«, schlug Jonas vor.

Miriam ließ sich treiben. Ihre Nerven waren jetzt bis zum Äußersten gespannt. Sie hätte, obgleich sie übermüdet war, nicht einschlafen können, und dann wären wieder die Depressionen gekommen, denen sie entfliehen wollte.

Gern«, erwiderte sie. »Ich möchte mich sehr herzlich für Ihre Gastfreundschaft bedanken.«

»Ich bin froh, dass du mitgekommen bist, Miriam«, sagte Carry. »Wir dürfen uns doch nicht aus den Augen verlieren. Zum ersten Mal habe ich eine Freundin, eine richtige Freundin.« Sie bedachte wohl gar nicht, dass Miriam mehr als doppelt so alt wie sie war.

Heiße Zärtlichkeit durchflutete sie, als Carry ihr einen Gutenachtkuss auf die Wange drückte.

»Ich bin sehr froh, dass du deinen Papi wieder hast«, sagte sie leise.

»Ich auch, aber auch, dass wir uns kennenlernten, Miriam.« Man merkte, wie gern sie den Namen aussprach.

Dann war Miriam eine Zeit mit Jonas Henneke allein. Er räusperte sich, und auch sie kämpfte gegen verständliche Hemmungen an. Es passierte einem schließlich nicht jeden Tag, dass man sich auf solche Weise kennenlernte.

»Ich habe Ihnen sehr zu danken, Frau Dr. Perez«, sagte Jonas leise. »Ich hatte mir schon die bittersten Vorwürfe gemacht, dass ich meine Tochter nicht abgeholt habe, aber ich hatte gerade sehr wichtigen Auslandsbesuch, und sie sollte nicht noch einen einzigen Tag länger in Rom bleiben. Meine Tante ist nicht mit Pferdestärken in ein Flugzeug zu bringen, nun ja, das sind eigentlich keine Entschuldigungen.«

»Normalerweise dauert der Flug ja nicht lange«, sagte Miriam. »Wer hätte mit solchem Nebel rechen können? Wir sind bei strahlendem Sonnenschein abgeflogen, und hier herrschten nach Auskunft doch auch gute Landebedingungen.«

»Der Nebel kam so plötzlich und überraschend. Das Wetter spielte in diesem Jahr sowieso verrückt. Den Sommer hatten wir im Herbst und bis gestern war es strahlend schön. Richtiges klares Winterwetter. In Rom beginnt schon der Frühling, wie mir Carry am Telefon sagte.«

»Ich bin von einer Maschine in die andere gestiegen«, sagte Miriam geistesabwesend. »Carry war so still während des Fluges, dass ich sie gar nicht richtig wahrnahm. Jetzt tut es mir leid, dass ich mich nicht schon vorher ein bisschen um sie gekümmert habe.«

»Sie ist scheu, und Reisebekanntschaften können auch nachteilig sein«, sagte Jonas. »Ich mache auch keine, aber ich bin sehr froh, dass Sie sich Carrys angenommen haben. Sie hat ein Loch in der Herzscheidewand, von Geburt an.«

Miriam Kopf ruckte empor. Forschend, bestürzt blickte sie den Mann an. »Warum wurde sie nicht operiert?«, fragte sie. »Sie hätten doch wohl die finanziellen Möglichkeiten?«

Er hörte den Vorwurf aus ihrer Stimme. »Ich hatte kein Verfügungsrecht über meine Tochter«, sagte er rau. »Ich werde es Ihnen erklären, damit Sie mich nicht für einen nachlässigen Vater halten.«

»Das tue ich nicht. Wären Sie es, würde Carry Sie nicht so lieben.«

»Ja, es ist ein Wunder, dass sie mich trotz allem liebt«, sagte er verhalten. »Ihre Mutter war Italienerin. Unsere Ehe begann sehr glücklich, obgleich ihre Eltern von Anfang an dagegen waren, dass sie einen Deutschen heiratete. Als das Kind unterwegs war, ging es ihr nicht gut. Wir lebten in München, das Klima bekam ihr nicht.« Er machte eine kleine Pause. »Und ihr Wesen veränderte sich schlagartig. Sie hatte Heimweh. Sie wollte in Rom sein, aber ich konnte hier nicht alles stehen und liegen lassen.« Wieder versank er in Schweigen. Sie schwieg auch.

»Es ist alles so schwer erklärbar«, sagte Jonas.

»Sie sind mir keine Erklärung schuldig«, meinte Miriam darauf.

»Aber Sie sind Ärztin. Sie können nicht begreifen, dass ich für mein Kind nichts getan habe.«

Tante Hanne trat ein. Sie tat, als hätte sie nicht gehört, was er sagte. Sie stellte einen Weinkrug aus wundervollem rotem Kristall auf den Tisch und die Gläser dazu.

»Carry möchte dich noch einmal sehen, Jonas«, sagte sie mit ihrer warmen, angenehmen Stimme.

Er neigte leicht den Kopf. »Entschuldigen Sie mich bitte, Frau Doktor«, sagte er.

»Aber das ist doch selbstverständlich. Carry ist wichtiger.« Miriam lächelte leicht, doch dieses Lächeln erreichte ihre ernsten, nachdenklichen Augen nicht. Sie fühlte sich wieder von Tante Hanne gemustert, deren Nachnamen sie noch immer nicht wusste. Und so wusste sie auch nicht, wie sie die Ältere anreden sollte. Sie fragte stockend danach.

»Ach, sagen Sie nur Tante Hanne. Wozu große Umstände machen? Wichtig ist mir, dass Sie Jonas als Vater nicht falsch sehen. Er konnte gegen diesen Clan nicht an. Ich werde Ihnen diese Geschichte aus meiner Sicht erzählen, denn Sie werden hoffentlich einige Tage unser Gast bleiben. Für Jonas ist das alles zu schlimm, weil er in der für ihn wichtigsten Angelegenheit so machtlos war.«

Sie verstummte, als sie seine Schritte hörte, und wie ein kleines Mädchen legte sie den Finger auf die Lippen.

Jonas trat ein. »Ich soll Sie in Carrys Namen bitten, bei uns zu wohnen, solange Sie in München bleiben. Ich hoffe sehr, dass Sie uns diese Bitte nicht abschlagen, der ich mich anschließe.«

»Sie werden ja nicht nur für ein paar Stunden nach München gekommen sein«, sagte Tante Hanne. »Außerdem ist der Wetterbericht schlecht. Ich verstehe ja sowieso nicht, wie man sich in ein solch Ungeheuer setzen kann. Schon mit dem Auto ist es gefährlich genug. Wie denken Sie darüber, Miriam?«

»Ich fahre nicht mehr«, erwiderte Miriam kaum vernehmbar.

»Hatten Sie einen Unfall?«, fragte Jonas.

Unwillkürlich legte Miriam die Hand über ihre Augen, vor denen wieder ein grauenvolles Bild erschien.

Sie nickte nur und wandte sich ab. Sie war Tante Hanne dankbar, die ablenkend sagte, dass es nun an der Zeit wäre, den Wein zu trinken, da er sonst warm würde.

»Sie haben Verwandte in München?«, fragte Tante Hanne dann.

»Nein, eigentlich nur einen Bekannten aus der Studienzeit, Dr. Daniel Norden«, erwiderte Miriam.

»Dr. Norden? Ein sehr bekannter Arzt«, sagte Tante Hanne. »Ich kenne ihn durch Dr. Behnisch, der mich operiert hat.«

»Dieter Behnisch?«, fragte Miriam staunend. »Er ist auch in München?«

»Er hat eine Privatklinik«, erklärte Tante Hanne, »mit einem ausgezeichnetem Ruf.«

»Wie merkwürdig«, murmelte Miriam. »Wir studierten zur gleichen Zeit. Es ist schon ziemlich lange her. Wie es so ist im Leben, hörten wir dann nichts mehr voneinander.«

»Nun können Sie sich Zeit lassen, alte Freundschaften wieder aufzufrischen«, meinte Tante Hanne. Sie warf Miriam einen schrägen Blick zu. »Allerdings werden Sie Ihre Studienkollegen als gesetzte Ehemänner wiederfinden.«

»Umso besser«, sagte sie mit einem Anflug von Humor. »Dann kommt keiner auf den Gedanken, dass ich hier auf Männerjagd gehen will.«

»So war es von mir auch nicht gemeint«, sagte Tante Hanne. »Ich habe ein besonderes Talent, mich manchmal missverständlich auszudrücken. Tatsächlich nahm ich an, dass auch Sie verheiratet sind.«

»Nein, das bin ich nicht«, erwiderte Miriam.

»Auf Ihr Wohl«, warf Jonas ein und hob sein Glas. Miriam trank in kleinen Schlucken. Es war ein köstlicher Wein. Wohlig warm wurde es ihr nach dem dritten Schluck. Die Spannung ließ nach, und die Müdigkeit kam.

»Es war ein aufregender Tag«, sagte Jonas. »Wir wollen Ihnen Ruhe gönnen. Hoffentlich werden Sie gut schlafen.«

»Sie werden Carry jetzt operieren lassen?«, fragte sie.

»So schnell wie möglich.«

»Von wem?«

»Von Professor Benten.«

»Nein!«, entfuhr es Miriam.

»Warum nicht?«, fragte Jonas bestürzt. »Er ist der prominenteste Herzspezialist.«

»Ja, der prominenteste«, sagte Miriam schleppend. »Ein glänzender Chirurg, ein Mensch ohne Seele.«

»Siehst du, das habe ich dir auch gesagt, Jonas«, warf Tante Hanne ein. »Ich lehne ihn auch gefühlsmäßig ab. Gut, dass ich Unterstützung bekomme.«

»Ich war zu impulsiv. Ich will mich nicht einmischen«, sagte Miriam leise. »Carry ist so überaus sensibel. Sie würde kein Vertrauen zu ihm haben. Das ist meine Meinung.«

»Wen würden Sie denn vorschlagen?«, fragte Jonas.

»Vielleicht könnte Dr. Norden da besser raten. Ich war acht Jahre nicht hier.«

Aber Benten kennt sie, dachte Jonas, doch er stellte keine Fragen. Er sah, dass Miriam sehr müde war, und zudem war ihre Miene jetzt sehr verschlossen.

»Wir werden noch Gelegenheit haben, uns darüber zu unterhalten«, sagte er ruhig. »Tante Hanne wird Ihnen Ihr Zimmer zeigen. Ich wünsche Ihnen eine sehr gute Nacht.«

Er küsste ihr die Hand, und als sich ihre Augen für den Bruchteil einer Sekunde trafen, hatte sie das untrügliche Gefühl, einen Freund gefunden zu haben. Es beruhigte sie, dass er nicht erzürnt war über ihre Meinungsäußerung. Benten, ausgerechnet Benten, ging es ihr durch den Sinn, als sie dann in dem wunderschönen Gästezimmer, das auch im bäuerlichen Stil eingerichtet war, ihre müden Glieder in einem frisch duftenden Bett ausstreckte.

Mit einem festen, herzlichen Händedruck hatte Tante Hanne ihr ebenfalls eine gute Nacht und schöne Träume gewünscht.

Nur nicht träumen, waren Miriams letzte Gedanken, bevor sie einschlief, denn schöne Träume kannte sie schon lange nicht mehr. Ein herrlicher erquickender Schlaf war ihr in dieser Nacht vergönnt, nach der sie erholt erwachte.

Sollte es doch noch mal einen neuen Anfang geben? Sollte sie befreit werden von den Höllenqualen, die sie schon beinahe zum Irrsinn getrieben hatten? Konnte es möglich sein, dass sie vergessen durfte, was ihr das Leben wertlos gemacht hatte?

Es klopfte leise an der Tür, und dann kam Carry herein. Ihr zartes Gesichtchen war rosig überhaucht. Ihre Augen hatten die gleiche Farbe wie die ihres Vaters, wie sie erst jetzt bemerkte, denn gestern waren sie vom Weinen dunkel und glanzlos gewesen.

»Oh, Miriam, ich hatte Angst, dass du nicht mehr hier sein könntest«, hauchte Carry. »Hast du gut geschlafen?«

»So gut wie schon lange nicht mehr«, erwiderte Miriam wahrheitsgemäß.

»Ich auch, ohne böse Träume.«

Wir haben mancherlei gemeinsam, ging es Miriam durch den Sinn.

»Gefällt es dir bei uns?«, fragte Carry in ihrer kindlichen Art. »Ist das Haus nicht schön? So habe ich es mir auch immer vorgestellt.«

»Warst du denn niemals hier, Carry?«, fragte Miriam betroffen.

»Nein, es war doch nicht möglich. Nonna hätte es nie erlaubt. Sie durfte nur nicht verbieten, dass Papi mich besuchte, aber wenn ich nach Deutschland wollte, hätte ich doch einen Pass gebraucht. Sie hat verhindert, dass ich einen bekam, sie konnte das. Großvater hatte sehr viel Einfluss und sie nach seinem Tod auch.«

»Und warum ließen sie dich nicht zu deinem Vater?«, fragte Miriam nun doch wie unter einem Zwang.

»Sie hassten ihn«, stieß Carry hervor. »Sie hassten ihn, als wäre er schuld gewesen an Mamas Tod. Dabei war das doch eigentlich ich. Geliebt haben sie mich auch nicht. Sie wollten nur Papi kränken. Sie wollten ihn demütigen. Ich habe das nie verstanden. Mama und er haben sich doch geliebt. Aber was soll ich darüber reden? Nonna ist tot, und ich darf jetzt immer bei Papi bleiben. Hier werde ich vielleicht auch gesund. Meinst du, dass es möglich ist? Du bist doch Ärztin.«

»Sicher wirst du ganz gesund, Carry.«

»Nonna hat gesagt, dass die Ärzte Mama nicht helfen konnten, und mir können sie auch nicht helfen. Sie wollte wohl auch gar nicht, dass ich am Leben bleibe, wenn sie nicht mehr lebt.«

Eisig rann es Miriam den Rücken herunter. Wie viel haben wir eigentlich noch gemeinsam, dachte sie für sich. Auch in ihrem Leben hatte es einen Menschen gegeben, der sie nicht lebend wissen wollte, weil er sterben musste und weil ihm tatsächlich kein Arzt helfen konnte.

»Ich will nicht, dass du so ernst schaust«, sagte Carry. »Ich rede und rede und nur über die Vergangenheit, wo die Gegenwart doch so schön ist.«

»So kann man die Vergangenheit aber am besten bewältigen, mein Liebes«, sagte Miriam warm.

»Wirst du mir auch mal von deiner Vergangenheit erzählen, was du so erlebt hast?«

»Später einmal vielleicht«, sagte Miriam. »Ich bin um einiges älter als du, Carry, da hat man schon mehr erlebt und auch Dinge, an die man sich nicht gern erinnert.«

»Man kann sehr jung sein und doch schon alt, Miriam. Ich war noch niemals richtig Kind.« Wie ernsthaft und wehmütig das klang. »Hier wäre ich viel lieber gewesen. Tante Hanne ist auch sehr nett, nicht wahr? Einmal durfte ich mit ihr und Papi ein paar Tage in Ostia sein. Das konnte Nonna nicht verbieten. Papi hatte da auch jemanden kennengelernt, der ihm half. Einen Richter, einen ganz hohen, der dann auch Nonnas Testament angefochten hat. Aber jetzt wollen wir erst einmal frühstücken. Ich bin schrecklich unhöflich. Papi bleibt doch eigens unseretwegen ein paar Tage ganz daheim.«

»Deinetwegen, Carry«, sagte Miriam.

»Deinetwegen doch auch. Du bist ihm ein sehr lieber Gast, das hat er mir gesagt, und Tante Hanne ist sonst auch ziemlich heikel, aber dich mag sie.«

Sie war zauberhaft natürlich und zutraulich. Wie viel Gemüt musste sie besitzen, da es durch nichts zu zerstören war. Wie innig verbunden mussten Vater und Tochter innerlich sein, das Carry trotz ihres Leidens so glücklich lächeln konnte.

Es wurde Miriam leicht gemacht sich heimisch zu fühlen. Wie lange war es her, dass dies so gewesen war? Nur flüchtig dachte sie an eine kahle Zelle, in der sie das Fazit eines ruhelosen Lebens gezogen hatte, und einmal war sie doch mit aller Leidenschaft Ärztin geworden, aber es war, als wäre es in einem anderen Leben gewesen.

Tante Hanne verbreitete Gemütlichkeit und Ruhe, Carry ließ sich von ihr verwöhnen und aß mit großem Appetit die frischen Brötchen.

»Sie sollen sich bei uns nicht angebunden fühlen, Frau Dr. Perez«, sagte Jonas.

»Sag Miriam, Papi, Tante Hanne tut es doch auch«, warf Carry ein.

»Mir wäre eine weniger formelle Anrede auch lieber«, sagte Miriam rasch, denn jedes Mal gab es ihr einen Stich wenn sie mit diesem Titel angesprochen wurde.

»Ich habe nichts dagegen«, sagte Jonas, »aber dann müssen Sie mich auch weniger förmlich anreden.«

»Nachher wird mit einem Glas Sekt darauf angestoßen«, sagte Tante Hanne munter. »So gefällt es mir, Kinder. Bei uns auf dem Lande haben wir nicht solche Umstände gemacht.«

»Tante Hannes Mann war Gutsbesitzer«, sagte Carry erklärend.

»Bauer, ein richtiger Bauer war er, aber ein guter, und er hatte ein Herz wie Butter. Übrigens heiße ich auch Bauer, damit es gesagt sei, aber wir bleiben bei Tante Hanne.«

Miriams Gedanken wanderten. Schlicht und natürlich war auch Tante Hanne, obwohl sie gewiss eine gebildete Frau war mit einer angeborenen Vornehmheit und Herzensgüte. Auch Jonas Henneke, mochte er sein, was er wollte, denn über seinen Beruf hatte Miriam ja noch nichts erfahren, hatte diese schlichte Natürlichkeit in seinem Wesen. Wie hatte sich das wohl mit der vornehmen Familie, aus der seine Frau gekommen war, vertragen? Vertragen können, musste sie in Gedanken hinzufügen.

Schließlich musste diese Familie überaus einflussreich gewesen sein, wenn sie verhindern konnte, dass das Kind nach dem Tode der Mutter zum Vater kam.

Miriam wagte nicht, Jonas eingehender zu betrachten, aber der erste Eindruck war imponierend genug gewesen. Er hatte einen Charakterkopf und auch jetzt, wohl der Mitte der vierziger Jahre nahe, ein blendend aussehender Mann.

Nein, nicht im eigentlichen Sinne blendend, berichtigte sich Miriam selbst, denn hinter blendendem Aussehen stand oftmals gar nichts. Jonas hatte ein ungeheuer ausdrucksvolles Gesicht, da ihm nun die Angst nicht mehr in den Augen stand und auf die Stirn geschrieben war.

»Benutzen Sie das Telefon, so oft Sie wollen, Miriam«, sagte er jetzt. »Aber machen Sie uns die Freude und lassen sich nicht von Ihren Freunden überreden, von uns weg zu ihnen zu ziehen. Carry wäre sehr traurig.«

»Du darfst es mir nicht antun, Miriam«, sagte Carry. »Oh, wenn du mich doch operieren könntest, es wäre wunderbar.«

Miriam fiel fast die Tasse aus der Hand. Ihr Herzschlag setzte momentan aus.

»Ich würde überhaupt keine Angst haben«, sagte Carry lächelnd.

»Es ist unmöglich, Carry, aber du brauchst keine Angst zu haben. Wir werden den allerbesten Arzt für dich finden, und du wirst ganz schnell ganz gesund werden.«

»Wie kommt das eigentlich, wenn man so ein Loch hat?«, fragte Carry.

Jonas’ Miene verdüsterte sich. Miriam sah es. »Es ist öfter der Fall, als man meint«, sagte sie rasch. »In dieser Hinsicht ist der Fortschritt in der Medizin so groß, dass solche Operationen tagtäglich, ich weiß nicht wie oft, in aller Welt ausgeführt werden. Ich werde Dr. Norden fragen, wen er für den besten Herzspezialisten hält.«

Das sagte sie sehr bestimmt. Jonas warf ihr einen langen, forschenden Blick zu.

»Hattest du nicht schon mit einem gesprochen, Papi?«, fragte Carry.

»Ja, das schon, aber ich verlasse mich auf Miriam«, erwiderte Jonas.

»Das ist mir auch lieber«, meinte Carry.

»Mir auch«, sagte Tante Hanne. »Von Ferndiagnosen halte ich schon gar nichts und vor allem nicht, wenn das Honorar schon vorher festgesetzt wird.«

Dafür erntete sie einen vorwurfsvollen Blick von Jonas.

»Ist denn so eine Operation sehr teuer?«, fragte Carry.

»Nicht der Rede wert«, erklärte Jonas rasch. »Ich mag Geld als Gesprächsthema überhaupt nicht. Reich mir doch bitte mal den Schinken, Tante Hanne.«

Miriam kam ihr zuvor. Unabsichtlich berührten sich ihre Hände, und fast war es so, als wolle Jonas Miriams Hand festhalten. Hilfeheischend war sein Blick, und sie wusste ihn zu deuten, denn sie wusste, was eine Operation bei Benten ungefähr kosten würde, wenn er schon selbst eine ausführte.

Ja, sie kannte Benten. Er hatte sich einmal intensiv um sie bemüht, aber sie hatte ihn nicht gemocht, obgleich sie sich jetzt sagen musste, dass er ihr nicht einmal so viel Unglück gebracht hätte wie ein anderer, der jetzt tot war und der auch ihren Tod gewünscht hatte.

»Fahr zur Hölle, Miriam«, tönte es in ihren Ohren, und ohne dass sie es spürte, wich alles Blut aus ihrem Gesicht. Aber da war ja noch die Bräune südlicher Sonne, die dies täuschend verdeckte, und doch hatte sie das Gefühl, dass Jonas es bemerkte.

»Greifen Sie zu, Miriam«, sagte er. »Es scheint so, als hätte nicht nur unsere Carry Untergewicht.«

»Und Miriam ist viel größer als ich«, sagte Carry. »Du bist wahnsinnig schlank. Findest du das nicht auch, Tante Hanne?«

»Viel zu dünn, aber wir werden sie schon aufpäppeln. Was kriegt man da auch schon zu essen, bei den Halbwilden.«

»Na, na, na«, sagte Jonas. »Libanon ist ein reiches Land. Haben Sie unter guten Bedingungen gearbeitet, Miriam?«

»Nein, das könnte ich nicht sagen.« Sie biss schnell in ihr Brötchen, um nicht mehr sagen zu müssen, und wie es schien, verstand Jonas sie auch ohne Worte. Er redete von etwas anderem, nämlich von seinen freien Tagen, die er sich genommen hatte und davon, dass er ihnen da ein bisschen die Umgebung zeigen wollte.

»Wenn es sich aufklärt«, sagte Tante Hanne, »sonst lohnt es sich ja nicht. Bei Nebel sieht alles grau in grau aus, und außerdem ist die Fahrerei gefährlich. Miriam wird sich auch gern mit ihren alten Freunden in Verbindung setzen wollen.«

Miriam warf ihr einen dankbaren Blick zu. »Ja, das möchte ich gern. Ich bitte um Verständnis dafür.«

»Das ist selbstverständlich«, sagte Jonas.

Jetzt ging es Miriam nicht mehr um sich selbst, sondern viel mehr um Carry, denn sie wusste sehr gut, dass eine solche Operation, der sich Carry unterziehen musste, möglichst im Kindesalter stattfinden sollte, bevor das Wachstum beendet war. So waren die Chancen für eine völlige Gesundung viel größer.

Aber nicht Benten, dachte sie wieder. Nein, er nicht. Es ging nicht allein darum, dass sie an seinem Können zweifelte. Für ihn war das eine Routinesache, die er sicher perfekt vollbringen würde. Aber Carry würde kein Zutrauen zu ihm haben, und sie selbst wollte ihm nicht begegnen. Jetzt schon stand es doch für sie fest, dass sie bei Carry sein wollte, um ihr Mut und Zuversicht zu geben.

Dann verspottete sie sich in Gedanken selbst. Es war fast zehn Jahre her, dass Benten sich für sie interessiert hatte, und sicher hatte er sie längst vergessen. Männer gaben sich keinen Reminiszenzen hin, vor allem dann nicht, wenn sie einen Korb bekommen hatten.

»Ich finde es einfach toll, dass Miriam Dr. Norden kennt«, sagte Tante Hanne in ihre Gedanken hinein. »Er ist so ein Arzt mit einem sagenhaften Können, und außerdem der Sohn von Friedrich Norden, der die Insel der Hoffnung verwirklicht hat.«

»Tatsächlich?«, fragte Miriam. »Daniel sprach damals über die Idee seines Vaters, ein Sanatorium zu gründen, das allen Leidenden offenstehen solle. Insel der Hoffnung«, fuhr sie gedankenvoll fort. »Daniel glaubte nicht so recht daran, dass die Idee zu verwirklichen sei.«

»Waren Sie sehr befreundet?«, fragte Jonas mit einem seltsamen Unterton.

»Wir standen uns gut. Er war sehr umschwärmt«, erwiderte Miriam. »Er sah blendend aus, und alles deutete darauf hin, dass er eine große Karriere machen würde. Er war besessen von seinem Beruf, wie ich auch, doch anscheinend war er erfolgreicher. Es freut mich, denn manch einer vermutete, dass er ein Modearzt werden würde.«

»Warum bist du in dieses ferne Land gegangen, Miriam?«, fragte Carry. »Du bist bestimmt eine gute Ärztin.«

»Geheimnisse nichts in mich hinein, Carry. Ich hatte auch meine Ideen, aber Großes habe ich nicht geleistet.«

Tante Hanne blickte auf. »Dr. Norden ist ein Arzt, der für alle da ist«, sagte sie. »Es scheint, dass Sie das auch wollten, Miriam. Aber Frauen haben es immer schwerer. Die vielgerühmte und heraufgespielte Gleichberechtigung findet noch nicht statt.«

»Zum Kummer von Tante Hanne«, warf Jonas ein.

»Eine Frau bleibt irgendwie doch immer eine Frau«, sagte Miriam nachdenklich.

»Aber manche verstehen es sehr gut, ihre Macht aufgrund von Beziehungen auszuspielen«, sagte Tante Hanne im verächtlichen Ton. »Und gewiss nicht immer zum Besten anderer.«

Auch diesmal wusste Miriam, wen sie meinte, auf wen sie da anspielte. Und Carry sprach es aus.

»Wie Nonna«, sagte sie. »Ich möchte nicht so sein, auch nicht emanzipiert. Ich möchte am liebsten noch mal ein kleines Mädchen sein.«

»Wir werden versuchen nachzuholen, was du vermisst hast, mein Liebes«, sagte Jonas. »Äußere deine Wünsche.«

»Jetzt wünsche ich mir nur, dass Miriam bei uns bleibt«, sagte Carry. »Ich habe es im Flugzeug gefühlt, dass sie mich schützen und für mich sterben wollte.«

Beklemmende Stille herrschte nach diesen Worten. Jonas und Tante Hanne sahen Miriam an.

»Sie hat sich über mich gelegt«, sagte Carry. »Ich spürte, wie ihr Herz schlug. Sie hat mich festgehalten, wie ich mir vorstelle, dass eine Mutter einen festhält. Ja, so habe ich es empfunden, und deshalb konnte mein Herz weiterschlagen. Verstehst du, was ich damit sagen will, Papi?«

»Ja, mein Kind«, erwiderte Jonas.

»Ich habe ganz spontan reagiert«, versuchte Miriam die Bedeutung dieser Worte abzuschwächen.

»Nein, du hast gewusst, wie groß meine Angst war«, sagte Carry. »Ich war dir ganz fremd, aber irgendetwas hat uns ganz nahe gebracht. Ich bin doch kein Kind mehr und mache mir auch meine Gedanken. Ich habe dich lieb, Miriam. Das darf ich doch sagen. Und ich habe gemeint, dass du mich auch lieb hast. War das falsch?«

Wieder herrschte Schweigen. Wieder wanderten die Blicke umher.

»Das gibt es doch«, sagte Carry. »Ich musste immer bei Nonna leben, aber ich habe immer Angst gehabt in ihrer Nähe. Bei Miriam hatte ich keine Angst. Es war genauso, als ob du bei mir wärest, Papi.«

»Carry dachte nur an Sie, Jonas«, sagte Miriam hastig. »Sie hatte Angst, Sie nicht wiederzusehen.«

»Und dann hatte ich Angst, dass du einfach weggehen könntest, zu fremden Menschen, die auf dich warten«, sagte Carry. »Jetzt habe ich überhaupt keine Angst mehr.«

Miriam nahm ihre kleine Hand. »Das ist schön, Carry. Du darfst keine Angst haben. Du musst jetzt nur daran glauben, dass du nach der Operation ganz gesund sein wirst. Du musst es dir immer wieder sagen, Kleines.«

»Du wirst mir alles genau erklären, Miriam?«, fragte das Mädchen. »Wenn du dabei bist, habe ich keine Angst.«

Miriam wagte nicht, Jonas anzusehen. Würde es ihn nicht unangenehm berühren, dass Carry ihr so unendlich viel Zutrauen entgegenbrachte, da er sie doch nun endlich und nach langem Kampf für sich haben wollte?

»Ich werde mich schnellstens mit Daniel Norden in Verbindung setzen«, sagte sie stockend.

»Ja, tun Sie das bitte«, sagte Jonas. »Ich wäre Ihnen dankbar.«

*

Die Telefonnummer der Praxis Dr. Norden war schnell gefunden, aber es kam die Antwort von einem Band, dass die Sprechstunde nachmittags sei. In besonders dringenden Fällen möchte bitte die Privatnummer angerufen werden. Miriam notierte sie automatisch.

Ausgerechnet sie hatte den Ausnahmefall erwischt, dass auch Loni Enderle nicht in der Praxis war, da sie dringend zum Zahnarzt gemusst hatte. Das war nun ein Gebiet, von dem Dr. Norden wahrhaftig nichts verstand, und er hatte ein Machwort gesprochen, nachdem Loni sich zwei Tage mit Tabletten über die quälenden Schmerzen hinweggeholfen hatte.

Für Daniel war der Gang zum Zahnarzt auch ein Greuel. Zum Glück musste er ihn nur selten gehen, obgleich sein Kollege Dr. Schröder ein ganz ausgezeichneter Zahnarzt war. Für Loni jedenfalls war es höchste Zeit gewesen, und während sie von ihren Schmerzen befreit wurde, machte Daniel Norden dringende Krankenbesuche. Er hatte ein paar Schwerkranke zu betreuen, die er mehrmals täglich besuchen musste, um Spritzen und Infusionen zu verabreichen. Für Daniel war es immer deprimierend, so machtlos dastehen zu müssen und nichts anderes mehr tun zu können, als Schmerzen zu lindern, wo jede Hoffnung auf Heilung vergeblich war.

Auch er, wie andere Ärzte auch, stellte sich oftmals die Frage, ob es zu verantworten war, verlöschendes, gequältes Leben mit Medikamenten zu verlängern, denn am meisten hatten die Familien dieser Kranken zu leiden, die diesen schrecklichen Kampf mitansehen mussten.

Frau Kögler, die selbst nur noch ein Schatten ihrer selbst war, trug ihr Schicksal mit bewundernswerter Haltung. Sie pflegte ihren Mann aufopfernd. Sie versorgte ihren Haushalt und ihre drei Kinder. Schon dreimal war Franz Kögler wochenlang in den verschiedenen Kliniken gewesen bis dann erwiesen war, dass es keine Rettung mehr für ihn gab.

Vor mehr als einem Jahr war Franz Kögler zum ersten Mal zu Dr. Norden gekommen und nach allen vorhandenen Symptomen hatte Daniel richtig einen Tumor vermutet.

Er schickte den Patienten zur klinischen Untersuchung, doch der Chefarzt hatte seiner Diagnose widersprochen. Abnützungserscheinungen wären es, hatte er gemeint, und Herr Kögler wurde zur Kur geschickt. Es ging ihm danach etwas besser, und Dr. Norden meinte, dass er sich ja auch geirrt haben könnte. Drei Wochen später wurde er wieder zu seinem Patienten gerufen, und diesmal fühlte er sich verpflichtet, Frau Kögler vorsichtig seine Ansichten mitzuteilen, da er hoffte, dass doch noch eine Operation rettend sein könnte.

Diesmal wurde Franz Kögler zu Dr. Behnisch gebracht, der seinen Freund Daniel bestätigte, dass es sich tatsächlich um Lungenkrebs handelte. Auch eine sofortige Operation konnte keine Heilung mehr bringen. Die Metastasen hatten sich schon ausgebreitet, fraßen sich durch den noch abwehrbereiten kräftigen Körper des Mannes, dessen Lebenswille ungebrochen war.

Wie hätte man es ihm sagen sollen, dass es ein vergeblicher Kampf sein würde. Er hätte es nicht begriffen. Er war ja Nichtraucher, er trank kaum, ab und zu mal ein Bier, mal ein Gläschen Wein. Er lebte solide, bewegte sich viel in frischer Luft, arbeitete in seinem geliebten Garten.

Das Wie, Warum und Woher musste rätselhaft bleiben.

»Verstehen werde ich es nie«, sagte Frau Kögler leise zu Dr. Norden. Tränen hatte sie schon lange nicht mehr. Leergebrannt waren ihre Augen. »Ich habe die Kinder zu meinen Eltern geschickt, Herr Doktor. Wie lange soll mein Mann sich denn noch so quälen?«

Ich muss jetzt an sie denken, dachte Dr. Norden. Die Kinder brauchen sie. Ihm ist nicht mehr zu helfen, aber Sterbehilfe leisten durfte er auch nicht.

»Wäre es nicht besser, wir würden Ihren Mann wieder in die Klinik bringen?«, fragte er.

»Nein. Die guten Jahre habe ich mit ihm gelebt, und wir waren glücklich. Jetzt will ich bei ihm sein bis zum letzten Atemzug. Ich halte schon durch, Herr Doktor.«

»Sie müssen auch mal schlafen, Frau Kögler«, sagte Dr. Norden behutsam.

»Ich lege mich jetzt ein bisschen hin«, erwiderte sie. »Ich weiß jetzt ja, wie lange die Spritze wirkt. Es geht jetzt, weil die Kinder nicht da sind. Sie verstehen es halt auch nicht, Herr Doktor. Wer soll es verstehen …«, ihre Stimme bebte.

»Uns Ärzten sind leider Grenzen gesetzt«, sagte Daniel heiser.

»Er war doch ein so guter Mensch«, sagte sie und merkte gar nicht, dass sie schon in der Vergangenheit sprach. »Wenn er jetzt einmal bei Bewusstsein ist, ist er so verändert.«

»Das bringt diese Krankheit mit sich. Leider. Es tut mir leid, dass ich Ihnen nichts Tröstliches sagen kann.«

Er wusste genau, was diese Frau nun schon Monate durchmachte, körperlich und seelisch.

»Sie müssen regelmäßig die Stärkungsmittel nehmen«, ermahnte er sie. »Ich habe Ihnen wieder etwas mitgebracht. Denken Sie auch an sich, an Ihre Kinder. Sie haben so nette Kinder.«

»Sie werden auch einmal aus dem Hause gehen und dann – nein, ich will nicht jammern«, sagte sie, den Kopf in den Nacken legend. »Ich danke Ihnen, dass Sie immer gleich kommen.«

Das war nun das Wenigste, was er tun konnte. Am Nachmittag würde er wieder hier sein, wieder eine Spritze geben. Wie oft noch?

*

Bei ihm daheim ging es fröhlicher zu. Der kleine Danny sorgte für Heiterkeit. Er war fix auf den Beinen und schwatzte nun auch schon alles nach, wenn manchmal auch nur seine Mami verstand, was er meinte. Aber Danny hatte schon einige Worte, die er sehr kategorisch aussprach. Mami, Papi, Lenni und Fon, womit der das Telefon meinte, und wenn es klingelte, meinte er immer, Opi oder Omi müssten es sein.

»Fon«, rief er, als es läutete. Fee war gerade auf die Terrasse gegangen, um sich zu überzeugen, ob man heute damit rechnen könnte, dass sich der Nebel lichtete.

»Omi?«, fragte Danny, als sie den Hörer aufnahm. Sie schüttelte den Kopf, als eine ihr fremde weibliche Stimme an ihr Ohr tönte.

Miriam Perez? Der Name kam ihr bekannt vor, aber sie wusste nicht sofort, in welche Zeit sie ihn einordnen sollte.

»Hier spricht Felicitas Norden«, sagte sie. »Mein Mann macht Krankenbesuche. Kann ich ihm etwas ausrichten?«

Darauf folgte eine Erklärung, der sie voller Spannung lauschte.

»Da wird Daniel sich freuen«, sagte sie. »Kommen Sie doch gegen zwölf Uhr zu uns, da wird er sicher daheim sein. In der Praxis hat er ja kaum Zeit … Aber nein, mir macht das gar nichts aus. Es wäre nett, wenn Sie mit uns essen würden.«

So ganz frei von Eifersucht war Fee noch immer nicht, wenn sich ab und zu ein weibliches Wesen in Erinnerung brachte, das eine Rolle in Daniels Vergangenheit gespielt haben mochte, aber ihre Devise war, jeder etwaigen Gefahr ins Auge zu blicken, und sie war schnell bereit, eine Einladung auszusprechen, um ihre Großzügigkeit zu beweisen. Nicht immer zur Freude ihres Mannes, wie sie schon öfter mit Genugtuung bemerken konnte, aber sie wusste dann wenigstens Bescheid, und die paar überaus Anhänglichen, die nicht wahrhaben wollten, dass Daniel ein glücklicher Ehemann war, blieben, eines Besseren belehrt, fern. Fee war sehr diplomatisch, und als Daniel dann kam und sie von Miriams Anruf berichtete, beobachtete sie ihn genau.

»Miriam? Das ist doch nicht möglich«, sagte er kopfschüttelnd. »Es ging doch das Gerücht, dass sie tödlich verunglückt sei.«

»Wann?«, fragte Fee aufmerksam.

»Schon vor Jahren, bevor wir heirateten, Fee. Guter Gott, jetzt interessiert es mich wirklich, wie dieses Gerücht aufkommen konnte. Dieter wird auch überrascht ein. Wir studierten zur gleichen Zeit. So viel ich weiß, war sie zuletzt in Beirut.«

»Vielleicht ist sie weg von dort, weil die Unruhen sind«, meinte Fee. »Da geht es ja unheimlich zu. Man sollte es nicht für möglich halten, dass manche Menschen Kriege einfach provozieren müssen.«

»Gerangel hat es zu allen Zeiten gegeben«, sagte Daniel. »Jetzt erfahren wir nur alles. In früheren Zeiten gab es nicht so gute Nachrichtenübermittlungen. Hitzköpfe prallen überall aufeinander, in den Familien, am Arbeitsplatz. Wie sollte es dann unter den Völkern zu verhindern sein. Ich bin jetzt wirklich gespannt, Fee, was Miriam nach München zurückführt und was an jenem Gerücht wahr gewesen ist.«

Sie brauchten nicht lange zu warten. Ein bisschen erstaunt war Daniel jedoch, dass Miriam in einem Wagen vorfuhr, der von einem Chauffeur gesteuert wurde. Nicht etwa ein Taxi war es, sondern einer von jenen ganz komfor­tablen Wagen, wie Generaldirektoren oder Minister sie zu benutzen pflegten.

Miriam war allerdings auch erstaunt gewesen, als Jonas diesen Wagen zu seinem Haus beordert hatte.

»Hermannke kann auf Sie warten, Miriam«, hatte er erklärt. »Er bekommt jetzt ohnehin ein paar freie Tage.«

Ihr war es richtig peinlich, so bei den Nordens vorzufahren, um Daniel dann ihre missliche Situation schildern zu müssen. Aber vorerst wurde sie herzlichst begrüßt, auch von Fee. Daniel stellte fest, dass Miriam sich sehr verändert hatte, wenn er das auch nicht laut sagte.

»Denk bloß nicht, dass ich eine Erbschaft gemacht habe, weil ich mit so einem feudalen Wagen vorfahre«, erklärte sie rasch. »Ich bin ganz unverhofft zu dieser Ehre gelangt.«

»Aber du willst doch nicht nur ein paar Minuten hierbleiben«, meinte Daniel. »Dazu gibt es doch wohl zu viel zu erzählen.«

»Allzu lange will ich deine kostbare Zeit nicht in Anspruch nehmen, Daniel und ich hoffe, dass Sie keine falschen Schlüsse gezogen haben, als ich anrief, Frau Norden.«

»I wo«, erwiderte Fee, »Daniels Freunde sind auch meine Freunde.«

»Und du brauchst nicht so formell zu sein, Miriam. Das ist Fee.«

Danny kam auch und wollte guten Tag sagen. Lenni hatte schon den Tisch gedeckt.

»Daniel Norden als Ehemann und Vater«, sagte Miriam gedankenvoll. »Einer von uns, der tatsächlich das Große Los gezogen hat.«

Ihre Augen wurden feucht, als sie den kleinen Danny betrachtete, und ihm schien das nicht zu behagen, denn er ging freiwillig mit Lenni.

»Habe ich ihn erschreckt?«, fragte Miriam beklommen.

»Aber nein«, sagte Daniel. »Er hält jetzt seinen Mittagsschlaf.«

»Er spürt, wenn jemand Kummer hat«, baute Fee der anderen eine Brücke.

»Du hast eine schwere Zeit hinter dir, Miriam?«, fragte Daniel.

»Sieht man es mir an?«

»Ich will es nicht leugnen. Was können wir für dich tun?«

»Ich muss mich einmal mit einem Menschen aussprechen, der mich kennt«, sagte sie leise. Ein Schluchzen war in ihrer Stimme.

Es war kein Thema, das man beim Essen erörtern konnte, und so erzählte Miriam erst vom gestrigen Flug.

»Da habt ihr ja noch mal Glück gehabt«, sagte Daniel. »Ich hörte ein Flugzeug brummen, als ich heimkam und hatte Sorge, dass es heil herunterkommen würde.«

»Und unter solchen Umständen haben Sie eine Bekanntschaft gemacht, die Sie beglückt«, sagte Fee spontan.

Miriam nickte. »Gestern fühlte ich mich am Ende. Ich hatte nur noch den Wunsch, mit einem Freund zu sprechen, und mir war es gleichgültig, ob ich weiterleben würde. Aber dann war da Carry, und ihretwegen bin ich dann doch hergekommen. Carry hat ein Loch in der Herzscheidewand. Sie muss schnellstens operiert werden, und ich wollte dich fragen, welcher Arzt dafür infrage kommt. Aber sag bitte nicht Benten, Daniel.«

Daniels Augenbrauen schoben sich zusammen. »Er war damals hinter dir her«, sagte er. »Ich erinnere mich. Als Herzchirurg hat er einen guten Ruf, und mittlerweile hat er zwei Ehen hinter sich gebracht. Ich muss nachdenken, wer für diesen Fall infrage kommen könnte.«

»Semmelbrot«, sagte Fee, und Miriam sah sie konsterniert an.

»Er heißt so, dagegen kann man nichts machen«, sagte Fee erklärend, »aber er ist ein ausgezeichneter Herzspezialist. Natürlich ist Benten prominenter. Er tut ja auch viel für die Publicity. Aber Semmelbrot hat jetzt schon einen sehr guten Ruf, obgleich er noch jung ist. Du gibst mir doch recht, Daniel?«

»Wie immer, mein Schatz, aber dieser Herr Henneke möchte vielleicht einen bekannteren Arzt haben.«

»Er wird sich auf dein Urteil verlassen, Daniel«, sagte Miriam. Mit warmen Worten sprach sie von Jonas und auch von Tante Hanne, die von Dr. Behnisch operiert worden war.

»Von ihr hörte ich, dass Dieter auch verheiratet ist«, sagte sie.

»Den haben wir verkuppelt«, lächelte Daniel. »Mit unserer Kollegin Jenny Lenz. Sie verstehen sich prächtig. Darf ich mal indiskret fragen, was aus deiner Verlobung geworden ist, Miriam?«

Er wollte, dass sie endlich mal über sich sprach. Ihre Andeutung, dass ihr das Leben nichts mehr bedeutet hatte, hatte ihn aufhorchen lassen und bedrückte ihn nachhaltig.

»Nichts, außer schlimmen Erkenntnissen und ein paar Monaten Gefängnis als Draufgabe«, erwiderte sie bitter.

»Mein Gott, wieso das?«, fragte Daniel, während Fee Miriam bestürzt ansah.

»Wegen eines Unfalls, den man mir in die Schuhe schieben wollte«, sagte Miriam bitter.

Ein kurzes Schweigen trat ein. Daniel atmete schwer. »Hier ging vor Jahren das Gerücht, dass du bei einem Unfall ums Leben gekommen wärest«, sagte er dann.

»Fast«, sagte Miriam mühsam. »Ich habe über ein Jahr im Hospital zugebracht. Man war zuerst nicht sehr interessiert, mich am Leben zu halten. Anscheinend bin ich aber recht zäh. Mein Körper ist voller Narben. Vielleicht sprechen wir ein andermal darüber. Mir ist Carry jetzt wichtiger.«

»Es ist nur eine Formalität, sich mit Semmelbrot darüber zu unterhalten«, sagte Fee. »Warum mussten Sie ins Gefängnis, Miriam?«

»Richard war überaus beliebt. Ist die Kunde nicht bis hierher gedrungen, dass der bekannte, vielfach ausgezeichnete Bakteriologe Dr. Wording bei jenem Unfall zu Tode kam?« Sarkastisch und fast hart war jetzt ihre Stimme.

»Wir lesen so selten Zeitung«, sagte Daniel.

»Doch, ich kann mich jetzt erinnern«, warf Fee ein, »aber nur undeutlich. Wie man eben etwas liest über einen Menschen, der zwar einen bekannten Namen hat, den man aber nicht persönlich kennt. Und man vergisst es. War er mit Ihnen im Wagen?«

»Nein, er fuhr in seinem auf mich zu, und dies mit der Absicht, mich ins Jenseits zu befördern«, erklärte Miriam. »Es ist eine lange und unschöne Geschichte. Und sie klingt unwahr, wie mir immer wieder gesagt wurde. Immerhin fand sich dann nach Monaten doch ein Augenzeuge, der meine Schilderung bestätigte. Man muss bedenken, dass fast zwei Jahre vergangen waren, bevor es zu der Verhandlung kommen konnte, da man mich erst eingehend auf meinen Geisteszustand untersuchen musste, ob ich überhaupt verhandlungsfähig sei. Und ich muss sagen, dass ich tatsächlich fast verrückt war, weil ich nicht begreifen konnte, dass ein Mensch, mit dem man einmal verbunden war, so etwas tun konnte. Rick wusste, dass er nicht mehr lange zu leben hatte. Er war am Ende, drogensüchtig und nur noch voller Hass, denn er wollte ja so gern leben. Er erinnerte sich meiner, die er schon Jahre vorher wegen eines ganz jungen Dinges verlassen hatte. Ich sollte ihm helfen, und ich versuchte es auch. Aber die Hilfe, die er wollte, konnte ich ihm nicht geben. Ich musste sie ihm verweigern. Ich beschaffte ihm nicht die Opiate, die er haben wollte. Er hasste mich, weil ich leben durfte, weil ich gesund war und Erfolg hatte. Sein Hass war maßlos, weil er von mir nicht bekam, was für mich doch erreichbar gewesen wäre. Ich riet ihm, eine Entziehungskur zu machen. Und das brachte ihn so in Wut, dass er sich in seinen Wagen setzte und mich verfolgte. Ich konnte ihm entkommen, aber plötzlich kam er aus einer Seitenstraße auf mich zu. Ich weiß nicht, ob ich diese Sekunden jemals vergessen werde. So, das wäre es. Nun bin ich es los. Es klingt unglaubhaft, nicht wahr?«

»Ich zweifle nicht daran, weil du es sagst, Miriam«, sagte Daniel leise, während Fee voller Erschütterung in Miriams aufgewühltes Gesicht blickte. »Du hast Entsetzliches durchgemacht.«

»Allein in der Zelle«, sagte Miriam monoton, »immer diesen Gedanken überlassen, von Feindseligkeit umgeben. Und dann hat man mich abgeschoben wie eine Verbrecherin. Ich werde meinen Beruf nicht mehr ausüben können. Ich bin auch finanziell am Ende. Es war wohl Irrsinn, dass ich mein letztes Geld verwendete, um nach München zu kommen, aber es sollte wohl so sein, Carrys wegen. Ich möchte, dass dieses junge Leben erhalten bleibt, dass sie gesund wird. Aber du verstehst wohl, dass ich nur mit einem Freund, der mich von früher kannte, über diese Geschichte sprechen konnte, Daniel.«

»Jetzt ist doch alles schon ein bisschen leichter«, sagte Daniel. »Und warum solltest du deinen Beruf nicht mehr ausüben?«

»Rick hatte viele einflussreiche Freunde. Mir fehlt es an dem Talent, mir Freunde zu schaffen. Ich habe zu viel da drunten bemängelt.«

»Das hat doch hier keine Gültigkeit! Hier hast du jedenfalls Freunde.«

»Danke, dass du es sagst, aber es gibt da Leute, die einen langen Arm haben, weitreichende Verbindungen, und es gibt auch in Europa Leute, die Dr. Richard Wordings Genialität überaus schätzen und seine Krankheit als Folge seiner aufsehenerregenden Versuche betrachten. Vielleicht begann sie auch dadurch, vielleicht bin ich nicht objektiv. Aber ich war schon lange mit ihm fertig, als er sich dann meiner erinnerte. Es ist schlimm, wenn man den wahren Charakter eines Menschen kennt, der einem einmal etwas bedeutete. Mein Gott, wie schnell die Zeit verrinnt. Der arme Hermannke wird hungrig sein.«

»Da mach dir keine Sorgen. Er sitzt bei Lenni und wird von ihr versorgt.«

»Was seid ihr lieb«, sagte Miriam bewegt. »Und ich komme euch nur mit meinen Sorgen.«

»Du wirst hoffentlich bald und recht oft wiederkommen«, sagte Daniel. »Ich muss jetzt leider in die Praxis, weil ich ein paar Patienten bestellt habe. Wir müssen über deine Geschichte noch sprechen und sie in Ordnung bringen, Miriam. Denk daran, was wir früher immer sagten: Was uns nicht umbringt, macht uns stärker.«

»Du ahnst nicht, wie oft ich daran gedacht habe, nur der Glaube fehlte mir daran.«

»Und den braucht man, Miriam«, sagte Fee. »Ich meine, dass ein Mensch, der sich so um das Leben eines anderen sorgt, sich selbst nicht aufgegeben hat!«

»Heute sieht alles schon anders aus«, sagte Miriam verhalten. »Und wenn Carry gesund wird, wenn ich ein bisschen dazu beitragen kann, wird die Welt nicht mehr so düster aussehen.«

Hermannke bedankte sich für das gute Essen, das ihm vorgesetzt worden war.

Fee umarmte Miriam spontan. »Kopf hoch«, sagte sie, »und lassen Sie bald von sich hören.«

Daniel begleitete sie hinaus. »Was ich noch sagen wollte, Miriam«, murmelte er leicht verlegen, »du kannst dich in jeder Beziehung auf uns verlassen. Verstehe auch das richtig«, fügte er hinzu, als er blitzschnell einen Umschlag in ihre Tasche steckte.

Und dann verschwand er rasch wieder im Haus, um ihr keine Gelegenheit zu einem Protest zu geben.

»Wenn ich mir eine Bemerkung gestatten darf, gnädige Frau«, sagte Hermannke, »das sind sehr feine Menschen. Die geben meinem Chef nichts nach, und er war immer der Größte für mich.«

»Nett, dass Sie das sagen«, meinte Miriam. »Sind Sie schon lange bei Herrn Henneke beschäftigt?«

»Jemine, ich war schon bei seinem Vater. Fünfundzwanzig Jahre waren es schon letzten Monat. Und so gut kann ich es nirgends haben.«

»Sie sind doch höchstens vierzig, Hermannke«, sagte Miriam gedankenvoll.

»Einundvierzig. Als Lehrling habe ich in der Druckerei angefangen. Dann, vor drei Jahren, hatte ich eine Wirbelverletzung, und mit dem Stehen ging es nicht mehr so. Seither bin ich so ein bisschen Mädchen für alles im Betrieb bei gleichem Gehalt. Ist ein feiner Mann, der Herr Henneke, wo er doch so einen großen Verlag leitet. Gehört alles ihm. Ist schon ein Jammer, dass er keinen Sohn hat. Entschuldigung, ich rede zu viel.«

»Erzählen Sie nur ein bisschen«, sagte Miriam.

»War so nett, dass der Doktor mich zum Essen eingeladen hat. Gibt selten Menschen, die so sind. Haben auch eine sehr nette Hausdame. Kann prima kochen.«

»Das habe ich auch festgestellt.«

Hermannke gab sich noch einigen Betrachtungen über sein Glück hin, für Jonas Henneke tätig sein zu dürfen, und diese Mitteilsamkeit war so rührend, dass man sie nicht einen Augenblick als lästig empfinden konnte. Nun wusste Miriam schon ein wenig mehr über diesen Mann, der über sich selbst gar nicht sprach.

*

Jonas war mit Carry nach dem Mittagessen spazieren gegangen. Auf ihr Mittagsschläfchen verzichtete Tante Hanne nicht. Zum ersten Mal waren Vater und Tochter nun ganz allein. Seltsamerweise fehlte beiden etwas, nämlich Miriam, wenn sie sich es auch gegenseitig nicht eingestanden.

Carry wollte ihrem Papi nicht wehtun. Sie war ja auch glücklich, bei ihm zu sein, doch unversehens hatte Miriam schon einen Teil ihres Herzens gewonnen.

»Du magst Miriam, nicht wahr, Papi?«, fragte Carry. Er hatte eben über diese Frau nachgedacht, die ihm so manches Rätsel aufgab. Sein Arm legte sich fester um Carrys Schultern.

»Ich mag sie, weil du sie gernhast«, erwiderte er.

»Sie ist bestimmt sehr gescheit, und sie sieht doch auch sehr gut aus«, sagte Carry. »Für mich ist das nicht wichtig, aber für einen Mann wohl schon.«

»Woher hast du denn diese Weisheit, Kleines?«, fragte er irritiert.

»Nonna sagte, dass Mama sehr schön war, ich mich aber wohl sehr anstrengen müsste, um einen passenden Mann zu finden.«

»So ein Unsinn«, entfuhr es ihm.

»Sie hatte viel an mir auszusetzen. Vielleicht deshalb, weil ich deine Augen habe. Sie sagte oft, ich solle sie nicht mit deinen Augen ansehen, aber ich bin doch froh, dass ich deine Augen habe.«

Er blieb stehen und nahm sie in die Arme. »Du bist so lieb, mein Kleines«, sagte er mit rauer Stimme. »Ich konnte so wenig für dich tun, und doch sind wir uns nie fremd geworden.«

»Ich wäre gern immer bei dir gewesen, Papi«, sagte Carry leise. »Als ich klein war, habe ich das noch nicht so begriffen, aber so dumm, wie man mich immer hinstellen wollte, bin ich nicht. Nein, ich bin nicht geistig zurückgeblieben.«

»Hat man das dir auch einreden wollen?«, fragte er mit aufsteigendem Zorn.

»Mama war so klug, und sie konnte drei Sprachen fließend sprechen, aber mir ist doch keine Gelegenheit gegeben worden, mehr Sprachen zu lernen. Nonna war schon wütend, dass ich so schnell deutsch gelernt habe. Ich habe dann nie mehr deutsch gesprochen. Warum hat sie dich so gehasst, Papi? Würdest du mir darauf eine ehrliche Antwort geben?«

»Ich weiß es nicht, mein Kind. Nein, ich weiß es wirklich nicht. Ich habe deine Mutter geliebt, aber wahrscheinlich liebte ich sie mehr, als sie mich liebte. Es kam schnell der Zeitpunkt, da sie sich nach Hause sehnte. Das ist die Wahrheit.«

Jonas hätte es nie für möglich gehalten, dass er so offen mit diesem Kind sprechen könnte, denn für ihn war Carry immer noch ein Kind. Er hatte sie zu selten bei sich gehabt, als dass er sie schon als Heranwachsende hätte betrachten können.

»Mama hat dich geheiratet«, sagte Carry, »warum verhinderten sie es nicht?«

Darauf konnte Jonas nicht gleich erwidern. Seine Stirn legte sich in Falten, seine Lider senkten sich.

»Sag es mir«, drängte Carry. »Ich will alles wissen. Vielleicht lebe ich wirklich nicht mehr lange, wie Nonna es wohl wünschte. Ich will alles wissen, wie es war, dann bin ich viel ruhiger, Papi. Ich quäle mich mit vielen Gedanken. Meinst du nicht, dass ich ein Recht habe, alles zu erfahren? Ich bin kein Kind mehr.«

»Ja, du hast ein Recht darauf, Carry«, sagte Jonas. »Mir bestritt man das Recht, dich zu mir zu nehmen. Ich dachte früher, dass die Wahrheit dir wehtun würde, weil ich meinte, dass du Nonna nahe stündest.«

»Nonna, Nonna, ich habe schon diese Anrede nicht gemocht. Für die italienischen Kinder ist eine Nonna fast etwas Heiliges. Aber dieses Land war nie meine Heimat, obgleich ich dort aufwuchs. Natürlich haben sie mich in einem großartigen Stil aufwachsen lassen. Aber was war das schon? Mir bedeutete es nichts.«

Und mit meinem Geld, dachte Jonas. Es war doch nur mein Geld, was mich als Lucias Mann passend erscheinen ließ. Durfte er das Carry sagen?

»Warum haben sie es Mama gestattet, dass sie dich heiratete?«, fragte Carry. »Ich will es wissen.«

»Was haben sie dir gesagt, Carry?«, fragte Jonas. »Du hast ihnen diese Frage doch sicher auch gestellt.«

»Ich habe sie Nonna gestellt. Als ihr Mann noch lebte, war ich zu klein, um darüber nachdenken zu können.«

»Und was hat sie erwidert?«

»Mama wäre erwachsen gewesen und konnte bestimmen, wen sie heiraten wollte. Und sie hätte eben dich gewollt.«

»Ja, sie hat mich gewollt«, erwiderte Jonas. »Du wirst das auch noch erleben, Carry. Wenn man verliebt ist, wünscht man sich, mit dem anderen Menschen verbunden zu sein für ein Leben.«

»Ob ich das erlebe?«, fragte Carry.

»Bestimmt, mein Liebling. Du wirst noch ein langes Leben vor dir haben.«

»Du sollst mir nicht ausweichen, Papi. Mein Leben liegt in Gottes Hand. Gestern habe ich das zum ersten Mal richtig empfunden. Wenn Gott gewollt hätte, dass es beendet wird, wäre ich gestorben. Er hat mir Miriam geschickt. Aber das ist etwas anderes. Immer wurde mir gesagt, dass ich wegen meines Herzfehlers nicht so spielen dürfte, wie andere Kinder und mit anderen Kindern. Es war eine gute Ausrede für Nonna. Dafür musste sie nicht mal beichten. Es war eine Genugtuung für sie, so viel habe ich auch begriffen. Sie wurde ja dadurch dafür rehabilitiert, dass sie mir Umgang mit anderen Kindern verbot. Aber wenn sie mich wirklich lieb gehabt hätte, würde sie mir nicht alles so gesagt haben, wie sie es tat. Das musst du doch bestätigen.«

»Ja«, erwiderte er nach kurzem Zögern.

»Sie hätten nie erlaubt, dass Mama einen Deutschen heiratet, wenn dafür nicht gewichtige Gründe bestanden hätten. Ging es um Geld?«

Ihm stockte der Herzschlag, weil sie es instinktiv ahnte. Er hatte das damals nicht so deutlich erkannt.

»Es mag sein«, erwiderte er ausweichend.

»Du sollst es mir sagen«, verlangte Carry.

»Dein Großvater hatte damals ziemliche Verluste«, erwiderte Jonas zögernd.

»Und keinen Kredit mehr. Ich habe mal so was gehört, viel verstehe ich nicht davon.«

»Was hast du gehört?«

»Dass sein Ansehen auf dem Spiel stand. Um Mama hatte sich ein Conte beworben, und diese Verlobung kam nicht zustande. Carlotta unterhielt sich darüber mal mit Domenic. Du weißt doch, dass Domenic studiert hat. Er wusste ziemlich gut Bescheid in juristischen Dingen. Ich durfte ja nicht mit ihm reden, aber manchmal taten wir es doch. Nonna wollte es nicht wahrhaben, dass der Sohn ihrer Haushälterin studierte. Sie war so entsetzlich hochmütig.«

»Hast du Domenic gern, Carry?«, fragte Jonas.

»Du lenkst immer ab, Papi. Domenic hat eine Freundin. Unterhalten konnte ich mich trotzdem mit ihm. Ich bin lange nicht so hübsch wie seine Nicoletta. Er hat auch gesagt, dass es gut für mich sein wird, wenn ich bei dir leben kann, als Nonna starb. Es ist eine Sünde, dass ich so denke, aber ich war froh, als sie tot war.«

»Carry, was hast du gelitten!«, kam es gequält über Jonas’ Lippen.

»Ich weiß es nicht, Papi. Ich wünschte doch immer nur, bald bei dir sein zu können. Ich hatte alles. Ich lebte in einem Palazzo wie eine Prinzessin, und manche Mädchen beneideten mich. Ich hatte immer nur Sehnsucht nach dir. Warum ist Mama nicht bei dir geblieben?«

»Das Klima hier bekam ihr nicht.«

»Aber Mama gefiel München doch so gut«, sagte Carry leise. »Ich habe einen Brief gelesen, den sie an Nonna geschrieben hatte. Darin schrieb sie, dass München wundervoll sei.«

Das war damals, als sie noch nicht das Kind erwartete, dachte Jonas. Es behagte ihm nicht, über Lucia zu sprechen. Carry hatte ihre Mutter niemals kennengelernt. Sie wusste nicht, wie betörend sie gewesen war. Nein, Carry hatte nichts von ihr, nicht einmal das schwarze Haar.

»Wie viel Geld hast du ihnen eigentlich gezahlt, damit sie ihr Jawort zu eurer Heirat gaben?«, fragte Carry nun sehr direkt.

»Kind, ich habe das nicht so gesehen«, erwiderte Jonas gepresst. »Sie waren nur vorübergehend in Schwierigkeiten. Das kann jedem mal passieren. Lass uns doch von etwas anderem sprechen. Du könntest mir auch Vorwürfe machen.«

»Wieso? Ich weiß genau, was sie alles anstellten, damit ich bei ihnen bleiben musste. Daraus hat Nonna kein Hehl gemacht. Sie betonte ja immer, dass es nur zu meinem Besten sei, dass du bestimmt bald wieder heiraten würdest und ich dann eine Stiefmutter bekäme, der ich doch nur im Wege sein würde. Und Jahr um Jahr verging, und du hast nicht wieder geheiratet.«

»Ich habe auch nicht die Absicht«, sagte Jonas mit einem flüchtigen Lächeln. »Ich bin glücklich, dass wir zusammen sind, mein Liebling.«

*

Zur gleichen Stunde begann die Crew des Flugzeuges, nach ausgiebigem Schlummer, das glückliche Ende ihres abenteuerlichen Fluges zu feiern. Zeit dafür hatten sie, denn sie hatten drei zusätzliche Freitage für ihre Leistungen bekommen.

Conny Dahm war zwar nicht von seiner Fränzi erwartet worden und darum leicht missgestimmt gewesen, aber zu einer ausgedehnten Wiedersehensfeier wäre er am gestrigen Abend auch nicht aufgelegt gewesen.

In ihrem Stammhotel waren sie mit großem Hallo empfangen worden, aber schnell hatten sie sich auf ihre Zimmer zurückgezogen. Einen kleinen Zwischenfall verursachte nur Wendy, die Holger impulsiv einen Kuss gab und danke sagte.

Dann aber verschwand sie gleich in ihrem Zimmer. Anja erschien kurz darauf in der Verbindungstür.

»Das war aber mutig«, sagte sie. »Hoffentlich hat’s jetzt bei ihm gefunkt.«

»Das lag nicht in meiner Absicht. Ein anderer als Holger hätte uns nicht sicher auf die Erde gebracht.«

»Na, na, aber meinetwegen mach ihn zu deinem Helden, Wendy. Ich gönne ihn dir ja, aber ich möchte, wenn ich schon mal heirate, lieber einen Mann haben, um den ich nicht jeden Tag zittern muss.«

»Du zitterst doch auch nicht, wenn wir oben sind«, meinte Wendy.

»Na, heute war mir zweierlei.«

Dann hatte sie sich schnell zurückgezogen, und Wendy konnte noch ein bisschen an Holger denken, bevor ihr die Augen zufielen.

Potztausend dachte der, Wendy ist doch sonst so unnahbar. Aber lange dachte er auch nicht mehr darüber nach. Er nahm sich noch ein Fläschchen Whisky aus dem Kühlschrank, und nach einem kräftigen Schluck hatte er ebenfalls die nötige Bettschwere.

Nun aber war ein anderer Tag. Sie hatten lange geschlafen, ihr Frühstück ans Bett serviert bekommen und mit diesem die erfreuliche Nachricht, dass sie die zusätzlichen drei freien Tage bekämen. Das bedeutete fast eine Woche in München, ohne Dienst und mit der Aussicht, auch mal wieder eine Nacht durchzubummeln.

Seltsamerweise war es Holger diesmal gar nicht danach zumute. Erst recht nicht, als er dann neben Wendy saß und ihr zuprostete.

Sie bildeten schon über ein Jahr eine Crew, und er hatte gemeint, dass alles so gut ging, weil es keine privaten Bindungen zwischen ihnen gab, wie es sich doch manches Mal zwischen Piloten und Stewardessen anspann. Conny hatte seine Fränzi, und er liebte ein bisschen Abwechslung. Sich nur nicht zu sehr zu engagieren, war seine Devise, und Wendy hatte das, wenn auch wehmütig, zur Kenntnis genommen.

Anja war wechselnden Flirts auch nicht abgeneigt, aber sie war bewusst auf der Suche nach dem Richtigen, bei dem alles zusammenstimmte, was sie von einem Ehemann erwartete. Sie machte daraus kein Geheimnis.

Conny hatte seine Fränzi auch telefonisch nicht erreichen können, war ziemlich mürrisch und wollte sich nun mit Anja trösten. Aber die hatte einen anderen Mann ganz intensiv ins Auge gefasst, der mit einigen anderen Herren am gegenüberliegenden Tisch saß.

»Das ist er«, sagte sie leise, aber doch allen verständlich.

»Wer?«, fragte Conny.

»Mein Zukünftiger. Ich habe heute Nacht von ihm geträumt, und da sitzt er.«

»Hast du gestern einen Schock bekommen?«, erkundigte sich Holger konsterniert.

»Ich bin völlig okay«, sagte Anja mit einem zufriedenen Lächeln. »Heute kommt der Wendepunkt in meinem Leben. Ich spüre es bis in die Zehenspitzen.«

Und tatsächlich sah im selben Augenblick jener Mann zu ihr herüber. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, und dann lächelte er ihr zu.

»Träume sind nicht immer Schäume«, murmelte Anja errötend.

»Jetzt spinnt sie«, sagte Conny.

»Kümmere du dich lieber um deine Fränzi. Sie könnte ja krank sein«, sagte Anja schlagfertig.

»Meine Güte, daran habe ich gar nicht gedacht«, rief er aus.

»Was denken Männer schon, wenn sie sich in ihrer Eitelkeit gekränkt fühlen«, sagte Anja.

»Und was denken sie wohl, wenn sie von einer hübschen jungen Dame wie elektrisiert angeschaut werden?«, murmelte Holger, als der Ober eine Rose und ein Kärtchen an den Tisch brachte und neben Anjas Gedeck legte.

»Sie haben anscheinend die gleiche Wellenlänge«, sagte Conny. »Ich rufe jetzt Fränzi noch mal an.«

Anja starrte auf die Karte.

»Bezauberndes Mädchen, wann können wir uns treffen«, las sie. »Ap. 142. Chris Andresen.«

»Den Zufall schenkt uns Gott, zum Schicksal muss der Mensch ihn erst gestalten«, sagte Anja flüsternd zu Wendy, ohne den Blick zu heben. »Er hat Appartement 142, und ich habe am 14.2. Geburtstag. Außerdem fängt sein Nachname mit den gleichen Buchstaben an wie mein Vorname. Und da soll ich gschamig sein, wie man hier in München sagt?«

Wendy war viel zu verwirrt, um alles gleich mitzukriegen. Wieder trat der Ober an den Tisch, wieder brachte er ein Kärtchen. Diesmal jedoch war es von Conny.

Fränzi am Blinddarm operiert. Habe mit ihrer Mutter gesprochen. Feiert allein weiter. Ich fahre zur Klinik.

Und in diesem Augenblick erhoben sich die vier Herren am Nebentisch.

Diskrete Blicke flogen zu Anja, und dann sagte einer leise, aber doch vernehmbar: »Viel Glück, Chris.«

Drei gingen, Chris blieb vor Anja stehen. »Darf ich mich zu Ihnen setzen?«, fragte er, sich auch den anderen nochmals vorstellend.

Holger zeigte sich der seltsamen Situation gewachsen.

»Eigentlich wollte ich mit Wendy einen Einkaufsbummel machen, aber dagegen hast du wohl nichts, Anja?«

»Nein«, erwiderte sie prompt.

Man musste es ihr lassen, sie wollte den Zufall ohne Umwege zum Schicksal gestalten.

»Ist das nicht ein bisschen komisch?«, fragte Holger Wendy, als sie den Speisesaal verlassen hatten.

»Dann könnte ich auch sagen, dass es komisch ist, wenn du wirklich einen Einkaufsbummel mit mir machen willst, Holger«, erwiderte sie schelmisch.

»Wir kennen uns schließlich schon eine Ewigkeit«, sagte er.

»Was wollen wir denn kaufen?«, fragte sie.

»Das wirst du schon sehen. Hoffentlich ist Anja da nicht an einen Gauner geraten.«

»So sieht er nicht aus«, meinte Wendy.

»So was brächte ich nicht fertig«, sagte er. »Einfach eine Rose schicken.«

»Wie beginnen eigentlich deine Flirts?«, fragte Wendy stockend.

»Das ist kein Thema«, brummte er. »Guter Gott, man fordert mal ein Mädchen zum Tanzen auf oder zu einem Drink, ohne jede Verpflichtung. Entscheiden kann man sich doch erst, wenn man sich richtig kennt, und wenn man zwischen den Kontinenten hin und her fliegt, bietet sich dazu keine Gelegenheit, es sei denn …«, er geriet ins Stocken.

»Es sei denn, man verliebt sich eines Tages doch in eine sehr aparte Stewardess, die sich sehr betont mit einem undurchdringlichen Schleier der Unnahbarkeit umgibt«, fuhr er dann fort.

Seine kräftige Hand umschloss ihren Arm. »Dann ist es aber ganz ernst, Wendy. Kein Flirt, kein Spiel, nicht bloß eine Laune.«

»Bei Anja ist es auch keine Laune«, sagte Wendy mit bebender Stimme. »Sie hat mal zu mir gesagt, dass sie gar nicht daran denkt, dem Mann, der ihr hundertprozentig gefällt, allein die Initiative zu überlassen. Sie meint, dass man das Glück beim Schopf packen müsse.«

Seine Hand fuhr in ihr dichtes Haar. »Das werde ich jetzt auch tun, Wendy. Einwendungen?«

Ihr Herz klopfte stürmisch. »Gestern der Kuss war wirklich als Dank gemeint, Holger«, flüsterte sie.

»Und nun willst du dir doch wieder den Mantel der Unnahbarkeit umhängen?«

»Nein, ich habe nur nicht den Schneid von Anja.«

»Willst du damit sagen, dass du schon länger was für mich übrig hast?«, fragte er staunend.

»Schon sehr lange«, gab sie zu.

»Und ich Esel habe es nicht wahrgenommen? Du hast es zugelassen, dass ich mit anderen flirte?«

»Bange war mir schon dabei, aber die Menschen sind halt verschieden.«

»Und mancher sieht den Wald vor Augen nicht«, murmelte er. »Also, dann werden wir mal Verlobungsringe kaufen.«

»Hast du dir das auch gut überlegt?«, fragte Wendy bebend vor Glück.

»Jetzt brauche ich nicht mehr zu überlegen, Mädchen. Meine Güte, ich habe immer gedacht, dass die Wendy auf einen Prinzen wartet, so hoheitsvoll wie sie immer war.«

»Ich habe ja meinen Prinzen gefunden«, sagte sie zärtlich.

»Dieses Raubein, der fluchen kann wie ein Bierkutscher? Na, du hast dir was Schönes eingehandelt, Schätzchen.«

Und mitten auf der Straße gab er ihr einen Kuss, den sie innig erwiderte.

Und was hatte sich Anja eingehandelt? Wie es den Anschein hatte, die Liebe auf den ersten Blick.

»Lange konnte ich nicht warten«, sagte Chris. »Erstens wusste ich nicht, ob du nicht schon ein paar Stunden später fort bist, zweitens bin ich auch nur geschäftlich hier und dann hat es so gefunkt, dass ich einfach weg war. Aber eins sage ich dir gleich, fliegen lasse ich dicht nicht mehr.«

So verschieden waren die Menschen, so verschieden konnte auch eine Liebe beginnen. Die einen wussten es sofort, die anderen brauchten länger, und manchmal gingen die Menschen auch an ihrem Glück vorbei, verloren sich, weil sie nicht den Mut hatten, den Augenblick des Zufalls zu nützen, der ihnen geschenkt wurde, und den sie dann zu ihrem Schicksal machen konnten. Wendy und Anja waren auf verschiedene Art glücklich und die dazugehörigen Männer auch.

Nur Conny war unglücklich, denn seiner Fränzi ging es nicht gut. Im letzten Augenblick war sie operiert worden, und war es nicht auch ein schicksalhafter Zufall, dass sie in der Behnisch-Klinik lag und einem geistesgegenwärtigen Dr. Norden ihr Leben zu verdanken hatte?

Natürlich hatte Conny keine Ahnung, dass dieser Dr. Norden wiederum nun mit dem Schicksal zweier Menschen beschäftigt war, die sich auch in diesem Flugzeug befunden hatten.

Er hielt eine heiße kleine Hand und atmete auf, als Fränzi die Augen aufschlug.

»Conny«, flüsterte sie, »es tut mir leid, dass ich dich nicht abholen konnte.«

Er küsste sie. Man konnte wohl sagen, dass die gesamte Crew dieses Flugzeuges mit sehr privaten Angelegenheiten beschäftigt war.

»Ich hatte schon ein paar Tage Schmerzen«, sagte Fränzi, »aber ich wollte doch am Flugplatz sein, wenn du kommst, und da habe ich dann immer wieder Tabletten geschluckt. Und dann kam dieser schreckliche Nebel und ich hatte solche Angst um dich. Da bin ich zusammengeklappt.«

»Es wäre bald schiefgegangen«, murmelte Conny. Fränzi hörte es nicht mehr. Mit einem glücklichen Lächeln schlief sie ein, weil sie nun wusste, dass ihr Conny bei ihr war.

*

»Fränzi Rommeis geht es besser«, sagte Loni zu Dr. Norden. »Das soll ich Ihnen von Dr. Behnisch ausrichten. Ihr Verlobter ist bei ihr, das scheint zu helfen. Er ist Kopilot von der Maschine die gestern Abend die dramatische Landung hatte.«

»Wie seltsam«, sagte Daniel Norden. »Mit dieser Maschine kam eine Studienfreundin von mir. Was macht Ihr Zahn, Loni?«

»Dem geht es wieder gut. Dr. Schröder ist ein fantastischer Zahnarzt.«

»Bitte, verlieben Sie sich nicht in ihn«, seufzte Daniel.

Loni lachte auf, und er hörte es gern, wenn sie lachte, denn sie hatte viele Schicksalsschläge hinnehmen müssen.

»Er ist doch viel jünger als ich«, sagte Loni. »Sie können ganz unbesorgt sein, Chef. Mich werden Sie so schnell nicht mehr los.«

»Und der Zahn wird gerettet?«

»Er bekommt eine schöne Krone. Darf ich Sie diskret darauf aufmerksam machen, dass Frau Göll schon wartet.«

»Bei ihr pressiert es doch nicht«, sagte Daniel. »Sie liest gern die Illustrierten. Geben Sie ihr ein bisschen Lektüre mit, Loni.«

»Mach ich sowieso. Ich hebe die Zeitschriften, die ich mir kaufe, auch für sie auf. Sie freut sich immer so.«

Frau Göll ging auf die Siebzig zu, und ihr Leben war einsam. Sie hatte ihre körperlichen Beschwerden, aber geistig war sie noch sehr rege und manchmal konnte man meinen, dass es nicht die Spritzen waren, die ihr halfen, sondern dass sie mal wieder eine Ansprache nötig hatte.

Wie tat es ihr doch gut, dass sie sich mit Dr. Norden unterhalten konnte, dass er sie nicht auf die Schnelle abfertigte. Schließlich war sie nur eine Kassenpatientin und bevor sie vor drei Jahren zu Dr. Norden kam, war sie auch als solche behandelt worden, hastig, so ganz nebenbei. Geschwätzig war sie nicht und auch nicht nervtötend mit irgendwelchem Klatsch. Sie war nur eine einsame alte Dame, die für sich lebte und um die sich niemand kümmerte.

Daniel hatte mehr Patienten, für die der Gang zum Arzt die einzige Abwechslung in einem kargen Leben war. Dass er Frau Göll extra bestellte, lag daran, dass sie Platzangst bekam, wenn das Wartezimmer so voll war.

»Der Nebel hat mir schon arg zu schaffen gemacht«, sagte sie.

»Nicht nur Ihnen, Frau Göll.«

»Sie sind jetzt wohl wieder dauernd unterwegs«, meinte sie mitfühlend.

»Man ist es ja gewohnt«, lächelte Daniel. »So, die Spritze hätten wir.«

»Wie Sie das machen«, sagte Frau Göll bewundernd. »Man merkt überhaupt nichts.« Schüchtern legte sie ein kleines Päckchen auf den Schreibtisch. »Für Ihr Bübchen, Herr Doktor, und einen schönen Gruß an die Frau Gemahlin.«

Es war zu rührend, wie sie sich immer wieder bemühte, ihre Dankbarkeit zu beweisen. Das letzte Mal hatte sie Schühchen für Danny gestrickt und diesmal Fäustlinge. Für den kräftigen kleinen Burschen war beides zu klein, aber es würde ja noch etwas Kleineres nachkommen, dem es dann passen würde. Daniel hätte es nicht über das Herz gebracht, ihr zu sagen, dass Danny diesen winzigen Sächelchen, die sie mit so viel Freude und Ackuratesse strickte und häkelte, schon entwachsen war.

Beglückt zog sie dann wieder mit einem Packen Zeitschriften von dannen. Die nächsten Patienten kamen. Daniel war bis gegen sechs Uhr beschäftigt. Dann fuhr er zu den Köglers. Mit diesem gequälten Patienten ging es zu Ende, und auch Frau Kögler wusste jetzt, dass die Stunde des Abschieds nahte. Sie war sehr gefasst, als Dr. Norden zu ihr sagte, dass er jetzt noch einen Krankenbesuch machen und dann wiederkommen würde.

»Vorhin hat er mich noch mal angeschaut«, sagte sie. »Nun kann ich ihm nur noch wünschen, dass er ruhig hinüberschlummert.«

Was sollte er da Tröstendes sagen? Franz Kögler wurde erlöst von seinem Leiden. Zurück blieben eine Frau und drei Kinder. Ganz allein wie Loni Enderle und Lenni würde Frau Kögler nicht sein.

Daniel fuhr zur Behnisch-Klinik, um nach Fränzi zu sehen. Das junge Mädchen hatte ihm vor zwei Tagen einen gewaltigen Schrecken eingejagt, als er feststellen musste, dass ihr Leben an einem hauchdünnen Faden hing. Blitzschnell hatte alles gehen müssen. Mit Blaulicht und Martinshorn in die Klinik und dann auch gleich auf den Operationstisch.

Dr. Behnisch traf er auf dem Gang, aber Dieter hatte nur für einen kurzen Wortwechsel Zeit. »Der kleinen Rommeis geht es besser. Ist noch mal gut gegangen«, sagte er. »Jetzt ist der Herzallerliebste da, das hilft.«

Daniel lernte Conny Dahm kennen. »Ich habe schon erfahren, was ich Ihnen zu verdanken habe«, sagte Conny beklommen. »Und ich Dummkopf dachte, dass Fränzi nichts mehr von mir wissen will, weil sie nicht am Flugplatz war.«

Und böse hätte es ausgehen können, weil sie ihn unbedingt empfangen wollte.

»Sie hatten ja auch großes Glück, dass Sie heil auf die Erde zurückkamen, wie ich hörte«, sagte Daniel. »Hoffentlich können Sie ein paar Tage bleiben.«

»Ja, das hat dieser abscheuliche Nebel uns wenigstens Gutes gebracht. Drei Tage Sonderurlaub und bis wir wieder starten müssen, wird es Fränzi hoffentlich bessergehen.«

Nicht nur uns Ärzten werden Menschenleben anvertraut, ging es Daniel durch den Sinn, als er die Klinik wieder verließ. Wie mochte es wohl einer Flugzeugbesatzung zumute sein, wenn sie ihre Passagiere in Gefahr wussten? Und wie oft waren sie wohl in Gefahr, ohne es zu ahnen. Und schließlich hatte es eine Arztfrau wohl doch noch besser als eine Pilotenfrau oder die eines Schiffskapitäns, der gleich viele Wochen unterwegs war.

Was war er froh, dass die hübsche kleine Fränzi sich auf dem Wege der Genesung befand. Es war dann schrecklich genug, dass er Franz Kögler die Augen zudrücken musste, wozu seine Frau nicht mehr fähig gewesen war.

»Würden Sie bitte meine Eltern anrufen, Herr Doktor?«, fragte sie bebend. »Ich kann nicht mehr. Jetzt kann ich einfach nicht mehr.«

Das war begreiflich. Bis zuletzt hatte sie sich so tapfer gehalten. Jetzt versagten ihre Kräfte.

Er gab ihr jetzt ein starkes Beruhigungsmittel und blieb, bis ihre Mutter kam.

Währenddessen verständigte er das Beerdigungsinstitut. Auch das hatte er schon oft getan.

»Ich hätte es nicht durchgestanden, wenn Sie nicht gewesen wären, Herr Doktor«, flüsterte Frau Kögler. »Der Franz war doch so gern zu Hause. Ich hätte ihn nicht in einem Krankenhaus sterben lassen können.«

Sie war auch jetzt noch eine tapfere Frau. Einige Zeit würde noch vergehen, bis sie sich wieder zurechtfinden würde in einem veränderten Leben.

Die Nacht sank herab auf die große Stadt, in der es so viele Häuser, so viele Menschen, so viele Schicksale gab.

Viele mochten jetzt traurig sein und weinen und viele andere glücklich lachen, wie Holger und Wendy, wie Anja und Chris.

Und viele würde es geben, die so besinnlich beisammensaßen wie Jonas, Carry, Miriam und Tante Hanne, schwankend zwischen Kummer und Freude.

Carry hatte Miriam nachdenklich angeblickt, als sie sagte, dass der Arzt, den Dr. Norden und seine Frau empfohlen hatten, Semmelbrot heiße.

Miriam hatte gemeint, dass das Mädchen darüber lachen würde, wie es für einen Teenager verzeihlich wäre. Carry lachte nicht.

»Ja, dann werde ich mich mal mit Dr. Semmelbrot in Verbindung setzen«, sagte Jonas.

»Sie können auch gern vorher noch mit Dr. Norden sprechen, Jonas«, sagte Miriam.

Ein unergründlicher Ausdruck war in seinen Augen, als er sie jetzt anblickte. »Sie schätzen ihn sehr«, sagte er.

»Es gibt wenige Menschen, auf die man sich so verlassen kann«, erwiderte Miriam, und sie dachte daran, dass Daniel ihr tausend Mark in die Handtasche gesteckt hatte, ohne viele Worte darüber zu machen, ohne dass sie es als demütigend empfinden musste.

Es war ein Ansporn für sie. So schnell, wie nur möglich, wollte sie ihm dieses Geld zurückgeben, das ihr jetzt half, nicht ganz auf Jonas Henneke angewiesen zu sein.

Carry ging wieder brav früh zu Bett. Sie war es so gewohnt und sie brauchte auch die Ruhe. Tante Hanne hatte sich noch für eine halbe Stunde an ihr Bett gesetzt, aber schon vorher erklärt, dass sie auch recht müde und durch das Wetter geschafft sei.

Jonas und Miriam waren wieder allein. »Ich habe mir alles durch den Kopf gehen lassen, Miriam«, sagte er. »Dürfte ich darauf hoffen, dass Sie bei Carry bleiben, bis sie das Schlimmste überstanden hat? Carry hat so viel Vertrauen zu Ihnen.«

»Und Sie, Jonas? Sie wissen nichts über mich.«

»Ich pflege mir mein eigenes Urteil zu bilden«, sagte er.

»Und wenn ich Ihnen sage, dass ich im Gefängnis war und man mir die Fähigkeit absprach, meinen Beruf auszuüben?«

»Sie kommen aus Beirut. Ist da nicht manchmal etwas anders als bei uns? Aber vielleicht schenken Sie mir Ihr Vertrauen und erzählen mir, in welchen Schwierigkeiten Sie waren.«

Ganz ruhig war seine Stimme und so tröstlich für Miriam.

»Diese Jahre waren schrecklich«, sagte sie tonlos.

»Auch ich habe schreckliche Jahre hinter mir, Miriam«, sagte Jonas. »Fast sechzehn schreckliche Jahre. So viele können es bei Ihnen nicht sein.«

»Aber Sie haben gekämpft, und ich war des Kämpfens müde. Carry war es, die mich in ihrer Hilflosigkeit mahnte, dass ein Mensch nicht aufgeben und nicht an sich selbst verzweifeln darf.«

»Sollte das nicht ein neuer Beginn sein, Miriam?«, fragte Jonas. »Ich weiß, dass Sie alles für Carry tun würden. Deshalb können Sie keine Fremde für mich sein. Carry ist viel stärker, als ich glaubte. Wir hatten heute ein langes Gespräch, das mich staunen ließ, wie viel Willen in diesem zarten Geschöpf steckt. Carrys Zuneigung zu Ihnen ist stark. Macht Sie das nicht ein bisschen glücklich?«

»Nicht ein bisschen. Sehr. Ich will, dass sie gesund wird.«

»Danke«, sagte er schlicht.

»Mein Leben hat also wieder einen Sinn«, sagte sie. »Es ist wie ein Wunder. Der Nebel ist mein Freund geworden.«

»Nicht nur der Nebel, Miriam«, sagte Jonas. »Und nun erzählen Sie mir Ihre Geschichte. Von mir wissen Sie schon viel mehr.«

Es wurde sehr spät, bis sie sich trennten. Miriam konnte es nicht begreifen, dass sie alles noch einmal hatte sagen können. Wie in Trance hatte sie es getan, sich an Nebensächlichkeiten erinnernd, auch an jenen Tag, als sie Rick mit dem Mädchen, das nicht viel älter als Carry war, in einer eindeutigen Situation überrascht hatte.

»Warum sind Sie dort unten geblieben, Miriam?«, fragte Jonas.

»Ich hatte einen Vertrag unterschrieben. Man kann nicht einfach vertragsbrüchig werden. Die Zeit war dann fast beendet, als es zu dieser schrecklichen Geschichte kam.«

»Kamen Sie wegen Dr. Norden zurück?«, fragte Jonas zögernd.

»Ich war in einem Stadium der Selbstzerstörung, Jonas. Ich hatte gute Erinnerungen an diese Studienzeit und an Daniel, auch an andere. Aber manchmal fragte ich mich, ob auch Daniel, dem Rick vom Typ her ähnlich war, sich auch zum Nachteil entwickelt hätte, dennoch hoffte ich das Gegenteil, was sich auch bewiesen hat. Ich zweifelte selbst an meinem Geisteszustand. Ja, ich fragte mich auch, warum ich nicht wenigstens versucht hatte, Ricks Wagen noch auszuweichen. Es ist unbegreiflich, was einem in solchen Sekunden alles durch den Kopf schwirrt.«

»Im Flugzeug waren es lange Minuten«, sagte Jonas nachdenklich.

»Eine Ewigkeit«, bestätigte sie. »Aber da dachte ich nur an Carry.«

»Was habe ich alles gedacht in diesen schrecklichen Minuten«, sagte er. »Und nun, im Nachhinein, betrachte ich es als gutes Omen, dass das Leben meines Kindes erhalten bleiben soll. Ich werde mich morgen mit Dr. Norden in Verbindung setzen. Übrigens werden wir morgen Gäste haben. Der Sohn eines Geschäftsfreundes aus Kiel möchte mir seine zukünftige Frau vorstellen. Er rief mich vorhin an. Sie haben doch nichts anderes vor? Ich will nicht über Ihre Zeit verfügen, aber es wäre nett, wenn Sie dabei sein würden. Wenn nicht mir, dann Carry zuliebe.«

»Ich habe keine entsprechende Kleidung«, sagte Miriam verlegen.

»So offiziell wird es auch wieder nicht. Aber wie wäre es, wenn Sie morgen mit Carry einen Einkaufsbummel machen würden? Sie ist mit Kleidung auch nicht besonders gut versorgt. Ich hoffe, dass Sie es nicht falsch verstehen, wenn ich Sie bitte, dabei auch an sich zu denken. Ich bin tief in Ihrer Schuld.«

»Nein, das sind Sie nicht, Jonas.«

»Ist es nicht selbstverständlich, dass gute Freunde, und das sind wir doch schon geworden, untereinander helfen? Wie wäre es, wenn wir einen Vertrag schließen würden, Miriam? Sie bleiben bei uns zur Betreuung Carrys, und es ist selbstverständlich, dass ich Sie dafür entschädige, ohne dass Sie sich abhängig fühlen müssten.« Er war voller Hemmungen und wusste nicht, wie er sich ausdrücken sollte.

Miriam kämpfte mit widersprüchlichen Empfindungen, aber dann sah sie ihn voll an. »In meiner Situation muss ich Ihnen für dieses Angebot sogar dankbar sein«, sagte sie.

»Das ist doch ein Wort«, sagte er. »Jetzt fühle ich mich besser. Also, dann haben wir morgen allerhand vor.«

»Und jetzt ist es Zeit, schlafen zu gehen«, sagte Miriam. »Vielen Dank für alles, Jonas.«

»Das will ich nicht mehr hören, sonst müsste ich immer wieder sagen, wie dankbar ich bin, und das wiederum wollen Sie nicht hören. Wir haben viel gemeinsam, Miriam, aber wichtig ist, dass wir vergessen, was in der Vergangenheit geschah, Sie ebenso wie ich.«

*

Bei den Nordens war es auch spät geworden, denn nach einem solchen Tag brauchte Daniel Zeit, sich abzureagieren. Schlaf konnte er da nicht so schnell finden.

Fee hatte die neueste Platte von David Delorme aufgelegt. Er war wirklich ein großartiger Pianist.

»Besser denn je«, sagte Daniel, der klassische Musik immer geliebt hatte, früher aber Streichinstrumente vorzog. »David ist ein Zauberer.«

»Unsere Katja hat er ja auch verzaubert«, sagte Fee. »Er ist sehr viel reifer geworden.«

Nun war es ihr doch gelungen, Daniel auf andere Gedanken zu bringen, und das ließ sie aufatmen.

»Du bist auch eine Zauberfee«, sagte Daniel innig.

»Jetzt ist mir wohler!«

Fee lehnte sich an ihn. Minutenlanges Schweigen war zwischen ihnen, als die letzten Töne der Beethovensonate verklungen waren.

»Ich wollte dir noch sagen, dass ich Miriam tausend Euro gegeben habe, Fee«, sagte Daniel. »Man muss ihr doch helfen.«

»Sie wird es zurückgeben, meine ich. Mein Gott, was hat diese Frau durchgemacht. Ich möchte nicht in ihrer Haut stecken.«

»Sie hat sich sehr verändert. Wenn du sie früher gekannt hättest, würdest du diese Wandlung nicht für möglich halten.«

»Wie war sie früher?«, fragte Fee.

»Sehr attraktiv, sehr ehrgeizig und kalt wie ein Eisblock. Sehr emanzipiert, andererseits aber diejenige, die den meisten Mut bewies, wenn es um wichtige Dinge ging. Sie flößte uns Respekt ein und das war gewiss nicht einfach. Wir schlossen untereinander Wetten ab, wem es gelingen würde, sie aus ihrer Reserve zu locken. Es ist keinem gelungen. Benten war hinter ihr her wie ein verliebter Gockel, aber auch er bekam eine Abfuhr, die sich gewaschen hatte.«

»Und dann verliebte sie sich ausgerechnet in einen Mann, der ihr nur Unglück brachte.«

»Manchmal muss der Teufel im Spiel sein«, sagte Daniel. »Es ist ein Jammer.«

»Man sollte sich doch mal an die Ärztekammer wenden, oder meinst du, dass sie solchen Knacks bekommen hat, dass sie ihren Beruf nicht mehr ausüben kann?«

»Zumindest muss diese Angelegenheit in allen Einzelheiten geklärt werden.«

»Wozu haben wir eigentlich diplomatische Vertretungen, wenn ein Bürger der Willkür der Behörden des Gastlandes ausgesetzt wird? Miriam ist kein Einzelfall.«

Daniel war nun doch müde, und alle Probleme wurden weggeschoben. Er brauchte seine Nachtruhe, denn auch der morgige Tag konnte wieder unerwartete Ereignisse bringen, wenngleich er es wahrhaftig nicht wünschte.

*

Jonas Henneke rief früh in der Praxis an und fragte, wann Dr. Norden für ihn zu sprechen sei. Da Loni der Name Henneke nicht bekannt war, fragte sie den Chef.

»Wie sieht es denn im Wartezimmer aus?«, fragte Daniel.

»Es geht«, meinte Loni.

»Dann soll er gegen elf Uhr kommen«, sagte Daniel, der gerade eine Brandwunde verbinden musste.

Jonas passte das sehr gut. »Dann fahre ich euch ins Einkaufszentrum, und später können wir uns dann zum Essen treffen. Tante Hanne hat dann Ruhe für die Vorbereitungen für heute Abend. Sagen wir gegen ein Uhr im Ratskeller. Sie werden München nicht wiedererkennen, Miriam.«

So war es. Wie hatte sich die Innenstadt verändert! Wie ungefährdet vom Verkehr konnte man sich in der Fußgängerzone bewegen. Miriam genoss es genauso wie Carry. Ans Kaufen dachte sie gar nicht, so viel gab es zu schauen, aber endlich erregte dann doch ein Schaufenster Carrys ganze Aufmerksamkeit.

»Oh, dieses Kleid müsste dir gut stehen, Miriam«, sagte sie. »Ist das schick. Bitte, kaufe es.«

Der Preis war auch entsprechend, und Miriam hatte nicht die Absicht, es zu kaufen, mochte es auch noch so hübsch sein.

»Wir werden jetzt erst mal an dich denken«, sagte sie ablenkend. »Die Zeit verrinnt.«

»Ach, für mich finden wir sowieso nichts. Mir passen nur Kindergrößen.«

»Das wollen wir doch mal sehen«, meinte Miriam. »Die ganz jungen Damen halten auch auf die schlanke Linie und wir finden bestimmt etwas Hübsches.«

»Aber mir würde es viel mehr Freude machen, wenn du dir dieses Kleid kaufen würdest«, sagte Carry eigensinnig.

»Und mir, wenn wir hübsche Sachen für dich finden, Carry«, sagte Miriam energisch. »Da drüben ist eine Boutique. Da schauen wir uns etwas an.«

Direkt widersprechen wollte Carry nicht, aber sie sagte: »Ich weiß schon, warum du das Kleid nicht nehmen willst. Es ist dir zu teuer. Aber Papi hat gesagt, dass wir uns kaufen sollen, was uns gefällt.«

»Es gibt auch hübsche Sachen, die nicht so teuer sind, Carry.«

Carry überlegte. Sie wollte nicht so direkt fragen, ob Miriam sparsam hatte leben müssen. Sie musste sich etwas ausdenken, dass Miriam doch noch zu diesem hübschen Kleid kam.

Geschmack hatte Carry, das musste man ihr lassen. Einen sehr eigenwilligen Geschmack zwar, aber sie erstanden dann ein paar ganz reizende Sachen für sie, in denen sie nicht gar so dünn aussah. Zartknochig war sie sowieso, aber Miriam dachte für sich, dass nicht so sehr ihre Krankheit an dieser Magerkeit schuld wäre, wie der Kummer, den sie so lange in sich hineingeschluckt hatte. Es schien, als hätte sie jetzt schon ein bisschen zugenommen.

»Es ist gleich ein Uhr, Carry«, mahnte sie, damit Carry sie nicht nochmals zu jenem Geschäft zog, in dem sie das hübsche Kleid gesehen hatte. Aber Carry machte keine Anstalten, und Miriam atmete auf. Irgendwie ist sie halt doch wie die anderen jungen Mädchen, ging es ihr durch den Sinn. Jetzt freut sie sich doch über ihre Einkäufe. Freuen konnte sich Carry wirklich noch richtig. In ihren Augen blitzte es schelmisch, als sie den Ratskeller betraten.

»Ich muss dann gleich mal verschwinden«, sagte sie Miriam. »Schauen wir schnell mal, welcher Tisch für uns reserviert ist.«

Es war einer, der versteckt in einer Nische lag, und Jonas war noch nicht da. »Bin gleich zurück«, sagte Carry und entschwand, bevor Miriam ihr noch gute Ermahnungen mitgeben konnte, sich in dem großen Gewölbe nicht zu verlaufen. Nachrennen wollte sie ihr auch nicht. Schließlich sollte Carry sich nicht bevormundet fühlen.

Aber Carry lief zur Straße, und da direkt in die Arme ihres Vaters.

»Nanu, wieso rennst du hier herum? Wo ist Miriam?«, fragte er erschrocken.

»Außerdem sollst du nicht hetzen, Carry.«

Atemlos flüsterte sie ihm was ins Ohr, als könnte jemand mithören.

»Na, wenn du meinst«, sagte Jonas darauf. »Probieren kann ich es ja mal.«

»Fein, Papi, vielen Dank«, und sie küsste ihn auf die Wange. Er ging über den Platz, und sie ging zurück in das Lokal.

»Bin schon wieder da«, sagte sie fröhlich. »Na, was gibt es hier denn Gutes?«

Richtig übermütig war sie. Miriam konnte nur staunen.

»Wir werden doch warten, bis dein Vater kommt«, sagte Miriam.

»Aber aussuchen können wir doch schon. Schau mal, was für leckere Sachen. Papi kommt bestimmt bald, und der weiß meistens gleich, was er will. Mit Spaghetti hat er es jedenfalls nicht.«

Lange brauchten sie auf Jonas nicht zu warten. Die beiden hatten sich gerade entschieden, als er sich zu ihnen an den Tisch setzte.

»Bitte um Entschuldigung, aber es hat doch etwas länger gedauert.« Er blinzelte Carry zu und nickte verstohlen.

»Ist Dr. Norden Ihnen sympathisch?«, fragte Miriam.

»Sehr. Wir haben uns sehr gut unterhalten.« Sie gaben ihre Bestellung auf, und dann konnten sie sich noch unterhalten, bis das Essen kam.

»Ein prachtvolles Mannsbild ist dieser Jonas Henneke«, sagte Daniel zu Fee, nachdem er mit Heißhunger seine Suppe gegessen hatte. »Er scheint auch für Miriam viel übrig zu haben. Hat in den wärmsten Tönen von ihr gesprochen, und er wird auch alle seine Verbindungen spielen lassen, damit sie voll rehabilitiert wird.«

»Sie hat ihm ihre Geschichte erzählt? Dann muss sie aber viel Vertrauen zu ihm haben.«

»Das er auch verdient. Man findet unter diesen Geldbaronen selten einen, der so schlicht und natürlich ist und so wenig von sich hermacht.«

»Aber Geld würde bei der Operation keine Rolle spielen?«

»Nein, bestimmt nicht. Er würde sein ganzes Vermögen für Carry opfern und noch einmal anfangen.«

»Ob er dann mit Semmelbrot einverstanden ist?«, fragte Fee.

»Ist schon geklärt, mein Schatz. Miriam hat Benten abgelehnt, das gibt den Ausschlag. Er ist von mir aus auch gleich zu Semmelbrot gefahren. Wir sind heute Abend bei ihm eingeladen.«

»Das kommt aber plötzlich«, sagte Fee. »Kann der Herr Doktor denn über den Abend verfügen?«

»Ist ja halb dienstlich«, meinte Daniel lächelnd. »Ich soll mir die kleine Carry auch mal anschauen, Miriam hat mich wohl hochgelobt.«

»Das verdienst du ja auch«, sagte Fee zärtlich. »Außerdem sind zwei Ärzte immer besser als einer in solcher Sache. Oder auch drei, denn Miriam wollen wir nicht vergessen.«

»Sagen wir vier, oder hast du schon vergessen, dass du auch Ärztin bist?«, fragte Daniel neckend.

»Manchmal vergesse ich es wirklich. Meine Familie hält mich in Atem. Es ist gut, dass wir Lenni haben, da können wir mal unbesorgt ein paar Stunden ausgehen. Sie ist rührend mit Danny.«

»Ohne dass du eifersüchtig wirst?«

»Sie ist zu geschickt, als dass solche Gedanken aufkommen könnten, Daniel. Eine bessere Nachfolgerin konnte unser gutes Lenchen gar nicht schicken.«

Immer wenn sie an Lenchen dachte, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Und unwillkürlich mussten sie dann beide auch an jenen Tag denken, als sie von Lenchens Beerdigung kamen und Daniel die schwarzgekleidete Frau am Bahnübergang zurückgerissen hatte, bevor der Zug sie erfassen konnte. Eine verzweifelte Frau, die ihren Mann und ihre Mutter zur gleichen Stunde durch einen Unfall verloren hatte, an dem sie völlig schuldlos waren.

Danny hatte nicht begreifen können, dass das gute Lenchen nicht mehr kam. Dafür war Gerda dann seine Lenni geworden, und Fee war überzeugt, dass Lenchen aus dem Jenseits, in dem sie mit jenen vereint war, die sie geliebt hatte, dies so gesteuert hatte. Seit jenem Tag war Fee des Glaubens, dass die gute Seele eines Menschen, dessen Erdendasein nach höherem Willen beendet war, bei denen zurückblieb, die von ihm geliebt wurden und deren Liebe in einem treuen Gedenken über den Tod hinaus verblieb. So tief verwurzelt war in ihr dieser Glaube, dass sie sich scheute, selbst mit ihrem geliebten Mann darüber zu sprechen, mit dem sie doch sonst über alles reden konnte.

Aber Daniel hatte womöglich ähnliche Gedanken. »Lenchen schwebt als Schutzengel über uns«, sagte er sinnend und ohne jede Spur von Ironie.

»Davon bin ich schon lange überzeugt, Daniel«, flüsterte Fee. »Sie ist von uns gegangen, aber sie hat uns nicht verlassen.« Und da kollerten schon wieder große Tränen über ihre Wangen.

»Und wir werden immer an sie denken«, sagte Daniel weich und küsste diese Tränen weg. »Manchmal stelle ich mir vor, dass sie da droben im Himmel bei Vater sitzt und mit ihm Sechsundsechzig spielt, wie in früheren Zeiten.«

»Und er hat sie mit offenen Armen empfangen und gesagt: Schön, dass du nun wieder bei mir bist, Lenchen. Die Jungen da drunten werden schon zurechtkommen. Da werden wir aufpassen.«

»Du bist so lieb, Fee«, sagte Daniel rau, ergriffen von tiefer Rührung.

»Sie müssen es doch spüren, dass sie in unseren Herzen lebendig sind, Daniel. Liebe hat kein Ende.«

Und manchen war es der einzige Trost, wenn sie schmerzlich trauerten. Wie auch Frau Kögler, die ihre Kinder in die Arme nahm.

»Wir werden unseren Papi nie vergessen«, sagte sie tapfer.

»Wirst du nicht wieder heiraten?«, fragte ihr Ältester, gerade dreizehn Jahre geworden.

»Bestimmt nicht, Schorschi«, erwiderte sie.

»Manche Väter sind so gemein zu ihren Kindern und leben ewig. Warum musste denn unser Papi sterben?«, fragte der Junge.

Ja, warum? Darauf musste man die Antwort schuldig bleiben. Wen der Herrgott liebt, nimmt er früh zu sich, sagte man, aber war das eine Antwort? Manche Menschen hatten ein langes, erfülltes Leben und mussten an vielen Gräbern stehen, bevor ihnen der ewige Frieden beschieden war. Sollte Gott diese Menschen nicht lieben?

Wir sind nur ein winziges Lebewesen in einem unendlichen All, dachte Frau Kögler. Wir müssen hinnehmen, was uns bestimmt ist.

»Uns hat der Dr. Norden immer gesund gemacht, wenn wir krank waren, Mami«, sagte Schorschi, »warum konnte er Papi nicht gesund machen?«

Weil es das Schicksal anders wollte, dachte Frau Kögler. Dr. Norden hat alles getan, was in seiner Macht stand, aber es gibt eine höhere.

»Er ist auch nur ein Mensch«, sagte sie.

»Aber er ist ein Doktor. Die lernen es doch, den Kranken zu helfen.«

»Immer können sie es nicht, Schorschi«, sagte Frau Kögler.

»Wenn wir jetzt wieder mal krank werden, rufst du dann einen anderen Arzt an, Mami?«, fragte der Junge.

»Nein. Er hat alles getan, was in seiner Macht stand. Er hat mich nie im Stich gelassen.«

»Bist du denn auch krank, Mami?«, fragte Schorschi besorgt.

»Nur ein bisschen müde«, erwiderte sie.

»Dann schlaf jetzt mal. Ich frage nicht mehr. Wir haben ja noch Oma und Opa, und die Kleinen verstehen sowieso nicht, dass Papi nicht mehr wiederkommt. Schlaf ganz lange, Mami, aber wach wieder auf.«

»Mein Großer«, flüsterte Frau Kögler unter Tränen, die nun endlich erlösend kamen. »Mein lieber großer Junge.«

»Oma und Opa haben schon mit mir geredet, dass wir ganz fest zusammenhalten müssen. Wir werden es schon schaffen, Mami. Wir können zu ihnen ziehen, und dann sparen wir die Miete. Mach dir bloß nicht zu viel Sorgen. Ich bin auch kein kleiner Junge mehr. Ich setze mich auf die Hosen, damit ich mal so tüchtig werde wie unser Papi. Das würde ihn doch freuen?«

»Ganz bestimmt, mein Junge.«

Wie behutsam er die Decke über sie breitete, noch ein Kind und doch schon auf dem Wege, Verantwortung tragen zu wollen. Seine kleinen rauen Hände streichelten ihr Gesicht und wischten die Tränen weg. Ihre Kinder brauchten sie. Sie musste die Kraft aufbringen, für diese Kinder zu leben. Ihre Finger fuhren durch den wirren Haarschopf des Jungen, der dicht über ihren Augen war.

»Du hast mir sehr geholfen, Schorschi«, sagte sie weich und mütterlich. »Wir werden diese schlimmen Tage schon überstehen.«

»Ich rufe auch Dr. Norden an, wenn du ihn brauchst, Mami«, sagte der Junge.

»Jetzt will ich nur ein bisschen schlafen«, sagte sie.

»Dann rede ich jetzt mit den Kleinen, damit sie ruhig sind.«

»Sie sind doch ganz still, Schorschi.«

»Dann werden sie wohl bei Oma in der Küche sein. Nachher isst du aber was, gell?«

»Ja, mein Junge.«

»Zu ändern ist es doch nicht«, murmelte er.

Und für sie und die Kinder ging das Leben weiter.

*

Für Carry dagegen sollte das Leben erst richtig beginnen, doch an diesem Tag dachte sie nicht daran, dass erst eine Operation dazu nötig sein würde. Wäre sie nicht gar so dünn und durchsichtig gewesen, hätte man nicht glauben können, in welchem bedrohlichen Schatten sie aufgewachsen war.

Sie hatte auch mit gutem Appetit gegessen. Als sie wieder im Freien waren, steuerte Carry auf das Geschäft zu, in dessen Schaufenster sie das Kleid bewundert hatte. Es war nicht mehr da. Miriam atmete auf, Carry tauschte einen bedeutungsvollen Blick mit ihrem Vater und sagte dann: »Oh, wie schade, da war vorhin noch ein zauberhaftes Kleid, das genau zu Miriam gepasst hätte.«

»Na, schauen wir doch mal hinein. Sie werden wohl noch mehr Auswahl haben«, meinte Jonas, und Miriam konnte gar nicht mehr protestieren, denn rechts und links wurde sie an den Armen gehalten und direkt durch eine Tür hineingeschoben, die sich schon automatisch öffnete.

»Schau, Papi, da hängt das Kleid«, tat Carry erstaunt, und man konnte sagen, dass ihr das sehr gut gelang. »Vorhin lag es noch im Fenster.«

»Wir mussten es herausnehmen, weil es irrtümlich mit dem falschen Preis ausgezeichnet worden war«, erklärte die Geschäftsführerin mit einem unergründlichen Lächeln.

Sie war eine Dame um die Fünfzig, sehr dezent, sehr diskret und in ihrer Selbstsicherheit sehr überzeugend. Und Miriam blieb nun nichts übrig, als das Kleid anzuprobieren, das wirklich wie geschaffen für sie schien.

»Carry weiß wirklich genau, was Ihnen steht, Miriam«, stellte Jonas fest, und ehe Miriam es sich versah, war das Kleid auch schon gekauft.

Carry lenkte Miriam ab, während Jonas bezahlte. Sie hatte auch noch etwas für sich entdeckt, oder tat wenigstens so, aber natürlich war das Kostüm für sie viel zu groß.

»Es passiert schon manchmal, dass ein falscher Preis ausgezeichnet wird«, erklärte die liebenswürdige Geschäftsführerin noch. »Da braucht man nur zwei Zahlen verkehrtzustecken und schon ist es geschehen. Peinlich wird es, wenn man einen zu niedrigen Preis aufstellt und sich gleich eine Interessentin findet. Aber ich hoffe, dass Sie Freude an dem Kleid haben, gnädige Frau, und auch mit der Qualität zufrieden sind.«

»Für die Qualität ist es allerdings wirklich preiswert«, stellte Jonas fest, als sie das Geschäft verlassen hatten. »Aber wichtiger ist, dass es Ihnen so gut zu Gesicht steht, Miriam.«

»Und wie es passt«, freute sich Carry. »Du hast eine tolle Figur, Miriam.«

Gar zu sehr wollte sie aber doch nicht übertreiben, obgleich sie Miriam wunderschön in diesem Kleid fand, dessen Pastellfarben zwar gedämpft, aber doch nicht so tot waren, wie die Mode es in diesem Jahre forderte.

»Es gefällt Ihnen hoffentlich auch«, sagte Jonas, weil Miriam gar so still blieb.

»Es gefällt mir sehr gut, aber das mit der Preisverwechslung kommt mir schon merkwürdig vor.«

»Aber es passiert, wie Sie gehört haben«, sagte Jonas. »Was sollte es denn nach dem Preisschild kosten?«

»525 Mark«, erwiderte Miriam.

»255 Mark klingt natürlich anders«, sagte Jonas leichthin. »Da haben sie halt die Fünf und die Zwei verwechselt. Das kann wirklich peinlich sein, besonders wenn sich jemand den Unterschied überlegt. Also sind wir allesamt zufrieden. Dann kann es wieder heimwärts gehen, oder möchten die Damen lieber bummeln?«

»Carry sollte sich lieber ausruhen, wenn es am Abend doch später wird«, sagte Miriam.

»Dr. Norden und seine Frau kommen übrigens auch, wenn nichts dazwischenkommt, was wir nicht annehmen wollen«, sagte Jonas.

»Da wird Tante Hanne aber doch ins Schwimmen geraten«, sagte Carry.

»Keine Sorge. Ich habe schon noch einiges bestellt«, wurde sie von Jonas beruhigt. »Aber wir sollten doch besser zu Hause sein, wenn die Lieferung kommt, sonst weiß Tante Hanne nicht Bescheid und schickt sie womöglich zurück. Sie ist schnell dabei, wenn ihr etwas nicht geheuer ist.«

Miriam war auch etwas nicht geheuer, und wenn sie diesem Gefühl nachgegeben hätte, hätte sie das Kleid auch zurückschicken müssen, denn sie konnte ganz gut kombinieren. Warum war Carry so rasch verschwunden, und warum hatte man das Kleid so rasch aus dem Fenster entfernt, wenn man es möglicherweise auch zu dem weit höheren Preis an die Frau hätte bringen können?

Sie hatte zwar immer darauf geschaut, für ihre Garderobe nicht zu viel Geld auszugeben, aber sie war eine Frau und verstand auch ein bisschen was von Stoffen und Modellen. Und auch von den Preisen, die man dafür zahlen musste.

Es konnte nur ein Komplott zwischen Carry, ihrem Vater und der Geschäftsführerin gewesen sein, aber schließlich verriet dieses Komplott, wie gern beide ihr eine Freude machen wollten. Zu dieser Freude kam die weitere, dass Jonas und Daniel sich gleich so gut verstanden hatten, dass es zu einer so schnellen Einladung gekommen war. Nun begann sie sich schon auf diesen Abend zu freuen, der noch weitere Überraschungen bringen sollte.

*

Wendy und Anja schwelgten in Glückseligkeit. Anja war zwar ein bisschen aus der Fassung geraten, als sie an Wendys linker Hand einen Verlobungsring blitzen sah, als sie sich am späten Vormittag in ihr Zimmer geschlichen hatte um ihr zu erzählen, wie herrlich und schön die Welt seit gestern Mittag für sie sei.

Sie hatten sich viel zu erzählen, und später trafen sie sich dann mit Holger und Chris. Wendy konnte sich überzeugen, dass Chris kein leichtfertiger Abenteurer war, sondern ein sehr gebildeter und tüchtiger junger Mann, bei dem auch alles andere stimmte, wie Anja es sich immer gewünscht hatte. Er war humorvoll, sah gut aus, kleidete sich geschmackvoll und schien auch finanziell allerhand zu bieten zu haben, was aber in diesem Fall bei Anja gewiss eine untergeordnete Rolle spielte, denn beide waren verliebt bis über die Ohren.

So Hals über Kopf konnten sich Jonas und Miriam nicht mehr verlieben, aber irgendwie spürten auch sie, dass sich ihre Sympathie füreinander von Stunde zu Stunde vertiefte, wenngleich sie bemüht waren, es nicht zu zeigen.

Daheim angekommen, läutete auch schon das Telefon. Tante Hanne, die mit hochroten Wangen aus der Küche kam, seufzte erleichtert auf, weil Jonas sich dieses lästigen Störenfrieds annehmen konnte, der sie schon ein paarmal von der Arbeit weggeholt hatte.

Unwillkürlich lauschten sie alle drei, als sie ein lautes »Potztausend« vernahmen, und dann sagte Jonas: »Das ist wahrhaftig eine Feier wert, aber selbstverständlich kommt ihr alle zu uns heraus. Die Vorbereitungen sind schon getroffen. Auf zwei mehr kommt es nicht an. Ich freue mich sehr, Chris.«

»Was, noch zwei mehr?«, fragte Tante Hanne sogleich, als Jonas sich wieder zu ihnen gesellte.

»Nur keine Aufregung. Ich habe in der Stadt noch eingekauft. Du brauchst dich nicht abzustrampeln. Und ihr werdet eine hübsche Überraschung erleben«, fuhr er zu Miriam und Carry gewandt, fort.

»Sag doch was, Papi«, bat Carry, aber er lächelte nur. »Dinge gibt es zwischen Himmel und Erde, die man nicht für möglich hält. Na, ihr werdet schon sehen.«

»Sind die alten Andresens etwa auch schon herbeigeeilt, um die neue Liebe von Chris zu beschnuppern?«, fragte Tante Hanne. »Da kann ich nämlich nicht nur ein kaltes Büfett präsentieren. Die essen lieber warm.«

»Nein, Chris bringt nur Freunde mit«, erwiderte Jonas. »Freunde, die ich auch gern kennenlernen möchte.«

»Tu doch nicht so arg geheimnisvoll«, meinte Tante Hanne, die längst neugierig geworden war.

»Wenn ich es verrate, ist es ja keine Überraschung mehr«, meinte Jonas. »Es wird bestimmt ein sehr netter Abend werden.«

Und dann kam auch schon der Lieferant aus der Delikatessenfirma. Tante Hanne schlug die Hände über dem Kopf zusammen.

»Vorgesorgt hast du ja«, meinte sie, »als ob du es geahnt hättest.«

»Aber ich wette, dass deine Köstlichkeiten bevorzugt werden«, sagte Jonas ihr zum Trost.

»Ich freue mich ja, wenn Leben im Hause ist«, sagte sie, und dann gingen sie gemeinsam an die Arbeit, um die Tafel festlich zu decken.

Es machte Spaß, doch Miriam und Carry hatten wirklich keine Ahnung, welche Überraschung sie erleben sollten.

Holger, Wendy und Anja wussten indessen schon aus Chris Andresens Mund, wohin er sie an diesem Abend entführen wollte. Sonst hätten sie die Einladung auch nicht angenommen.

Gestaunt hatten auch sie, wie merkwürdig dieses Zusammentreffen war.

»Jonas hat nicht schlecht gestaunt, als ich ihm sagte, dass Anja Stewardess in der Maschine war, mit der seine Tochter aus Rom gekommen ist«, erklärte er. »Natürlich freut es ihn, die ganze Besatzung kennenzulernen.«

»Außer Conny«, meinte Wendy. »Den werden wir diese Tage kaum noch zu Gesicht bekommen. Fränzi müssen wir auch noch besuchen, bevor sie wieder auf die Reise gehen. Und erfahren darf der hohe Chef auch nicht, dass wir uns verlobt haben, sonst werde ich gleich versetzt.«

»Anja wird sofort kündigen«, sagte Chris energisch.

»Aber die Frist muss ich einhalten«, erklärte sie. »Ganz so einfach ist es doch nicht, Chris.«

»Was, ich soll hier unten auf der Erde hunderttausend Ängste ausstehen, während Ihr da droben herumschwirrt?«

»Genauso viel Angst werde ich auch um dich ausstehen, wenn du mit dem Auto herumrast«, sagte Anja.

»Ich rase nicht. Ich fahre bereits zwölf Jahre unfallfrei.«

»Und doch muss man immer mit der Unzulänglichkeit anderer Verkehrsteilnehmer rechnen«, warf Holger ein. »Das ist auf der Erde noch ein bisschen gefährlicher als in der Luft. Nebel ist auch beim Autofahren gefährlich, und da kann dann noch Glatteis hinzukommen. Ich bin auch schon acht Jahre Pilot, und wie du siehst, lebe ich immer noch.«

»Aber ich weiß, was Jonas für Angst um Carry ausgestanden hat, und er ist wahrhaftig ein gestandener Mann.«

»Reden wir doch von etwas anderem«, sagte Wendy. »Es kommt doch alles so, wie es einem vorausbestimmt ist. Ich kann mich gut an das Mädchen erinnern. Weißt du, Anja, die Ärztin aus Beirut kümmerte sich rührend um sie.«

»Was du nicht alles weißt, Wendy«, staunte Anja. »Hat man ihr den Beruf an der Nase angesehen?«

»Ich habe in die Passagierliste geschaut, weil es mich interessierte, was das für eine Frau ist. Zuerst saß sie stumm da und äußerte nicht einen Wunsch. Nicht mal ihr Essen hat sie angerührt, wie auch das Mädchen nicht. Aber als es gefährlich wurde, hatte ich direkt das Gefühl, als würde sie ihr Leben geben wollen für ihre kleine Nachbarin.«

»Unsere romantische Wendy«, sagte Anja mit liebevollem Spott. »Sie wird mal Geschichten darüber schreiben, was wir auf unseren Flügen alles erlebt haben.«

»Aber die Hauptperson würde dann wohl der Herr Flugkapitän sein«, warf Chris hintergründig ein.

»Der erst seine schwierigste Landung zustande bringen musste, um einen Kuss zu bekommen, der schwerwiegende Folgen nach sich ziehen sollte«, meinte Anja neckend.

Aber am Abend staunten auch sie, als sie neben Carry auch Miriam in dem Hause von Jonas Henneke vorfanden, und da gab es dann ein Wiedersehen, das von vornherein jede Gehemmtheit ausschloss.

Es war eine gelungene Überraschung, die sogleich mit einem Glas Sekt begossen wurde, denn die Nordens kamen doch mit Verspätung. Wie konnte es bei einem Arzt auch anders sein. Auf dem Wege hierher hatte Daniel noch einen dringenden Krankenbesuch machen müssen, der ihn aber glücklicherweise nicht lange aufhielt, da es sich diesmal nicht um einen entzündeten Blinddarm handelte, sondern um eine ungefährliche Magenverstimmung, die nur ziemliche Schmerzen verursachte.

Fee sah auch in ihrem Umstandskleid bezaubernd aus, und obgleich selbst jetzt wohlversorgt, mussten Wendy und Anja feststellen, dass sie einem so blendend aussehenden Arzt wie Dr. Norden noch nie begegnet waren. Vor allem nicht einem, der so lässig und charmant war und selbst Carry aus ihrer Schüchternheit herauslockte.

Auch Tante Hanne kam auf ihre Kosten, denn mit Fee konnte sie sich über die Insel der Hoffnung unterhalten, der ihr Interesse schon lange galt.

Was junge Leute so verputzen konnten, machte ihr zusätzlich Freude, aber wer hätte bei solchen Delikatessen widerstehen können, und bei so netter, angeregter Unterhaltung schmeckte es noch mal so gut. Selbst Carry wurde an diesem Abend nicht so schnell müde, wenn sie auch die Erste war, die sich dann zurückzog. Miriam ging schnell noch zu ihr. Mit einem glücklichen Lächeln lag Carry in ihrem Bett.

»Ist es nicht seltsam, Miriam«, sagte sie verträumt, »dieser Flug hat uns nur Glück gebracht. Es war ein wunderschöner Abend, ich werde noch davon träumen. Geh du nur wieder runter. Papi wird dich sonst vermissen. Wunderschön siehst du aus in dem Kleid. Ich habe dich schrecklich lieb. Du hast uns Glück gebracht, Miriam, und ich haben jetzt überhaupt keine Angst mehr.«

Aber nun hatte Miriam Angst um dieses Mädchen, Angst vor der Operation, und alles, was ihr eigenes Leben beschwert hatte, war vergessen.

»Ich habe dich auch sehr, sehr lieb, Carry«, sagte sie zärtlich. »Ja, der Flug hat mir auch sehr viel Glück geschenkt.«

Und als sie sich dann wieder neben Jonas setzte, denn nur zwischen ihm und Daniel war ein Stuhl frei, nachdem man sich während ihrer kurzen Abwesenheit anders gruppiert hatte, dachte Tante Hanne, wie schön es wäre, wenn sie immer an seiner Seite bleiben würde. Dann brauchte ihr auch um ihn nicht mehr bange zu sein, meinte sie für sich. Na ja, man konnte vielleicht ein bisschen nachhelfen. Sie überlegte schon, wie sie das am besten anstellen würde.

»Was war das für ein gemütlicher Abend, Daniel«, sagte Fee, als sie heimwärts fuhren. »Sind das zwei reizende Mädchen, und wie es scheint, wird Miriam der Familie Henneke zugehörig betrachtet. Sie sah schon sehr viel besser aus. Das Kleid war bildschön.«

»Und mir hat sie das Geld wieder zugesteckt, damit du nicht etwa meinst, sie hätte es verwendet, um sich einzukleiden.«

»Auf den Gedanken wäre ich nun wirklich nicht gekommen«, sagte Fee. »Ein bisschen Menschenkenntnis darfst du mir schon zutrauen. Bleibt zu hoffen, dass sie ihr Glück auch beim Schopf packt.«

»Wenn schon, dann wird es wohl Jonas Henneke sein müssen, der das tut. Ich glaube nicht, dass Miriam sich diesbezüglich verändert hat. Sie hat nicht den Mumm wie die Anja. Es war wirklich amüsant, wie sie erzählte, wie sie ihren Zukünftigen kennenlernte.«

»Und wenn du mir damals so spontan einen Kuss gegeben hättest wie Wendy ihrem Holger, wären wir schon sehr viel länger ein Ehepaar«, sagte Daniel.

»Das musste ja kommen«, lächelte Fee. »Aber darin bin ich halt Miriam wohl ähnlicher.«

»Und wie sehr«, nickte er. »Leicht hast du es mir wahrhaftig nicht gemacht, Feelein.«

»Aber ich glaube, bei Wendy und Holger war es auch nicht ganz einfach. Ein Moment gibt den Ausschlag, ein winziger, kleiner Augenblick …«

»Und dennoch gibt es Menschen, die füreinander bestimmt sind und aneinander vorbeilaufen. Warum nur?«

Das fragten sich halt manchmal auch die, die mitten im Leben standen.

Für sie waren alle Probleme gelöst. Sie waren untrennbar verbunden. Für Wendy und Holger, für Chris und Anja würde es vielleicht noch manche Probleme zu bewältigen geben. Wusste man es vorher?

Und für Miriam und Jonas gab es jetzt nur ein Problem. Carry! Obgleich auch sie den Abend genossen hatten, dachten sie beide das Gleiche.

Jonas allerdings sprach diesmal seine Gedanken aus, als Miriam sagte, dass seine Überraschung wirklich gelungen sei.

»Ich war schon lange nicht mehr so entspannt, Miriam, aber richtig froh kann ich erst sein, wenn wir Carry aus der Klinik heimholen können.«

»Ich auch«, erwiderte sie, und mit ihrem Blick verriet sie viel, doch nicht so viel, dass er den Mut gehabt hätte, sie in die Arme zu nehmen, wie er es ganz plötzlich wünschte.

»Morgen wird Dr. Semmelbrot Carry untersuchen«, sagte er. »Wir wollen so schnell handeln, wie es nur möglich ist. Sie haben es gesagt, Miriam. Und Dr. Norden hat mir Mut gemacht. Er sagte mir, dass Carry mehr Kraft hat, als man in ihr vermutet.«

»Das weiß ich jetzt auch, Jonas. Eins sollen Sie wissen, mein Herz schlägt für Ihre Tochter. Es mag pathetisch klingen, aber es ist die Wahrheit.«

»Das weiß ich nun auch schon«, sagte Jonas. »Es sollte uns noch näher bringen.«

Waren sie nicht auch schon unlöslich verbunden? Doch keiner von beiden hatte den Mut und den jugendlichen Elan wie Chris und Anja, es sich einzugestehen. Man durfte nicht vergessen, dass sie beide bereits einen schweren Weg hinter sich und bitterste Erfahrungen gesammelt hatten.

*

Carry nahm es gelassen hin, als ihr Vater ihr am nächsten Morgen erklärte, dass er sie in die Klinik bringen wolle.

»Aber Miriam kommt mit«, sagte sie nur. »Und wenn alles vorbei ist, möchte ich auf die Insel der Hoffnung, Papi. Du hast gesagt, dass ich mir wünschen darf, was ich will.«

»Dein Vater hält sein Wort«, sagte Tante Hanne mit ernstem Nachdruck.

»Ich möchte, dass Miriam dann auch bei mir bleibt. Versprich es mir in die Hand, Miriam.«

»Darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen, Carry«, warf Tante Hanne rasch ein. »Zwischen uns ist alles klar.«

Sie gab sich optimistisch, sie verbreitete Ruhe und Zuversicht um sich, dass niemand auf den Gedanken kommen konnte, sie könne sich zurückgesetzt fühlen. Das war weiß Gott auch nicht der Fall. Ihr gefiel die Entwicklung, und sie hatte sich in der Nacht noch den Kopf darüber zerbrochen, was sie beitragen könne, um ihre heimlichen Wünsche in Bezug auf Jonas und Miriam möglichst schnell zu verwirklichen.

Dr. Semmelbrot wollte sie allerdings auch kennenlernen, bevor Carry ihm anvertraut wurde.

Er blickte ein bisschen verschreckt, als sie zu viert in der Klinik anrückten. Er war mittelgroß, schmal und blass. Er hatte kluge graue Augen und einen sensiblen Mund, dessen Winkel leicht nach oben gebogen waren und eine optimistische Lebenseinstellung verrieten. Sehr schön waren seine schmalen, ausdrucksvollen Hände, und seine Stimme war leise und angenehm. Komplexe hatte er wegen seines Namens anscheinend nicht bekommen, denn er war keine Spur unsicher, nachdem er nun mit allen bekannt gemacht worden war.

Carry hatte sofort Zutrauen zu ihm gefasst, und er unterhielt sich ganz ernsthaft und vernünftig mit ihr, immer mal ein paar aufmunternde Worte einflechtend.

Carry wäre geradewegs in den Operationssaal gegangen und war sichtlich enttäuscht, als er ihr sagte, dass die Untersuchungen noch einige Tage dauern würden.

»Die Befunde sind doch vorhanden«, sagte sie.

»Sie liegen aber ein paar Jahre zurück, und währenddessen sind Sie gewachsen«, sagte Dr. Semmelbrot freundlich.

»Aber Miriam darf hierbleiben«, sagte Carry kategorisch.

»Frau Dr. Perez ist Ärztin und die Betreuerin meiner Tochter«, erklärte Jonas ruhig.

»Gegen eine persönliche Betreuung ist nichts einzuwenden«, sagte Dr. Semmelbrot, Miriam forschend musternd. »Auch hier herrscht Schwesternmangel.«

Das Zimmer, das ihr zugewiesen wurde, wurde auch von Tante Hanne und Jonas begutachtet und akzeptiert. Es war nicht groß, aber kein schmaler Schlauch, sondern quadratisch. Es hatte auch ein Radio, und Dr. Semmelbrot sagte, dass auf Wunsch auch ein Fernsehgerät aufgestellt werden könne.

»Das brauche ich nicht, wenn Miriam bei mir ist«, sagte Carry rasch. »Wir haben immer Gesprächsstoff.«

Auch damit setzte sie den Arzt in Erstaunen, denn gerade junge Patienten aus begüterten Familien legten großen Wert auf diese Fernsehunterhaltung, mehr noch als auf Besuche, wie er hatte oftmals feststellen können.

Carry fiel in jeder Beziehung aus dem Rahmen, und er sollte sie noch besser kennenlernen, als er dann gleich mit der Voruntersuchung begann, bei der Zuschauer ausgeschlossen wurden, auch Miriam. Freundlich, aber bestimmt erklärte Dr. Semmelbrot, dass die Vorschriften der Klinik dies so bestimmten. Jonas entschloss sich, in den Verlag zu fahren und nach dem Rechten zu sehen. Tante Hanne schlug Miriam vor, mit ihr Kaffee trinken zu gehen.

»Ich kann mir nicht helfen«, sagte sie, »aber immer, wenn ich in einer Klinik bin, bekomme ich Durst.«

Doch der eigentliche Grund war, dass sie daheim nicht allein sein wollte, denn innerlich war sie weit weniger ruhig, als sie nach außen hin demonstrieren wollte.

»Ich komme dann nachher und hole euch ab«, sagte Jonas.

Tante Hanne war es nur recht, einmal mit Miriam allein sein zu können, denn dazu hatte sie bisher keine Gelegenheit gefunden, da Carry nie von Miriams Seite gewichen war.

»Jetzt sagen Sie mir mal ganz ehrlich, ob Sie sich überrumpelt vorkommen, Miriam«, begann sie das Gespräch.

»Aber ganz im Gegenteil. Ich müsste Sie fragen, ob Sie nicht befremdet über diese Entwicklung sind.«

»Ganz im Gegenteil, muss da auch ich sagen. Etwas Besseres konnte uns doch gar nicht passieren. Ein junger Mensch ist doch für ein so junges Mädchen wie Carry eine viel erfreulichere Gesellschaft als eine alte Tante.«

»Nun, ich bin überzeugt, dass Sie ihr sehr viel Liebe entgegenbringen.«

»Und Mitleid, und das hätte sie auch gespürt. Mitleid kann schmerzen, aber wenn man so gar nicht einverstanden war mit der ganzen Entwicklung, wie ich, können manchmal auch ganz impulsiv Worte fallen, deren Wirkung man nicht absehen kann. Ich meine, unser Aneinandergewöhnen wäre viel komplizierter geworden, wenn Sie nicht bei uns sein würden. Schließlich war Carry bisher immer nur mit einer alten Dame zusammen, und wenn ich mich bei Gott auch nicht mit Signora Giordane vergleichen will, so bleibt zumindest die Tatsache bestehen, dass ich auch eine alte Dame bin. Ja, es ist alles gut so, wie es ist, und ich hoffe, Sie werden es nie bereuen, unsere Sorgen um Carry zu teilen.«

»Es wird alles gut werden«, sagte Miriam leise. »Carry wird Freundinnen ihrer Altersklasse finden. Sie ist noch jung genug, um zu vergessen, was bedrückend war.«

»Was ich sehr hoffe, aber immerhin ist Carrys Zuneigung für Sie kein flüchtiges Gefühl, und ich darf auch feststellen, dass wir Sie sehr vermissen würden, wenn Sie nicht mehr bei uns wären. Ich hoffe, dass es dazu nicht kommen wird. Oder wollen Sie sich schon bald nach einer Stellung umsehen?«

»Ich habe versprochen zu bleiben, bis Carry ganz gesund ist«, erwiderte Miriam ausweichend.

»Ich will Sie ja nicht unter Druck setzen, Miriam. Sehen Sie, ich rede immer, wie mir der Schnabel gewachsen ist. Damals, als Jonas Lucia heiratete, habe ich ihm gleich gesagt, dass das nicht gut gehen wird.«

»Waren Sie davon denn überzeugt?«, fragte Miriam nachdenklich.

»Ich schon. Viele meinten, da käme Kraft und Schönheit zusammen, für mich war es Gemüt und Eitelkeit. Lucia war bezaubernd, zugegeben, betörend, sollte man besser sagen. Aber sie war eitel, oberflächlich und egoistisch. Sie hat genau berechnet, was Jonas ihr bieten kann. Er war nur so verblendet, das nicht zu merken.«

»Er war eben verliebt«, meinte Miriam.

»Ja, aber mehr war es auch nicht. Das meinte er nur, weil er einfach nicht genügend Erfahrungen gesammelt hatte. An erster Stelle stand für ihn immer der Betrieb, nachdem er seinen Vater so plötzlich verloren hatte, und dann liebte er seine Mutter auch sehr. Auch sie hat sich mit Lucia nicht verstanden. Das konnte auch gar nicht möglich sein. Lucia machte Jonas sehr bald nach der Hochzeit klar, dass sie nicht daran dächte, mit seiner Mutter unter einem Dach zu leben, aber diesbezüglich machte er keine Konzessionen. Charlott kränkelte nach dem Tode ihres Mannes, und Lucia gab ihr den Rest. Es klingt hart, aber es ist so. Sie erlebte es noch, dass Lucia zu ihren Eltern zurückging, starb dann aber bald an akutem Herzversagen. Auch dann machte Lucia keine Anstalten, zu ihrem Mann zurückzukehren, doch ich glaube, dass Jonas da schon wusste, wie unbeständig ihre Gefühle für ihn gewesen waren. Sie mögen jetzt vielleicht denken, ich sehe es so, wie ich es gern sehen wollte, aber ich kenne Jonas besser, als er selber glaubt. Natürlich hat es ihn getroffen, dass Lucia so jung sterben musste. Vater, Mutter und die Frau innerhalb weniger Jahre zu verlieren ist nicht so einfach, und danach dann das Tauziehen um das Kind, die Diffamierungen, die er ertragen musste. Es gehört ein starker Charakter dazu, um das zu ertragen.«

»Das ganz gewiss«, sagte Miriam leise.

»Sie haben auch einen starken Charakter«, sagte Tante Hanne.

»Es ist noch gar nicht lange her, dass ich daran sehr zweifelte, fast verzweifelte«, erklärte Miriam tonlos.

»Dass Sie viel erlebt haben, brauchen Sie mir nicht zu sagen, man sieht es Ihnen an. Doch damit will ich nicht sagen, dass dies Ihre Schönheit beeinträchtigt, Miriam.«

»Du liebe Güte, nun auch noch Komplimente, Tante Hanne«, sagte Miriam im scherzhaften Ton. »Von Schönheit kann man doch bei mir wahrhaftig nicht reden. Hatten Sie gestern nicht genügend Vergleichsmöglichkeiten?«

»Es kommt immer darauf an, mit welchen Augen man einen Menschen betrachtet. So, ich denke, wir können wieder in die Klinik gehen. So ewig wird die Untersuchung doch nicht dauern.«

Aber sie dauerte immer noch an, auch dann noch, als Jonas zurückkam. Er wurde merklich unruhig.

Zuerst hatte Carry aufmerksam verfolgt, was man da mit ihr anstellte. Es war ihr nicht angenehm, dass eine Medizinalassistentin dabei war, obgleich es ein nettes Mädchen war. Von den Fachausdrücken verstand Carry trotz ihrer Lateinkenntnisse kaum etwas, aber Fragen stellte sie dann erst, als die Assistentin entlassen wurde und sie allein mit Dr. Semmelbrot war.

»Hätte das nicht auch Miriam machen können? Sie versteht es doch bestimmt besser als ein junges Mädchen«, meinte sie.

»Wir haben uns an bestimmte Vorschriften zu halten, Fräulein Henneke. Ich müsste die Erlaubnis des Klinikdirektors einholen. Ich bin hier nicht der Chef.«

»Es war nicht böse gemeint«, sagte Carry kleinlaut. »Sie können übrigens ruhig Carry zu mir sagen. Fräulein klingt so komisch.«

»Auch diesbezüglich gibt es bestimmte Vorschriften. Wenn es jemand hört, könnte es mir als unangebrachte Vertraulichkeiten ausgelegt werden«, sagte Dr. Semmelbrot mit einem Zwinkern, das unterstreichen sollte, wie komisch er dies fand.

»Sie haben aber strenge Bestimmungen«, sagte Carry.

»In manchen Fällen sind sie angebracht«, erklärte er, auf einem Apparat den sie nicht sehen konnte, genau ihren Herzschlag beobachtend.

»Aber Fragen darf man doch stellen?«, fragte Carry.

»Gewiss.«

»Wie groß ist das Loch?«

»Das wird die Röntgenaufnahme ergeben.«

»Ich habe schon mal eine gesehen, aber ich verstehe nicht, wie man darauf überhaupt etwas entdecken kann.«

»Man lernt es mit der Zeit«, erklärte er lächelnd. »Eine richtige Diagnose aus einer Röntgenaufnahme zu stellen, ist eine Wissenschaft für sich. Und mag sie auch noch so gut sein, verlassen allein kann man sich darauf auch nicht.«

»Sie sind auch so gründlich wie Dr. Norden«, sagte Carry.

»Sie kennen ihn?«

»Ja, ich habe ihn gestern Abend kennengelernt, und ich habe mich sehr gut mit ihm unterhalten. Er denkt nicht, dass ich ein dummes kleines Mädchen bin.«

Dr. Semmelbrot errötete leicht. »Das denke ich auch nicht.«

»In zwei Monaten werde ich sechzehn, da möchte ich ganz gesund sein. Dann darf ich doch auch tanzen?«

»Möchten Sie das so gern?«, fragte er.

»O ja, ich stelle es mir schön vor. Ich werde Sie einladen und den ersten Tanz mit Ihnen tanzen, zum Dank«, fügte sie nun auch errötend hinzu.

»Das ist aber nett«, sagte Dr. Semmelbrot lächelnd. »Aber ich bin kein guter Tänzer.«

»Das dachte ich mir«, sagte Carry tiefsinnig, »aber bis dahin werde ich ja auch nicht perfekt tanzen können.«

Sie war entzückend naiv und doch schon recht witzig, ohne dass man dies hätte falsch auslegen können. Für den noch jungen Arzt, dem man diese schwierige Operation anvertraute, wurde diese plötzlich zu einer erdrückenden Verantwortung, denn für ihn gab es keinen Zweifel mehr, dass sie ihm alles abverlangen würde.

»Ihre Tochter hätte schon als Kind operiert werden müssen, Herr Henneke«, sagte er später ganz offen zu Jonas. »Sie hat eine sehr zarte Konstitution.«

»Sagen Sie es, wenn Sie sich die Operation nicht zutrauen«, stieß Jonas hervor.

»Die Operation selbst ist es nicht, Herr Henneke. Ich mag keine Umschreibungen. Wir werden eine sehr lange Narkose brauchen. Ich muss Sie doch auf jede Komplikation aufmerksam machen. Das halte ich für meine Pflicht. Ihre Tochter war großen psychischen Belastungen ausgesetzt.«

»Das sagte ich Ihnen doch«, erklärte Jonas ungeduldig. »Entschuldigen Sie, aber das lange Warten hat mir schon Sorgen bereitet.«

»Ich habe alle Reaktionen getestet«, erklärte der Arzt, »ich habe mich auch mit Ihrer Tochter unterhalten. Es kommt in erster Linie darauf an, dass alle Aufregungen von ihr ferngehalten werden und sie sich auf etwas sehr freuen kann. Sie hat von ihrem Geburtstag gesprochen, auf dem sie tanzen möchte.«

Jonas’ Miene lockerte sich. »Dann ist Carry aber schon sehr zutraulich, Herr Doktor«, sagte er gelöster. »Sonst ist sie Fremden gegenüber sehr gehemmt.«

»Es gehört zu meinem Beruf, das Vertrauen des Patienten zu gewinnen. Ohne dieses sollte man an eine schwierige Aufgabe gar nicht herangehen, aber bei weniger sensiblen Naturen ist der Bekanntheitsgrad eines Arztes oft ausschlaggebend. Meiner ist gleich Null.«

»Unter Ihren Kollegen aber anscheinend nicht. Ich vertraue Ihnen meine Tochter an. Miriam wird immer bei ihr sein, das mache ich zur Bedingung. Kann man es nicht erreichen, dass sie bei der Operation dabei ist?«

»Ob sie das will?«, fragte Dr. Semmelbrot.

»Darüber müsste ich mit ihr sprechen. Bestünde die Möglichkeit?«

»Ich brauche die Erlaubnis des Chefs. Professor Dietl operiert nicht mehr selbst, aber er führt ein ziemlich strenges Regiment.«

»Und kann man diesen strengen Mann sprechen?«

»Aber sicher. Um den guten Ruf seiner Klinik ist er sehr besorgt und auch um das Wohlergehen der Patienten. Er nimmt das Skalpell nicht mehr in die Hand, weil sein Arm durch eine schwere Arthritis unsicher geworden ist.«

»Wenn nur alle Ärzte so selbstkritisch und einsichtig wären«, sagte Jonas. »Also gut, ich werde mit Miriam und auch mit Professor Dietl sprechen. Welchen Ton schlägt man da am besten an?«

Dr. Semmelbrot lächelte. »Möglichst bayerisch«, erwiderte er, »und geradezu.«

»Na, das wird mir nicht schwerfallen«, sagte Jonas. »Sie nehmen es mir doch nicht übel, dass ich so besorgt bin?«

»Es wäre schlimm, wenn es anders wäre«, kam die Antwort sehr schnell.

*

»Jürgen heißt er mit Vornamen«, sagte Carry flüsternd zu Miriam. »Jürgen Semmelbrot klingt doch gar nicht so übel, findest du nicht? Vielleicht waren seine Vorfahren mal Bäcker.«

»Woran du alles denkst«, meinte Miriam lächelnd.

»Es lohnt sich doch, darüber nachzudenken, und außerdem finde ich ihn nett. Er redete nicht um den heißen Brei herum. Er redet wie Tante Hanne.«

»Und ich?«, fragte Miriam leicht betroffen.

»Du bist immer lieb und willst ja nichts sagen, was ich möglicherweise falsch auslegen könnte. Papi ist genauso. Aber so zimperlich bin ich gar nicht, Miriam. Hier jedenfalls nicht. Nonna war viel verletzender. Sie ermahnte mich nicht aus liebevoller Besorgnis, sondern um mir immer wieder deutlich zu machen, dass ich krank bin und noch kränker werden könne, wenn fremdes Blut durch meine Adern fließt.«

»Du lieber Gott, ihr ging es um Bluttransfusionen?«

»Ja, das auch, und dann meinte sie auch, dass ich ein ganz anderer Mensch werden könnte. Sie hat manchmal geredet, dass mir wirklich bange wurde. Was hast du eigentlich für eine Blutgruppe, Miriam?«

»AB«, erwiderte Miriam.

»Ich habe Null. Ob Papi auch Null hat?«

»Ich weiß nicht. Ich werde ihn fragen. Aber vor einer Blutkonserve brauchst du auch keine Angst zu haben, Carry.«

»Nonna hat gesagt, dass damit auch schlimme Krankheiten übertragen werden können.«

In diesem Fall konnte Miriam nicht mal widersprechen, denn tatsächlich hatte es solche Fälle gegeben, doch sie wollte sich jetzt den Kopf mit solchen Überlegungen nicht heiß machen.

»Hier kannst du ganz unbesorgt sein, mein Liebes. Und nun wirst du ganz schön schlafen.«

Sie hatte auf die Uhr geschaut. Jonas hatte Tante Hanne nach Hause gefahren und gesagt, dass er sie gegen neun Uhr abholen würde.

»Ich bin auch ziemlich müde«, sagte Carry. »Es war doch ganz schön anstrengend. Ich wollte ja alles genau mitbekommen, aber wenn ich auch ganz gesund werde, zur Ärztin tauge ich bestimmt nicht, Miriam. Ich würde es nicht verkraften, für das Leben eines Menschen verantwortlich zu sein. Wie war dir da immer zumute?«

»Optimistisch, meine kleine Carry. Solange ein Mensch lebt, darf man nie den Glauben aufgeben.«

»Ich frage mich nur, warum Mama gestorben ist, wo Nonna doch immer so viel gebetet hat.«

»In manchen Fällen sind Ärzte machtlos.« Aber vielleicht war es auch nicht der richtige Glaube, dachte Miriam weiter. Bei Lucia nicht und auch bei der Nonna nicht. Sie streichelte Carrys Wange. »Du musst an deine Genesung glauben, mein Kleines.«

»Ich brauche dich, Miriam«, flüsterte das Mädchen.

»Ich brauche dich auch, Carry«, sagte Miriam. »Ja, ich brauche dich, und wenn du gesund bist, werde ich dir erzählen, wie sehr du mir geholfen hast.«

Und mit diesen Worten flößte sie dem jungen Geschöpf eine solche Kraft ein, von der sie selbst nichts ahnte.

Jonas erwartete Miriam schon draußen. Er hatte ganz gegen seine Gewohnheit aus purer Nervosität mal wieder eine Zigarette geraucht. Miriam rümpfte die Nase.

»Ich bin kein starker Raucher«, sagte er entschuldigend.

»Es sollte kein Vorwurf sein«, sagte Miriam. »Ich habe Sie lange warten lasen, aber ich blieb bei Carry, bis sie eingeschlafen war.«

»Danke, Miriam. Wie fühlt sie sich? Ich hab’ das Gefühl, dass ich sie nur irritiere, wenn ich zu lange bei ihr sitze.«

»Sie spürt Ihre Angst.«

»Und Sie haben keine?«

»Ich bin Ärztin und darauf trainiert, den Patienten nichts spüren zu lassen. Sie dürfen nicht nervös werden, Jonas.«

»Ich bin nervös. Das gebe ich doch zu. Ich habe Angst, Miriam.«

»Sie müssen hoffen und glauben«, sagte sie leise. »Ich weiß, dass Carry gesund wird. Ich weiß es.«

Sie schrie es fast. »Sie muss gesund werden, sonst hätte ich auch den letzten Glauben verloren«, fuhr sie dann flüsternd fort.

»Wie kommt es, dass Sie Carry so lieben?«, fragte Jonas verwundert.

Miriam legte die Hände vor das Gesicht. »Vielleicht daher, dass ich in jener halben Stunde im Flugzeug die Stärkere war. Ich weiß es nicht, Jonas. Vielleicht liebte ich sie auch gleich wegen ihrer Hilflosigkeit. Oder ich hatte mich schon so vom Leben entfernt, und Carry wollte doch so gern ihren Papi wiedersehen. Wir wollen darüber nicht rätseln. Es können auch verdrängte Mutterinstinkte sein.«

»Haben Sie Kinder haben wollen?«, fragte er.

»O ja, ich wünschte mir Kinder. Nicht gleich, weil ich glaube, dass man in jungen Jahren keine gute Mutter sein kann, wenn man noch viel erwartet vom Leben. Fee Norden widerlegt solche These, aber so ganz jung im medizinischen Sinn war sie auch nicht mehr.«

Miriams Stimme hatte einen nachdenklichen Klang.

»Ist es denn nicht schön, wenn Kinder junge Eltern haben?«, fragte Jonas.

»Gewiss kann es sehr schön sein, wenn alles zusammenpasst. Es gibt Mädchen, die gar keinen anderen Wunsch haben, als Frau und Mutter zu werden. Auch heute gibt es das noch. Wenn sie den richtigen Partner finden, können auch Frühehen durchaus glücklich werden. Aber meist scheiden sich schon die Geister, wenn das Geld nicht bis zum Ersten reicht. Ich habe viel darüber nachgedacht, Jonas. Ich hatte ja viel Zeit, über alles nachzudenken.«

»Sie wollten jedenfalls in erster Linie Ärztin sein«, sagte er nachdenklich. »Eine emanzipierte Frau.« Er sagte es ohne Ironie, einfach nur als eine Feststellung.

»Ach Gott, diese hochgespielte und viel gelästerte Emanzipation«, sagte Miriam. »Ja, ich wollte Ärztin werden, aber nicht, um unabhängig von einem Mann zu sein oder aus Prestigedenken. Ich fühlte mich dazu berufen, um es mit diesem hochtrabenden Wort zu sagen. Ich schloss eine Bindung nicht aus, aber – nun, Sie kennen meine Geschichte. Heute bin ich der Überzeugung, dass Beruf, Ehe und Kinder sich auf die Dauer nicht unter einen Hut bringen lassen, ohne dass eins davon zu kurz kommt. Früher war ich anderer Meinung. Gewiss ist es gut wenn ein Mädchen zuerst einen Beruf erlernt, bevor es an Heirat denkt, denn schließlich kann jede Frau in die Situation geraten, allein für ihre Kinder sorgen zu müssen, aber wenn dann ein Kind da ist, sollte es das Vorrecht genießen.«

»Durchaus vernünftige Ansichten, aber es gibt wenige junge Mütter, die so denken. Ich sehe es doch auch bei uns im Betrieb. Der Fortschritt bringt so verlockende Dinge, dass der Mann allein sie meist nicht herbeischaffen kann. Auf Reisen und Vergnügungen verzichtet man auch ungern. Ich bin halt in dieser Beziehung etwas altmodisch. Sie werden über mich lächeln, wenn ich sage, dass der Mann in der Lage sein sollte, allein für seine Familie zu sorgen.«

»Ich lächle nicht«, erwiderte Miriam, »aber manchmal kann auch die Situation eintreten, dass eine Frau für ihren Mann sorgen muss. Was eine Ehe taugt, erweist sich doch erst in der Not.« Sie machte eine kleine Pause. »Nun sind wir ins Philosophieren geraten.«

»Es ist gut, wenn man so miteinander sprechen kann«, sagte Jonas. »Ich habe mir solch ein Pendant immer gewünscht.« Er wurde verlegen. War das der richtige Zeitpunkt, schon davon zu sprechen, was er sich für die Zukunft wünschte?

»Es ist schön«, sagte Miriam leise, »doch in meinem Leben gibt es noch manches zu ordnen, Jonas. Und jetzt wollen wir zuerst an Carry denken.«

»Aber dennoch können wir miteinander reden, und ich könnte Ihnen doch auch helfen.«

»Wie denn, Jonas? Es ist schon gut, dass Sie mir nicht misstrauen. Ja, das ist sehr gut.«

*

Wie Miriam zu helfen war, überlegten auch Daniel und Fee Norden. Sie hatten sich auf ein Stündchen mit Dieter und Jenny Behnisch zusammengesetzt und über Miriam gesprochen.

Dieter hatte dann einige Telefongespräche geführt und dabei wohl einiges in Erfahrung gebracht, jedoch nichts, was Miriam hätte nützen können.

»Wie es scheint, hat Benten keine guten Auskünfte über Miriam gegeben«, sagte er. »Ihr wisst doch, dass er in der Ärztekammer kräftig mitmischt.«

»Die Rache des Zurückgewiesenen?«, fragte Fee gedankenvoll.

»So wird es wohl sein«, sagte Daniel, »aber es widerspricht doch allen Regeln.«

»Warten wir doch ab, ob Miriam überhaupt noch praktizieren will«, sagte Jenny.

»Es geht nicht allein darum, sondern dass sie völlig rehabilitiert wird«, sagte Daniel.

»Aber nehmen wir mal an, dass Benten gerade das verhindern will, dann können wir gar nichts machen«, sagte Dieter. »Gegen den kommen wir auch vereint nicht an. Im Gegenteil, er wird dann versuchen, uns auch noch eins auszuwischen. Wehe, wenn einer aufmüpfig wird. Und wenn es galt, Missstände aufzudecken, war Miriam schnell dabei. Ich sehe keinen Weg, ihr zu helfen. Aus Beirut werden wir bestimmt keine Hilfe bekommen. Es kann durchaus sein, dass der Fall Miriam Perez bereits vergessen ist.«

»Und wenn jemand ein schlechtes Gewissen haben muss, kann dies nur recht sein«, sagte Jenny.

»Schlimm wäre es für sie, wenn mit der kleinen Carry nicht alles glattgehen würde«, mischte Fee sich ein. »Aber wenn alles ohne Komplikationen verläuft, bekommt sie vielleicht doch Auftrieb. Die menschlichen Beziehungen dieser Familie sind sehr harmonisch. Bleibt zu hoffen, dass Miriam auf diese Weise entschädigt wird für alles, was sie erdulden musste.«

Dass es Fränzi mit jedem Tag besserging, davon hatte Daniel sich überzeugen können. Diese Sorgen waren sie los.

Von unliebsamen Überraschungen blieb Dr. Norden während der nächsten Tage auch verschont. In der Praxis ging es ohne besondere Ereignisse ab. Die üblichen Erkältungskrankheiten, die bei dem wechselhaften Wetter nicht ausblieben, die üblichen Verletzungen, die unvermeidlich schienen, so oft auch zur Vorsicht gemahnt wurde. Zum Glück aber war keine dabei, die böse Folgen haben könnte.

Dann aber kam der Morgen, an dem Miriam anrief, dass Carry operiert werden würde. Professor Dietl hätte ihr gestattet, bei der Operation zu assistieren.

Die Vorgeschichte dazu kannten Fee und Daniel noch nicht. Jonas hatte ein langes Gespräch mit dem Klinikchef geführt, der trotz seiner fast siebzig Jahre und seiner schmerzhaften Arthritis sehr aufgeschlossen und lebhaft war.

Er machte zuerst eine sarkastische Bemerkung darüber, dass er sich selbst und auch kein anderer ihn heilen könnte. Natürlich verschafften Medikamente Linderung, aber schließlich könne es möglich sein, dass gerade unter einer Operation plötzlich wieder diese gemeinen Schmerzen aufträten und da wollte er solch ein Risiko doch nicht eingehen.

»Ich habe ja einen tüchtigen Assistenten«, sagte er zu Jonas, wohl, um etwaige Vorurteile gegen Dr. Semmelbrot wegzufegen, doch die hatte Jonas schon längst nicht mehr. Als er dann vorsichtig auf Miriam zu sprechen kam, richtete sich Professor Dietl auf.

»Sagten Sie Miriam Perez? Sie ist hier?«, fragte der alte Herr erregt.

»Sie lebt in meinem Haus.« Dann musste Jonas erzählen, wie es dazu gekommen war, bevor Professor Dietl eine Erklärung gab, woher Miriam ihm bekannt war.

»Man redete seinerzeit viel davon, dass Benten sie heiraten wolle. Er war mein Famulus. An seinem Können gab es nichts auszusetzen, menschlich hat er mich enttäuscht. Aber Schwamm drüber. Ich will nicht in den Verdacht geraten, ein Schwätzer zu sein, wenn man auch mit zunehmendem Alter mehr und mehr Erinnerungen nachhängt.«

»Sie wissen aber, dass Miriam übel mitgespielt wurde in Beirut?«

»Ich habe davon gehört, aber diese Geschichte ist doch geklärt und beigelegt? Von hier aus ist doch alles getan worden, um der jungen Kollegin zu helfen.«

»Davon ist Miriam nichts bekannt. Sie wurde zwar freigelassen, dann aber abgeschoben, ohne Rehabilitation.«

»Das ist mir unverständlich, aber vielleicht sind daran die misslichen Verhältnisse in diesem Lande schuld. Wir hören zwar, was man dort beschließt, aber was sich unter den Verantwortlichen abspielt, erfahren wir doch nicht.«

»Hat sich Professor Benten auch mit Miriam solidarisch erklärt?«, fragte Jonas sehr direkt, denn Dr. Semmelbrot hatte ja geraten, ohne Umschweife mit seinem Chef zu reden.

»Benten ist nicht Fisch und nicht Fleisch«, meinte der andere. »Er sagte wohl, dass man von hier aus nicht überprüfen könne, wie sich die Dinge wirklich verhielten. Außerdem sei Frau Perez keine deutsche Staatsbürgerin. Aber so weit mir bekannt ist, wurde doch eine Ehrenerklärung für sie abgegeben. Ich werde mich jetzt erkundigen, ob ihr hier die Ausübung ihres Berufes versagt wurde, und wenn das nicht geschah, habe ich nichts dagegen einzuwenden, dass sie der Operation beiwohnt.«

Jonas konnte Miriam eine positive Nachricht bringen, doch augenblicklich war ihr Carry so wichtig, dass sie ganz vergaß, auch Daniel diesen günstigen Bescheid mitzuteilen. Er erfuhr dann von Dr. Behnisch, dass Miriam nichts mehr zu befürchten hätte. Ihr Anwalt hätte ihren Freispruch erreicht. Dass sie vorher des Landes verwiesen worden sei, beruhe auf einem Irrtum.

»Da mögen schöne Zustände herrschen«, sagte Fee kopfschüttelnd. »Wir haben in unserem guten alten Europa wahrhaftig keinen Grund zu meckern, wenn uns auch manches nicht passt. Doch immerhin kann man sagen, dass ihr dieser Irrtum irgendwie doch Glück gebracht hat.«

»Das wollen wir erst sagen, wenn Carry die Operation gut überstanden hat«, sagte Daniel.

*

Miriam kämpfte gegen die innere Angst an, als sie Carry auf dem Operationstisch liegen sah. Es ging nicht um irgendeinen Patienten, es ging um den Menschen, dem ihre ganze Zuneigung gehörte. Carry, die so schwach erschien, hatte ihre Kräfte mobilisiert. Sie war voller Vertrauen.

»Ich freue mich so auf mein neues Leben, Miriam«, hatte sie noch am Vorabend gesagt. »Und wenn wir das hinter uns gebracht haben, werden wir alles tun, damit du dich auch wieder richtig freuen kannst.«

Carry dachte nie nur an sich selbst. Sie bewies so viel Mut, dass Miriam sich wegen ihrer inneren Ängste nun fast schämte.

Dr. Jürgen Semmelbrot lächelte ihr aufmunternd zu, aber sie fragte sich, ob er so zuversichtlich wäre, wie er sich gab.

Zu aller Überraschung erschien Professor Dietl im Operationssaal, gekleidet wie es sein musste.

»Keine Angst, ich will Ihnen nicht ins Handwerk pfuschen, mein Junge«, sagte er zu Dr. Semmelbrot, und Staunen war in manchen Augen, dass er den Jüngeren so anredete. »Vielleicht kann ich doch noch einen Tipp geben, wenn es nötig sein sollte«, fuhr Professor Dietl fort. »Wird es akzeptiert?«

»Mit Dank, Herr Professor«, erwiderte Dr. Semmelbrot. Und dann setzte er das Skalpell an, so sicher, dass Miriam den Atem anhielt.

Sie hatte schon öfter Menschenherzen freigelegt gesehen, aber dies war Carrys Herz. Sie musste für einen Augenblick die Augen schließen.

Professor Dietl tat das für sie, was sie nun eigentlich tun musste, er reichte seinem jungen Kollegen die richtigen Instrumente. Mit der linken Hand konnte er es, ohne dass diese zitterte. Aber zu sagen brauchte er nichts.

Das tat er erst später, als die Wunden vernäht waren.

»Sie haben sich gut vorbereitet«, sagte er zu Dr. Semmelbrot. »Sie sind unter der Zeit geblieben.«

»Eine Nachnarkose hätten wir nicht geben können«, murmelte Jürgen.

Er sah kurz zu Miriam hinüber, die leicht schwankend den Operationssaal verließ. »Ich hatte einen sehr guten Lehrer, der immer mein Vorbild bleiben wird«, fuhr er dann fort.

»Nur keine Ovationen, Nachfolger«, sagte Professor Dietl. »Das war ein Meisterstück. Ich weiß nicht, ob ich es so perfekt vollbracht hätte.«

Diese hohe Anerkennung brachte den bescheidenen Jürgen nun doch in Verlegenheit. »Ich habe doch alles von Ihnen gelernt, Herr Professor«, sagte er leise.

»Und warum soll der Schüler nicht mal besser sein als der Lehrer?«, fragte der. »Legen wir doch den verflixten Hochmut ab, diese verdammte Eitelkeit, die so viel anrichtet und die in unserem verantwortungsvollen Beruf fehl am Platze ist. Ich bin heute nur stolz auf meinen gelehrigen Schüler.«

Und Miriam fiel in Jonas’ Arme, als sie befreit von Kittel, Maske und Handschuhen auf den Gang trat. »Es ist geglückt. Es wird alles gut«, sagte sie aufschluchzend, »aber beitragen konnte ich nichts.«

»Du warst bei Carry, wie sie es sich gewünscht hat«, sagt er leise. »Ich weiß, wie viel Kraft es dich gekostet hat, Miriam.«

Ganz nahe waren sie sich und hielten sich eng umschlungen, sie merkten gar nicht, dass der Professor und sein Schüler an ihnen vorbeigingen.

»Da sind noch ein paar mehr Menschen glücklich«, sagte Professor Dietl. »Welch ein schöner Tag!«

Konnten sie sich jetzt wirklich schon freuen? Professor Dietl schien davon überzeugt zu sein. Er tat etwas, was bisher einmalig in seiner Klinik war, er würdigte das Können seines Nachfolgers, als der Dr. Semmelbrot bisher offiziell noch gar nicht gegolten hatte, mit anerkennenden Worten, während Jonas und Miriam mit ineinander verschlungenen Händen neben Carrys Bett saßen und ihren Atemzügen lauschten. Schwach waren sie noch und unregelmäßig, doch das Blut, das aus der Infusionsflasche in ihre Adern tropfte, war das Blut ihres Vaters, das ihr neuen Lebenssaft zuführte.

»Sie wird leben, Jonas. Sie wird gesund werden«, flüsterte Miriam nach langen Minuten des Schweigens.

»Aber ganz glücklich wird sie nur sein, wenn du bei uns bleibst«, sagte er sinnend. »Wirst du bei uns bleiben, Miriam? Könnte dir ein Leben mit uns mehr bedeuten als dein Beruf, den du nun wieder ausüben könntest?«

»Du hast mir noch gar nicht gesagt, dass es auch dein Wunsch ist«, sagte sie leise.

»Habe ich nicht? Dann muss ich es bald nachholen. Aber eigentlich müsstest du es doch schon wissen, geliebte Miriam.«

Ein wundervolles, berauschendes Gefühl der Geborgenheit erfüllte sie, als sein Arm sich fest um sie legte. Und während Carry dem neuen Leben entgegenschlief, spürte sie seine trockenen bebenden Lippen an ihrer Wange. Ganz sacht drehte sie ihren Kopf, bis ihre Lippen sich berührten und als dies geschah, war alles ausgelöscht, was ein anderer ihr angetan hatte.

*

Fee stand am Telefon, als Daniel kam. »Ich bin froh«, sagte sie, »auf baldiges Wiedersehen!«

Mehr konnte sie nicht sagen, denn auf der anderen Seite wurde der Hörer aufgelegt. Daniels Arme umfingen sie von rückwärts.

»Worüber bist du froh?«, fragte er, dicht an ihrem Ohr.

»Die Operation ist glücklich verlaufen. Alles deutet darauf hin, dass Miriam nun lieber auch Ehefrau und Mutter sein will.«

»Kein einmaliger Fall«, sagte Daniel lächelnd. »Und ganz schmerzlos war die Geburt ihrer fünfzehnjährigen Tochter auch nicht.«

»In zwei Monaten ist Carry sechzehn«, sagte Fee.

»Aber immerhin könnte sie Miriams Tochter sein.«

»Jedenfalls nicht ungewöhnlich, aber weiterer Nachwuchs ist auch nicht ausgeschlossen«, meinte Fee.

»Woran du gleich wieder denkst«, sagte er belustigt.

»Nur eine Feststellung war das«, sagte Fee. »Wenn unser Danny mal sechzehn ist, bin ich schon im fortgeschrittenen Alter.«

»Bis dahin wird unser Nachwuchs auch schon im fortgeschrittenen Alter sein«, meinte Daniel mit leisem Lachen.

Als würde Danny genau verstehen, dass vom Nachwuchs die Rede war, machte er sich nun bemerkbar. Er hatte seine Schlafgewohnheiten geändert, wohl um abends das Beisammensein mit den Eltern länger ausdehnen zu können. Ganz von selbst legte er nachmittags noch ein Ruhestündchen ein. Da Daniel heute nun früher daheim war als sonst, hatte Danny sein Kommen verschlafen und war nun sehr beleidigt.

»Papi da«, sagte er vorwurfsvoll. »Kommt nicht zu Danny.«

»Ich wollte gerade kommen«, wurde ihm versichert. Als Daniel ihn dann emporhob und durch die Luft schwenkte, war alles wieder gut, und der Schmollmund lachte.

»Papi lieb«, schmeichelte Danny. »Danny auch lieb.«

»Und Mami?«, tat Fee beleidigt.

»Mami immer lieb«, sagte Danny.

»Er macht feine Unterschiede«, stellte Daniel fest. »An dir gibt es halt nichts auszusetzen, mein Schatz.«

»Wenn du daheim bist, stehst du höher im Kurs. So gleicht es sich doch aus.«

Und wie genoss es Daniel jetzt, einmal wieder Zeit für seinen Kleinen zu haben. Für Fee war es immer wieder ein Geschenk, ihn so jungenhaft froh zu sehen, doch sie machte sich, wie wohl alle fürsorglichen Mütter Gedanken, wie Danny reagieren würde, wenn er Liebe und Zeit, die jetzt noch ihm allein gehörten, mit einem Geschwisterchen teilen musste.

»Wie reagiert eigentlich der kleine Tiedemann auf den Familienzuwachs?«, fragte sie darum später ihren Mann, weil sie wusste, dass er dort einen Hausbesuch gemacht hatte. »Haben sie dich seinetwegen gerufen?«

Er nickte und runzelte die Stirn. »Es sollte eben doch kein zu großer Altersunterschied zwischen den Kindern sein«, erwiderte er. »Fünf Jahre sind zu viel.«

»Also ist er nicht erbaut«, sagte Fee.

»Er will auch wieder Baby sein, nuckelt am Daumen, will aus der Flasche trinken und gewindelt werden. Frau Tiedemann ist ganz aufgelöst, weil er heute Morgen versucht hat, dem Baby das Kopfkissen auf das Gesicht zu drücken, als sie nur einen Augenblick das Schlafzimmer verlassen hatte.«

»Er war so ein aufgeweckter Junge«, sagte Fee nachdenklich.

»Und viel zu sehr verwöhnt. Das gibt es bei uns nicht. Jetzt machten sie auch noch den Fehler, das Baby zu sich ins Schlafzimmer zu nehmen. Ich habe ihr gesagt, das sie das schnellstens ändern müssen.«

»Aber es wäre doch falsch, nun Rolf bei sich schlafen zu lassen.«

»Das wäre natürlich auch keine Lösung. Ich habe Frau Tiedemann empfohlen, das Baby nachts ruhig in die Küche zu schieben. Darauf reagierte Rolf eigentlich ganz vernünftig. Dann würde er es wenigstens nicht mehr schreien hören, meinte er. Jetzt heißt es abwarten, wie er sich nun benimmt.«

»Ob Danny auch wieder Baby sein will?«, überlegte Fee laut und dachte im Augenblick gar nicht daran, dass er es hören konnte.

»Danny kein Baby, Danny groß«, sagte er energisch und reckte sich gleich.

»Und wenn wir noch ein Baby bekommen?«, fragte Fee, obgleich sie doch meinte, dass er noch zu klein sei, um es zu verstehen.

»Baby?«, fragte er sofort. »Danny holt Baby.«

Blitzschnell glitt er von Daniels Knie und sauste ins Kinderzimmer, um wenig später mit einer gehäkelten Puppe wiederzukommen.

»Wo hat er die her?«, fragte Daniel. »Ist die süß.«

»Süß«, sagte Danny und lief schon wieder davon.

»Lenni hat sie selbst gemacht«, sagte Fee, »solche Talente habe ich nicht.«

»Dafür hast du andere«, sagte Daniel zärtlich. »Wo bleibt unser Sohn?«

»Wieder da«, sagte Danny, mit seinem kleinen Leiterwagen erscheinend. »Alles für Baby.«

Er hatte den Wagen vollgepackt mit Spielsachen, mit denen er besonders gern spielte.

»Du bist aber lieb«, lobte Fee.

Aber die Frage blieb doch offen, ob er mit einem lebendigen und schreienden Baby auch so lieb sein würde.

Allerdings wohnten sie nicht so beengt wie die Tiedemanns, und es kam von Anfang an nicht infrage, dass sie das Baby mit in ihr Schlafzimmer nehmen würden, wie es Danny manchmal zugestanden worden war. Und dann war auch Lenni da, die dem Baby hin und wieder die Windeln wechseln und das Fläschchen geben konnte.

»Mach dir doch keine Gedanken, Liebes«, sagte Daniel, der genau wusste, was hinter Fees glatter, jetzt jedoch leicht gerunzelter Stirn vor sich ging. »Vielleicht kommen bei den Tiedemanns die Probleme daher, dass sie eigentlich dieses Kind gar nicht wollten. Sie waren ganz auf den Jungen konzentriert, und das hat er natürlich mitbekommen. Sie haben auch den Fehler gemacht, ihn nicht in einen Kindergarten zu schicken. Er ist das typische Einzelkind, und wir haben immer mehrere gewollt. Irgendwie begreift Danny das schon, da bin ich ganz sicher.«

Wenn man betrachtet, wie liebevoll er mit der »Püppi« umging, konnte man zuversichtlich sein.

*

Miriam war an Carrys Bett zurückgekehrt, nachdem sie Fee angerufen hatte. Jonas war heimgefahren, um Tante Hanne persönlich zu informieren, aber er wollte dann noch einmal wiederkommen.

Es war so still im Zimmer, dass Miriam nur ihre eigenen Atemzüge vernahm und ihr Herz klopfte, bewegt von Jonas’ Liebeserklärung, so heftig, dass sie angstvoll nach Carrys Puls griff, um diesen auch zu spüren.

Sie hörte nicht, dass die Tür aufgegangen war. Dr. Semmelbrot war leise hereingekommen. Miriam schrak leicht zusammen, als sein Schatten über das Bett fiel. Sie ließ ihre Hand sinken, und er griff nach dem dünnen Handgelenk des Mädchens. Sein Blick richtete sich auf seine Armbanduhr und mechanisch zählte er hörbar mit, als der Sekundenzeiger vorwärtsrückte.

»Wir können zufrieden sein«, sagte er aufmunternd. Dann lächelte er Miriam zu. »Wenn man bedenkt, welche schwierigen Herztransplantationen heutzutage vorgenommen werden, ist eine solche Operation nur eine Gesellenprüfung.«

»Ihr Chef ist da glücklicherweise anderer Meinung«, sagte Miriam leise, »und wir auch.«

»Carry ist widerstandsfähiger, als zu hoffen war«, wollte er sein Verdienst nochmals abschwächen.

»Sie freut sich auf ihr zweites neues Leben.«

»Der Wille zu leben ist der beste Helfer für jeden Arzt, Frau Kollegin. Ich hoffe, es erschreckt Sie nicht, wenn ich Ihnen sage, dass Professor Benten Sie sprechen möchte.«

Miriam blieb merkwürdig ruhig. Was will er, dachte sie. Hier hat er doch nichts zu sagen.

»Nein, es erschreckt mich nicht«, erwiderte sie.

»Der Meinung war der Chef auch«, sagte Dr. Semmelbrot.

»Ich bleibe bei Carry«, sagte er, als sie sich langsam erhob.

»Ich werde bald zurück sein«, erwiderte Miriam.

Sie sah Benten schon von Weitem, als sie leise die Tür des Krankenzimmers hinter sich schloss. Er war stark gealtert, seit sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Damals war er Oberarzt gewesen und die Nachricht, dass er Chefarzt geworden war und eine Professur angenommen hatte, war ihr mitgeteilt worden, bevor sie nach Beirut flog.

Unzweifelhaft war er eine starke Persönlichkeit, aber Miriam hatte nie etwas für ihn übrig gehabt. Gewiss hatte sie als Anfängerin seine Fähigkeiten bewundert wie alle anderen jungen Doktoren auch, aber er hatte nie etwas Anziehendes für sie gehabt und heute erst recht nicht.

»Miriam«, sagte er mit gedämpfter Stimme, »ich hörte, dass du hier bist und wollte nicht versäumen, mich nach deinem Befinden zu erkundigen und dir mein Bedauern auszudrücken, dass du so Schlimmes durchmachen musstest.«

Wie einstudiert klang es. Aalglatt war er also noch immer.

»Sie hätten sich nicht zu bemühen brauchen«, sagte Miriam betont reserviert und sich erinnernd, dass sie ihm nie erlaubt hatte, sie zu duzen.

Das Blut stieg ihm in die Stirn, auf der die Adern anschwollen.

Miriam wusste, wie jähzornig er werden konnte. Sie hatte es selbst erlebt.

Sie war jetzt nicht mehr die kleine Studentin, die gerade ihren Doktor gemacht hatte. Und sie war auch nicht mehr das verängstigte, an sich selbst zweifelnde Geschöpf, das Beirut mit dem Gefühl verließ, dem Wahnsinn nahe zu sein.

»Ich möchte nicht verdächtigt werden, dass ich es gewesen sein könnte, der einer Kollegin Hilfe versagen wollte«, stieß Benten hervor.

»Daran dachte ich nicht«, sagte Miriam, »und ich sehe auch keinen Grund zu einer Rechtfertigung für Sie.«

»Aber Sie haben verhindert, dass ich Fräulein Henneke operierte«, sagte er nun anklagend. »Das stimmt doch?«

»Sie vermuten es?«, fragte sie sarkastisch. »Die Entscheidung traf Herr Henneke. Es ist doch sein gutes Recht. Dr. Semmelbrot hat ihn nicht enttäuscht. Niemand bezweifelt Ihr Können, und auf dieses Honorar sind Sie doch wohl nicht angewiesen?« Diese Anzüglichkeit konnte sie sich nicht verkneifen.

»Sie haben sich nicht verändert«, sagte er zornig. »Sie sind noch genauso kalt wie früher. Ich kam, um Ihnen ein Angebot zu machen, aber das erübrigt sich jetzt.«

»Mit Sicherheit«, erwiderte Miriam, »ich werde nicht mehr in meinem Beruf tätig sein. Ich nehme doch an, dass es ein berufliches Angebot sein sollte?«

Sie hatte ihm allen Wind aus den Segeln genommen, und nun nahte auch Jonas, was sie als Erlösung empfand. Benten konnte ihn nicht sehen, da er ihm den Rücken zukehrte.

»Natürlich sollte es ein berufliches Angebot sein«, sagte er mit schnarrender Stimme.

Jonas war auf ein paar Schritte herangekommen. Er war sichtlich erregt, und Miriam ahnte, was in ihm vor sich ging.

»Da kommt Herr Henneke«, sagte sie ruhig. »Jonas, Professor Benten wollte mir eben ein Angebot machen. Ich erklärte ihm, dass ich meinen Beruf nicht mehr ausüben werde.«

Konsterniert sah Benten den anderen an. »Oh, ich verstehe«, murmelte er.

»Ja, wir werden heiraten«, sagte Jonas, und Miriam wurde von einem zärtlichen Blick eingehüllt.

»Meinen Glückwunsch«, sagte Benten steif.

Und im richtigen Augenblick trat Professor Dietl in Erscheinung, breit grinsend, aber mit gutgespielter Überraschung.

»Ich höre was von Glückwunsch«, sagte er. »Wozu darf man gratulieren?«

»Zu meiner zukünftigen Frau«, erwiderte Jonas ohne zu zögern.

»Darauf müssen wir aber einen Schluck trinken«, sagte der alte Herr. »Sie sind selbstverständlich eingeladen, Herr Kollege.«

»Danke, ich habe noch zu tun«, erwiderte Benten heiser, und dann verabschiedete er sich rasch.

»Zum Teufel auch«, knurrte Professor Dietl, »wie konnten Sie auch Dr. Semmelbrot den Vorzug vor Seiner Eminenz Professor Benten geben.«

»Sie sind uns deswegen doch nicht etwa böse, Herr Professor?«, fragte Jonas lächelnd.

»Ich nicht, und nun lassen Sie den Professor weg und reden menschlich mit mir. Kann man wirklich gratulieren?«

»Damit treibt man doch keine Scherze«, entgegnete Jonas.

»Na, bei manchen ist man da nicht so sicher. Und besondere Situationen erfordern auch manchmal – ach, was rede ich da wieder für einen Unsinn. Von diesem Burschen wird man ja herausgefordert.«

Jonas ergriff Miriams Hand.

»Wir waren uns aber schon vorher einig«, sagte er mit dunkler Stimme.

»Um so besser«, sagte Professor Dietl. »Ich habe ja wirklich nichts gegen den Kollegen Benten. Seine Arbeit macht er noch immer ordentlich, was man ja auch hoffen will zum Wohle der Patienten. Vielleicht gibt er sich jetzt sogar noch mehr Mühe, wenn er die Konkurrenz auf den Fersen weiß. Das ist nie schlecht. Es spornt immer an. Ich möchte um Verzeihung bitten, wenn ich es an Objektivität fehlen lasse. Ich möchte, weiß Gott, nicht gehässig erscheinen.«

»Benten hat Ihnen viel zu verdanken«, sagte Miriam.

»Wenn es so ist, hat er es vergessen. Er kann sich ja auch Professor nennen, und dabei sind Titel doch Schall und Rauch, wenn nicht der Mensch dahintersteht«, sagte Professor Dietl.

»Dr. Semmelbrot wird es nie vergessen, was er Ihnen verdankt«, sagte Miriam.

»Nein, der Junge nicht. Er ist früher auf dem oberen Treppchen angekommen als wir.«

»Er hat andere technische Möglichkeiten«, sagte Miriam nachdenklich.

»Das mag stimmen, aber er hat auch besondere Fähigkeiten mitbekommen«, sagte Professor Dietl.

Diese hatte Dr. Jürgen Semmelbrot, über dessen Namen so viele lachten, wenn sie ihn zum ersten Mal hörten, in seinem bisher schwersten Fall unter Beweis gestellt.

Carry erwachte genau zwölf Stunden nach Beginn der Operation. Es war neun Uhr abends. Das Zimmer war nur vom Nachtlicht erhellt.

»Es ist so dunkel«, waren ihre ersten Worte.

»Dann machen wir mehr Licht«, sagte Miriam. »Es ist Abend, Carry.«

»Und ich dachte, es sei schon morgen«, sagte Carry leise. »Dann habe ich gar nicht lange geschlafen.«

»Doch, sehr lange, der Morgen ist längst vorbei und die Operation auch. Und du bist viel früher munter, als wir annehmen konnten.«

»Dann hat mein neues Leben schon begonnen?«, fragte Carry staunend. Nun bemerkte sie auch ihren Vater und flüsterte: »Papi!«

»Unser neues Leben hat begonnen, mein Liebling«, sagte er bewegt.

»Ohne Loch im Herzen?«, fragte Carry noch immer ungläubig.

»Nun spring nicht gleich aus dem Bett«, mahnte Miriam. »Ein bisschen Geduld müssen wir schon noch haben, bis alles verheilt ist.«

Carrys kleine Hand kroch zu der Stelle, unter der ihr Herz schlug. Ein Lächeln verklärte ihr zartes Gesicht. »Es klopft ganz anders als früher«, flüsterte sie. »Und du bist da, Miriam. Ich habe mir das nicht nur eingebildet.«

Miriam küsste ihre blassen Lippen.

»Ich werde immer bei dir bleiben, mein Kleines«, sagte sie weich.

»Bei uns, Carry«, fügte Jonas hinzu. »Wie du es dir gewünscht hast.«

»Aber du musst Miriam lieb haben, so lieb wie ich sie habe, Papi«, sagte Carry, und dann schlief sie schon wieder ein.

»Ja, das kann ich dir nun wirklich nicht versprechen, Miriam«, sagte Jonas. »Es kann ja sein, dass du mir noch viel mehr bedeutest als ihr. Für sie beginnt das Leben, und sie wird womöglich einen Mann finden, den sie noch lieber hat als uns beide.«

»Dann wollen wir nur wünschen, dass es gleich der Richtige ist, Jonas«, sagte Miriam. »Ich kann nur wünschen, dass sie keine Enttäuschung erlebt.«

Dann umfingen sie seine Arme, und seine Lippen suchten die ihren, um sich mit ihnen in einem langen, innigen Kuss zu vereinen, der mehr ausdrückte, als Worte noch hätten sagen können, denn sie wussten beide, dass sie über dem Glück dieses Kindes wachen würden, das sie zusammengeführt hatte.

*

Am nächsten Morgen startete Flugkapitän Holger Herwart mit seiner Crew in Richtung Hamburg. Conny Dahm hatte sich am Vorabend von Fränzi mit dem Versprechen verabschiedet, bald wieder bei ihr zu sein, und sie hatte ihm versprechen müssen, alles zu tun, um schnell gesund zu werden, und vor allem sich keine Sorgen um ihn zu machen.

In der Maschine saß ein Passagier, den sie alle schon sehr gut kannten. Chris Andresen hatte sich von seinem sonst so strengen Vater ein paar Tage Urlaub erbeten, und er wusste, dass seine Eltern diesmal nicht nur auf ihn, sondern auch auf ihre zukünftige Schwiegertochter warteten.

Die Maschine war voll besetzt. Anja konnte sich keine privaten Bemerkungen erlauben. Aber ihr Lächeln galt nur Chris, als sie sich herabbeugte und fragte: »Haben Sie besondere Wünsche?«

Chris blinzelte zu ihr empor. »Die können Sie mir momentan doch nicht erfüllen«, erwiderte er. »Mir können Sie noch einen Kaffee geben«, sagte die füllige Dame neben ihm gereizt.

»Aber gern, gnädige Frau«, erwiderte Anja.

Holger pfiff vor sich hin, während das Flugzeug unter blauem Himmel seinem Ziel zusteuerte.

»Du kannst vergnügt sein«, sagte Conny mürrisch. »Dein Schätzchen ist dir nahe.«

»Du wirst auch wieder bei deinem Schätzchen sein. Früher hätten wir schön gemeckert, wenn es für uns nur immer die gleichen Inlandsstrecken gegeben hätte.«

»Ich kenne noch zwei, die auch gemeckert hätten. Wann wird Anja uns verlassen?«

»In drei Monaten, es sei denn, es stellt sich früher heraus, dass sie ein Baby erwartet.«

»Und das ist ihr zuzutrauen«, brummte Conny.

»Ich könnte es den beiden nicht verdenken«, sagte Holger. »Wenn einer immer warten muss, ist das keine gute Sache.«

»Dann muss ich meinen Dienst quittieren«, seufzte Conny.

»Spinn dich aus. Deine Fränzi ist doch schon gewöhnt zu warten. Wir können es uns nicht leisten, alles aufzugeben. Anja macht eine tolle Partie, da liegen die Dinge anders.«

»Ihr wollt noch ewig schauspielern?«, fragte Conny.

»Nicht ewig. Solange es eben geht.«

»Anja wird uns fehlen«, sagte Conny. »Wer weiß, was nachkommt.«

»Uns kann doch keine gefährlich werden«, gab Holger zurück. »Du wirst mir auch fehlen, wenn du nun Flugkapitän wirst, Conny. Dann muss ich mich an einen anderen Kopiloten gewöhnen, und schließlich ist es mir doch zu vergönnen, dass wenigstens Wendy mir noch erhalten bleibt.«

»Wenn sie nicht mir zugeteilt wird«, spottete Conny.

»Das könnte dir so passen. Dann wird geheiratet, und sie bleibt daheim. Aber pass auf. Wir werden bald landen.«

Wenige Minuten später setzten sie sicher auf dem Rollfeld auf. Freundlich nickend verabschiedeten sich die Stewardessen von den Passagieren. Chris verließ als Letzter das Flugzeug. »Wir sehen uns draußen, Liebling«, sagte er zu Anja.

»Sie treffen sich draußen, und du kannst mir jetzt ruhig einen Kuss geben, Wendy«, sagte Holger.

»Oder umgekehrt«, erwiderte sie fröhlich.

»Verzieh dich schon, Conny«, brummte Holger.

»Ihr habt es gut«, gab der zurück. »Und was mache ich?«

»Wie wäre es denn, wenn du dich mal richtig ausschlafen würdest?«, fragte Holger.

»Keine schlechte Idee. Dann bis morgen. Sie meinen es ja wirklich gut mit uns, dass sie uns so viel Ruhe gönnen.«

»Manchmal lässt auch unser Chef mit sich reden. Durch die Schlechtwetterlage mussten in dieser Woche einige Flüge ausfallen, sodass die Besatzungen nicht überbeansprucht wurden.«

»Gut, dass wir unser Festgehalt haben«, sagte Conny, »sonst würden wir ganz schön wütend sein über die Schlechtwetterlage.«

Anja wurde indessen schon von Chris ihren zukünftigen Schwiegereltern zugeführt, die sie kurz und forschend musterten und dann in die Arme schlossen. Dass sie sich nicht vorschriftsmäßig verhielt, da sie mit einem Passagier den Platz verließ, konnte ihr einen Verweis oder gar die Kündigung einbringen, aber das wäre Chris nur lieb gewesen. Sie hätte es auch gelassen aufgenommen. Sie hatte ihr Glück nicht in den Wolken gefunden, sondern auf der Erde.

*

Was hatte sich in dieser einen Woche seit der Landung im Nebel so alles zusammengeballt an Ereignissen, und welche schwerwiegende Entscheidungen waren getroffen worden! Rückblickend konnte man sagen, dass es kaum zu glauben war. Ärzte allerdings trugen solches mit Gelassenheit, denn bei ihnen war jeder Tag abwechslungsreich, und manche Sprechstunde konfrontierte sie mit vielerlei und den unterschiedlichsten Schicksalen. Doch im Leid wie auch im Glück war jeder sich selbst der Nächste, und gut war es, wenn beides mit wenigstens einem Menschen geteilt werden konnte.

Geteiltes Leid war halbes Leid und geteilte Freude doppelte Freude. Eine alte Volksweisheit sagte es, und es bewies sich immer wieder.

Frau Kögler war nach der Beerdigung ihres Mannes in Dr. Nordens Praxis gekommen. »Ja, nun müssen Sie mich doch ein bisschen aufpäppeln, Herr Doktor«, sagte sie leise.

Dass sie viel Kraft verbraucht und nicht an sich gedacht hatte, wusste er, aber da der Wille zum Leben da war, würde es nicht lange brauchen, um körperlich wieder auf der Höhe zu sein. Dafür gab es ja nun wirklich gute Mittel, und weil er die besten auf Krankenschein nicht verschreiben durfte, gab er ihr diese aus seinem Vorrat mit.

»Aber auch regelmäßig einnehmen«, ermahnte er sie. Sie versprach es.

Bei den Tiedemanns war auch eine Wendung zum Guten eingetreten. Zuerst hatte Rolf es mit Genugtuung empfunden, dass seine kleine Schwester nachts in der Küche schlafen musste, aber dann tat es ihm bald leid. So schlimm war es ja gar nicht, ein Geschwisterchen zu haben, wo es doch die meiste Zeit schlief und noch gar nicht reden konnte. Und gar so schön fand er es auch schon nicht mehr, ein Baby zu sein und bloß Fläschchen zu trinken. Er war zu seinen früheren Lebensgewohnheiten zurückgekehrt. Und waren die Tiedemanns zuerst auch nicht so ganz mit Dr. Nordens Ratschlägen einverstanden gewesen, nun waren sie ihm dankbar dafür und froh, dass sie diese befolgt hatten.

Aber wie viele Ärzte gab es denn noch, die sich auch um die privaten Sorgen ihrer Patienten kümmerten? Wer nahm sich denn schon die Zeit, mal eine halbe Stunde für ein Gespräch zu opfern, das am Ende mehr helfen konnte als die Medizin?

Dr. Daniel Norden wusste nicht, wie oft man hinter ihm hersagte, wenn er eine Wohnungstür schloss: »Unser Doktor ist der Beste.«

Für Carry war das jetzt Dr. Semmelbrot, da Miriam ihr versprochen hatte, nicht nur ihre große Freundin, sondern auch ihre Mami sein zu wollen.

»Eigentlich bist du ja dafür noch ein bisschen zu jung«, meinte sie zuerst mit einem schelmischen Lächeln, das ihr so gut zu Gesicht stand, dass man es immer zu sehen wünschte.

»So jung auch nicht mehr, Carry. Ich könnte schon deine Mutter sein«, erwiderte Miriam.

»Papi hätte halt gleich an dich geraten müssen«, meinte Carry, doch dazu äußerte sich Miriam nicht. Damals wäre sie wohl nicht reif genug für eine Entscheidung gewesen, wenn sie sich auch heute sagte, dass ein Leben mit Jonas wunderbar war.

Carrys Genesung machte rasche Fortschritte. Vorzügliche Arbeit hatte Dr. Semmelbrot geleistet, wurde mehrmals von Professor Dietl festgestellt, und die Betreuung sei ja auch erstklassig gewesen.

Eigentlich ging es Carry sogar ein bisschen zu schnell, bis sie aus der Klinik entlassen wurde. Es schien, als seien ihre Gefühle für Jürgen Semmelbrot etwas mehr als Schwärmerei, doch als Miriam dies Jonas gegenüber etwas besorgt äußerte, meinte er, dass eine erste Liebe nicht die Letzte sein müsse, wenn man davon auch noch so sehr überzeugt sei.

Nun sollten Miriam und Carry noch ein paar Wochen auf der Insel der Hoffnung verbringen, und wenn sie dann heimkehrten, sollte Carrys sechzehnter Geburtstag und Miriams und Jonas’ Hochzeit an einem Tag gefeiert werden.

Das hatte Carry sich gewünscht, und auch dieser Wunsch sollte ihr erfüllt werden, wenn Jonas die Trennung auch schwerfiel. Doch schließlich musste er sich nun auch wieder richtig um seinen Betrieb kümmern, und am Wochenende konnte er seine beiden »Mädchen«, wie er sie zärtlich nannte, besuchen.

Auf der Insel war der Frühling mit zauberhafter Blütenpracht eingezogen. Ausgebucht war man auch schon, aber selbst im Winter fanden sich hier alte Stammgäste ein, denn selbst wenn es kalt war, konnten sie das Wunder erleben, dass aus der Quelle der Liebe das Wasser sprudelte. Nicht so kräftig wie jetzt in diesen schon warmen Frühlingstagen, aber doch nie versiegend. Die Sage erzählte es, dass sie immer dann sprudeln würde, wenn die Menschen sich an ihr nicht bereichern wollten, und das konnte man von Dr. Cornelius und seiner Frau Anne, wie auch von Dr. Schoeller und seiner Frau Isabel nicht sagen. Und der kleine Mario, Dr. Cornelius Adoptivsohn, erzählte jedem voller Stolz, dass er die Quelle wiederentdeckt hatte, nachdem sie Jahrhunderte versiegt gewesen war.

»Weil so ein habgieriger Fürst viel Geld haben wollte, wenn kranke Menschen mal einen Schluck davon trinken wollten«, erklärte er wichtig. »Und da waren doch ganz arme Kranke dabei, die gar kein Geld hatten. Bei uns gibt’s so was nicht. Hier kann jeder herkommen, aber wenn einer mal sehr viel Geld hat und er ist dankbar, wenn er gesund geworden ist, dann kann er auch für die Armen was spenden, die auch gesund werden wollen.«

Mario flocht das immer recht geschickt ein, wenn solche Hinweise Dr. Cornelius manchmal auch ein bisschen peinlich waren. Aber Mario war ein unbefangenes Kind. Er dachte sich nichts dabei und meinte, dass es nur rechtens wäre, wenn die Reichen für die Armen gäben.

Jonas brauchte dazu nicht so direkt angesprochen zu werden. Er hatte sich mit Tante Hanne sehr viel mit der Geschichte der Insel befasst, und er als Geschäftsmann wusste auch, welche Mittel verschlungen wurden, um jedem gerecht zu werden.

Aus einem dünnen Spatzen Carry war ein reizender Teenager geworden während dieser Zeit. Kaum zu fassen war es, wie sie sich entwickelt hatte. Ein paarmal hatte Miriam schon neue Kleidung für sie besorgen müssen, und nun konnte sie sich wirklich schon als junge Dame präsentieren. Darauf schien sie auch großen Wert zu legen, denn sie hatte sich doch gewünscht, dass auch Dr. Semmelbrot zu der Doppelfeier eingeladen würde. Und nun fieberte sie diesem Tag entgegen mit der Hoffnung, dass er auch kommen würde.

»Weißt du, Miriam, mir würde es gar nichts ausmachen, Semmelbrot zu heißen. Auf den Namen kommt es doch wirklich nicht an«, sagte sie am Vortag des Festes träumerisch zu Miriam.

»Auf den Namen kommt es nicht an, aber auf die Liebe, Carry, und für dich beginnt das Leben erst jetzt. Es wird dir noch viel Schönes bescheren.«

»Ich habe dich geschenkt bekommen, das ist schön«, sagte Carry. »Ab morgen sage ich Mami zu dir. Es muss alles seine Ordnung haben.«

Miriam hielt sie innig umschlungen. Lass sie glücklich werden, lieber Gott betete sie im stillen. Erspare ihr, was Jonas und mir nicht erspart blieb. Sie hat schon als Kind genug gelitten.

Aber den Mut, mit Dr. Semmelbrot offen zu sprechen, hatte sie doch nicht. Und wie es schien, war dies auch nicht nötig, denn er hatte mit Freuden Jonas’ Bitte akzeptiert, Trauzeuge bei ihnen zu sein. Und so gingen sie dann, Jonas und Miriam, flankiert von zwei Ärzten, Dr. Daniel Norden und Dr. Jürgen Semmelbrot zum Standesamt, um ihr Jawort zum gemeinsamen Leben zu geben. Es war eine schlichte Zeremonie, aber die anschließende Feier versammelte alle, die den Anfang dieser Liebe miterlebt hatten.

Chris und Anja Andresen, die es mit ihrer Hochzeit noch eiliger gehabt hatten, kamen mit den Eltern. Holger Herwart und Wendy, noch immer verlobt, aber sich auch schon konkreten Zukunftsplänen widmend, fehlten so wenig wie Conny Dahm mit seiner jungen Frau Fränzi.

Dass Daniel und Fee dabei sein würden, stand von vornherein fest, obgleich Fee nur noch knapp zwei Wochen bis zur Geburt ihres zweites Kindes hatte. Mit ein bisschen Verspätung kamen auch Dieter Behnisch und seine Frau Jenny, doch da drehten sich die jungen Paare schon auf der Tanzfläche, und Carry schwebte wie eine Elfe in einem zartgrünen duftigen Kleid im Arm von Jürgen Semmelbrot dahin, obgleich sie beide wahrhaftig das Tanzen nie richtig gelernt hatten. Doch auch hier erwies es sich wieder einmal: Gleichklang der Seelen war Voraussetzung für Harmonie.

»Mein zweites Leben hat wunderschön begonnen, Jürgen«, sagte Carry leise.

Sein Arm legte sich noch ein bisschen fester um ihre jetzt nicht mehr magere, sondern schlanke und wohlgeformte Gestalt. »Es wird noch schöner werden, Carry«, sagte er. »Wir müssen noch ein bisschen warten, aber mir macht das nichts aus.«

»Mir auch nicht. Ich warte auf dich«, sagte sie mit scheuer Zärtlichkeit.

»Diesmal ist es umgekehrt, liebe Carry. Ich warte auf dich, und du musst noch darüber nachdenken, dass ich doppelt so alt bin wie du.«

»Ist das denn von Bedeutung?«, fragte sie mit einem Augenaufschlag, der sie unwiderstehlich machte. »Ich möchte einen richtigen Mann, so wie Papi einer ist. Warum hast du mich eigentlich lieb, Jürgen?«

»Das kann man nicht erklären«, erwiderte er, und jetzt wollte er nicht mehr sagen, dass es anfangs nur tiefes Mitgefühl mit ihr gehabt hatte. Auch das konnte der Anfang einer Liebe sein.

Verliebt war er auch schon gewesen und fast bereit, ein Mädchen zu bitten, seine Frau zu werden.

»Dann musst du dich aber umtaufen lassen, Jürgen«, hatte sie ihm erwidert. »Semmelbrot möchte ich nicht heißen.«

Carry hegte solche Gedanken nicht. Sie war der strahlende Mittelpunkt dieses Festes. Miriam und Jonas hatten dies zwar auch so geplant gehabt, aber sie brauchten nichts dazu tun.

»Carry schwelgt in Glückseligkeit«, hatte Miriam anfangs gedankenvoll gesagt. »Du solltest doch einmal mit Jürgen reden, Jonas. Sie weiß doch nichts vom Leben.«

»Vielleicht ist sie reifer, als wir in ihrem Alter waren, Liebste«, erwiderte er. »Ich habe mit Jürgen gesprochen, es ist Liebe, nicht nur Liebelei.«

»Sie ist noch so jung«, sagte Miriam leise.

»Aber so gut könnten wir ihr gar nicht helfen, erwachsen zu werden, wie er es versteht. Auch eine lange Verlobungszeit kann eine schöne Zeit sein. Wir konnten sie uns nicht leisten.«

Und dann blickten sie sich tief in die Augen mit der Gewissheit, dass ihre Liebe am Anfang des nächsten Jahres auch in einem Kind lebendig werden würde, wenn die Zeit des Wartens auch unendlich lang erschien.

Es bleibt nur noch zu sagen, dass Miriam ihrem Mann zum vorausbestimmten Termin einen gesunden und kräftigen Sohn in die Arme legen konnte und Carry als glückliche Taufpatin fungierte, da dieser Tag auch ihr Verlobungstag wurde. War sie auch noch sehr jung, der Ring an ihrem Finger war mehr als ein Schmuckstück. Für Carry würde es nie einen anderen Mann geben als ihren Jürgen und für ihn keine andere Frau. Das hatten sie Jonas und Miriam voraus, aber es beeinträchtigte die Harmonie in der Familie nicht, die von Tante Hanne so genossen wurde, dass sie auch noch einmal richtig jung geworden war, denn sie hatte sich entschlossen, den Rest ihres Lebens mit Professor Dietl zu verbringen. Wenn man sie brauchte, war sie nicht so weit entfernt, um gleich zur Stelle sein zu können, und als »Wahlgroßpapa« genoss es auch der Professor sehr, manchmal Babysitter spielen zu können. Zuerst bei dem kleinen Jonas, später dann bei Jürgen und Carrys Kindern, die zur Freude aller ohne jede Komplikation auf die Welt kamen. Drei wurden es im Laufe der Jahre, und sie hatten eine sehr junge Mutter, die mit ihren lebhaften, gesunden Kindern alles nachholte, was ihr in der Kindheit vorenthalten wurde. Aber solchen Erinnerungen hing Carry nicht mehr nach, und Miriam nahm es gelassen hin, Mutter und eine sehr junge Großmutter zugleich zu sein. Sie war eine vollkommen glückliche Frau geworden.

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