Читать книгу Dr. Norden Bestseller Staffel 3 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 9

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»Warum bist du so nachdenklich, Daniel?« fragte Fee Norden ihren Mann, dessen Blick schon minutenlang auf einem imaginären Punkt ruhte.

Nun fuhr er sich mit der schmalen Hand über die Augen und sah Fee an.

»Entschuldige, Liebes, ich habe über die kleine Attenberg nachgedacht. Organisch ist das Kind doch gesund. Ich komme nicht dahinter, was mit ihr los ist. Was war das für ein munteres Mädelchen! Wenn sie fünfzehn wäre, könnte man meinen, es wäre der erste Liebeskummer, aber schließlich ist sie erst zehn.«

»Vielleicht ist es ein anderer Kummer«, sagte Fee.

»Aber welcher denn? Ich habe sie gefragt. Sie schüttelt immer nur den Kopf, und früher war sie so zutraulich. Sie hat alles, was sich ein Kind nur wünschen kann. Ein schönes Zuhause, nette Eltern, bekommt jeden Wunsch erfüllt, nein, diesmal weiß ich wirklich nicht weiter.«

»In der Schule geht auch alles glatt?« fragte Fee.

»Ihre Mutter ist sehr zufrieden. Denise ist die Beste in ihrer Klasse. Die Umschulung auf das Gymnasium hat ihr gar nichts ausgemacht. Ich rätsele herum, Fee.«

»Erzähle doch mal, inwiefern Denise so verändert ist«, bat Fee.

»Sie hat ohne jeden ersichtlichen Grund zwei Kilo abgenommen, und kräftig war sie ohnehin nie. Dann ihr Blick! Das ganze Gesichtchen besteht nur aus großen blicklosen Augen, so kommt es mir jedenfalls vor. Außerdem ist sie neuerdings so verschlossen. Frau Attenberg weiß dafür auch keine Erklärung.«

Fee dachte auch nach. »Könnte es nicht, daß Denise von einem Mann belästigt worden ist?«

»Aber das würde sie doch sagen.«

»Sie könnte einen solchen Schock bekommen haben, daß sie es eben nicht sagen kann, aber das ist freilich nur eine Vermutung. Natürlich kann auch etwas anderes dahinterstecken. Manche Mädchen verändern sich, wenn die Pubertät beginnt.«

Daniel schüttelte den Kopf. »Nein, das ist es sicher nicht. Sie ist aufgeklärt. Wir haben uns über die Funktionen während der Entwicklung unterhalten. Sie hat da ganz natürlich und offen reagiert. Es liegt schon länger zurück. Es muß etwas anderes sein, und ich muß dahinterkommen. Ich würde mir ewig Vorwürfe machen, wenn ich eine versteckte Krankheit nicht erkannt hätte.«

»Die Ehe der Attenbergs ist doch intakt?« fragte Fee. Daniel sah sie erstaunt an. »Ich habe nichts Nachteiliges gehört, und Frau Attenberg macht nicht den Eindruck, als wäre sie unglücklich. Ihre einzige Sorge ist das Kind. So, Feelein, jetzt muß dein Mann wieder in die Praxis. Paß du schön auf dich auf, und laß dich von Danny nicht tyrannisieren.«

»Er ist ja so lieb, seit ihm ganz klar ist, daß er nun bald ein Geschwisterchen bekommt«, sagte Fee. »Ich hätte es nie für möglich gehalten, daß solch kleines Kind das schon begreifen kann.«

»Du hast es ihm ja auch sehr lieb klargemacht«, sagte Daniel zärtlich. Fee bekam einen langen Kuß, dann schaute er schnell noch mal zu Danny ins Zimmer, der während des Spielens auf seinem weichen Fell eingeschlafen war, was ihm neuerdings anscheinend sehr gut gefiel.

»Er ist in letzter Zeit ziemlich gewachsen«, stellte Daniel fest. »Das sieht man erst richtig, wenn er so liegt.«

Er war stolz auf seinen bildhübschen kleinen Sohn. Sie waren glückliche Eltern und hatten ein gesundes, glückliches Kind, das in einer Atmosphäre völliger Harmonie heranwachsen konnte.

Ob die kleine Denise vielleicht doch darunter litt, ein Einzelkind zu sein? Immer wieder mußte Dr. Daniel Norden über das Kind nachdenken, doch in der Praxis beschäftigte ihn dann ein anderer Fall.

Loni Enderle, die sich als Arzthelferin ganz perfekt eingearbeitet hatte, deutete auf eine Karteikarte, die sie schon bereitgelegt hatte. Dr. Norden las den Namen und runzelte die Stirn.

»Sie ist ganz mies beieinander«, sagte Loni.

»Sollte doch schon vor Monaten zum Nachschauen kommen«, sagte Daniel. »Na, dann herein mit ihr.«

Hanni Schwartz war ein junge Frau, erst Anfang zwanzig, aber zehn Jahre hätte man ihr jetzt bestimmt mehr gegeben. Ihre Gesichtsfarbe war fahl und der Mund schmerzhaft verzogen. Sie schleppte das rechte Bein nach.

Wegen dieses Beines war sie vor ein paar Monaten bei Dr. Norden in Behandlung gewesen. Sie war bei Glatteis gestürzt und hatte sich vor allem das Knie entsetzlich verletzt.

Dieses Knie sah jetzt aus wie ein blauer Klumpen. Dr. Norden war entsetzt.

»Mein Gott, warum kommen Sie erst jetzt, Frau Schwartz?« fragte er.

Sie begann zu schluchzen. »Ich konnte vorher nicht kommen, Herr Doktor. Meine Mutter war krank geworden und ich mußte ins Allgäu zu ihr, um sie zu pflegen.«

»Und da war kein Arzt, der auch mal nach Ihrem Bein schauen konnte?« fragte Dr. Norden.

»Da hätt’ ich dann doch einen Krankenschein gebraucht, und ich wollte nicht, daß Sie denken, daß ich von Ihnen nichts mehr wissen wollte.«

»Du liebe Güte«, seufzte er, »lieber schleppt sie sich mit diesen Schmerzen herum.« Vorsichtig befühlte er das Knie. Sie stöhnte und gab Schmerzenslaute von sich, was ihm durchaus verständlich war.

»Ja, liebe Frau Schwartz, da werden wir Sie wohl ins Krankenhaus bringen müssen«, sagte er.

»Nein, o nein«, rief sie abwehrend. »Können Sie das nicht machen?«

»Nein, es muß geröntgt werden. Mit Salben und Einbinden kann ich Ihnen da jetzt nicht mehr helfen.«

»Aber mein Mann ist schon sauer, weil ich so lange fort war, und die Kleine kann ich doch ins Krankenhaus nicht mitnehmen.«

»Dann wird sich Ihre Schwiegermutter mal um das Kind kümmern«, sagte Dr. Norden. »Sie tut das doch sicher gern.«

»Das schon, aber mit dem Hin und Her tut man dem Kind doch auch keinen Gefallen.«

»Wenn Sie vor lauter Schmerzen nicht mehr gehen und sitzen können, tun Sie Ihrer kleinen Karin erst recht keinen Gefallen«, sagte Dr. Norden. »Ihr Mann wird das einsehen.«

»Ja, das tut er schon, aber er hat nicht eingesehen, daß sich meine Mutter geweigert hat, in ein Krankenhaus zu gehen. Und dann mußte es doch sein. Sie ist ein Pflegefall, und ich habe es nicht mehr geschafft. Ich konnte sie allein doch nicht heben, und jetzt ist sie auch noch böse mit mir.«

»Hat sie denn nicht gesehen, wie schlimm Ihr Knie ist?«

»Das schon, aber wenn man sich selbst nicht rühren kann, kommt einem alles andere nicht so schlimm vor.«

Und wenn ein blühender junger Mensch durch Nachlässigkeit möglicherweise ein Bein verlieren könnte, ist das nicht schlimm, ging es Dr. Norden durch den Sinn, aber das Schlimmste wollte er doch von sich weisen.

»Ich muß ernsthaft darauf bestehen, daß Sie sofort in die Klinik gebracht werden, Frau Schwartz«, sagte er energisch. »Ich werde mit Ihrem Mann sprechen. Ist er jetzt im Geschäft?«

Hanni Schwartz sah ihn ängstlich an. »Bitte, Herr Doktor, hat es denn nicht noch bis morgen Zeit? Ich sage es ihm selbst.«

»Nicht eine Stunde wird jetzt noch gewartet«, erklärte Dr. Norden streng. »Ich kann es nicht verantworten. Es hätte längst etwas getan werden müssen. Ich rufe meinen Kollegen an und bringe Sie gleich zur Behnisch-Klinik, Karin ist doch jetzt bei Ihrer Schwiegermutter?«

Hanni Schwartz nickte unter Tränen. »Ist es denn wirklich so schlimm, Herr Doktor?« fragte sie wieder.

»Ja, leider, und ich sage das nicht gern, Frau Schwartz. Ich sage es nur, damit Sie nicht mehr zögern. Ich kenne Ihre Schwiegermutter, sie wird Verständnis haben.« Mehr Verständnis als die eigene Mutter, dachte er, denn selbst eine kranke Frau hätte sehen müssen, wie mühsam sich Hannelore Schwartz vorwärts schleppte.

Jetzt nahm er Loni die unangenehme Aufgabe, die wartenden Patienten zu vertrösten, selbst ab.

»Ich muß eine Patientin in die Klinik bringen«, sagte er ins Wartezimmer hinein. »Ich bitte um Ihr Verständnis.«

Man hatte es. »Immer höflich, immer freundlich«, sagte eine Stimme. »Für unseren Doktor sind wir keine Nummern.«

»Ja, der Dr. Norden, den muß man gern haben«, sagte Frau Schneller, die in ihrem Rentnerinnendasein viel Zeit hatte und gern hier saß, um Unterhaltung zu haben. »Früher hatte ich einen Arzt, der war so was von unfreundlich! Wenn was Außergewöhnliches dazwischenkam, fing man gleich zu zittern an. Hab’ ich doch aus Versehen mal zweimal geklingelt, da hat mich seine Hilfe gleich angefaucht, als wär das ein Verbrechen. Aber Dr. Norden hat auch immer so nette Damen im Büro. Molly war ja einmalig, aber die Loni Enderle wird die zweite Molly. Jeder braucht halt ein bißchen Zeit, um sich einzugewöhnen.«

Sie sagte es entschuldigend, denn anfangs hatte sie der Molly nachgetrauert, die jetzt manchmal noch aushilfsweise einsprang, sonst aber für ihre Familie sorgte.

Jedenfalls bekam Dr. Norden von niemand einen Vorwurf zu hören, als er bald zurückkam. Die Behnisch-Klinik lag nicht weit entfernt. Dr. Dieter Behnisch war sein Freund seit vielen Jahren, sie hatten zusammen studiert. Wenn Daniel ihm Patienten brachte, war er immer zu helfen bereit, mochte seine Privatklinik auch noch so voll belegt sein. Im Fall von Hanni Schwartz hatte er auch sofort festgestellt, daß schnellste Hilfe geboten war.

Dr. Norden fertigte zwei Patienten ab, dann rief er Frau Schwartz an, Hannis Schwiegermutter, die auch zu seinen Patientinnen zählte. Frau Schneller wartete gern. Sie war sogar bereit, andere vorzulassen.

»Das habe ich mir schon gedacht«, war Frau Schwartzes Antwort, als er ihr sagte, daß er Hanni in die Klinik gebracht hate. »Hat sich ja auch schamlos ausnützen lassen, das arme Ding, die Geschwister haben sich nicht um die Mutter gekümmert. Meinem Sohn sag’ ich es schon selbst, Herr Doktor, da brauchen Sie sich nicht zu bemühen, und mit der Kleinen komme ich in den nächsten Tagen auch mal vorbei. Jetzt geht es ja wieder, aber sie war ja kaum zum Wiedererkennen, als Hanni gestern mit ihr zurückkam. Hanni, hab ich gesagt, jetzt gehst du sofort zu Dr. Norden. Und recht hab ich gehabt.«

Sie war redselig, aber eine tüchtige, nette Frau, und man konnte sie nicht kurz und bündig abfertigen. Sie meinte es gut mit ihrer Schwiegertochter. Wahrscheinlich würde sie die kleine Enkelin verwöhnen, als wenn das Kind unter gespannten Verhältnissen leiden mußte.

Dr. Norden kannte diese Verhältnisse. Hanni Schwartz stammte aus einer reichen Bauernfamilie und hatte eine schöne Mitgift bekommen. Daß sie mit ihrem Mann und ihrer Schwiegermutter in einem hübschen Häuschen leben konnte, war dieser Mitgift zu verdanken, aber man verlangte von ihr dafür auch Dankbarkeit, wie sich nun mal wieder in krasser Form erwiesen hatte. Ja, der Dr. Norden hatte mehrere Sorgenkinder in seiner Praxis, aber die wußten halt, daß sie sich auf ihn verlassen konnten. Er war keiner von denen, die nur dicke Honorare kassieren wollten, und deshalb darauf bedacht waren,

in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Patienten abzufertigen. Bei ihm ging es selten hektisch zu. Da mußte schon etwas ganz Besonderes passieren, wie an diesem Tag nun zum zweiten Mal. Und da geriet sogar er in Aufregung.

Frau Attenberg rief an. Schluchzend sagte sie ihm, daß sie von der Schule benachrichtigt worden sei, daß Denise dort nicht angekommen wäre.

»Aber ich habe sie zur Schule gefahren«, sagte sie erregt. »Ich habe früher mit der Lehrerin verabredet, daß sie mich benachrichtigen soll, wenn etwas mit Denise ist, und nun hat sie mir gesagt, daß das Kind nicht zum Unterricht erschienen ist. Ich bin völlig fertig mit den Nerven, Herr Doktor.«

»Haben Sie die Polizei verständigt?« fragte er.»Nein, ich habe mit meinem Mann telefoniert, und er ist der Meinung, daß sie entführt worden ist. Er will die Polizei nicht einschalten. Aber Denise geht mit keinem Fremden. Ich weiß es. Ich habe Angst, weil sie doch so verändert war!«

Im Wartezimmer saß nur noch Frau Schneller, und Dr. Norden fragte sie, ob sie am nächsten Tag wiederkommen könnte.

»Ich habe noch einen ganz dringenden Fall«, sagte er entschuldigend. »Es tut mir leid, weil Sie so geduldig gewartet haben, Frau Schneller.«

»Macht nichts, Herr Doktor, ich komme gerne morgen wieder. Ist ja auch gleich, ob ich die Spritze heute oder morgen bekomme.«

»Loni, rufen Sie bitte meine Frau an«, sagte er dann hastig. »Ich komme später. Ich muß jetzt zu Frau Attenberg.«

Von dem Verschwinden des Kindes sagte er nichts. Sollte Denise wirklich entführt worden sein, war möglicherweise größte Vorsicht geboten. Raimund Attenberg war ein reicher Juwelier, und Entführungen häuften sich in letzter Zeit. All dies ging Daniel Norden durch den Kopf, während er zu Frau Attenberg fuhr.

*

Die Attenbergs bewohnten einen Bungalow in einer exclusiven Villengegend. Man konnte nicht sagen, daß das Haus übertrieben kostspielig wirkte.

Daniel Norden war schon oft hier gewesen. Es war ein Haus, in dem man sich wohl fühlen konnte, in dem ein Kind froh heranwachsen konnte.

Gisela Attenberg sah erschreckend elend aus. Sie war kaum fähig, ein Wort über die Lippen zu bringen, soviel hatte sie schon geweint. Ihr Gesicht war verquollen, ihre Hände eiskalt und sie zitterte am ganzen Körper.

Daniel gab ihr Kreislauftropfen, aber es würde wohl einige Zeit dauern, bis sie sich halbwegs beruhigt hatte.

»Mein Mann wird gleich hier sein«, stammelte sie.

»Haben Sie schon etwas gehört?« fragte Daniel. Sie schüttelte nur den Kopf und begann wieder zu weinen, fast lautlos, deshalb doppelt erschütternd.

»Kinder in diesem Alter kommen manchmal auf dumme Ideen«, versuchte er zu trösten.

»Denise nicht.«

»Vielleicht hatte sie Angst vor einer Klassenarbeit, das gibt es selbst bei den klügsten Kindern«, meinte Daniel.

»Sie haben keine geschrieben. Heute nicht«, sagte Gisela Attenberg stockend. »Und sie hatte auch immer gute Noten, obgleich sie doch so merkwürdig war in letzter Zeit.«

»Und Sie können sich auch nicht erklären, warum sie so merkwürdig war?«

»Nein, ich verstehe es nicht. Es ist uns ein Rätsel.«

»Mir allerdings auch«, sagte Daniel Norden. »Ich habe viel darüber nachgedacht. Gestatten Sie mir eine Frage, Frau Attenberg. Hat es in Ihrer Ehe Differenzen gegeben?«

»Aber nein! Es gibt überhaupt nichts, was anders wäre als früher, nur Denise ist anders geworden. Sie ist doch zu jung, als daß da ein Junge dahinterstecken könnte.« Sie stöhnte auf. »Wo bleibt denn nur mein Mann?«

*

Raimund Attenberg besaß einen Wohnblock im teuersten Geschäftsviertel und in diesem befand sich auch das Juweliergeschäft, in dessen Auslagen man die kostspieligen Juwelen bewundern konnte.

Abgesichert hatte er sich nach allen Seiten. Die Alarmanlage war direkt mit der Polizei verbunden. Er selbst war kein ängstlicher Mann, doch an diesem Vormittag war für ihn die Welt aus den Fugen geraten, denn sein einziges Kind, seine Tochter Denise, war seine wertvollster Besitz.

Leslie Holden, seine Geschäftsführerin, hatte ihn nie so erregt gesehen.

»Reg dich doch nicht so auf, Rai«, sagte sie. »Vielleicht bummelt Denise nur herum.«

»Nein, das tut sie nicht.«

Er sah Leslie vorwurfsvoll an. In einem hübschen Umstandskleid sah sie sehr attraktiv aus, und obgleich sie allen Grund hatte, sich auch manche Sorgen zu machen, zauberte sie ein aufmunterndes Lächeln um ihren schönen Mund.

»Wenn jemand anruft, sag, daß ich in einer halben Stunde zu erreichen bin«, sagte er. »Falls es um Erpressung geht, misch dich um Himmels willen nicht ein. Am besten würde es sein, wir machen den Laden dicht. Ich möchte nicht, daß dir auch noch was passiert.«

»Ich passe schon auf«, sagte sie. Dann begleitete sie ihn zur Tür. Sie legte die Hand auf seine Schulter und blickte zu ihm auf. »Alles Gute, Rai«, sagte sie.

Er lief zu seinem Wagen. Keiner von beiden merkte, daß sie von der gegenüberliegenden Straßenseite beobachtet wurden.

Raimund Attenberg war so nervös, daß er den schweren Wagen nicht gleich in Gang brachte. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn, als er dann endlich startete, doch schon an der nächsten großen Kreuzung passierte das Unglück. Sicher war er nicht allein schuld, weil der Kombiwagen noch bei Rot über dieKreuzung geschossen war, aber er war auch nicht konzentriert genug gewesen.

Es krachte, und der Verkehr kam zum Stehen. Und schon wenige Minuten später heulten die Sirenen der Streifenwagen.

*

Das kleine Mädchen im grünen Lodenumhang, der mit grünrotkariertem Schottenstoff gefüttert war, stand noch immer auf der dem Juweliergeschäft gegenüberliegenden Straßenseite. Die kleinen Hände bohrten sich in die Taschen. Die Lippen waren fest zusammengepreßt, aber die Augen waren starr und fast blicklos auf die Eingangstür des Juweliergeschäftes gerichtet, durch die Leslie Holden jetzt hinaustrat, um sie sorgfältig abzuschließen.

Denise hatte schon vorher alles genau beobachtet. Stunden stand sie schon hier, und man mußte es dem hektischen Getriebe zuschreiben, daß niemand das Kind beachtet hatte.

Sie hatte gesehen, wie diese dunkelhaarige Frau ihren Vater vorhin zur Tür begleitet hatte.

Es war nicht das erste Mal, daß sie die beiden zusammen sah. Zweimal war diese Frau, diese Leslie, auch schon bei ihnen im Hause gewesen, aber das lag schon ein paar Monate zurück.

Die Mami war freundlich zu ihr gewesen, und später hatte sie Denise erklärt, daß dies die neue Geschäftsführerin sei.

Von geschäftlichen Dingen verstand Denise noch nichts. Sie mochte diese kaltglitzernden Steine nicht leiden, die so schrecklich viel Geld kosteten, und sie verstand nicht, daß man soviel Geld dafür ausgeben konnte, wo doch so viele Menschen hungerten und froren.

Denise war eine aufmerksame Schülerin, und sie ging auch gerne in die Kirche. Sie nahm es sich sehr zu Herzen, wenn von den hungernden Kindern in den Entwicklungsländern gesprochen wurde, und verschiedentlich hatte sie ihren Vater auch gefragt, warum sich denn manche Leute so teure Sachen kaufen könnten und andere nicht mal das Nötigste.

»Das war immer so und wird immer so sein, mein Kleines hatte er erwidert. »Du brauchst nicht zu darben, und mein Geschäft ist so wie jedes andere auch. Sei froh, daß es uns gutgeht.«

Was hatte der Papi damals noch gesagt? Wir spenden für die Armen. Wir können nichts dafür, wenn es nicht zu denen gelangt, die es am nötigsten brauchen.

Andere Eltern sagten das auch, das hatte Denise aus Gesprächen erfahren, und sie fand sich damit ab.

Mit Leslie jedoch konnte sie sich nicht abfinden. Vor allem nicht seit jenem Abend, als sie mit ihrem Papi auf der Terrasse gestanden hatte. Denise war zu Bett geschickt worden. In den unteren Räumen des Hauses fand eine Party statt.

Es war ein warmer Sommerabend, und sie hatte sich ans Fenster gesetzt, und unter diesem Fenster sprach ihr Papi mit Leslie.

»Es wird alles in Ordnung kommen, Leslie. Mach dir keine Sorgen«, sagte er.

»Und was sagt Gisela?« hatte Leslie gefragt.

»Sie ist einverstanden.«

»Ich möchte nicht, daß sie dir böse ist«, hatte Leslie gesagt.

»Sie ist nicht böse. Sie ist vernünftig.«

Über diese Worte hatte Denise nachdenken müssen, aber sie hatte nicht gewagt, ihren Vater oder ihre Mutter zu fragen, was diese Worte bedeuten könnten. Sie hatte nur noch Angst, daß sich bei ihnen alles ändern könnte durch diese Frau, die sie dann ein paar Wochen später wieder mit ihrem Papi gesehen hatte, als sie aus der Ballettstunde kam.

Der Papi hatte ihr versprochen, sie abzuholen, und das hatte er auch getan, aber die Lehrerin hatte eine Viertelstunde früher aufgehört, weil sie sich nicht wohl fühlte, und da hatte Denise auf der Straße gewartet und gesehen, wie Leslie aus dem Wagen ihres Vaters stieg und ihm eine Kußhand zuwarf, bevor sie sich entfernte. Und sie hatte noch mehr gesehen, nämlich, daß Leslie einen runden Bauch bekommen hatte, und Denise wußte sehr gut, daß dies geschah, wenn man ein Baby erwartete.

In ihrem kleinen Kopf herrschte seither ein völliges Durcheinander. Einmal stellte sie ihrer Mutter die schüchterne Frage, ob sie Leslie möge.

»Aber ja«, hatte Mami erwidert. »Sie ist sehr tüchtig.«

»Ist sie eigentlich verheiratet?« hatte Denise gefragt.

»Nein, verheiratet ist sie nicht.«

Aber sie erwartet ein Baby, dachte Denise. Immer öfter mußte sie daran denken, weil eine Klassenkameradin ihr erzählte, daß ihre Eltern sich scheiden ließen.

»Aber warum denn?« fragte Denise.

»Weil Papa eine andere hat, und die kriegt sogar ein Kind. Bei uns ist vielleicht was los, das kann ich dir sagen, aber ich bleibe bei Mama, und von Papa will ich nichts mehr wissen.«

Denise war voller Entsetzen. Bei ihnen daheim war nichts los. Alles ging seinen Gang, aber in ihr wuchsen die Zweifel, wie lange das noch so sein würde, weil ihr kindlicher Verstand nicht ausreichte, ihre Probleme auszusprechen, so einfach war das nämlich nicht.

Und gestern abend hatte sie dann gehört, wie ihre Mami zu ihrem Papi sagte, daß Leslie nun nicht mehr lange im Geschäft bleiben könne.

»Wenn es finanziell bei ihr nicht langt, soll sie halt hier wohnen«, hatte die Mami gesagt.

»Das geht doch nicht wegen Denise«, sagte der Papi.

»Ich werde ihr alles erklären. Ich werde ihr sagen, daß Leslie ein Baby erwartet und du sie nicht im Stich lassen willst.«

Und da hatte Denise überhaupt nichts mehr begriffen. Die ganze Nacht hatte sie nicht ruhig schlafen können und sich fest vorgenommen, am Morgen mit ihrer Mami zu sprechen, aber wieder hatte sie nicht den Mut gefunden.

Als sie dann aber ein bißchen früher als sonst vor der Schule stand, da faßte sie ganz plötzlich einen Plan.

Sie lief zuerst durch die Straßen. Dann kannte sie sich plötzlich nicht mehr aus und stieg in ein Taxi. Komisch geschaut hatte der Fahrer schon, aber sie hatte genug Geld dabei und konnte ihn auch bezahlen.

Stunde um Stunde stand sie nun schon in dieser Passage und blickte zu dem Geschäft hinüber, das sie schon seit Monaten nicht mehr betreten hatte. Früher war sie oft hier gewesen, aber seit Leslie dort war, erfand sie immer neue Ausreden, wenn die Mami sie mal mitnehmen wollte.

Nein, Denise begriff das alles nicht, was da vorging und nicht mal zu Dr. Norden konnte sie darüber sprechen. Immer, wenn sie es sich vorgenommen hatte, war ihr die Kehle dann wie zugeschnürt.

All der Mut, den sie an diesem Morgen gefaßt hatte, war dahin, als sie in der Straße angekommen war, und als ihr Papi dann mit Leslie aus der Tür trat, stand sie wie versteinert. Wie vertraut sie miteinander waren, daß er sogar auf der Straße den Arm um sie legte. Ganz schwarz wurde es Denise vor den Augen, und nicht ein einziger Gedanke kam ihr, daß ihretwegen ihre Eltern in helle Aufregung versetzt worden waren.

Aber nun war ihr Papi nicht mehr im Geschäft, und vielleicht konnte sie mal mit Leslie sprechen? Aber was sollte sie sagen? Wo sollte sie beginnen? Denise war ein schüchternes Kind, und die Straße war so breit und belebt. Bis sie wieder einen Entschluß gefaßt hatte, war Leslie schon aus dem Geschäft gekommen und entfernte sich rasch, nachdem sie abgeschlossen hatte.

So eine ist das, dachte Denise erbittert, tut schön mit meinem Papi, und kaum ist er aus dem Geschäft, haut sie auch ab. Und so eine wollte Mami auch noch im Hause dulden.

Mit gesenktem Kopf ging Denise die Straße entlang. Sie hörte die Sirenen der Funkstreifenwagen und blieb erschrocken stehen. Sie hatte immer ein bißchen Angst, wenn sie diese Sirenen hörte, weil sie einmal erlebt hatte, wie ein Radfahrer überfahren worden war.

»Paß du nur immer auf«, wurde sie jeden Tag von der Mami ermahnt. »Es wäre schrecklich, wenn dir etwas passieren würde, mein Liebling.«

Ob Papi sich auch aufregen würde, wenn ihr etwas passierte? Ob er dann wieder ganz zu ihnen gehören und sich nicht mehr um Leslie kümmern würde?

Sie sah eine Uhr. Beide Zeiger standen auf Zwölf. Jetzt würde Mami zur Schule fahren, um sie abzuholen, und sie würde nicht dort sein.

Denise blieb wieder stehen und überlegte. Natürlich hatte Mami auch Angst, aber der Papi wohl auch. Ausprobieren konnte sie das ja mal, wer ihm nun wichtiger war, sie und Mami oder diese Leslie.

*

»Mein Gott, mein Gott«, stöhnte Gisela Attenberg immer wieder, »warum kommt Raimund nicht? Warum meldet sich im Geschäft niemand?«

Dr. Norden wußte auch nicht mehr, wie er die erregte Frau beruhigen sollte. Die Tropfen waren nutzlos gewesen, und eine Spritze wollte sie sich nicht geben lassen.

»Ich will nicht schlafen«, weinte Gisela. »Ich will wissen, was mit meinem Kind und mit meinem Mann geschehen ist.«

»Sollten wir nicht besser doch die Polizei benachrichtigen?« fragte er, da er selbst dies in jedem Fall für besser hielt, denn selbst bei einer Entführung hatte sich immer wieder bewiesen, daß es falsch war, zu lange zu warten.

Da läutete das Telefon. Gisela war nicht fähig, den Hörer abzunehmen. So meldete er sich. »Dr. Norden im Hause Attenberg.«

Sein Gesicht verdüsterte sich immer mehr, während er lauschte.

»Ja, ich werde es Frau Attenberg ausrichten«, sagte er dann dumpf. »Aber es wäre gut, wenn Sie jemanden herschicken würden. Das Kind Denise ist noch immer nicht heimgekehrt.«

»Was ist?« schrie Gisela heraus.

»Frau Attenberg, bitte, regen Sie sich nicht noch mehr auf. Ihr Mann hatte einen kleinen Unfall. Es ist nicht schlimm. Er wird bereits in einer Klinik versorgt.«

Sie sah ihn völlig verstört an. »Mein Mann, oh, mein Gott…«, und dann wurde sie ohnmächtig.

Da stand er nun eine Sekunde auch wie erstarrt. Das war eine Kettenreaktion, wie sie schlimmer nicht sein konnte. Er kniete neben Gisela nieder, fühlte ihren Puls, hob sie dann auf und trug sie zum Sofa.

Sie waren allein im Haus. Das Hausmädchen hatte Urlaub, wie er vorher von Gisela Attenberg erfahren hatte.

Daniel Norden fühlte sich im Augenblick ziemlich hilflos. Die Ohnmacht würde vorübergehen, aber die Aufregung blieb, und er konnte diese Frau nicht allein lassen.

Ganz harmlos wie er ihr die Verletzungen ihres Mannes hatte hinstellen wollen, waren sie nicht. Raimund Attenberg hatte eine Gehirnerschütterung, Platzwunden und auf etwaige innere Verletzungen mußte er noch untersucht werden.

Ein bißchen arg viel war auf Gisela Attenberg eingestürmt. Da hätte selbst eine robustere Frau nicht standgehalten.

Nun hatte er ihr doch eine Injektion gemacht. Es war besser, wenn ihr Denken für eine Zeit ausgeschaltet wurde. Wenn jetzt jemand von der Polizei kam, wäre sie doch nicht zu Auskünften fähig gewesen, und was wußte sie denn schon? Nur, daß Denise nicht zum Unterricht erschienen war und daß ihr Mann nun auch noch einen Unfall hatte.

Welche Kleidung Denise heute trug, hatte ihm Gisela trotz der Erregung sehr genau geschildert. Gut, daß er sie danach gefragt hatte.

Daniel griff zum Telefon und rief Fee an. Sie mußte Bescheid wissen, warum er so lange ausblieb, sonst machte sie sich auch noch Sorgen.

Fee war erschüttert, aber sie wußte auch einen Rat. »Ich werde Molly anrufen«, sagte sie. »Frau Attenberg kennt sie, und wenn Molly keine Zeit hat, schicke ich Lenni.«

Molly war jedoch sofort bereit, wieder einmal einzuspringen. Auf sie konnte man sich immer verlassen.

Giselas Puls ging jetzt ruhiger, aber selbst die Spritze schien nicht voll zu wirken, denn als es nun klingelte, zuckte sie zusammen, war aber zu schwach, um sich aufzurichten.

Zwei Herren in Zivil standen vor der Tür, zeigten ihre Ausweise und stellten sich als Kommissar Röck und Inspektor Kahler vor.

»Frau Attenberg ist ohnmächtig geworden«, erklärte Daniel. »Sie rief mich, weil sie hochgradig erregt über das Verschwinden ihrer Tochter war. Wir warteten auf ihren Mann, da kam der Anruf, daß er einen Unfall hatte.«

Er bemühte sich kurz und präzise zu sagen, was vorgefallen war.

»Frau Attenberg vermutet eine Entführung, allerdings ist sie auch überzeugt, daß ihre Tochter niemals freiwillig mit einem Fremden gehen würde. Ich habe überlegt, daß sie von der Schule aus nicht gewaltsam entführt worden sein kann, ohne daß es jemand bemerkt hätte.«

»Sie denken sehr logisch«, sagte Kommissar Röck. »Es wird schwierig sein, festzustellen, wer sie zuletzt gesehen hat. Eine Lösegeldforderung ist bisher nicht eingegangen?«

»Hier nicht. Im Geschäft meldet sich niemand. Frau Attenberg war darüber auch sehr beunruhigt. Die Geschäftsführerin müßte eigentlich dort sein.«

»Sind nicht andere Angestellte vorhanden?« fragte der Kommissar.

»Ich weiß nicht. Anscheinend nicht. Es ist kein Laden im üblichen Sinne.«

»Ich weiß«, mischte sich der Inspektor ein. »Herr Attenberg hat einen erstklassigen Ruf, aber man weiß auch, daß bei ihm was zu holen ist.«

»Ja, wenn wir wenigsten wüßten, was das Kind trägt«, sagte der Kommissar und nahm eine Fotografie vom Kamin. »Das ist sie wohl?«

Dr. Norden nickte. »Ja, das ist Denise. Ich weiß, welche Kleidung sie trug. Frau Attenberg hat es mir gesagt.«

»Das Kind sieht nicht aus, als wäre es sehr unternehmungslustig, eher verträumt«, stellte der Kommissar fest. »Beschreiben Sie bitte die Kleidung, so gut Sie können, Herr Doktor.«

Daniel tat es. Es war ihm, als sähe Denise ihn mit ihren kummervollen Augen an, und wieder fragte er sich, was sie so bedrückt haben könnte. Etwas, was sie veranlaßte, von daheim wegzulaufen? Es war schwer vorstellbar, aber immerhin möglich. Ob er diese Vermutung auch äußern sollte? Besser nicht, dachte er dann.

»Sie nehmen sich viel Zeit«, stellte Kommissar Röck freundlich fest. »Sind es alte Patienten?«

»Ich bin seit fünf Jahren Hausarzt hier«, erwiderte Daniel. »Ich konnte sie doch nicht allein lassen. Meine frühere Sprechstundenhilfe wird kommen und bei Frau Attenberg bleiben. Ein fremdes Gesicht kann man ihr nicht zumuten. Sie hat einen Schock bekommen.«

»Wenn nur alle Ärzte so denken würden«, brummte der Kommissar. »Meine Frau ist am Blinddarmdurchbruch gestorben, weil der Arzt, der sie behandelte, seinen Wochenendurlaub vorzog und die Gefahr nicht frühzeitig erkannt hatte. Verzeihung, das gehört nicht hierher.«

Aber es war menschlich verständlich. Kommissar Röck war ein sympathischer Mann, noch ziemlich jung und gut aussehend. Wahrscheinlich war er noch nicht lange verheiratet gewesen, als ihm dieses schreckliche Unglück widerfuhr. Er war jedenfalls nicht nur nüchterner Beamter, sondern auch teilnahmsvoll. »Starten wir also die Suchaktion«, sagte er. »Es ist bedauerlich, daß wir nicht die Namen der Kinder kennen, die mit der kleinen Denise enger befreundet waren.«

»Sie hatte meines Wissens nur eine Freundin«, erklärte Daniel. »Dorle Meißner. Sie wohnen in der Gartenstraße 3.«

»Sie sind eine große Hilfe«, sagte der Kommissar.

»Ich habe eigenmächtig gehandelt«, sagte Daniel nachdenklich. »Bitte, gehen Sie diskret vor. Die Attenbergs könnten es mir verübeln, daß ich Auskünfte gegeben habe, falls es sich um eine Entführung handelt. Das Kind darf nicht gefährdet werden.«

»Lieber Dr. Norden, unsere Erfahrungen lehren uns, daß es verschiedene Arten von Entführern gibt. Die ganz Kaltblütigen fackeln nicht lange. Da nützt alle Diskretion nichts. Immerhin muß man auch ein Sittlichkeitsverbrechen in Betracht ziehen.«

»Gott bewahre Denise«, sagte Daniel leise. »Sie ist ein entzückendes Kind.«

»Ich habe auch eine Tochter«, sagte Kommissar Röck. »Und ich habe jeden Tag Angst um sie. Ich verstehe Eltern sehr gut, und ich verstehe auch Sie. Sie geben mir den Glauben an die Ärzte zurück. Wir wollen jetzt keine Zeit mehr verstreichen lassen. Komm, Anderl.«

Auch zu seinem jungen Inspektor hatte er ein kameradschaftliches Verhältnis. Es war ein tröstlicher Gedanke, daß ein Mann nach Denise suchte, der ein Herz hatte und auch Vater war. Aber es war nur ein schwacher Trost für Daniel Norden, als er Gisela Attenberg betrachtete, eine Mutter, die ihr Kind abgöttisch liebte.

Molly kam. Sie hatte sich sogar ein Taxi genommen, und als Daniel ihr sagte, daß ihr alle Kosten selbstverständlich ersetzt würden, winkte sie ab.

»Mein Gott, Sie sollten mich doch kennen. Ich bin da, wenn es irgendwie möglich zu machen ist. Was Sie aber auch alles mitmachen müssen, Chef.«

Obgleich sie schon vor Monaten ihre Stellung aufgegeben hatte, denn die Jüngste war sie auch nicht mehr, waren sie immer verbunden geblieben. Es verging keine Woche, daß Molly nicht mal bei ihnen vorbeischaute.

»Die arme Frau«, sagte Molly, Gisela Attenberg betrachtend. »Gut, daß wir uns immer so prima verstanden haben. Machen Sie sich nur keine Gedanken, Chef, ich werde ihr gut zureden.«

»Und mich auf dem laufenden halten«, sagte Daniel. »Und wenn ein Fremder anruft, dann sagen Sie, daß Herr Attenberg in der Klinik ist. Der Kommissar hat ein Abhörgerät angeschaltet. Sie wissen ja Bescheid, wie man damit umgeht, Molly. Besser als ich. Alle Gespräche werden mitgeschnitten.«

»Ist in Ordnung«, sagte Molly. »Und wenn Frau Attenberg zu sich kommt, rufe ich an.«

*

Ein Fremder rief nicht an, aber Leslie. Molly kannte diesen Namen nicht und war hellwach.

»Ich bin die Geschäftsführerin von Herrn Attenbergs Geschäft«, sagte Leslie beklommen. »Ich wollte fragen, ob Denise inzwischen daheim ist.«

»Nein«, erwiderte Molly, »und Herr Attenberg hatte einen Unfall. Er ist im Krankenhaus.«

»Nein«, schrie Leslie am anderen Ende der Leitung auf. »In welchem Krankenhaus?«

»Das weiß ich nicht. Da müssen Sie sich bei Kommissar Röck erkundigen.«

»Kann ich nicht mit Frau Attenberg sprechen?«

»Nein, das geht auch nicht. Sie hat einen Schock erlitten und ist ohne Bewußtsein.«

Ganz plötzlich wurde der Hörer aufgelegt. Zu plötzlich, wie Molly für sich dachte, aber jetzt kam Gisela langsam zu sich, wohl von dem Läuten des Telefons in die Gegenwart zurückgeholt.

Molly setzte sich zu ihr.

Gisela schlug die Augen auf und schaute verwirrt um sich.

»Molly«, sagte sie stockend.

»Ja, ich bin es. Dr. Norden hat gesagt, daß ich mich um Sie kümmern soll.«

»Denise«, schluchzte Gisela auf. »Was ist mit ihr?«

»Sie wird schon bald heimkommen«, sagte Molly tröstend, weil ihr im Augenblick wirklich nichts anderes einfiel, da sie durch das Telefongespräch ein bißchen durcheinander gebracht worden war.

»Hatte nicht das Telefon geläutet?« fragte Gisela.

»Es war eine Frau Holden. Geschäftsführerin hat sie gesagt.«

»Leslie? O Gott, was ist mit meinem Mann? Er hatte einen Unfall. Molly, ich bin völlig durcheinander. Ich verstehe nichts mehr. Alles kommt zusammen.«

»Ganz ruhig sein, Frau Attenberg«, sagte Molly. »Sie dürfen jetzt nicht die Nerven verlieren. Denise wird gesund heimkommen. Ich fühle es.«

»Sie konnten immer gut trösten, Molly«, sagte Gisela, »aber sagen Sie mir die Wahrheit. Hat niemand angerufen und ein Lösegeld gefordert?«

»Nein. Sie können das Band abhören. Es kam nur der Anruf von Frau Holden.«

»Das Band?« fragte Gisela.

»Der Kommissar hat es angeschlossen.«

»Der Kommissar?« fragte Gisela erregt. »Wer hat die Polizei eingeschaltet?«

»Dr. Norden, und nun schimpfen Sie nicht auf ihn. Er weiß, was er tut, und was richtig ist.«

»Aber wenn Denise ein Leid zugefügt wird, nein, ich will keine Polizei.«

»Die sind gescheiter als wir, Frau Attenberg. Glauben Sie es doch, haben Sie Vertrauen. Denise kommt wieder. Glauben Sie daran.«

Molly konnte predigen und Hoffnung geben. Aber dennoch begann Gisela wieder zu zittern.

»Und mein Mann. Ich muß mit meinem Mann sprechen«, schluchzte sie. »Ich weiß doch gar nichts.«

»Es geht ihm ganz gut«, tröstete Molly, obgleich sie überhaupt nichts wußte. »Ich rufe jetzt Dr. Norden an.«

Sie tat es, während Gisela nun wie versteinert war.

*

»Mein Kind, wo ist mein Kind?« flüsterte Raimund Attenberg, als er aus der Ohnmacht erwachte.

»Was ist mit Ihrem Kind?« fragte der Arzt, der sich zu ihm herabbeugte.

»Meine Tochter ist entführt worden. Ich muß nach Hause. Ich muß zu meiner Frau. Was ist eigentlich mit mir?«

»Sie hatten einen Unfall, Herr Attenberg. Sie können jetzt nicht gleich nach Hause.«

»Ich muß aber.« Er richtete sich auf und stöhnte vor Schmerzen.

»Geben Sie mir eine Spritze, Mann. Tun Sie doch um Himmels willen etwas, und wenn Sie dazu nicht fähig sind, rufen Sie Dr. Norden an.«

»Norden?« fragte der Arzt gedehnt. »Daniel Norden?«

»Ganz recht, Daniel Norden. Er ist unser Hausarzt. Er versteht es, Kranke zu kurieren.«

»Das ist mir bekannt«, sagte der Arzt mit einem feinen Lächeln. Mein Name ist Leibrecht, wenn Sie wollen Prof. Leibrecht, und Daniel Norden kannte ich schon als Studenten. Aber er würde auch nicht gestatten, daß Sie aufstehen, Herr Attenberg.«

»Meine Tochter ist entführt worden, verstehen Sie. Oh, mein Gott, warum mußte mir das passieren! Was wird Gisela so allein nur tun? So helfen Sie mir doch! Stehen Sie nicht herum, Herr Professor.«

Eine Schwester kam herein und flüsterte dem Professor etwas ins Ohr.

»Es ist jemand gekommen, der Sie sprechen will«, sagte Prof. Leibrecht nachdenklich. »Eine Frau Holden.«

»Leslie? Was weiß sie? Herein mit ihr, ich will sie sprechen«, sagte Raimund Attenberg stockend.

»Sie wird von Kommissar Röck begleitet«, fuhr der Professor fort.

»Polizei? Was zum Teufel habe ich denn angerichtet?«

»Nicht viel«, sagte Kommissar Röck mit tiefer Stimme. »Der Kombi war stärker, wenn Sie auch nicht ganz schuldlos waren. Aber ich komme nicht wegen des Unfalls. Herr Professor, darf ich mit Ihrem Patienten sprechen?«

»Er ist schon ganz erstaunlich beieinander«, erwiderte der Professor. »Nur aus dem Bett darf er nicht springen.«

»Dafür werde ich sorgen«, sagte der Kommissar.

»Hilf mir, Rai«, sagte Leslie. »Sie denken, ich habe Denise entführt!«

»So ist es auch nicht«, meinte Kommissar Röck. »Ich bekomme von dieser jungen Frau nur keine klaren Auskünfte. Sagen Sie mir, in welcher Beziehung Sie zueinander stehen?«

»Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich die Geschäftsführerin bin«, sagte Leslie erregt.

»Sie duzen Ihren Chef, und Sie sind sehr besorgt um ihn.«

»Darf ich das nicht? Wir sind gute Freunde. Ich sorge mich nicht nur um ihn, sondern auch um seine Tochter.«

»Habt ihr schon etwas gehört von den Entführern?« fragte Raimund Attenberg.

»Nein«, sagte Kommissar Röck, »aber der Reihe nach. Warum hat Frau Holden das Geschäft verlassen?«

»Weil ich es ihr gesagt habe. Geraten habe ich es ihr«, stieß Raimund hervor. »Sie bekommt ein Baby. Ich wollte sie nicht auch einer Gefahr aussetzen.«

»Wie eng sind Ihre Beziehungen?« fragte der Kommissar. »Ich muß das fragen.«

»Wie eng? Du liebe Güte, eine verrückte Frage. Leslie war mit meinem besten Freund verlobt. Sie wollten heiraten. Er war Berichterstatter für das Fernsehen im Fernen Osten und kam bei einem Fliegerangriff ums Leben. Wir haben uns um sie gekümmert, meine Frau und ich, wenn Sie das bitte zur Kenntnis nehmen möchten, Herr Kommissar.«

»Verzeihen Sie, aber Frau Holden hat mir keine Auskunft gegeben«, sagte Kommissar Röck leise.

»Wollten Sie uns ein Verhältnis unterschieben?« fragte Raimund erbost.

»Ich halte mich grundsätzlich an Tatsachen, aber im Interesse Ihrer Tochter bin ich zu gewissen Überlegungen gekommen. Wir haben Dorle Meißner gefragt. Eine Freundin Ihrer Tochter.«

»Ja, ihre einzige Freundin. Was hat sie gesagt?«

»Sie hat gesehen, daß Ihre Frau Denise zur Schule brachte. Sie sah, wie Denise aus dem Wagen stieg, war aber selbst noch ziemlich weit entfernt. Denise wartete, bis Ihre Frau wegfuhr, und dann lief sie von der Schule weg. Dorle Meißner konnte ihr nicht folgen. Sie war plötzlich verschwunden. Ich meine Ihre Tochter.«

»Sie ist weggelaufen? Das ist unmöglich, das tut Denise nicht. Dorle muß sich getäuscht haben.«

»Es kann möglich sein. Dorle sagt, daß Denise in letzter Zeit sehr still und verschlossen war. Sie haben eine Klassenkameradin, deren Eltern sich scheiden ließen, weil der Vater ein Verhältnis mit einer anderen Frau hatte, das nicht ohne Folgen blieb.«

Raimund Attenberg richtete sich auf. Er starrte den Kommissar an.

»Das ist doch Wahnsinn«, stöhnte er. »Wollen Sie mir ein Verhältnis mit Leslie andichten, weil sie ein Baby erwartet? Meine Frau weiß doch alles. Sie war mit allem einverstanden. Sie wollte Leslie sogar zu uns ins Haus nehmen.«

»Ihre Frau wußte es also«, sagte Kommissar Röck. »wußte es auch Ihre Tochter?«

»Denise? Aber sie ist doch noch viel zu klein, um das alles zu verstehen. Natürlich haben wir nicht mir ihr darüber gesprochen.«

»Was möglicherweise falsch war«, sagte der Kommissar. »Meine Tochter ist zwar erst sieben Jahre alt, aber sie stellt manchmal verdammt verzwickte Fragen. Kinder sehen und hören viel mehr, als man meint. Es mag sein, daß meine Gedanken in die Irre gehen, Herr Attenberg, aber könnte es nicht sein, daß Ihre Tochter falschen Vermutungen verfiel und vor irgend etwas, das sie nicht verkraften konnte, davonlief? Dr. Norden sagte mir, daß sie in letzter Zeit sehr verändert war, was auch durch Dorle Meißner bestätigt wurde.«

»Ich kann das nicht glauben«, sagte Raimund Attenberg. »Dann hätte sie doch fragen können.«

»Nun, womöglich hatte sie Angst vor einer Wahrheit, die ihr nicht gefallen hätte. Kinder in diesem Alter denken schon viel mehr, als die Eltern annehmen, und sie sprechen nicht alles aus, was sie denken. Seelische Erschütterungen können alle möglichen Folgen nach sich ziehen.«

»Gut, das mag sein, aber eine Entführung wäre doch auch nicht auszuschließen, und während wir hier reden, passiert vielleicht Schreckliches.«

Leslie hatte bisher nichts gesagt. Sie war kreidebleich und zitterte. Nun liefen Tränen ihre Wangen hinunter. »Wenn ich schuld sein sollte, lieber Gott, ich könnte es mir nicht verzeihen, daß eure Freundschaft und euer Entgegenkommen diese Folgen haben könnte.«

»Dich trifft keine Schuld, Leslie«, sagte Raimund. »Wenn schon, dann uns, weil wir Denise für zu kindlich hielten, um sie einzuweihen. Gestern sagte Gisi, daß sie mit ihr sprechen wolle und heute nun…«

Er konnte nicht mehr weitersprechen.

»Wir suchen das Kind«, sagte Kommissar Röck. »Alle Streifenbeamten haben ihr Bild und die Beschreibung ihrer Kleidung. Eine Lösegeldforderung ist noch nicht gekommen. Unsere Erfahrungen lehren, daß dies bald geschieht und man dann erst eine Pause eintreten läßt, um den Forderungen Nachdruck zu verleihen.«

Daß ein anderes Verbrechen auch nicht auszuschließen war, sagte er nicht, und Raimund Attenberg dachte glücklicherweise nicht daran.

Prof. Leibrecht war wieder eingetreten. »Die Röntgenaufnahmen haben ergeben, daß Sie glimpflich davongekommen sind, Herr Attenberg«, sagte er.

»Dann lassen Sie mich doch heim. Ich kann meine Frau doch nicht im Stich lassen. Dr. Norden ist doch jederzeit erreichbar.«

»Ich habe bereits mit ihm telefoniert. Ich glaube, daß es zu verantworten ist, wenn Ihr Schädel auch noch brummen wird. Und ich meine, daß da noch jemand ist, der unter ärztliche Aufsicht gehört«, fuhr er mit einem Blick zu Leslie fort. »Der wievielte Monat ist es?«

»Der achte«, erwiderte sie stockend.

Das sah man ihr allerdings nicht an. Aber sie war ziemlich groß, fast so groß sie Kommissar Röck, und sie war auch sehr geschickt gekleidet.

»Ja, wenn es gestattet ist, werde ich Sie jetzt heimbringen«, sagte Kommissar Röck.

»Die Polizei, dein Freund und Helfer«, sagte Raimund ironisch, aber dann wurde er verlegen. »Sie sind wirklich sehr nett, Herr Kommissar.«

»Es tut mir leid, daß ich Frau Holden verhören mußte, aber ich denke, daß sie es verstehen wird«, sagte Helmut Röck. »Man hat manchmal sehr unangenehme Aufgaben.«

»Wir müssen Denise finden«, stammelte Leslie. »Wir müssen sie finden. Ich könnte meines Lebens nicht mehr froh werden.«

*

Denise ging durch unbekannte Straßen. Sie fror und hatte Hunger, und es wurde immer dunkler. Nun kam auch die Angst, die andere Gedanken verdrängte. Ein einsames Kind in einer großen Stadt, und es wußte nicht mehr ein noch aus.

Was sollte sie denn jetzt tun? Wieder ein Taxi suchen und heimfahren? Sie dachte an ihre geliebte Mami, die nun bestimmt Angst um sie haben würde. Ihrer Mami wollte sie doch nicht weh tun. Es war so schwer, alles zu begreifen.

Denise hatte jetzt das Gefühl, daß ihr schwere Schritte folgten. Ihr Herz begann angstvoll zu schlagen. Sie war langsam gegangen, jetzt begann sie zu laufen, bis sie wieder in einer belebten Straße war. Da konnte sie sich ein bißchen verschnaufen. Die Geschäfte waren noch offen, und viele Menschen waren auf den Straßen, und irgendwie kam ihr die Gegend auch bekannt vor.

Staunend blieb sie vor einer Konditorei stehen. Hier kaufte sie doch manchmal mit ihrer Mami ein! Ja, gewiß, sie erkannte durch die Scheibe auch die Verkäuferin.

Sollte sie so weit gelaufen sein? Mit dem Auto fuhr man doch von hier aus schon eine gute Viertelstunde in die Stadt.

Andere Gedanken kamen ihr. Es konnte gut sein, daß sie hier jemanden trat, der sie kannte, vielleicht sogar einen Lehrer oder eine Lehrerin, oder Klassenkameradinnen. Und was sollte sie dann sagen? Nein, nie und nimmer würde sie sich wieder zur Schule wagen, sich neugierigen Fragen aussetzen.

Was konnte sie sich nur ausdenken, um ihr Weglaufen zu erklären? Lügen durfte man doch nicht.

Trotzig schob sich ihre Unterlippe vor. Ich werde es ihnen sagen, ich werde Mami und Papi sagen, warum ich weggelaufen bin, ging es durch ihren kleinen Kopf, der zu schmerzen begann. Ich werde ihnen sagen, was sie mir antun, wenn sie sich trennen. Aber vielleicht machte das ihrem Papi gar nichts aus, wenn er ein anderes Kind hatte, eins von Leslie.

Schnell lief Denise jetzt weiter, aber ihre Füße schmerzten und sie hatte heftiges Seitenstechen. Das Atmen fiel ihr auch schon schwer. Feuchtkalt war die Abendluft, und zu allem Übel begann es auch noch zu regnen.

Wie von selbst lenkte sie ihre Schritte in die stille Villenstraße, in der ein Haus stand, das ihr wohlbekannt war. Jeder Schritt und jeder Atemzug bereitete ihr jetzt schon Schmerzen, und dann drückte sie mit letzter Kraft und fast unbewußt auf die Glocke.

*

Gisela Attenberg hatte die Schwäche überwunden. Sie machte sich jetzt stark. Molly hatte beschwörend auf sie eingeredet und Erfolg gehabt.

Aber das Telefon schwieg. Wie oft kamen sonst Anrufe, aber es war, als wüßte es alle Welt, was hier geschehen war und keiner wagte einen Anruf von den Freunden, die sie besaßen.

»Ob sie es schon im Radio gesagt haben?« fragte Gisela leise.

»Ich weiß nicht«, erwiderte Molly. »Wollen wir es anstellen?«

»Nein«, sagte Gisela leise. »Warum kommt keine Nachricht von meinem Mann?«

Wenige Minuten später kam er selbst und mit ihm der Kommissar und Leslie.

Gisela war keines Wortes fähig. Stumm umarmte sich das Ehepaar, und wer wollte es ihnen verdenken, daß ihnen beiden Tränen über die Wangen rannen.

Molly mußte mit ihnen weinen. Bei ihr flossen die Tränen schnell, aber da Leslie nun einen Schwächeanfall erlitt, war sie gleich wieder ganz da.

»Wir brauchen die Hoffnung nicht aufzugeben, Liebling«, sagte Raimund Attenberg zu seiner Frau. »Kommissar Röck hat da eine Theorie entwickelt, die eine Erklärung für das Verschwinden des Kindes sein könnte.«

»Welche?« fragte Gisela.

»Ich kann nicht mehr«, flüsterte Leslie. »Verzeiht mir, aber mir ist so elend.«

»Ich werde Frau Holden in eine Klinik bringen«, sagte Kommissar Röck.

»Zu Dr. Leitner«, sagte Molly rasch. »Ja, er ist der richtige, und außerdem ist er mit Dr. Norden befreundet, ist auch nicht weit.«

»Verzeiht mir«, sagte Leslie nochmals.

»Was haben wir dir zu verzeihen?« fragte Gisela aufhorchend.

»Rai wird es dir erklären, Gisi. Wenn alles so ist, wie der Kommissar sagt…«

»Vermutet«, warf Raimund ein. »Ich werde es Gisi erklären. Denk jetzt an das Baby, Leslie.«

Kommissar Röck führte Leslie hinaus. Er legte fürsorglich den Arm um sie.

»Es tut mir sehr leid, daß ich Ihnen diese Strapazen zugemutet habe«, sagte er.

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Sie müssen Ihre Pflicht tun. Mein Gott, wenn Denni doch endlich gefunden würde. Ich würde mein Kind dafür opfern.«

»Das dürfen Sie nicht sagen«, murmelte er heiser.

»Aber sie lieben das Kind. Es ist zehn Jahre ihr ein und alles. Meins wird ohne Vater heranwachsen. Er hat nicht einmal gewußt, daß er Vater werden würde. Ach, ich bin völlig durcheinander.«

»Sie haben sich doch auf das Kind gefreut«, sagte Helmut Röck leise.

»Weil ich Freunde hatte, die zu mir hielten, die mir die Möglichkeit gaben, weiter zu existieren. Unter dem Gesichtspunkt müssen Sie verstehen, daß es mich bis ins Innerste trifft, wenn dadurch in Dennis Köpfchen solch ein Irrtum entstand.«

»Es ist nur eine Vermutung«, sagte Helmut Röck, und als sie ihn dann wieder mit Herr Kommissar anreden wollte, bat er sie, den Titel wegzulassen.

»Ich kenne jetzt die Zusammenhänge«, sagte er. »Ich bitte Sie, sich nicht in Schuldgefühle hineinzusteigern. Ich muß meine Pflicht erfüllen, aber Sie können mir glauben, daß das manchmal verdammt schwer ist. Wir sind doch auch Menschen.«

»Das haben Sie bewiesen«, sagte Leslie leise. Und dann waren sie auch schon bei der Frauenklinik angelangt.

»Man wird mich wieder heimschicken«, sagte Leslie. »Das Baby ist noch nicht dran.«

»Man wird Sie nicht heimschicken. Sie werden jetzt folgsam sein, Frau Holden.«

Man schickte sie nicht heim, denn inzwischen hatte Molly mit Dr. Norden und auch mit Dr. Leitner telefoniert. Und es war gut, daß Helmut Röck Leslie so schnell hergebracht hatte, denn sie war am Ende ihrer Kräfte.

*

Auch Denise war am Ende ihrer Kräfte gewesen.

Als Fee Norden auf das Läuten zur Tür ging, sah sie nichts.

Fee ging zum Gartentor, und da sah sie eine kleine, zusammengekrümmte Gestalt. Nur eine Sekunde zögerte sie, dann kniete sie neben dem Kind nieder.

»Denise«, sagte sie, aber die Kleine rührte sich nicht.

»Lenni, helfen Sie mir!« rief Fee laut, und Lenni kam schon aus dem Haus gestürzt, weil sie meinte, daß ihrer Frau Doktor etwas passiert sei.

»Können Sie die Kleine ins Haus tragen?« fragte Fee.

»Aber sicher«, erwiderte Lenni und hob Denise schon auf.

»Es ist die kleine Attenberg«, erklärte Fee. »Ich muß ihre Eltern anrufen. Nein, es ist wohl besser, ich rufe erst meinen Mann.«

Eingehüllt in wärmende Decken lag Denise auf dem Sofa und wurde von Danny aufmerksam betrachtet, als Fee ihren Mann anrief.

Währenddessen schlug Denise schon wieder die Augen auf.

»Nichts Mami und Papi sagen«, flüsterte sie.

Daniel Norden war sonst wirklich nicht schwer von Begriff, aber in dem Augenblick, als Fee ihm sagte, daß Denise bei ihnen sei, hielt er doch atemlos den Hörer ans Ohr gepreßt.

»Komm schnell, Daniel«, sagte Fee.

»Ich fliege, Liebling«, sagte er.

»Fahr vorsichtig«, sagte sie darauf.

Und dann überlegte sie. Was war jetzt wichtiger? Den Eltern die Angst zu nehmen, oder Denises Bitte zu befolgen?

»Deine Eltern machen sich große Sorgen, Denise«, sagte sie.

»Papi hat doch Leslie«, schluchzte Denise auf.

Sie war jetzt nichts als ein kleines hilfloses Kind, das sich einem Menschen anvertrauen mußte. Fee horchte auf. Hellwach war sie gleich und schob die anderen verwirrenden Gedanken beiseite.

»Was ist mit Leslie?« fragte sie sanft.

»Sie ist so vertraulich mit Papi, und sie bekommt ein Baby«, kam die schluchzende Antwort.

Fee war nun wieder verwirrt. Eine Antwort zwar hatte sie bekommen, aber war sie die Lösung eines Problemes?

»Und deshalb bist du weggelaufen?« fragte sie nachdenklich.

»Ich weiß nicht. Ich bin so lange gelaufen.«

»Sie wird hungrig sein«, sagte Lenni.

Danny tätschelte Denises Hand. »Westerlein?« fragte er.

»Nein, das ist kein Schwesterlein, das ist ein großes Mädchen.«

»Roßes Mädsen«, wiederholte er kindlich. »Weint roßes Mädsen?«

Er nahm eine Serviette, um Denise die Tränen abzutupfen. Fee gab den Gedanken auf, ihn in sein Zimmer zu bringen. Vielleicht konnte er jetzt mehr helfen als jeder andere.

»Er ist noch so klein und kann schon richtig reden«, sagte Denise staunend.

»Noch nicht ganz richtig«, sagte Fee mit einem flüchtigen Lächeln.

»Aber man kann ihn verstehen«, sagte Denise. »Wir sind oft hier vorbeigegangen, und ich wollte Dr. Nordens Baby so gern mal sehen, aber Mami hat gesagt, daß wir nicht stören wollen.«

»Danny kein Baby«, sagte der Kleine. »Kommt Baby.«

Denises Gesicht überschattete sich. Ihre Lippen preßten sich wieder aufeinander.

Fee beobachtete sie, aber sie war sehr erleichtert, als Daniel nun kam.

Er setzte sich zu Denise. »Es ist aber sehr gescheit, daß du zu uns gekommen bist«, sagte er.

»Aber nichts meinen Eltern sagen«, flüsterte Denise.

»Wir werden erst einmal ganz vernünftig miteinander reden, Denise«, meinte Daniel Norden, ohne zu verraten, daß er ihre Eltern bereits angerufen hatte.

*

Das ganz große Aufatmen gab es im Hause Attenberg noch nicht, wenngleich die Nachricht wie eine Erlösung wirkte. Aber Dr. Norden hatte gesagt, daß er erst mit Denise sprechen wolle, um neue Konflikte zu vermeiden.

»Wir haben etwas falsch gemacht, Raimund«, sagte Gisela gequält.

»Es wird gutzumachen sein, Liebes«, sagte er gedankenvoll. »Gott sei gedankt, daß wir das denken können.«

»Mich brauchen Sie jetzt wohl nicht mehr«, sagte Molly. »Himmel, bin ich froh, daß sich alles aufklärt.«

»Wie dürfen wir uns für Ihre Hilfe erkenntlich zeigen, Frau Molly?« fragte Raimund

»War doch selbstverständlich«, erwiderte Molly. »Wenn meine Sabine mal Trauringe braucht, können Sie ihr ja Prozente geben.«

Praktisch dachte Molly auch. Und Raimund Attenberg mußte trotz aller Aufregung lächeln.

»Das sowieso«, meinte er und warf dann schnell einen Blick auf Mollys hübsche, gepflegte Hände, der alle Arbeit nichts hatte anhaben können.

»Eine kleine Anerkennung werden Sie uns doch aber zubilligen«, sagte Gisela.

»Ich bin froh, daß die Kleine wieder da ist«, sagte Molly. »Alles Gute für Sie. Sie sollten sich jetzt lieber ein bißchen hinlegen, Herr Attenberg.«

Noch diese freundliche Ermahnung, dann entschwand sie.

Gisela wiederholte den Rat, und ihr Mann legte sich neben sie.

»Dr. Norden wird sich um unser Kind kümmern«, flüsterte sie. »Machen wir uns jetzt keine Vorwürfe, Raimund. Es wird sich alles aufklären. Wir müssen offen mit Denni sprechen.«

»Ich bin total durcheinander, Liebes. In meinem Kopf geht es rund. Ich weiß nicht mal mehr, wie es zu dem Unfall kam.«

»Wollen wir dankbar sein, daß er so abging«, sagte Gisela. »Man wird dir hoffentlich mildernde Umstände zubilligen.«

»Ich war nicht allein schuld«, sagte. »Der Kombi fuhr über die Kreuzung, als schon rot war.«

»Also kannst du doch schon wieder ziemlich klar denken, aber der Unfall selbst ist jetzt nicht mehr so wichtig. Wichtig allein ist, daß ich euch behalten darf.«

Er küßte sie zärtlich, schon müde und sehr erschöpft. »Was unserer Kleinen nur eingefallen ist«, murmelte er. »Aber wir werden ihr keine Vorwürfe machen, Gisi.«

»Ich denke gar nicht daran. Ich habe mir selbst genug Vorwürfe gemacht.«

»Dann muß ich mir noch mehr machen«, murmelte er. Und dann fielen ihm die Augen zu. Später konnte Dr. Norden dann feststellen, daß er sich unglaublich tapfer gehalten hatte, doch jetzt war er mit Denise beschäftigt, die sich erst einmal richtig ausgeweint hatte.

Sie war jetzt das kleine Mädchen, das er als Fünfjährige zum ersten Mal behandelt hatte, als sie eine recht schlimme Mandelentzündung hatte. Sie hatte Angst zu ersticken, weil sie nicht schlucken konnte und kaum noch Luft bekam.

Jetzt drohte sie an ihren inneren Ängsten zu ersticken. Die Beklemmungen waren so stark, daß ihr schmaler Kinderkörper völlig verkrampft war.

Sehr viele Menschen waren sich nicht darüber klar, daß Rücken- und auch Bandscheibenschmerzen eine psychische Ursache haben konnte, wie auch Allergien, Migräne und so manches andere.

Einem Kind konnte man das schwer begreiflich machen. Denise hatte ein schlechtes Gewissen, und nun fürchtete sie nicht nur Strafe, sondern auch noch, krank zu werden, denn ihr tat einfach alles weh.

Lenni hatte ihr einen Tee zubereitet, eine Wärmflasche unter den Rücken gelegt und die schmerzenden Füße mit einer Salbe massiert.

Fee war mit Danny hinausgegangen, obgleich der Kleine noch so gern bei dem großen Mädchen bleiben wollte.

Aber jetzt war es wichtig, daß Denise ihr Herz ausschüttete, und das brauchte seine Zeit. Immerhin erfuhr Dr. Norden alles, was er wissen wollte, und dann sank das erschöpfte Kind in tiefen Schlummer.

*

Auch Raimund Attenberg schlief, und Gisela, nun ihr Kind in Sicherheit wissend, grübelte nach, was sie alles falsch gemacht haben könnte, weil Denise zu den Nordens mehr Vertrauen hatte als zu ihr.

Dieser Tag war ein Wendepunkt in ihrem Leben als Frau und Mutter. Niemals war sie Belastungen ausgesetzt gewesen. Sorglos war ihre Kindheit in einem Elternhaus verlaufen, in dem alles glatt ging. Eltern und Geschwister erfreuten sich auch jetzt bester Gesundheit, es hatte nie einen Mangel gegeben. Die ältere Schwester und der jüngere Bruder hatten passende Partner gefunden und führten glückliche Ehen, wie sie auch.

Mit Raimund war sie seit einem Dutzend Jahren verheiratet, und sie hatte das Leben in noch großzügigerem Stil weiterführen können, das sie aus ihrem Elternhaus gewohnt war. Die Geburt ihres einzigen Kindes hatte keine Komplikationen mit sich gebracht, aber sie war sich mit ihrem Mann von vornherein einig, daß sie nur ein Kind haben wollten, gleich, ob es ein Junge oder ein Mädchen war.

Der Gedanke an diese Absprache versetzte ihr jetzt einen schmerzhaften Stich. Wie konnte man das so überhaupt planen?

Wäre es nicht tröstlich gewesen in diesen schweren Stunden, noch ein Kind um sich zu haben?

Andererseits, auch das sagte sie sich, hatte man um zwei oder mehr Kinder weniger Angst als um eines?Das Gleichmaß ihres Lebens war erstmalig erschüttert worden, und Gisela fragte sich, ob sie nicht zu oberflächlich dahingelebt hatte, zu überzeugt, daß es gar nie anders sein konnte.

Gewiß nicht oberflächlich in dem Sinne, daß ihr alles gleichgültig gewesen wäre. Sie hatte viel Liebe empfangen und viel Liebe gegeben, aber sie hatte nie daran gedacht, wie es sein könnte, wenn ihr Kind oder ihr Mann nicht da wären. Und nun hatte sie an einem einzigen Tag um beide bangen müssen.

War sie nicht auch anderen gegenüber manchmal sehr ungerecht gewesen? Zum Beispiel bei Gretel Jelinak, die oft wegen ihrer Kinder eine Party absagte.

Warum schaffen sie sich nur so viele Kinder an, hatte sie gesagt, und daran erinnerte sie sich.

»Sie sind halt anders eingestellt als wir«, hatte Raimund erwidert, »aber manchmal denke ich, daß es ganz nett wäre, wenn Denise Geschwister hätte. Wir werden älter und bleiben vielleicht auch lieber daheim, und leisten könnten wir uns doch mehrere Kinder.«

Auch das ging Gisela durch den Sinn, und sie blickte um sich. Sie hatten doch Denni nie vernachlässigt, sie waren nie allein weggefahren und hatten das Kind nur alleingelassen, wenn jemand bei ihr war, dem sie vertrauten.

Denise hatte zwei Großelternpaare, an denen sie mit gleicher Liebe hing, und es gab auch in der Familie keine Eifersucht: Was konnte denn ein Kind in solchen Verhältnissen bewegen, wegzulaufen?

Leslie? Daran glaubte Gisela einfach nicht, und doch mußte sie sich dann überzeugen lassen, daß ihre Hemmungen, Denise die Wahrheit über Leslies Schicksal zu erzählen, so erschreckende Konflikte in der kindlichen Seele erzeugt hatten. Dr. Norden kam ohne Denise. Gisela konnte es nicht begreifen.

»Sie schläft, Frau Attenberg, und morgen sieht alles schon ganz anders aus«, sagte Dr. Norden tröstend. »Es ist besser, wir unterhalten uns jetzt darüber, warum das geschehen konnte, und außerdem ist es auch für Denise besser, wenn sie nicht gleich erfährt, was ihrem Papi passiert ist. Dann macht sie sich doppelte Vorwürfe.«

»Ich mache mir sehr viele Vorwürfe, Herr Doktor«, sagte Gisela gequält. »Was habe ich falsch gemacht?«

»Darüber wollen wir sprechen. Es gibt keinen Zweifel, daß Sie einen Fehler machten, indem Sie Denise nüchterne Tatsachen verschwiegen. Kinder haben meist mehr Phantasie als Erwachsene. Wenn man ihnen etwas nicht erzählt, denken sie besonders viel darüber nach. Hinzu kommen dann kleine Begebenheiten, die Erwachsenen bedeutungslos erscheinen und für ein eifersüchtiges Kind große Bedeutung bekommen. Denise hatte einfach Angst, daß sich ihre Eltern, die sie so innig liebt, trennen könnten, Angst besonders deshalb, weil sie nicht wußte, bei wem sie lieber sein wollte. Sie hat ja schon mitbekommen, daß Eltern sich scheiden ließen und das Kind dann bei der Mutter oder bei dem Vater blieb. Aber sie konnte sich so etwas nicht vorstellen.«

»Es kommt doch auch nie in Frage«, sagte Gisela. »Wir führen eine harmonische Ehe, und daß ich auch mit für Leslie sorgen wollte, beweist doch, daß ich nie an der Treue meines Mannes zweifelte. Leslie war mit seinem besten Freund verlobt, der unter tragischen Umständen ums Leben kam. Raimund fühlte sich verpflichtet, ihr zu helfen. Sie wollte sich nichts schenken lassen, so gab er ihr eine Position, in der sie so gut verdiente, daß sie sich nicht abhängig von uns fühlen mußte. Und sie hat gute Arbeit geleistet, das soll auch gesagt werden.«

»Aber dies alles wußte Denise nicht«, sagte Dr. Norden. »Sie wußte nur, was sie sah und hörte. Und manchmal bekommen Worte und kleine Nebensächlichkeiten in der Phantasie eines Kindes eine viel tiefere und ganz andere Bedeutung.«

»Aber wie hätte ich Denni denn erzählen sollen, was Leslie widerfahren war? Sie ist doch ein Kind!«

»Sie hätten ihr einfach die Wahrheit sagen sollen. Sie hätte diese Wahrheit verstanden. Man muß nur die richtigen Worte finden.«

»Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, daß sie unsere Ehe gefährdet sehen könnte. Wir waren doch jeden Tag beisammen. Nichts war anders als sonst.«

»Außer daß sie nachgrübelte, daß ihr Papi den ganzen Tag mit Leslie beisammen sei, viel mehr Zeit mit ihr verbrachte als daheim.«

»O mein Gott, warum hat sie solche Gedanken?«

»Weil sie diese ja von sich schieben wollte. Es sollte alles so bleiben wie bisher. Sie wollte ihre Eltern behalten. So erwachsen ist sie noch nicht, um sich selbst zu erforschen.

Gisela sah ihn lange und nachdenklich an. »Ich glaube, daß ich, wenn man es genau nimmt, bisher auch noch nicht so erwachsen war, Herr Doktor«, sagte sie leise. »Erst heute habe ich über uns nachgedacht, über mich, über unsere Ehe, unser Leben. Aber jetzt möchte ich mein Kind in die Arme nehmen.«

»Warten Sie noch, Frau Attenberg. Denise ist in guter Obhut. Wenn man sie jetzt aus dem Schlaf reißt, wird nichts besser. Ich habe ihr alles erklärt. Kommissar Röck hat mir seine Vermutungen glücklicherweise mitgeteilt, und Denise hat mir alles erzählt, was in ihrem Köpfchen vor sich ging. Lassen Sie ihr ein bißchen Zeit. Sie hat noch Ängste zu bezwingen und auch Scham, weil sie begreift, daß sie etwas angerichtet hat, was Ihnen große Kummer bereitete.«

»Ich werde ihr keine Vorwürfe machen«, sagte Gisela. »Ich bin glücklich, wenn ich mein Kind wiederbekomme.«

»Morgen ist dafür Zeit«, sagte Dr. Norden. »Jetzt sind Sie noch sehr erregt. Ich habe Denise nichts von dem Unfall gesagt. Sie schläft bei uns gut bewacht, Frau Attenberg.«

»Was müssen Sie von uns denken?«

»Das Sie Ihr Kind lieben und Frau Holden helfen wollten. Sie haben nur vergessen, daß eine Zehnjährige kein Baby mehr ist, aber welche Eltern, die mit ihrem Kind so innig verbunden sind, vergessen das nicht? Unser Danny wird nun bald zwei Jahre, und wir werden ein Baby haben. Wenn Danny das Schwatzen anfängt, kann ich es nicht glauben, daß er den Windeln entwachsen ist. Als Arzt rede ich klug daher, als Vater muß ich auch erst Erfahrungen sammeln.«

»Sie sind so nett und verständnisvoll«, sagte Gisela leise. »Sehen Sie jetzt noch mal nach meinen Mann?«

»Das wollte ich. Der gute Leibrecht hat ihn mir ans Herz gelegt, aber in der Klinik war er ja nicht mehr zu halten.«

»Er hat sich wieder mal stärker erwiesen als ich. Ich müßte mich jetzt eigentlich um Leslie kümmern. Die Arme macht sich sorgenvolle Gedanken.«

Sie hat Herz und Gemüt, dachte Dr. Norden, und ein zuversichtliches Lächeln legte sich um seinen Mund.

»Dr. Leitner wird bestens für Ihre Freundin sorgen«, sagte er. »Dafür garantiere ich. Er wird Sie benachrichtigen, wenn sich etwas tut.«

»Meinen Sie, das das Baby früher kommt?«

»Es kann möglich sein, aber es besteht keine Gefahr für Mutter und Kind. Die Klinik ist bestens ausgestattet, und bewacht wird Frau Holden auch von Kommissar Röck.«

»Warum das?« fragte Gisela beklommen.

»Weil er sich auch Vorwürfe macht, weil er sie ziemlich hart angefaßt hat. Er mußte schließlich in Betracht ziehen, daß Frau Holden in eine mögliche Entführung verwickelt ist.«

»Leslie? Sie kann doch keiner Fliege etwas zuleide tun, und unserem Kind würde sie niemals schaden«, sagte Gisela.

»Auch das konnte Kommissar Röck nicht wissen. Wir alle wußten gar nichts, Frau Attenberg.«

»Und das alles nur, weil ich als Mutter versagt habe?« fragte sie leise.

»Versagt haben Sie nicht. Sie waren sich nur nicht bewußt, daß Denise zehn Jahre alt ist und nicht mehr an den Klapperstorch glaubt.«

»Aber wir haben sie doch selbst aufgeklärt«, sagte Gisela.

»Um ganz offen zu sein, möchte ich doch sagen, daß Sie sich scheuten, von einem Kind zu sprechen, das keinen Vater hat. Es ist kein Vorwurf, Frau Attenberg. Ich kann mir vorstellen, was Sie sich dabei dachten, aber Denise weiß, daß jedes Kind einen Vater hat, auch wenn er dann aus mancherlei Gründen nicht in Erscheinung tritt. Ihr größtes Problem war halt, daß eine andere Frau als ihre Mami ein Kind haben könnte von einem Mann, der auch ihr Papi ist.«

»Daran denkt sie schon?« fragte Gisela bestürzt.

»Denken Sie doch einmal zurück, was Sie sich im Alter von zehn Jahren alles gedacht haben.«

»Wir waren noch nicht aufgeklärt«, sagte Gisela verlegen, aber dann erschien ein Lächeln auf ihrem Gesicht. »An eine Begebenheit erinnere ich mich, als eine Tante zu Besuch kam, die jüngere Schwester meiner Mutter. Ich wunderte mich, daß sie so sehr zugenommen hatte und sagte, daß Tante Ursula früher eine viel schönere Figur gehabt hätte. Sie äße halt zuviel, sagte mein Vater. Ja, so war das damals.«

»Und es wurde doch auch unter der Voraussetzung gesagt, daß man die Kinder nicht für reif genug hielt, ihnen die Wahrheit zu sagen. Und dabei ist es doch so schön, wenn man sich auf ein Baby freuen und die Kinder an dieser Freude teilhaben lassen kann.«

»Ich habe heute viel gelernt, Herr Doktor«, sagte Gisela verhalten, »auch daß es falsch ist, von vornherein zu sagen, daß man nur ein Kind haben will. Als Leslie damals zu uns kam, dachte ich auch, ob es nicht besser wäre, wenn dieses Kind gar nicht zur Welt käme, und jetzt habe ich Angst, daß es Schaden genommen haben könnte. So sehr kann ein einziger Tag ein Leben verändern.«

»Wenn es danach noch schöner werden kann, soll man dankbar sein«, sagte Daniel.

»Was ich dazu tun kann, werde ich tun. Ich verspreche es Ihnen«, sagte Gisela. »Und geben Sie meiner kleinen Denni einen Kuß von mir. Ich danke Ihnen für alles, Herr Doktor.«

Sie haben Glück, dachte Daniel Norden. Manche Eltern verbringen viele schlaflose Nächte, bis sie ihr Kind wiederbekommen, und manche warten umsonst.

Denise schlief einem neuen Tag entgegen. Vielleicht würde sie eines Tages vergessen, was sie weggetrieben hatte, vielleicht aber würde es auch nachhaltig auf ihren weiteren Lebensweg wirken. Es lag jetzt an ihren Eltern, die ganz gewiß um einiges klüger geworden waren. Im Leben der Attenbergs war es ein entscheidender Tag gewesen, das stand fest. Aber auch Leslie Holdens Leben hatte eine Wendung genommen.

Dr. Georg Leitner, von seinen Freunden Schorsch genannt, konnte beruhigt feststellen, daß eine Frühgeburt zu vermeiden gewesen war. Im Fall dieser jungen Frau war dies beruhigend, denn die eingehende Untersuchung hatte ergeben, daß das Kind sich alles von seiner Mutter genommen hatte, was nur zu nehmen war. Besorgniserregend war nur, daß Leslie nicht kräftig genug war, alles zu geben.

Dr. Leitner hatte große Erfahrung. Er kannte die werdenden Mütter, die sich gehenließen, diejenigen, die im wahrsten Sinne des Wortes für zwei aßen, und er kannte auch solche, die so waren wie Leslie, diszipliniert und keine Spur egoistisch.

Sie gehörte zu jenen, die bis zur letzten Stunde nur auf die Zukunft ihres Kindes bedacht, ihre Aufgaben erfüllen wollte. Sie war zäh, aber dazu geneigt, ihre Kraft zu überschätzen. Und der Schock, den sie an diesem Tag erlitten hatte, konnte nicht ohne Rückwirkung bleiben.

Kommissar Röck machte sich nach dem Gespräch mit dem Frauenarzt schon die bittersten Vorwürfe, daß auch er dazu beigetragen hatte, daß Leslie Holden sich jetzt in einem bedenklichen Zustand befand. Er hatte sich ausgebeten, in der Klinik bleiben zu dürfen. Er saß an Leslies Bett, als gehöre er zu ihr.

»Was tun Sie hier?« fragte Leslie. »Suchen Sie Denni.« Sie wußte nicht, daß Denni längst gefunden war.

»Das Kind lebt«, sagte Helmut Röck leise.

»Das sagen Sie nur so«, flüsterte Leslie.

»Es ist die Wahrheit. Denise ist bei Dr. Norden. Ich habe die Nachricht bekommen.«

»Wieso bei Dr. Norden?« fragte Leslie zweifelnd.

»Genaues weiß ich auch noch nicht, aber Sie brauchen sich nicht mehr aufzuregen. Ich schwöre es Ihnen, daß es die Wahrheit ist. Dr. Leitner kann es Ihnen bestätigen.«

»Er soll kommen. Er soll es mir bestätigen«, sagte Leslie.

Helmut Röck drückte auf die Klingel, und Dr. Leitner kam.

»Ist Denise wirklich bei Dr. Norden?« fragte Leslie.

»Ja«, erwiderte Dr. Leitner.

»Wenn das nur eine barmherzige Lüge sein soll, können Sie beide zur Hölle fahren«, sagte sie. »Um mich braucht sich niemand zu sorgen. Ich habe genug angerichtet.«

»Gar nichts haben Sie angerichtet«, sagte Helmut Röck. »Sie brauchen sich keinen Vorwurf zu machen.«

»Und warum haben Sie mich wie eine Verbrecherin behandelt?« fragte sie. »So, als hätte ich Denni entführt?«

»Verstehen Sie mich doch bitte«, sagte er tonlos. »Es ist mein Beruf, den Dingen auf den Grund zu gehen. Ein Kind wurde vermißt, sie hatten das Geschäft frühzeitig verlassen und ich kannte Sie nicht.«

Leslie lachte auf. »Aber jetzt sitzen Sie hier, als würden Sie mich kennen«, sagte sie.

»Ich kenne Sie«, erwiderte er.

Ihre Augen weiteten sich, weil seine Worte so glaubhaft klangen. »Sie kennen mich?«

»Ich muß zuerst meine Pflicht erfüllen, dann kann ich mich mit den Menschen befassen, mit denen ich zu tun habe«, erwiderte er schwerfällig. »Leslie, denken Sie jetzt an sich und an Ihr Kind, an nichts anderes mehr.» Er nahm ihre Hand. Sie wollte sie ihm entziehen, aber er hielt sie fest.

»Ich bin nicht nur Beamter, sondern auch Vater, ich habe eine Tochter und meine Frau auch unter tragischen Umständen verloren. Wie Ihnen zumute ist, kann ich von ganzem Herzen nachfühlen.«

»Jack war noch nicht mein Mann«, sagte Leslie bebend.

»Er wäre Ihr Mann geworden, wenn er nicht so tragisch hätte sterben müssen, und Sie wären jetzt glücklich.«

Sie schloß die Augen. »Ich war nie richtig glücklich«, flüsterte sie. »Ich habe Jack geliebt, aber er war nie da. Ich wußte nicht, ob er jemals ganz bei mir sein würde, auch wenn ich seinen Namen trüge. Das Kind, ja, das Kind würde mir ganz gehören.

Wie heißt Ihre Tochter?« fragte Leslie.

»Annette.«

»Warum mußte Ihre Frau sterben?«

»An einem Blinddarmdurchbruch«, sagte Helmut Röck. »Aber warum erzähle ich das? Ich wollte Ihnen doch nur sagen, daß mir alles sehr leid tut und ich Ihnen und Ihrem Baby alles Gute wünsche. Sie dürfen sich jetzt nicht mehr aufregen. Es ist alles in Ordnung.« Er machte eine kleine Pause. »Darf ich Sie besuchen oder wenigstens nachfragen, ob es ein Bub oder ein Mädel ist?«

»Ich wußte bisher nicht, daß Polizisten so nett sein können«, sagte Leslie.

»Inzwischen habe ich es zum Kommissar gebracht. Man wird reifer mit der Zeit«, erwiderte er humorvoll.

Leslie lächelte. »Sie sind aufmunternd«, sagte sie, und dann dachte sie daran, daß er auch einiges durchgemacht hatte. Ganz sicher war er sehr glücklich mit seiner Frau gewesen. Er war von diesem Typ Mann, der Geborgenheit und Sicherheit vermittelt und trotz seines harten Berufes gutmütig und gefühlvoll war.

Sie war nicht mal empört gewesen, als er sie aufsuchte und zuerst so gezielte Fragen stellte. Man mußte ja mißtrauisch werden unter solchen Umständen, denn in ihrer Aufregung um Denise hatte sie ganz vergessen, das Büro zu unterrichten, das sich im oberen Stockwerk des gleichen Hauses befand und selbstverständlich war man dort bestürzt gewesen, daß sie einfach gegangen war, obwohl dort nichts von Denises Verschwinden bekannt war.

Nun aber hatte sich alles aufgeklärt und Kommissar Röcks Vermutung hatte sogar gestimmt.

Sie dachte nun, da er sich verabschiedet hatte, noch über ihn nach.

Er mußte ein guter Vater sein, da er so genau wußte, was in einer Kinderseele vor sich gehen mochte. Allerdings durfte man auch nicht vergessen, daß sein Beruf Erkenntnisse von Gefahren brachte, die der Normalbürger doch nicht so realistisch sah.

Es war das erste Mal, daß Leslie mit der Polizei zu tun hatte, abgesehen von den Strafzetteln für falsches Parken. Zum ersten Mal hatte sie einen Beamten als Privatmann kennengelernt. Guter Gott, was hegte man doch oft Vorurteile! So manches hatte sie an diesem Tag auch wieder dazugelernt, auch daß es mehr hilfsbereite Menschen gab, als sie angenommen hatte.

Dr. Leitner zum Beispiel. Er hatte nicht viel gefragt. Und die Schwestern waren so nett und fürsorglich.

Leslie dachte an ihr Baby und glitt ganz plötzlich in einen Zustand der Schwerelosigkeit, die wohl auf die Infusion zurückzuführen war, die man ihr gegeben hatte.

*

Als Denise am nächsten Morgen erwachte, es war schon zehn Uhr und Dr. Norden längst in der Praxis, konnte sie sich nicht gleich erinnern, was geschehen war. Sie lag in einem fremden Zimmer, in einem fremden Bett, und ihr kleines Herz begann angstvoll zu klopfen, bis die Erinnerung dann doch kam.

Heiße Glut schoß ihr in die Wangen, als Fee durch die Tür schaute. Mit beiden Beinen sprang sie aus dem Bett.

»Ich habe geschlafen«, sagte sie stockend. »Wie spät ist es?«

»Noch nicht so spät«, sagte Fee, »doch schon ein neuer Tag.«

Es klang verheißungsvoll: ein neuer Tag, aber für Denise war die Erinnerung an den vergangenen Tag wieder gegenwärtig. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und so sagte Fee schnell: »Ich habe schon mit deiner Mami telefoniert. Ich bringe dich nachher nach Hause, wenn du gefrühstückt hast.«

»Ist das wahr, was Dr. Norden mir gestern erzählt hat?« fragte Denise.

»Du meinst das mit Leslie?«

Denise nickte. Fee nahm ihre kleine Hand. »Ja, das ist alles wahr.«

»Und warum haben Mami und Papi nichts davon erzählt?« fragte sie.

»Sie meinten wohl, daß du es nicht verstehen würdest, daß Leslie nicht verheiratet ist.«

»Das gibt es doch aber oft, daß Mütter nicht verheiratet sind«, sagte Denise verwundert. »In meiner Klasse sind zwei Kinder, deren Mütter auch keinen Mann haben, und die eine ist sogar eine ganz berühmte Sängerin.«

»Und du bist ein sehr vernünftiges Mädchen, Denni«, sagte Fee. »Deine Mami hat den Fehler gemacht, dich noch nicht für so vernünftig zu halten, und du hast den Fehler gemacht, sie nicht einfach zu fragen, was nun eigentlich zwischen Leslie und deinem Papi ist.«

»Ich habe mich nicht getraut. Ich hatte solche Angst, daß sie auseinandergehen und daß Papi Leslies Baby lieber hat als mich. So vernünftig bin ich halt doch nicht, Frau Norden.«

Es war rührend. Fee nahm sie zärtlich in die Arme. »Auch Erwachsene machen sich manchmal so dumme Gedanken, Denni«, sagte sie, »und deshalb kommt es oft zu Konflikten, die dann in Streit ausarten. Anstatt sich auszusprechen, redet man aneinander vorbei. Aber bei euch war es doch nicht so, und nun wird es auch solch Schweigen hoffentlich nicht wieder geben. Mein Mann hat sich große Sorgen um dich gemacht, weil er sich gar nicht erklären konnte, warum du so verändert bist.«

»Es war sehr dumm von mir, ich sehe es ein«, sagte Denise. »Hoffentlich sind Mami und Papi mir nicht mehr zu böse.«

»Sie sind überhaupt nicht böse. Sie sind froh, daß dir nichts geschehen ist. Aber du darfst ruhig darüber nachdenken, was dir hätte geschehen können und was man so alles denkt, wenn man nicht weiß, warum ein Kind ausgerissen ist. Wir fürchteten, daß du entführt worden sein könntest.«

»Warum denn?« fragte Denise naiv.

»Um Geld zu erpressen.«

Denise senkte den Kopf. »Ich hatte bloß Angst vor einem richtigen Verbrecher«, sagte sie leise. »Ja, da hatte ich wirklich Angst, als es so dunkel wurde, aber ich habe auch gedacht, daß Mami und Papi Angst um mich haben und deshalb wieder beisammenbleiben.«

»Sie wollten sich niemals trennen, Denni«, sagte Fee. »Sie wollten Leslie nur helfen. Findest du das nicht gut?«

»Doch, schon, aber wenn sie mir alles gesagt hätten, dann wäre ich auch lieb zu Leslie gewesen«, sagte Denise. »Wenn es so ist, kann sie meinetwegen auch mit ihrem Baby bei uns wohnen.«

»Nun muß ich dir noch etwas sagen, bevor ich dich heimbringe«, sagte Fee. Sie hatte damit gewartet, bis Denise ihren Hunger gestillt hatte.

»Werfen sie mich aus der Schule ’raus, wie sie es mit dem Guido getan haben, weil er weggelaufen war? Er mußte dann in ein Internat.« Ihre Stimme zitterte ein bißchen.

»Aber nein, solche Gedanken brauchst du dir gar nicht zu machen. Das wird niemand erfahren. Wir sagen ganz einfach, daß dir was wehgetan hat und du zu uns gekommen bist.«

»Das ist aber Schwindel.«

»Nur ein bißchen Schwindel. Du bist doch zu uns gekommen, Denise.«

»Ich finde es aber sehr nett, daß ihr für mich schwindelt«, sagte sie mit dem schelmischen Ausdruck, der so lange aus ihren Augen verschwunden gewesen war.

»Es gibt aber noch etwas. Du darfst jetzt nicht erschrecken, Denni«, sagte Fee. »Dein Papi hatte gestern einen kleinen Unfall.«

Das Kind erstarrte. »Einen Unfall?« schrie es auf.

»Es ist nicht schlimm. Er ist schon wieder daheim. Er war auch nicht allein schuld daran. Es passierte, als er vom Geschäft heimfahren wollte.«

Denises Lippen bewegten sich lautlos. »Und ich bin daran auch schuld«, flüsterte sie. »Er hat sich aufgeregt. Papi hatte noch nie einen Unfall. Oh, es tut mir alles so schrecklich leid, was ich angerichtet habe.«

»Es wird bald vergessen sein, Denise«, sagte Fee. »du bist ein bißchen klüger geworden.« Und ihre Eltern auch, dachte Fee für sich. Manchmal muß man halt erst Lehrgeld bezahlen.

»Und ihr seid auch nicht böse mit mir?« fragte Denise.

»Aber nein. Wir sind froh, daß du zu uns gekommen bist.«

»Meine Füße sind von selbst gelaufen«, sagte Denise leise. »Sie taten so weh und mein Kopf auch. Ich wußte nicht mehr, wohin ich wollte. Ich kann eine ganze lange Geschichte schreiben über diesen Tag.«

»Dann schreib sie, Denni. Vielleicht kannst du anderen Kindern damit helfen.«

»Du meinst, daß andere Kinder meine Geschichten lesen sollen?«

»Die besten Geschichten sind die, die das Leben schreibt«, sagte Fee.

»Aber ein gutes Ende müssen sie haben«, flüsterte Denise.

Fee strich ihr das wirre Haar aus der ganz glatten Stirn.

»Freilich ist es schön, wenn Geschichten ein gutes Ende haben.«

»Ich schreibe gute Aufsätze«, sagte Denise eifrig. »Ich habe eine Eins in Deutsch.«

»Du bist überhaupt eine sehr gute Schülerin, wie wir hörten.«

»Im Zeugnis ja, aber sonst bin ich doch recht dumm«, sagte sie. »Wo ist eigentlich Danny?«

»Mit Lenni zum Einkaufen.«

»Ich möchte ihn so gern sehen. Er ist süß! Warum habe ich eigentlich keine Geschwister?«

»Ja, das mußt du deine Eltern fragen«, sagte Fee mit einem tiefen Lächeln. »Darauf weiß ich keine Antwort.«

»Wenn es Papi wieder gutgeht, werden wir viel reden müssen«, meinte Denise. »Ob ich über alles mit ihnen sprechen kann?«

»Warum nicht? Du brauchst nur Fragen zu stellen. Ich glaube nicht, daß sie dir dann die Antwort schuldig bleiben.«

»Und wenn doch?« fragte Denise skeptisch.

»Dann kommst du zu uns, aber ohne vorher davonzulaufen. Dann werden wir mit deinen Eltern sprechen.«

»Und fragen, warum sie mir manches nicht sagen wollen?«

»Ja, das werden wir, Denni. Das ist ein Abkommen.«

»Hand drauf?« fragte Denise.

Ganz fest nahm Fee die kleine Hand. »Und nun bringe ich dich heim. Deine Eltern warten schon so sehr auf dich.«

*

Das konnte man wohl sagen. Raimund Attenberg fühlte sich körperlich zwar schon bedeutend wohler, aber sein seelischer Zustand war noch sehr schlecht.

»Wir haben uns das Vertrauen unseres Kindes verscherzt, Gisi«, sagte er gequält. »Sie fürchtet sich, nach Hause zu kommen.«

»Frau Dr. Norden hat gesagt, daß sie Denni bringt, wenn sie gefrühstückt hat. Sie nimmt uns viel Mühe ab.«

»Wieso Mühe, und frühstücken kann Denni auch bei uns. Herrgott, ich komme mir vor wie ein Rabenvater.«

»Der du nicht bist. Außerdem haben die Nordens sehr viel Verständnis für die Situation.

»Brauchen wir etwa einen Psychiater? Ich habe uns immer für völlig normal gehalten, Gisi.«

»Dr. Norden ist kein Psychiater«, erwiderte sie mit einem leisen Lachen. »Er ist einfach der Hausarzt, wie man sich ihn wünscht. Er ist menschlich, und er nimmt sich Zeit.«

»Ich nehme mir auch Zeit für meine Kunden«, brummte Raimund.

»Bei dir geht es um Steine, um Material, für Dr. Norden geht es um Menschen«, sagte Gisela.

»Machst du mir einen Vorwurf, daß ich mit Schmuck handele?« fragte er.

»Versteh mich doch nicht falsch, Schatz«, sagte Gisela.

»Zum Arzt hätte ich nicht getaugt. Ich kann kein Blut sehen. Sei nicht böse, Gisi, manchmal kommt mir ja auch die Galle hoch, wenn meine Kunden nur darauf bedacht sind, daß man es den Schmuckstücken ansieht, wieviel sie gekostet haben. Ich denke seit gestern über so vieles nach, was vorher nebensächlich erschien. Es trifft mich tief, daß unser Kind mehr Vertrauen zu den Nordens hat.«

»Denni suchte einen Ausweg aus einer Situation, in die sie sich ohne Überlegung hineinmanövriert hat«, sagte Gisela. »So hat es Frau Norden mir erklärt.«

»Was meinst du, was wir von unseren Eltern zu hören bekommen, wenn sie von der Geschichte erfahren.«

»Sie brauchen davon nichts zu erfahren. Sie sind weit vom Schuß.«

»Denni sollte auch nichts von Leslies Geschichte erfahren«, murmelte er. »Und was ist dadurch entstanden?«

»Ich habe dir vorgestern abend gesagt, daß ich mit Denni sprechen will. Sie hat gehört, wie wir uns unterhielten. Das löste dann die Affektreaktion aus. Sie hat alles mißverstanden. Wir dürfen ihr keinen Vorwurf machen, Raimund.«

»Ich denke nicht daran. Ich will unser Kind wiederhaben, und es soll so sein wie früher.«

»Nicht ganz so«, sagte Gisela nachdenklich. »Wir werden Denni nicht mehr als kleines Kind betrachten. Nur so wird es keine Probleme mehr geben. Das sollten wir gelernt haben.«

»Wir wollten doch, daß sie eine glückliche, unbeschwerte Kindheit hat, Gisi«, sagte Raimund Attenberg.

»Das war unser Wunsch, aber irgend etwas haben wir verkehrt gemacht, das dürfen wir jetzt nicht wegwischen. Es ist nicht nur die Geschichte mit Leslie. Irgendwann sind wir auch schon mal früher Problemen ausgewichen.«

»Aber wann, Gisi?«

»Wohl da, als sie uns fragte, warum sie keine Geschwister hat«, erwiderte Gisela gedankenvolll. »Könnte sie darüber nicht mehr nachgedacht haben, als wir ahnten?«

»Wir haben ihr doch gesagt, daß wir es sehr schön finden, daß sie unser einziges Kind ist.«

»Wir waren überzeugt, alles richtig zu machen, das ist das Problem«, sagte Gisela. »Und ich meine, daß wir Leslie dankbar sein müssen, daß wir hoffentlich noch zur rechten Zeit zu dieser Erkenntnis gekommen sind.«

»Ohne Umweg wäre es besser gewesen«, sagte Raimund.

»Das gewiß, aber besser mit einem Umweg als nie.«

Und als sie das gesagt hatte, läutete es an der Tür.

Wenig später fing Gisela Attenberg ihr Kind in den Armen auf.

Sie hielten sich umschlungen und weinten beide, doch es waren erlösende Tränen.

»Geht es Papi gut?« fragte Denise.

»Gleich wird es ihm viel besser gehen«, erwiderte Gisela, und als Denise dann in das Schlafzimmer stürmte, sah Gisela Fee Norden aus verschleierten Augen an.

»Wie soll ich Ihnen nur danken?« fragte sie.

»Wir werden uns später einmal zusammensetzen«, meinte Fee. »Haben Sie keine Hemmungen, über alles offen mit Denise zu sprechen. Sie haben eine sehr gescheite Tochter, Frau Attenberg, aber sie hat auch eine ausgeprägte Phantasie.«

Indessen hielt Raimund Attenberg sein Kind an sich gepreßt. »Du Racker«, sagte er leise, »du hast uns ganz schön in Atem gehalten. Aber jetzt ist alles gut.«

»Wir müssen darüber reden, Papi«, sagte Denise leise. »Aber erst mußt du gesund sein.«

»Mir fehlt nichts mehr«, brummte er.

»Das sagst du? Aber ich will erst wissen, was Dr. Norden sagt.«

»Er steht wohl für dich an oberster Stelle?« fragte ihr Vater eifersüchtig.

»So ist das nicht«, sagte Denise. »Aber manches versteht es halt besser als ihr. Euch habe ich am allerliebsten, dich und Mami, und ich wollte doch auch nur, daß wir immer beisammen bleiben.«

»Ein kleines Dummerle bist du, daß du daran zweifeln konntest.«

»Überleg doch mal, Papi. Wenn Mami nun nichts von Leslie gewußt hätte, nicht alles, meine ich, und sie hätte euch beisammen gesehen, was wäre dann passiert?«

»Na, deine Mamie hätte mir eine schöne Szene gemacht, und ich hätte ihr alles erklärt.«

»Bist du sicher? Hätte Mami es nicht auch in sich hineingeschluckt? Erst mal und dann immer mehr und vielleicht hätte sie dir dann nicht mehr geglaubt, wenn du alles erklärt hättest. Man kann ja auch schwindeln.«

»Du bist mir zu schlau, Denni«, sagte Raimund Attenberg.

»Ich habe nur viel nachgedacht«, erwiderte sie. »Wir haben doch immer über alles geredet, und plötzlich war da was, worüber ihr nicht mit mir geredet habt. Da muß man sich doch Gedanken machen, wenn man nicht ganz auf den Kopf gefallen ist.«

Er legte seine Hände um ihr Gesichtchen und zwang ein Lächeln um seine Lippen. »Was hast du für dumme Eltern, Denni«, sagte er weich.

»Dumm seid ihr nicht, aber vielleicht ein bißchen verklemmt? Bloß weil Leslie nicht verheiratet ist, hättet ihr doch nicht so geheimnisvoll tun müssen.«

»Sie hatten schon das Aufgebot bestellt als Jack starb«, sagte Raimund heiser.

»Warum ist er gestorben?« fragte Denise.

»Er war als Auslandskorrespondent im Fernen Osten, da war Krieg. Er kam ums Leben.«

»Warum war er nicht bei Leslie, wenn sie doch ein Baby erwartete?« fragte Denise.

»Er wußte es noch gar nicht. Ihr Brief hatte ihn nicht erreicht.«

»Das ist sehr schlimm«, sagte Denise. »Sie hat sich sicher auf die Hochzeit gefreut, und dann kam er nicht mehr. War er nett?«

»Er war mein Freund«, erwiderte Raimund.

»Warum hast du nicht von ihm erzählt?« fragte das Kind.

Ihm schnürte es die Brust zusammen. Warum nicht, fragte er sich. Er hatte damals schon so lange nichts mehr von Jack gehört. Eine Freundschaft blieb, auch wenn man Jahre getrennt war.

Er dachte an den Tag, als Leslie zu ihm kam und ihn fragte, ob er eine Nachricht von Jack bekommen hätte.

Schmal, traurig und fragend stand sie vor ihm. »Sie sind doch Jacks Freund«, hatte sie gesagt. »Jack hat mir viel von Ihnen erzählt.«

»Woran denkst du, Papi?« fragte Denise.

»Das kannst du nicht verstehen, Kleines«, erwiderte er.

»Das darfst du nie mehr sagen, sonst mache ich mir wieder Gedanken«, sagte Denise.

»Ich dachte an Jack und an den Tag, als ich Leslie kennenlernte.«

Seine Stimme war heiser, und sein Blick schweifte in die Ferne.

»Erzählst du es mir?« fragte Denise. »Damit ich alles verstehe. Ich will doch alles verstehen, Papi. Ich gehe doch schon auf’s Gymnasium, und du hast gar keine Ahnung, worüber da alles so gesprochen wird.«

»Du hast auch nicht davon erzählt«, sagte er.

»Weil ich nicht wußte, wie wichtig es ist, daß man darüber redet. Das verstehe ich erst jetzt. Frau Norden hat gesagt, daß man über alles reden soll.«

»Sie ist gescheiter als wir«, murmelte er.

»Das sind Ärzte, die sehen doch alles ganz anders«, sagte Denise. »Eigentlich ist das doch klar. Mit den Patienten können sie reden. Du kannst mit deinen Juwelen nicht reden. Du kannst sie bloß verkaufen. Bist du eigentlich sehr reich, Papi?«

»Warum willst du das wissen, Denise?«

»Wegen des Lösegeldes. Wenn ich nun entführt worden wäre, hätten sie doch Lösegeld verlangt.«

»Ich hätte alles gegeben, was ich besitze, um dich wiederzubekommen, mein Liebling.«

Denises Augen begannen zu leuchten. »Ich bin aber nicht entführt worden«, sagte sie. »Würdest du für Leslies Baby auch alles geben, was du besitzt?«

»Das würde sie niemals annehmen. Aber natürlich wollen wir dafür sorgen, daß ihrem Baby es an nichts mangelt.«

»Meinetwegen kannst du alles hergeben für das Baby«, sagte Denise. »Leslie kann auch bei uns wohnen. Meinst du, daß ihr Baby wie ein Geschwisterchen für mich wird und so süß wie Danny?«

»Wer ist Danny?« fragte Raimund verwirrt.

»Der Sohn von Nordens. Sie bekommen auch bald wieder ein Baby. Danny kann noch nicht mal richtig reden, aber er babbelt ganz lieb, und ich kann ihn verstehen. Die meisten Kinder haben Geschwister. Warum ich nicht, Papi?«

Ihm war die Kehle trocken. »Hast du das vermißt?« fragte er stockend.

»Ich weiß nicht. Ich denke über so vieles nach. Ich habe immer alles bekommen, was ich mir gewünscht habe. Ich hätte mir vielleicht ein Geschwisterchen wünschen sollen.« Sie holte ganz tief Luft. »Aber wir wollten doch über Leslies Baby sprechen. Ist es jetzt schon da?«

»Nein, noch nicht«, erwiderte er zögernd.

»Wo ist Leslie?« fragte Denise.

»In einer Klinik.«

»In was für einer Klinik? Können wir sie nicht besuchen?«

»Ich darf noch nicht herumlaufen, Kleines. Das wird dein Dr. Norden auch bestätigen.«

»Es ist nicht mein Dr. Norden. Es ist unser Dr. Norden. Ich kann Leslie besuchen und ihr sagen, was ich alles so gedacht habe. Oder regt sie das auf?«

»Sie hat sich sehr um dich geängstigt«, sagte Raimund.

»Das tut mir sehr leid. Mir tut auch leid, was ich getan habe, aber das habe ich erst jetzt begriffen, und Frau Norden hat mir gesagt, daß es nie zu spät ist, wenn man etwas gutmachen will.«

»Ich denke, daß du dir den Kopf nicht zerbrechen sollst, mein Schatz. Leslie ist gut untergebracht.«

»Und warum sollen wir uns den Kopf nicht zerbrechen?« fragte die Kleine. »Ich habe Blödsinn gemacht, und das habe ich eingesehen. Ihr seid mir nicht böse, das ist lieb. Aber Leslie habe ich noch nicht gesagt, wie leid es mir tut, und daß sie sich auch aufgeregt hat. Gibt sie uns das Baby?«

»Wie kommst du denn darauf?« fragte Raimund bestürzt.

»Wenn sie doch keinen Mann hat! Weißt du denn nicht, daß man Kinder adoptieren kann?«

»Doch, das schon, aber was denkst du denn nur, Denni? Leslie will ihr Baby doch nicht hergeben.«

»Geht sie weiter ins Geschäft, Papi?«

»Sie muß ja Geld verdienen. Sie läßt sich nichts schenken«, erwiderte er.

»Und wo bleibt das Baby?« fragte Denise. »Hat es Großeltern?«

»Nein.« Jedenfalls keine, die es nehmen würden, dachte er dabei.

»Das ist sehr schlimm«, sagte Denise. »Wir müssen ihr da helfen, Papi. Ja, das müssen wir. So ein kleines Baby darf nicht in ein Heim kommen.«

»Was denkst du jetzt wieder?« fragte er.

»Was meinst du denn, worüber wir in der Schule reden? Natürlich auch über Waisenkinder.«

»Leslies Baby hat aber eine Mutter. Es ist kein Waisenkind.«

»Aber es hat keinen Vater, weil er gestorben ist. Ich denke darüber nach, Papi.«

»Du denkst zuviel, mein kleines Mädchen.«

»Man kann nicht zuviel denken. Wir müssen für das Baby sorgen. Erzählst du mir noch von deinem Freund?«

»Was willst du hören?« fragte Raimund betroffen.

»Zu uns kommen viele Leute. Es sind alles Freunde«, sagte Denise leise. »Der Vater von Leslies Baby war doch nicht hier, oder?«

»Er war mal hier, mal dort. Das hat sein Beruf mit sich gebracht. Du kannst das nicht verstehen, Denni.«

»Das sagt ihr immer, Papi. Und wenn ich es doch verstehe, wenn es mir erklärt wird?«

»Wir haben zusammen auf der Schulbank gesessen«, erwiderte er. »Später ging jeder seinen Weg, aber wir mochten uns und trafen uns hin und wieder. Jack war hier, bei uns, als du noch ganz klein warst.«

»Öfter?« fragte Denise nachdenklich.

»Ja, öfter.«

»Und Leslie auch?«

»Da kannte er Leslie noch nicht.«

»Wann hat er sie kennengelernt?«

»Vor zwei Jahren. Da war er in Amerika.«

»Und warum hat Jack Leslie dann nicht gleich geheiratet, Papi?«

»Man muß sich schließlich erst kennenlernen, und außerdem war er sehr viel unterwegs. Sie konnten sich nicht so oft sehen.«

»Aber sie haben sich sehr lieb gehabt«, meinte Denise sinnend. »Sonst würde Leslie kein Baby bekommen.«

Raimund Attenberg konnte sich noch lange und ernsthaft mit seiner Tochter unterhalten, über so manches, worüber bestimmt nicht gesprochen worden wäre, wäre der gestrige Tag nicht gewesen. Und Gisela hatte noch ein paar gute Ratschläge von Fee Norden dankbar angenommen, weil sie meinte, daß sich alles viel problematischer gestalten würde nach Denises Rückkehr. Doch diese Befürchtung erwies sich als überflüssig, denn die kleine Denise hatte nicht vergessen, was Dr. Norden und seine Frau ihr erklärt hatten. Aussprechen sollte man sich, wenn es Zweifel gab, und so sagten sie sich alles, verwundert aber auch, warum es nicht schon früher so gewesen war. Über Leslie und ihr Baby wurde auch viel gesprochen.

Gisela rief dann in der Klinik an, bekam aber den Bescheid, daß gerade Visite sei und keine Gespräche in die Krankenzimmer gelegt würden. Aber sie erfuhr wenigstens, daß das Baby sich noch Zeit ließ.

»Morgen werden wir sie besuchen«, schlug Denise vor.

»Ja, ich werde sie besuchen«, sagte Gisela, »aber Kinder dürfen leider nicht mit in die Klinik.«

»Warum nicht?«

»Wegen der Infektionsgefahr«, erklärte Gisela.

»Aber ich bin doch kein kleines Kind mehr«, sagte Denise. »Es ist schon komisch, einmal wird man schon groß und vernünftig genannt und dann ist man wieder ein kleines Kind und darf nicht mit in die Klinik. Warum nicht?«

»Das sind halt Vorschriften, um die kommt man nicht herum«, sagte Raimund, »aber schließlich würdest du deinen Papi doch wohl nicht allein lassen wollen?«

Das war allerdings ein Argument von Wichtigkeit. Natürlich konnte sie den Papi nicht allein lassen. Und außerdem würde Dr. Norden auch herkommen, um nach ihnen zu sehen.

*

In Dr. Nordens Sprechstunde ging alles wieder seinen Gang. Nichts erinnerte an die Aufregungen des vergangenen Tages. Die Patienten kamen und gingen, niemand brauchte über Gebühr zu warten, und kein Notruf holte Dr. Norden aus seiner Praxis weg.

Loni Enderle war es direkt ein bißchen unheimlich, daß nach dem gestrigen turbulenten Tag ein so ruhiger folgte. Aber man sollte den Tag nicht vor dem Abend loben, denn gerade hatte der letzte Patient die Praxis verlassen, als ein Anruf kam, der die zu früh gelobte Ruhe des Tages schnell zerstörte.

Loni rann es eisig den Rücken herunter, als sie die Nachricht weitergab.

»Vorn an der Endhaltestelle ist eine Frau unter die Bahn geraten«, stieß sie hervor.

»Da kann der Notarzt doch besser helfen«, sagte Daniel. »Er hat alles in seinem Wagen.«

»Aber sie verlangt nach Ihnen«, sagte Loni leise.

Daniel wurde blaß. »Der Name?«

»Ist noch nicht bekannt.«

Er nahm seinen Koffer und verschwand eilig. Gut, man war Arzt. Man hatte sich diesen Beruf erwählt und war auf alles gefaßt, was ein Tag mit sich bringen konnte. Aber es war schon ein abscheuliches Gefühl, zu einer Verletzten gerufen zu werden, die ausdrücklich nach ihm verlangte, deren Namen er aber nicht wußte.

Ein saublödes Gefühl ist das, sagte er laut vor sich hin, um die innere Unruhe zu dämpfen. Neugierige hatten sich an der Unfallstelle versammelt. Es gab kein Durchkommen. Daniel wurde sogar angepöbelt von ein paar jungen Burschen, als er sagte, daß er Arzt sei. Es wären schon welche da, wurde ihm erwidert. In ihm kochte heißer Zorn. Gut, mochten schon Ärzte da sein, aber es war doch immer wieder dasselbe. Die Sensationsgier war so manchen Leuten wichtiger als ein Menschenleben. Wie oft wurden die Rettungsmannschaften durch solche behindert, und wie oft hörte man auch die Worte: »Sind doch selber schuld, wenn sie so blöd über die Straße rennen.«

Was dahinterstecken konnte, ob eine Angst, ein Unwohlsein, Geistesabwesenheit durch einen Kummer hervorgerufen, danach fragte niemand.

Irgend jemand kam Dr. Norden zu Hilfe. Ein großer, breitschultriger Mann, der die jungen Burschen wegboxte. »Das ist Dr. Norden«, brummte er, und Daniel erkannte in ihm einen der Möbelpacker, die ihren Umzug gemacht hatten.

»Danke«, sagte er.

»Diese jungen Deppen«, sagte der Mann, an dessen Namen sich Daniel jetzt wahrhaftig nicht erinnern konnte. »Es ist die Frau Nowatzki. Wollte einen Streit schlichten, und da haben diese Burschen sie direkt vor die Bahn gestoßen.«

O Gott, dachte Daniel, Frau Nowatzki, die selbst mühsam zwei Kinder durchs Leben bringen mußte.

Man hatte sie schon auf die Trage gelegt und diese in den Ambulanzwagen geschoben.

»Norden«, sagte Daniel kurz, als der Notarzt aufblickte.

»Gut, daß Sie kommen, von uns hält die gute Frau anscheinend nicht viel«, sagte der Notarzt.

»Dr. Norden«, flüsterte die Verletzte, »werden Sie es den Kindern sagen? Es wird schon nicht schlimm werden. Ich habe gar keine Schmerzen. Diese dummen Buben, ich wollte sie doch bewahren, daß ihnen etwas passiert.«

Sie selbst, eine besorgte Mutter, mußte nun dafür büßen, daß ein paar Unbesonnene Streit angefangen hatten. Erschüttert waren alle, die um sie herumstanden und nun die Worte hörten. »Mit Absicht haben sie es nicht getan.«

»Wie schwer sind die Verletzungen?« fragte Dr. Norden heiser.

»Möglicherweise ist das linke Bein nicht mehr zu retten«, erwiderte der Notarzt.

»Bringen Sie Frau Nowatzki zu Prof. Leibrecht«, sagte Daniel ruhig.

Er eilte schon zur Telefonzelle. »Wenn er’s sagt«, meinte ein Sanitäter achselzuckend. »Er muß es ja verantworten.«

»Wenn der Leibrecht ’ne Kassenpatientin nimmt, freß ich ’nen Besen«, sagte ein Kollege.

Der Notarzt war jung und manchmal der Situation noch nicht gewachsen. Er war froh, wenn ihm die Verantwortung abgenommen wurde. Er hatte getan, was er konnte, war aber ein bißchen erschrocken, als Daniel zurückkam und sagte: »Worauf warten Sie denn noch? Los! Ich fahre hinterher!«

*

Lange hatten sich der Professor und Daniel nicht gesehen. War es nicht seltsam, daß sie erst kürzlich durch Raimund Attenberg aneinander erinnert wurden und nun jetzt gemeinsam die Fürsorge für eine schmale und doch so tatkräftige Frau zu übernehmen bereit waren?

»Die Kosten, die zusätzlich entstehen, übernehmen wir«, sagte Daniel ruhig. »Tun Sie bitte, was Sie können.«

»Können Sie so großzügig sein?« fragte der Professor mit einem Zwinkern.

»Wir haben einen Fonds für solche Fälle. Manchmal haben nette alte Patienten etwas hinterlassen zur Verwendung für diejenigen, die es brauchen. Daher der Fonds. Frau Nowatzki hat zwei Kinder und steht allein. Sie hat den Unfall nicht verschuldet.«

»Ich mache mich an die Arbeit«, sagte der Professor. »Vorbereitet ist alles schon.«

»Und ich werde mich um die Kinder kümmern«, sagte Daniel.

Ein toller Bursche, dachte der Professor anerkennend. Er gerät ganz nach seinem Vater. Wann bekomme ich in diesem nüchternen Haus schon mal so engen Kontakt zu meinen Patienten. Doch nur, wenn sie wochenlang hier liegen, und dann sind es meist hoffnungslose Fälle.

Seine Mitarbeiter staunten nur so, wie er sich ins Zeug legte, um diese einfache kleine Frau vor dem Schlimmsten zu bewahren.

*

Daniel hatte Fee angerufen. Sie war erschüttert. Nicht alle Patienten ihres Mannes kannte sie persönlich, das wäre auch ein bißchen zuviel verlangt gewesen, aber Frau Nowatzki hatte ihnen damals beim Umzug geholfen und fleißig geputzt.

»Bring die Kinder mit«, sagte sie zu Daniel.

Meine Fee, dachte Daniel zärtlich, immer ist sie hilfsbereit, und oft war sie schon zu einer richtigen guten Fee für andere geworden.

Die Nowatzkis wohnten in einer bescheidenen kleinen Wohnung im Souterrain eines großen Wohnblocks. Als Hausmeisterin versorgte Frau Nowatzki diesen. Sie verdiente dabei nicht schlecht, aber ihr Bestreben war es ja vor allem, ihren Kindern eine gute Ausbildung zuteil werden zu lassen.

Ihr Mann hatte sie sitzenlassen. Er war mit einer Jüngeren durchgebrannt, viel hatte sie also an ihm nicht verloren, wie sie manchmal selber gesagt hatte. Jetzt ginge es ihnen besser als vorher, da er das meiste Geld für sich verbraucht hatte.

Die zwölfjährige Ursel öffnete Dr. Norden die Tür. Ihre Augen bekamen einen ängstlichen Ausdruck. »Ist was mit Mutti?« war ihre erste Frage.

»Ist Frank schon zu Hause?« fragte er.

»Er muß gleich kommen«, erwiderte Ursel bebend. »Was ist denn, Herr Doktor? Warum kommen Sie?«

»Die Mutti hatte einen Unfall, Ursel. Nun wein doch nicht, Kleines! Es wird alles für sie getan.«

»Wie ist denn das passiert? Mutti ist immer so vorsichtig.«

Da kam der vierzehnjährige Frank schon hereingestürmt. Kalkbleich war sein Gesicht.

»Ich habe es schon gehört«, rief er in höchster Erregung. »Die Kerle bring ich um, ich bring sie um, wenn unsere Mutti stirbt!«

Ja, nun galt es für Daniel erst einmal, diese beiden erregten und erschütterten Kinder zu beruhigen, aber einfach war das nicht.

»Ich weiß, wer die Kerle waren, die Mutti gestoßen haben«, stieß Frank hervor. »Sie gehen mit uns in die Schule. Robert und Alfred, diese Raufbolde, Andy hat sie gesehen, er hat es mir gesagt! Wo ist Mutti, Herr Doktor?« schluchzte der hochgeschossene blonde Junge auf.

»In der Klinik. Sie wird vom besten Unfallchirurgen betreut, den wir haben. Dafür habe ich gesorgt. Ihr kommt jetzt mit zu uns, meine Frau möchte es und wenn ihr euch beruhigt habt, werden wir miteinander reden.«

»Aber der Herr Brettschneider wird nicht mit sich reden lassen, wenn Mutti hier nicht arbeiten kann«, weinte Ursel. »Und dann sitzen wir auf der Straße!«

»Mit Herrn Brettschneider wird auch zu reden sein«, sagte Daniel, »ich kenne ihn. Überlaßt das nur mir. Denkt jetzt daran, daß eure Mutti wieder bei euch sein wird.«

Er hoffte es von ganzem Herzen, mehr konnte er im Augenblick ja leider nicht tun.

Frank und Ursel waren verstummt, als sie hinten in seinem Wagen saßen. Wie Marionetten waren sie ihm gefolgt.

Von Fee und Lenni wurden sie mütterlich empfangen, aber essen wollten sie absolut nicht.

Eine Zeit war Frank ganz still, dann aber brach es wieder aus ihm heraus.

»Umbringen tu’ ich sie, wenn Mutti nicht wieder gesund wird!«

»Das sagt man nicht, Frank«, flüsterte Ursel. »Mutti mag das nicht.«

Dr. Norden mußte in die Praxis, bevor der erlösende Anruf aus der Klinik kam, daß Frau Nowatzki außer Lebensgefahr war.

Nun weinten die Kinder vor Erleichterung, und natürlich wollten sie ihre Mutti auch gleich besuchen, aber Fee erklärte ihnen, daß sie sich doch noch bis morgen gedulden müßten.

Außer Lebensgefahr bedeutete noch immer nicht, daß das Bein gerettet war. Das wußte nur sie, und sie sagte es Daniel auch nicht am Telefon, weil es die beiden Kinder möglicherweise hätten hören können.

Sie saßen nun bei Lenni in der Küche und aßen, und Fee war froh, daß sich die Lebensgeister der Kinder wieder regten.

Doch bald kam der nächste Schrecken. Die beiden Buben Robert Haberl und Alfred Gröber waren verschwunden. Sie hatten sich nicht nach Hause getraut. Die Nordens erfuhren es von Kommissar Röck, bei dem alle Fäden zusammenliefen, wenn Kinder verschwanden. Ihm waren auch die bisherigen Untersuchungsergebnisse über den Unfallhergang vorgelegt worden.

In diesem Fall stand es einwandfrei fest, daß es sich weder um eine Entführung, noch um ein Verbrechen, sondern einfach um eine Flucht aus Angst vor Bestrafung handelte. Gleichwohl waren die betroffenen Eltern nicht weniger besorgt, als es Raimund und Gisela Attenberg gewesen waren, wenn sich ihre ersten Reaktionen auch ganz anders äußerten.

Bei den Haberls war man der Meinung, daß sich Frau Nowatzki nicht hätte einmischen dürfen. Die Gröbers waren ganz anderer Meinung, denn sie hatten genug Kummer mit ihrem ungebärdigen Sohn und verschlossen die Augen davor nicht.

Außerdem kannten sie Herrn Brettschneider und darum auch Frau Nowatzki.

Aber wollten die einen ihren Sohn noch in Schutz nehmen, die anderen sich bemühen, der Verunglückten zu helfen, Sorgen machten sie sich selbstverständlich um ihre Söhne, mochten es auch noch solche Schlingel sein, als die sie überall bekannt waren. Und zu den Sorgen kamen auch noch die Vorwürfe der Nachbarn, die schon oft Anlaß zu Beschwerden gehabt hatten.

Für Kommissar Röck war ein solcher Fall nichts Besonderes, sondern etwas Alltägliches, denn jeden Tag verschwanden Kinder, gingen Suchmeldungen ein, und machmal blieb alles Bemühen, sie aufzufinden, vergeblich.

Eine so schnelle und glückliche Lösung wie im Fall Denise Attenberg ergab sich selten.

Menschen, die sich nicht kannten, Schicksale, die nichts miteinander gemein hatten, bei Kommissar Röck liefen die Fäden zusammen, und ihm entging es ähnlich wie Dr. Norden. Man war vor bösen Überraschungen nie sicher.

Aber in jenem wie auch in diesem Fall erfuhren ein paar Menschen unvergleichliche Hilfsbereitschaft, wie sie sie vorher niemals erfahren und woran sie auch nicht geglaubt hatten.

Im Wohnblock, den Frau Nowatzki betreute, wurde für sie und die Kinder gesammelt. Jetzt sah man in ihr plötzlich nicht mehr nur die Frau, die Treppen putzte und an die alle Ärgernisse herangetragen wurden. Man begriff sie als Menschen, als Mutter, als eine mutige Frau, die auch fremde Kinder vor Unheil bewahren wollte.

Und Leslie, die ganz still liegen mußte und nicht aufstehen durfte, erfuhr, daß sie auch in all den Aufregungen von den Freunden nicht vergessen wurde, die sich als wirkliche Freunde bewiesen, obgleich sie selbst sich doch die Schuld zuschrieb, Unruhe in ihr Leben gebracht zu haben.

Eine ganze Stunde war Gisela bei ihr gewesen und hatte tröstend auf sie eingeredet, denn ihr saß der Schrecken noch immer in den Gliedern.

»Du denkst jetzt an dich und an dein Baby, und wir freuen uns, wenn wir euch beide zu uns holen können, Leslie«, sagte Gisela. »Denni ist jetzt schon ganz neugierig, ob es ein Bub oder ein Mädel wird. Es wird ein Ersatz für das Geschwisterchen sein, das sie sich insgeheim wohl immer gewünscht hat. Vielleicht bekommt sie es nun doch noch. Wir waren dumm, Leslie. Wir haben Fehler gemacht, und es mußte wohl so sein, daß wir uns dessen noch beizeiten bewußt werden. Wir haben Denni wieder und können alles nun ganz realistisch betrachten. Unser Kind hat uns eine Lektion erteilt, aus der wir gelernt haben.«

»Es geht Denni gut? Wirklich?« fragte Leslie.

»Sehr gut. Sie hat tiefgründige Gespräche mit den Nordens geführt und von denen profitiert ihr Papi jetzt auch. Väter sind schon manchmal ganz komisch. Sie können noch weniger begreifen, daß ihre Kinder erwachsen werden, als Mütter, denke ich.«

»Er liebt Denni über alles.«

»Ja, das weiß ich, aber wie sich erwiesen hat, kann es manchmal zuviel der Liebe sein. Man kann und man darf nicht übersehen, daß sie eines Tages sehr selbständige Wesen sind, die an allem beteiligt werden wollen, wsa sich innerhalb der Familie abspielt, denn an dem, was sich außerhalb des Elternhauses abspielt, werden sie sowieso beteiligt, ohne daß Eltern etwas dagegen unternehmen können.«

»Ich werde mich bei der Kindererziehung nach diesen Weisheiten richten«, sagte Leslie. Und da klopfte es an der Tür. Leslie errötete, als Kommissar Röck eintrat. Gisela guckte ein bißchen erstaunt und verabschiedete sich dann rasch, aber sehr freundlich von dem Kommissar.

»Bei uns ist mal wieder Hochbetrieb«, sagte Kommissar Röck verlegen, während er einen kleinen Blumenstrauß verstohlen auf den Tisch legte. »Aber ich hatte gerade in der Gegend zu tun, und da wollte ich doch mal schnell hereinschauen. Wie geht es Ihnen?«

»Na ja, ich muß zufrieden sein, wenn mir das ständige Liegen auch nicht behagt«, erwiderte Leslie.

»Sie müssen folgen«, sagte er mahnend.

»Zu Befehl, Herr Kommissar«, lächelte sie. »Es ist doch nicht etwa wieder ein Kind abhanden gekommen?«

»Diesmal gleich zwei, aber sie haben andere Motive als Denni. Nehmen Sie es mir also bitte nicht übel, wenn ich gleich wieder gehen muß.«

»Aber die Blümchen dürfen Sie mir ruhig geben«, sagte Leslie. »Es ist nett, daß Sie trotz der Arbeit an mich gedacht haben.«

Er drehte seinen Hut zwischen den Händen. »Ich darf doch wiederkommen?« fragte er. »Ich meine, daß ich doch auch etwas gutzumachen habe.«

Leslie sah ihn nachdenklich an. »Ich habe außer Gisi und Rai keine Freunde«, sagte sie leise. »Es ist ein gutes Gefühl, wenn man vielleicht wieder einen Freund gewonnen hat.«

»Einen, der sehr wenig Zeit hat, leider«, seufzte er.

»Schon ein paar Minuten können froh machen«, sagte Leslie. »Passen Sie gut auf sich auf, Herr Kommissar.«

»Ich heißt Helmut Röck«, brummte er, »und den Kommissar lassen Sie bitte weg.«

»Das reimt sich sogar«, sagte Leslie. »Da können wir uns etwas wünschen. Pssst, aussprechen darf man es nicht.« In ihren Augen blitzte es schelmisch.

»Aber ich darf sagen, daß ich Ihnen alles, alles Gute wünsche?«

»Danke, Helmut Röck«, sagte sie verhalten.

»Auf Wiedersehen«, sagte er leise und dann geschah das Erstaunliche, daß er ihr die Hand küßte.

»Hoffentlich finden sich diese beiden Kinder auch so schnell an wie Denise«, sagte Leslie hoffnungsvoll.

»Sie sind zu zweit, und es sind handfeste Burschen. Außerdem hatten sie Grund, sich aus dem Staub zu machen.«

»Täuschen Sie sich nie in der Beurteilung?« fragte sie.

»O doch, manchmal sogar sehr. Aber das ist dann keine Beurteilung, sondern ein völliges im Dunkeln tappen. Aber manchmal lernt man so auch sehr liebenswerte Menschen kennen. Und das gleicht viele Enttäuschungen aus.«

»Ja«, sagte Leslie. »Ich bin erstaunt, daß es so nette Polizeibeamte gibt.«

Er lächelte flüchtig, und dann ging er rasch. Sie blickte auf die Tür. Sein Lächeln blieb zurück, und Leslie hatte das wundersame Gefühl, mehr als nur einen Freund gewonnen zu haben.

Sie dachte auch an Jack. Viel hatte sie in ihn hineingedacht, hatte sie je die Resonanz bekommen, die sie ersehnt hatte? Es hatte ihr wehgetan, als Raimund anfangs gesagt hatte, daß Jack ein Abenteuer gewesen sei. Gewiß hatte er ihr damit über ihren Schmerz hinweghelfen wollen, wenn auch etwas rauh. Aber damals hatten sie sich ja kaum gekannt, und er hatte wohl gedacht, daß Jacks Mädchen vom gleichen Schrot und Korn sein müsse. Auch das hatte er ihr später eingestanden.

Sicher wäre es zwischen ihr und Jack nie so geworden wie zwischen Raimund und Gisi. Dafür waren die Voraussetzungen gar nicht gegeben. Aber sicher war es bei Helmut Röck und seiner Frau auch so harmonisch gewesen, obgleich er so einen harten Beruf hatte.

Sie fuhr sich über die Augen. Dachte sie denn nicht viel zu viel über den netten Kommissar nach? Geriet sie da mit ihren Gedanken nicht schon wieder auf Abwege.

»Du bist viel zu romantisch, Leslie«, hatte Jack gesagt. »Du wirst ein dickes Fell brauchen, wenn du meine Frau bist.«

Nun, sie war seine Frau nie geworden. Sie hatte ihn geliebt und auf ihn gewartet, aber er war nicht mehr gekommen. Und nun wartete sie auf sein Kind. An etwas anderes sollte und durfte sie jetzt doch gar nicht denken.

Es gab keine romantische Hochzeit, keine Flitterwochen im Süden, die er ihr versprochen hatte. Sie mußte an ihr Kind denken. An sein Kind!

An sein Kind? War er nicht schon zu lange fern, als daß sie ihn einbeziehen konnte? Er hatte doch von dem Kind nichts gewußt. Hätte er sich überhaupt gefreut?

Ja, wenn sie wenigstens das wissen würde! Aber nicht einmal dies blieb ihr. Dennoch hatte sie nicht einen Augenblick den Gedanken gehegt, es wäre besser, wenn sie dieses Kind nicht zur Welt bringen würde. Jetzt kam ihr ein solcher Gedanke auch nicht, obgleich sie ahnte, daß es auf des Messers Schneide stand, denn Dr. Leitner hatte ihr bei der Visite gesagt, daß sie auf einen Kaiserschnitt vorbereitet sein müsse. Davon hatte sie weder Gisi noch Helmut Röck etwas gesagt. Jetzt sank sie in einen Halbschlummer, der von wirren Träumen erfüllt war. Sie sah Jack, doch dann hatte er plötzlich eine ganz andere Firgur, und als er sich zu ihr umdrehte, sah sie nicht sein Gesicht, sondern das von Helmut Röck.

*

Bevor Dr. Norden seine Praxis verließ, rief er bei Dr. Leitner an und erkundigte sich nach Leslie. Er hatte es sich notiert, sonst hätte er es in dem Trubel wohl vergessen. Verwunderlich wäre das nicht gewesen, denn am Nachmittag waren die Eltern von Alfred Gröber zu ihm gekommen und hatten sich erkundigt, was sie für Frau Nowatzki tun könnten, und gerade da hatte er schon seinen Freund Schorsch Leitner anrufen wollen.

Die Gröbers waren ganz gebrochen. Sie bangten nicht nur um ihren Sohn, sie machten sich auch Gedanken, was er da angerichtet hatte, auch darüber, daß er jetzt anstelle von Frau Nowatzki im Krankenhaus liegen könnte, wenn diese nicht eingegriffen hätte in die Rauferei. Nun konnten sich die beiden Raufhansel einig sein, warum nicht schon vorher, fragte Herr Gröber.

Sie erklärten sich bereit, Frank und Ursel zu sich zu nehmen, während ihre Mutter in der Klinik bleiben müsse, aber das hielt Dr. Norden nicht für so gut. Immerhin war Frank sehr böse auf die Jungen, und die Hilfsbereitschaft von Alfreds Eltern konnte das nicht ausgleichen.

Frank und Ursel waren bei ihnen, unter Lennis Obhut, gut aufgehoben. Man spürte sie kaum. Sie warteten ja nur darauf, bald ihre Mutti besuchen zu können. Frank überlegte schon, ob sie nicht die Arbeiten der Mutter im Haus machen könnten, damit sie nicht die Stellung verlöre.

Daß Frau Nowatzki wieder so arbeiten könnte, war ein Ding der Unmöglichkeit. Dr. Norden wußte das, wenn er es den Kindern auch nicht sagte. Wenn das Bein gerettet wurde, wie Prof. Leibrecht hoffte, würde es steif bleiben, und damit wäre sie dann noch sehr gut davongekommen.

Aber Dr. Norden konnte jetzt auch schon einigermaßen beruhigt an die Zukunft Frau Nowatzkis und ihrer Kinder denken, denn selbst Herr Brettschneider zeigte sich von seiner großzügigsten Seite und hatte ihm erklärt, daß sie die Wohnung auf jeden Fall behalten könnten und Frau Nowatzki auch gegen jeden Unfall versichert sei.

Da er selbst Generalvertreter einer Versicherung war, war er sehr darauf bedacht, seine Angestellten sehr gut abzusichern. Selbstlos war er dabei zwar nicht gerade, denn es wurde vom Gehalt abgezogen, aber vor Dr. Norden zeigte er sich doch sehr großzügig. Natürlich bedauerte er auch, eine so fleißige Kraft zu verlieren, aber er meinte, daß sie intelligent genug sei, um sie auch im Büro beschäftigen zu können. Ehrliche Leute wie sie finde man halt selten.

Ja, es hätte alles eigentlich recht gut für Frau Nowatzki ausgesehen, wenn sie nur schon über den Berg gewesen wäre, aber bei solchen Verletzungen mußte man leider immer mit Rückfällen rechnen.

Daniel Norden schob solche Gedanken aber weit von sich, weil sie ihm gar nicht ins Bild paßten. Sie wird gesund werden, dachte er. Leibrecht hat sein Bestes getan.

Dann schicken wir sie für ein paar Wochen auf die Insel der Hoffnung, und die Kinder werden wir schon über die Runden bringen. Jetzt, wo sie trotz des Unglücks endlich auch mal ein bißchen Glück haben könnten, muß der Herrgott gnädig sein.

*

Danny fand es herrlich, in Ursel eine so geduldige Spielkameradin zu haben, die alles mit sich machen ließ, die nicht kochen mußte, nicht zum Telefon rannte und immer wieder die Bausteine aufbaute, die er übermütig mit dem Wort »paputt« mit seinen kleinen Fäusten zusammenstürzen ließ.

»Du mußt auch mal aufbauen, Danny«, sagte Ursel. »Paß mal auf, so macht man das.«

Er sah sie ganz erstaunt an, aber dann versuchte er es, und es gelang ihm, wenn auch mit Ursels Hilfe, einen hohen Turm zu bauen.

»Ui fein«, rief er aus und klatschte in die Hände, aber von der Erschütterung stürzte der Turm wieder ein.

»Wieder paputt«, sagte er.

»Dann bauen wir wieder auf«, meinte Ursel.

Fee schaute ihnen schon eine Weile durch die Tür zu, ohne sich aber bemerkbar zu machen.

Ich kann auch noch was lernen, dachte sie. Aber es war halt für sie schon ein bißchen beschwerlich geworden, am Boden herumzukriechen.

»Wenn ihr dann ein Baby habt, kannst du ihm viel beibringen, Danny«, sagte Ursel.

»Baby«, lachte Danny, »Danny groß, sooo groß.« Er streckte sich, so hoch es ging. Dann ging er wieder eifrig ans Werk, und schon brauchte Ursel nicht mehr so viel nachzuhelfen.

Frank ging indessen Lenni zur Hand und schlug überall da Nägel ein, wo sie schon längst eingeschlagen gehört hätten, richtete die Flaschenregale im Keller auf, schraubte eine Dichtung in den Wasserhahn, der seit ein paar Tagen tropfte.

Nur so herumsitzen und warten wollten sie nicht. Sie waren gewohnt, ihrer Mutti zur Hand zu gehen, es machte sie einfach verlegen, daß sie plötzlich von anderen Menschen umsorgt wurden.

Gutgeratene Kinder waren sie. Frau Nowatzki konnte stolz sein, aber was nützte dieses Gefühl, wenn man sich noch so große Sorgen machen mußte.

»Einfach davonzulaufen vor der Verantwortung, so was von feige«, murmelte Frank, und Lenni wußte, wem diese Worte galten.

»Ihr schlechtes Gewissen wird sie umhertreiben«, sagte sie. »Ich kann dich verstehen, Frank. Ich war auch mal so verbittert, weil ein Mann das Leben meines Mannes und meiner Mutter auf sein Gewissen geladen hat. Ich habe gedacht, daß er ein Mörder sei und ihm gleiches Leid gewünscht. Er hat sich das Leben genommen, und da begriff ich, daß er mit seinen Schuldgefühlen auch nicht fertig wurde. Wir wollen hoffen, daß die Buben wieder heimkommen, damit du dich nicht später auch mal mit solchen Schuldgefühlen plagen mußt. Die kommen nämlich von selbst. Ich war drauf und dran, meinem Leben selber ein Ende zu machen.«

Lenni hatte noch nie darüber gesprochen. Frank wußte nicht, daß sie eigentlich ganz anders hieß und ihren Namen dem kleinen Danny verdankte, der es damals nicht begriffen hatte, daß das gute alte Lenchen, das immer um ihn herum war, gestorben war.

Frank sah Lenni mit großen ernsten Augen an. »So sehen Sie gar nicht aus«, sagte er treuherzig.

»Ich habe es Dr. Norden zu verdanken, daß es nicht so weit kam«, sagte sie leise, »und ich sage es dir nur ganz im Vertrauen. Nur dir, Frank. Denk daran, daß zwei Elternpaare jetzt auch um ihre Söhne bangen.«

»Wenn sie heimkommen, dürfen sie sich aber schön zusammennehmen«, sagte er. »Sie machen ihren Eltern viel Scherereien.«

»Und dennoch lieben sie ihre Kinder. Sie werden sich jetzt auch Gedanken machen, sonst wären sie doch nicht davongelaufen.«

»Da haben Sie eigentlich recht, Lenni«, sagte Frank. »Und vielleicht weiß ich sogar, wo sie sich verstecken. Ich muß da mal hin.«

»Wohin?«

»Zum alten Schießstand. Ich habe sie da mal gesehen. Sie haben so einen Bau dort. Sie haben mich angekeift, als ich zufällig daherkam. Hauen tun die schnell.«

»Du gehst da nicht allein hin«, sagte Lenni energisch. »Das kommt gar nicht in Frage.«

»Aber das findet keiner so schnell«, sagte Frank. »Ich weiß nicht mal, ob ich es auch gleich finde.«

»Dann versuchst du es, dem Kommissar den Weg zu zeigen.«

»Und sie sagen dann, daß ich sie verpfiffen habe. Sie haben schon manchen zusammengehauen.«

»Ein Grund mehr, daß du nicht allein hingehst. Das ist unmöglich«, sagte Lenni. »Da sprechen wir erst mal mit Frau Dr. Norden.«

*

Für alles wußte Fee wahrhaftig keinen Rat, aber in diesem Fall hielt sie es für das Nächstliegende, sich mit den Eltern der Buben in Verbindung zu setzen.

Sie waren beide nicht anzutreffen, da sie sich auf eigene Faust auf die Suche nach ihren Söhnen begeben hatten und alle jungen Leute aus dem Bekanntenkreis abklapperten. Sie trauten den Lausbuben nämlich allerlei zu, wenn sie das auch ungern eingestanden. Und Fee konnte davon nichts wissen.

Also Kommissar Röck, denn die Nacht kam schnell und Frank war nicht so sicher, wo sich dieser alte Schießstand befand. Vielleicht wußte die Polizei darüber mehr.

Kommissar Röck war auch nicht zu erreichen und mit einem anderen wollte Fee nicht sprechen, weil Frank nicht unwillkürlichen Fragen ausgesetzt werden sollte. So sagte sie, daß der Kommissar sie anrufen möge.

Das geschah dann eine gute halbe Stunde später, und schon eine weitere Viertelstunde später kam er dann höchstpersönlich.

»Frank kann mir alles unterwegs erzählen«, sagte er. »In einer Stunde ist es stockdunkel und wenn wir mit Scheinwerfern anfangen, locken wir nur wieder Schaulustige herbei.«

Er hatte eine Karte, in der alle Überbleibsel des letzten Krieges eingezeichnet waren, die in dem großen Waldstück verstreut lagen.

Ursel hatte ganz bange Augen, aber Fee tröstete sie damit, daß ja Kommissar Röck und seine Leute Frank beschützen würden.

»Robert und Alfred können nämlich wirklich richtig böse sein, Frau Doktor«, sagte sie. »Nicht bloß so frech wie andere Buben. Aber das macht, weil sie immer mit diesen Lederjacken beisammen sind. Von denen lernen sie alles.«

Fee dachte nach. Zwei Jungen aus gutbürgerlichen Familien, die alles hatten, wie Denise, wenn nicht im gleichen Stil, aber doch über dem Durchschnitt.

»Wenn sie nun alle beisammen hocken«, fuhr Ursel fort, »sind das gut ein Dutzend, und da sind auch welche dabei, die schießen.«

Fee wurde es Angst. Aber sie baute auf Kommissar Röcks Erfahrung. Sie zwang sich Optimismus auf.

»Mach dir nur keine Sorgen, Ursel. Frank wird nicht in Gefahr gebracht. Herr Röck hat auch eine Tochter.«

»Ja, so einen Vater müßte man haben, dann wäre alles in Ordnung«, sagte Ursel. »Dann hätte Mutti sich nie so plagen müssen.« Ganz melancholisch blickte sie drein.

Warum bekommen nur die nettesten und fleißigsten Frauen oft solche leichtfertigen Männer, fragte sich auch Fee. Um so höher war es aber auch zu bewerten, daß Frau Nowatzki ihre Kinder so gut erzogen hatte.

Nun saßen sie wieder mal da und warteten, während in der Frauenklinik sich ein Drama anzubahnen schien, von dem Leslie bisher aber nichts ahnte, was aber den Ärzten den Angstschweiß durch die Poren trieb.

Das ungeborene Kind hatte sich unvorhersehbar schnell gedreht und die Wehen waren trotz aller Gegenmaßnahmen auch so rasch gekommen, daß nur äußerste Geschwindigkeit das Leben des Kindes noch retten konnte, denn es lag in einer äußerst ungünstigen Position.

»Das hat uns noch gefehlt«, sagte Dr. Leitner heiser, denn er hatte schon so um das Leben der jungen Mutter gefürchtet, das nun aber noch in doppelte Gefahr geraten war.

Zum Glück sprach Leslie schnell auf die Vornarkose an. Im Operationssaal war alles vorbereitet.

»Mein Gott, ist die schön«, sagte eine junge Schwester, als Leslie hereingefahren wurde. Es mochte sein, daß sie noch nie so schön gewesen war wie jetzt, in der Stunde, in der ihr Schicksal nur in die Hände von einem Arzt gelegt wurde, dem selbst nicht das glücklichste Leben beschieden war.

Nichts hatte Dr. Georg Leitner so ersehnt wie ein glückliches Familienleben, wie es seinen Studienfreunden Daniel Norden und Dieter Behnisch beschieden war. Manchmal hatte er geglaubt, einem solchen schon ganz nahe zu sein, aber immer hatte ihm das Schicksal dann einen Streich gespielt.

So vielen Kindern hatte er schon zu einem glücklichen Erdendasein verholfen, in viele strahlende Mutteraugen geblickt, sein Wunsch, eine liebevolle Frau, ein Kind oder auch ein ganzes Dutzend zu haben, war bishe unerfüllt geblieben. Dabei war er der Älteste der drei Freunde. Aber jedesmal, wenn es kritisch wurde, kämpfte er, als ginge es um seine Frau, um sein Kind, und diesmal sollte ihm alles abverlangt werden.

*

»Ich möchte doch noch mal in der Klinik anrufen«, sagte Gisi zu ihrem Mann, nachdem Denise endlich eingeschlafen war. Es war so, als würde sie gar keinen Schlaf mehr brauchen. Sie wollte nur noch mit ihren Eltern reden, und allein Gisis Erklärung, daß der Papi auch dringendst der Ruhe bedürfe, hatte das Kind dann doch selbst zum Einschlafen bewegt.

»Es ist schon so spät, Liebling«, sagte Raimund. »In den Kliniken haben sie es nicht so gern, wenn man dann noch stört. Du hast doch gesagt, daß Leslie gut in Form war.«

»Sie läßt sich ja nichts anmerken, und sie hat sich gefreut, als Herr Röck kam. Ich finde es ja wahnsinnig nett, daß er sich so um sie kümmert.«

»Erstaunlich für einen Polizisten«, brummte Raimund.

»Sag das nicht so abwertend. Er ist ein sehr gut aussehender, gebildeter Mann«, sagte Gisi.

»Und du läßt deine Phantasie in die Ferne schweifen«, lächelte ihr Mann. »Er fühlt sich schuldbewußt.«

»Was habe ich denn gesagt?« fragte Gisi.

»Daß er gut aussieht und sich sehr nett um Leslie kümmert. Aber kannst du sie dir an der Seite eines Polizeibeamten vorstellen?«

»So habe ich es nun auch wieder nicht gemeint, aber abgesehen davon, wäre das nicht besser, als an der Seite eines Zigeuners?«

»Jack war kein Zigeuner«, sagte er brummig.

»Nun ja, es mag übertrieben sein. Sagen wir Nomade, aber dagegen kannst du nichts sagen. Sie hätte doch nie ein richtiges Zuhause gehabt.«

»Sie schon. Dafür hätte er gesorgt«, sagte Raimund. »Ich will einräumen, daß sie viel allein gewesen wäre. Du hast es gut, mein Schatz. Du hast deinen Mann wenigstens nachts.«

»Ich bin es ja zufrieden. Ich kann mich nicht beklagen und würde mich nie beklagen, Raimund, aber Jack war das Extrem zu dir.«

»Als wir jung waren, ist mir das gut bekommen. Ich war phlegmatisch, er hat mich immer wieder aufgemöbelt. Er war ein intelligenter Bursche.«

»Er hätte es auf einem ruhigeren Posten auch weit bringen können«, sagte Gisi.

»Ihn lockte die weite Welt mit all ihren Geheimnissen. Du warst mir genug Geheimnis«, scherzte er.

»Ich bin ein offenes Buch«, protestierte sie.

»Sag das nicht. Ich entdecke jetzt völlig neue Seiten an dir.«

»Daran ist nur Denni schuld. Sie hat unseren Geist beflügelt.«

»Sie ist zauberhaft. Ich habe die hübscheste und klügste Tochter der Welt«, sagte er zufrieden.

»Jeder sieht sein Kind so, wie es ihm paßt. Ich habe die empfindsamste Tochter der Welt. Du bist ein eitler Vater.«

»Wollen wir streiten?« fragte er blinzelnd.

»Das können wir ja gar nicht. Morgen kommen unsere Eltern, deine und meine, und die würden uns was husten, wenn bei uns Unfrieden wäre.«

»Wieso kommen sie?« fragte er verblüfft.

»Weil sie erfahren haben, daß ihr Goldsohn und ihr Goldschwiegersohn einen Unfall hatte. Woher weiß ich nicht. Da mußt du sie fragen.«

»Ei der Daus, da muß ich ja schnell gesund werden, sonst werde ich von Mutter und Schwiegermutter krank gepflegt.«

»Es könnte sein, mein Schatz«, sagte Gisi, und dann hatte sie vergessen, daß sie in der Klinik anrufen wollte.

*

Während dort nervige Arzthände am Werk waren, hatte Kommissar Röck mit seiner Begleitung und dem Jungen Frank das Waldstück erreicht. Es war schon sehr dämmrig.

»Ich kenn mich gar nicht mehr aus«, sagte Frank. »Es sieht alles so gleich aus. Ich weiß nur, daß in der Nähe so ein Platz war, wo die Leute Schutt abgeladen haben. Daran erinnere ich mich jetzt, weil ich mich so darüber geärgert habe.«

»Du bist ein gescheiter Junge«, sagte Helmut Röck. »Ich ärgere mich über solche Plätze auch immer. Du bleibst jetzt hier, Frank.«

»Ich möchte aber mitkommen«, sagte der Junge.

»Wenn Robert und Alfred wirklich in der Höhle sind, ist es möglich, daß sie nicht allein sind«, sagte der Kommissar.

»Sie meinen die Rocker? Nein, denen hätten sie davon bestimmt nichts verraten. Vor denen haben sie sich dort doch versteckt, wenn was im Gange war«, sagte Frank.

»Was weißt du?«

»Nur, was die anderen so sagen. Das macht die Runde. Ich hatte keine Zeit, mich darum zu kümmern. Ich mußte lernen. Schließlich wollte ich schnell mit der Schule fertig werden, und außerdem war ich für die sowieso nur ein Muttersöhnchen.«

»Welch ein Glück für dich«, sagte der Kommissar leise. »Die Rocker haben also ein anderes Versteck?«

»So ’ne Kellerkneipe, die geschlossen worden ist, weil das Haus abgebrochen werden soll. So redet man«, sagte Frank, »aber sagen darf man’s halt nicht, sonst ist man dran. Und ich habe es jetzt gesagt.«

»Aber du bist nicht dran. Und du hältst dich auch hier raus. Besser ist besser. Wenn wir die Burschen hier finden, ziehst du dich gleich zurück. Da, der dunkle Wagen, in dem bleibst du, und du versprichst mir, daß du nicht den starken Mann spielst.«

»Ich verspreche es, Herr Kommissar. Wegen Mutti, sie darf sich nicht aufregen.«

»Sehr vernünftig, mein Junge.«

Frank setzte sich in den dunklen Wagen. Es war noch ein Mann darin, aber der sprach nur in ein Funkgerät. Für Frank war das alles plötzlich irrsinnig interessant.

»Ich werde auch mal Polizist«, sagte er.

Der junge Mann drehte sich um. »Überlege es dir gut, Junge, das ist kein Zuckerlecken«, sagte er.

»Das merke ich schon«, sagte Frank.

»Und Reichtümer kann man dabei auch nicht sammeln«, sagte der andere.

»Mutti sagt immer, daß es wichtig ist, wenn man anständig über die Runden kommt und keine Schulden macht. Reich kann nicht jeder sein.«

»Was hast du für eine gescheite Mutter.«

»Ja, das weiß ich, und ich habe schreckliche Sehnsucht nach ihr«, sagte Frank.

Es war nur gut, daß der junge Polizist zufällig über die Hintergründe unterrichtet war und keine Fragen stellte.

»Bist ein prima Kerl, Frank«, sagte er nur. »Du würdest es bei der Polizei bestimmt auch weit bringen.«

Frank richtete sich auf. »Da bringen sie Robert und Alfred«, stieß er hervor.

»Dann sei mal schön brav, damit sie dich nicht sehen«, sagte er. »Duck dich, wir müssen doch erst wissen, ob sie allein sind.«

Sie waren allein, zwei hungrige, frierende und heulende Burschen, von ihrem Gewissen geplagt. Sie konnten eine Stunde später ihren ebenfalls in Angst aufgelösten Eltern übergeben werden. Aber fast gleichzeitig konnten die anderen Burschen, die weit mehr auf dem Kerbholz hatten, dingfest gemacht werden. In einem abbruchreifen Haus, in einer verlassenen Kneipe, und sie erfuhren nie, daß Frank dem Kommissar diesen Tip gegeben hatte. Frank wußte es selber nicht mehr, weil er so aufgeregt war und nun schon ganz darauf eingestellt, daß er auch einmal Polizist werden wollte.

Ursel war glücklich, als sie ihren Bruder umarmen konnte. Daniel Norden war glücklich, daß er ihnen sagen konnte, daß sie ihre Mutter am nächsten Tag besuchen durften. Fee war überglücklich, daß wenigstens für sie dieser Tag einen beruhigenden Abschluß fand.

Für Kommissar Röck wäre er auch zu Ende gewesen. Er hätte seiner wohlverdienten Ruhe frönen können, wenn da nicht noch ein Anruf aus der Frauenklinik gekommen wäre, der ihn alle Müdigkeit vergessen ließ.

»Warum fährst du noch mal weg, Papi?« fragte seine Tochter Annette traurig, denn sie hatte doch so lange auf ihn gewartet.

»Es ist ganz dringend, Annettchen«, erwiderte er. »Morgen habe ich einen freien Tag. Da gehen wir lange spazieren und in einem ganz feinen Lokal zum Essen, und dann werde ich dir etwas erzählen, was dich freuen wird.«

»Schließ aber gut ab, Papi«, sagte Annette.

»Darauf kannst du dich verlassen, mein Liebling.« Er küßte sie auf ihr seidiges Blondhaar, und dann fuhr er zur Klinik.

Dort hatte eine Frau nach ihm verlangt, die er sehr mochte, eine Frau, die vor ein paar Stunden ein Kind zur Welt gebracht hatte, das aber in Lebensgefahr schwebte. Einen kleinen Jungen, der nun im Inkubator lag, und um dessen kleines Leben man kämpfte.

Aber Helmut Röck dachte nur an Leslie, daran, daß sie in der Narkose seinen Namen genannt hatte und daß sie unbedingt leben mußte! Er wollte ihr helfen, wenn das Kind nicht überlebte und ihr in ihrem Kummer beistehen. Er dachte nicht daran, daß er zwischen gestern und heute gerade drei Stunden geschlafen hatte.

*

Leslie war schnell aus der Narkose erwacht, die man so kurz wie nur möglich hatte halten dürfen, um ihr Leben nicht zu gefährden.

»Helmut Röck«, hatte sie geflüstert, und für Dr. Leitner war das wie ein Signal gewesen.

Einmal hatte es in seinem Leben eine Frau gegeben, die in ihrer Sterbestunde nach ihm gerufen hatte. Eine Frau, die er sehr geliebt hatte. Er war zu spät gekommen.

Er wußte auch jetzt nicht, ob Leslie überleben würde. Sie war genauso gefährdet wie ihr Kind. Er hatte alles getan, was er konnte. Er war ausgepumpt, völlig fertig, aber zu diesem Anruf hatte seine Kraft noch gereicht, weil er nun alle Hoffnung in diesen ihm fremden Mann setzte.

Ihn selbst zu empfangen, war er nicht mehr fähig. Schwester Irmingard tat es, die, in ihrem Beruf in Ehren ergraut, ihm jetzt treu zur Seite stand.

»Kommen Sie, Helmut Röck«, sagte sie, »aber ich muß Ihnen sagen, daß Frau Holden in sehr schlechter Verfassung ist.«

Sein müdes Gesicht fiel noch mehr ein. »In sehr schlechter Verfassung?« fragte er stockend, »und das Baby?«

»Es liegt im Brutkasten. Es waren schlimme Stunden.«

Schlimme Stunden waren es auch für ihn gewesen, aber daran dachte er nicht mehr, als er sich an Leslies Bett setzte.

Bleich, verklärt, so schön, wie die junge Schwester gesagt hatte, als man sie in den OP fuhr, aber mit weit offenen Augen, lag sie in ihrem Bett.

Helmut Röck nahm ihre Hand, die federleicht war, und hob sie an seine Lippen.

»Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Sohn, «, sagte er leise und mit aller Selbstbeherrschung.

»Mein Sohn«, wiederholte sie. »Ich möchte ihn Helmut nennen, darf ich?«

»Das ist eine große Ehre für mich«, sagte er heiser.

»Vielleicht werde ich morgen nicht mehr leben, Helmut«, flüsterte sie, »dann wäre es nur eine Verpflichtung. Darf ich sie Ihnen aufladen? Würden Sie sein Pate sein und über ihn wachen? Meine Freunde werden für ihn sorgen, das weiß ich, aber ein Kind braucht ein Vorbild.«

Er neigte sich tief über ihre Hand. »Sie werden leben, Leslie. Du wirst ganz bestimmt leben«, flüsterte er. »Du wirst dich an deinem Kind freuen.«

»Ich weiß ja nicht einmal, ob es lebt«, sagte sie.

»Ja, es lebt. Es liegt im Brutkasten. Annette hat auch im Brutkasten gelegen, und du wirst sehen, daß sie ein hübsches und gesundes Mädchen geworden ist. Du wirst Annette bestimmt mögen und sie dich auch«, fuhr er stockend fort. »Du mußt an das Leben denken, Leslie, an dein Leben, das mir schon so viel bedeutet. Auch an mich, weil ich nicht noch einmal einen Menschen verlieren will, den ich liebe, ich liebe dich nämlich.« Und dann legten sich seine Lippen auf ihre kühle Wange, glitten zu ihrer Stirn und spürten, daß das Blut durch ihre Adern pulsierte. Ihre Hand legte sich an seine Wange. »Du bist so lieb, Helmut«, flüsterte sie. »Wir haben uns viel zu sagen.«

Aber dazu fehlte ihr dann doch die Kraft. Er hatte sekundenlang Angst und lauschte auf ihren Atem wie ein Ertrinkender, aber dann wurde er ruhiger und drückte auf die Glocke.

Schwester Irmingard kam. »Es geht ja schon wieder«, sagte sie, als sie nach Leslies Puls gegriffen hatte.

»Und was mit mit dem Kind?« fragte er.

»Es macht sich auch«, erwiderte sie.

»Kann ich es sehen?« fragte Helmut Röck.

»Aber nur durch die Scheibe.«

»Ich kenne das. Ich habe das alles schon einmal mitgemacht«, sagte er.

Und dann stand er vor der Scheibe. Da strampelte das kleine Lebewesen mit ungezielten Bewegungen. Aber es strampelte und verriet, daß es leben wollte.

»Du wirst dich anstrengen, Helmut«, sagte er vor sich hin. »Du wirst deiner Mutter keinen Kummer machen, und eines Tages will ich dich an die Hand nehmen und deine ersten Schritte miterleben.«

Und dann merkte er, daß sich die Scheibe beschlug, weil seine Augen feucht wurden.

»Der kämpft sich schon durch«, sagte Schwester Irmingard gütig.

»Das will ich auch hoffen«, sagte Helmut Röck. »Es

ist mein Patenkind, meine Tochter hat sich immer einen Bruder gewünscht. Na, das werden wir doch wohl erleben.«

»Guter Gott, war der Mann müde«, sagte Schwester Irmingard später zu Dr. Leitner, als der sich halbwegs gefangen hatte. »Kaum auf den Beinen konnte er noch stehen, aber ein Mann ist das, da kann man der Frau nur gratulieren, die den bekommt.«

*

Leslie träumte. Es waren wunderschöne Träume. Sie spürte keine Schmerzen, sie schwebte wie auf weichen Wolken, in die sie sich hineinkuscheln konnte. Aber seltsamerweise hatte Jack in diesen Träumen keinen Platz mehr. Er war von einem anderen Mann verdrängt worden. Einem Mann mit einem Lächeln, das warm und aufmunternd war, dessen kluge Augen nicht immer in die Ferne schweiften, sondern verrieten, daß er ganz gegenwärtig war, Augen, die durchdringend blicken konnten, aber auch gütig. Es war wunderschön so zu träumen, und sie ließ sich auch nicht von den Stimmen aufschrecken, die dann, irgendwann mal, im Raum waren.

»Erstaunlich«, sagte Dr. Leitner, »Puls fast normal. Der Kreislauf funktioniert.«

Das war viel mehr, als er erwartet hatte, und dafür hatte er nur eine Erklärung: Es gab etwas, das Leslies Lebenswillen mobilisiert hatte.

Helmut Röck träumte nicht. Sein Schlaf war schon halbe Bewußtlosigkeit, so erschöpft war er gewesen. Der Körper forderte sein Recht, auch wenn es ein gesunder, kräftiger Körper war, der allerhand aushalten konnte.

Aber als dann die Sonne den Raum durchflutete, war er wieder ganz da. Er schlug die Augen auf und blickte in das Gesicht seiner Tochter.

»Liebe Güte, müßtest du nicht in der Schule sein?« fragte er. »Es ist ja schon hellichter Tag.«

»Samstag, Papi, und schulfrei«, erwiderte Annette lakonisch.

»Hatte ich ganz vergessen.«

»Hast geschlafen wie ein Brummbär«, sagte sie kichernd.

»Geschnarcht?« fragte er erschrocken.

»I wo, du schnarchst doch nicht, und wenn schon«, meinte sie, »ich mag dich auch, wenn du schnarchst.«

»Wo ist Omi?« fragte er.

»Einkaufen. Ich habe gesagt, daß ich lieber auf dich aufpasse.«

»Das ist aber lieb, daß du auf mich aufpaßt«, murmelte er.

»Sonst paßt du immer auf andere auf«, meinte sie wichtig. »Soll ich dir das Frühstück ans Bett bringen?«

»Das wäre ja noch schöner, wenn ich mich von meiner Tochter bedienen lasse. Jetzt geht ’s unter die Dusche, und dann bin ich wieder fit. Wollten wir nicht einen Ausflug machen?«

»Hast du gesagt«, nickte sie.

»Machen wir auch.«

»Omi will wieso mal ihre Freundin besuchen«, sagte Annette.

»Sowieso«, berichtigte er, weil sie das immer falsch sagte, aber Annette hatte dafür eine plausible Erklärung.

»Warum denn zweimal so, wenn man’s auch so versteht!«

Sie war ein ganz energisches kleines Persönchen, und unwillkürlich sah er sie wieder als Baby im Brutkasten liegen, wie Leslies kleinen Sohn. Er schloß einen Augenblick die Augen, Helmut wollte sie ihn nennen.

»Was guckst du so komisch, Papi?« fragte Annette.

»Was sagst du dazu, daß ich ein Patenkind bekommen habe?«

Sie riß die Augen weit auf. »Wo ist es denn? Wo hast du es gelassen?« fragte sie aufgeregt.

»Es ist noch in der Klinik, gestern erst auf die Welt gekommen.«

War es nicht verfrüht, darüber zu sprechen? Wie konnte er nur so sicher sein, daß dieser kleine Bursche am Leben blieb?

»Wie heißt es denn, das Patenkind?« fragte Annette.

»Wie ich.« Seine Stimme hatte einen ganz dunklen warmen Klang.

»Das freut mich«, sagte Annette. »Wann bekommen wir das Baby nach Hause?« Sie war sichtlich begeistert von dieser Idee.

»So ist das aber nun auch wieder nicht bei einem Patenkind, es bleibt doch bei seiner Mutter«, sagte er. »Aber wir reden nachher darüber. Ich will mich erst anziehen.«

Annette hörte ihre Omi kommen und entschwand, denn diese Neuigkeit wollte sie ihr doch sofort erzählen.

So fühlte Helmut Röck denn den forschenden Blick seiner Mutter auf sich ruhen, als er ihr einen guten Morgen wünschte.

»Ich habe Omi schon von unserem Patenkind Helmut erzählt«, sprudelte es von Annettes Lippen. »Sie glaubt ’s wohl gar nicht.«

»Von netten Dingen lasse ich mich gern überraschen«, sagte Frau Röck.

»Die beiden Ausreißer sind ja auch gefunden, wie ich in der Zeitung las. Das war wohl wieder mal ein ereignisreicher Tag.« Ein unergründliches Lächeln begleitete ihre Worte.

Helmut nickte nur.

»Und heute ist schönes Wetter. Ihr wollt ja einen Ausflug machen. Ich fahre zu Betty.«

»Ich kann dich doch hinbringen, Mutter«, sagte Helmut.

»Ach was, ich fahre gern mit der S-Bahn«, sagte sie.

»Aber paß auf«, mahnte er.

»Ich gehe jungen Raufbolden aus dem Weg. Übrigens steht auch in der Zeitung, daß sich Frau Nowatzki auf dem Wege der Besserung befindet.«

»Das freut mich«, sagte er, aber seine Gedanken waren bei Leslie. Hoffentlich befand sie sich auch auf dem Wege der Besserung.

Auf jeden Fall konnten sie bei der Klinik vorbeifahren.

Erklären mußte er seiner Tochter sowieso einiges.

Annette zog sich schon an. Sie konnte es kaum noch erwarten, daß es losging.

Helmut Röck war ein paar Minuten mit seiner Mutter allein. Er zerbröckelte ein Stück Brötchen.

»Was würdest du eigentlich sagen, wenn ich wieder heiraten würde, Mutter?« fragte er beklommen.

»Daß es Zeit wird. Ich muß mal wieder zur Kur, und Fremden kann man Annette nicht überlassen. Ich würde dann zu Betty ziehen. Ihr ist die Wohnung zu groß. Wenn es die Richtige ist, Helmut, würde es mich nur freuen.«

»Ich müßte sie ja erst mal fragen«, sagte er leise.

»Hoffentlich ist nicht mein Einverständnis ausschlaggebend«, sagte seine Mutter. »Vernunftsgründe liegen ja wohl nicht vor.« Sie lachte verschmitzt. Er sprang auf und legte den Arm um sie. »Beste aller Mütter, dein Sohn ist mal schrecklich unvernünftig.«

»Dafür gibt es auch einen anderen Ausdruck. Du bist verliebt«, sagte sie. »Dann toi, toi, toi.«

»Du würdest sie gern haben, sie und ihr Kind«, sagte er stockend.

»So ist das also«, meinte sie. »Nun, da ist Annettes Einstellung weit wichtiger als meine.«

»Mit ihr komme ich schon klar. Sie ist meine Tochter.«

»Ja, sie ist deine Tochter«, sagte Frau Röck.

»Freilich bin ich Papis Tochter«, meldete sich Annette jetzt. »Aber nun haben wir auch ein Patenkind, und das möchte ich sehen.«

Er mußte ihr auf der Fahrt zur Klinik erklären, warum sie es noch nicht sehen konnte, und da war sie schon sehr enttäuscht. Er hatte ihr auch schon ein paar Andeutungen über Leslie gemacht, aber seine Wünsche und Gedanken mußte er doch noch für sich behalten, bis er mit Leslie gesprochen hatte.

Immerhin war Annette bereit, in der Halle zu warten, und dort fand sie auch Gesellschaft, denn Denise saß dort auch und langweilte sich.

»Blöd, daß wir nicht ’reindürfen, gell?« fragte sie Annette, die etwas schüchterner war. »Meine Mami besucht ihre Freundin, aber ich darf nicht mit hinein.«

»Ich darf unser Patenkind auch nicht sehen«, sagte Annette. »Ich habe noch nie ein ganz kleines Baby gesehen.«

»Hast du keine Geschwister?« fragte Denise.

»Nein, ich habe leider auch keine Mami mehr, aber eine liebe Omi.«

»Ich habe auch keine Geschwister, aber wenn Leslie mit ihrem Baby zu uns kommt, dann ist das wie ein Geschwisterchen für mich.«

»Leslie?« fragte Annette aufgeregt.

»Das ist Mamis und Papis Freundin«, erklärte Denise.

»Die Mutter von unserem Patenkind heißt auch Leslie«, sagte Annette, »und unser Patenkind heißt Helmut, und wenn das die gleiche Leslie ist, dann kommt sie mit dem kleinen Helmut zu uns.« Das klang sehr bestimmt. Denise war sprachlos. Aber da kam glücklicherweise ihre Mami, die ihr hoffentlich Antwort auf ihre Fragen geben würde, denn Denise war entschlossen, alles, aber auch alles zu fragen, was ihr unklar war.

Gisela reichte Annette lächelnd die Hand. »Du bist also Annette Röck«, sagte sie. »Macht es dir etwas aus, noch ein bißchen zu warten? Dein Papi macht Leslie gerade einen Besuch.«

»Unserer Leslie?« fragte Denise. »Der Kommissar ist das, das ist dein Vater?« stotterte sie.

»Hmmm«, machte Annette, »aber es ist ebensogut unsere Leslie, meine ich.«

»Ja, das glaube ich allerdings auch, aber sicher werden wir uns auch anfreunden«, meinte Gisela.

Und zur gleichen Zeit legte Leslie den Arm um Helmuts Hals und sagte leise:

»Du bist sehr lieb, aber wir wollen doch abwarten, ob Annette mich auch mag.«

Sie konnte ja nicht ahnen, wie energisch Annette schon jetzt ihre Rechte auf Leslie und den kleinen Helmut verteidigte. Da kannte sie nichts, so nett auch Gisela mit ihr sprach und ihr Denise gefiel.

»Du kannst dir ja ein Brüderchen wünschen«, sagte sie zu Denise, »du hast ja eine Mami.«

*

Im Hause Norden hatte Frank beim Frühstück eine genaue Schilderung vom Verlauf des gestrigen Abends gegeben, denn dazu war er nicht mehr fähig gewesen, als man ihn heimgebracht hatte.

»Gebibbert haben sie, und Hunger hatten sie und eine Heidenangst, daß sie daheim Prügel kriegen. So schnell werden die beiden wohl keinen Blödsinn mehr machen«, meinte er.

»Hoffentlich sind sie ein für allemal kuriert«, sagte Daniel. »So, nun werden wir mal zu eurer Mutti fahren. Jetzt ist gerade die richtige Zeit.«

Er brachte sie hin, wollte dann Raimund Attenberg einen Besuch machen und sie später wieder abholen.

Er ermahnte die Kinder aber doch, nicht zu lebhaft zu sein, doch das war überflüssig, denn die Mutti, von Verbänden umhüllt in einem Krankenbett, war ein so ungewohnter Anblick, daß sie kaum ein Wort über die Lippen brachten. Ein bißchen dachten sie natürlich auch daran, daß es noch viel schlimmer hätte kommen können, aber Frau Nowatzki vertrieb solche Gedanken schnell. Zäh und voller Lebensmut war sie, als sie ihre Kinder vor sich sitzen sah und sie ihr erzählten, wie lieb die Nordens wären und wie nett sich plötzlich alle Menschen um sie kümmerten.

Zu erzählen gab es ja genug, aber immer wieder erkundigten sie sich besorgt, ob es ihr nicht zuviel sei und ob sie nicht lieber schlafen wollte.

Schlafen könne sie jetzt genug, meinte sie. Sie wollte genau wissen, was sich alles abgespielt hatte.

Dr. Norden erfuhr bei seinem Besuch bei Raimund Attenberg allerdings auch einige Neuigkeiten, die dem dramatischen Geschehen dieser ereignisreichen Woche eine ganz besondere Würze verliehen. Schließlich geschah es nicht alle Tage, daß sich ein Polizeibeamter in eine Frau verliebte, die er zuerst der Kindesentführung verdächtigt hatte.

»Natürlich hat er Leslie nicht ernsthaft verdächtigt«, erklärte Gisela. »So was ist ja unmöglich, wenn man sie sieht, aber er ist ja verpflichtet, jeder Spur nachzugehen.«

»Und so ist es eigentlich unserer Kleinen zu verdanken, wenn Leslie den Mann gefunden hat, bei dem sie wirklich gut aufgehoben ist«, sagte Raimund Attenberg. »Jedes Ding hat zwei Seiten.«

»Man kann sich freuen, weil alles gut ausgegangen ist«, sagte Gisela leise. »Nachdenken darf ich nicht darüber, was unserem Kind alles hätte geschehen können.«

»Hinterher brauchen wir uns den Kopf nun auch nicht mehr zu zerbrechen«, sagte ihr Mann. »Wir haben allesamt dazugelernt, und nun bringt uns Denni ganz schön ins Schwitzen mit ihren Fragen.«

Jetzt kam sie auch hereinspaziert, ein Häkelzeug in der Hand.

»Ich komme nicht weiter, Mami«, sagte sie. »Du mußt mir zeigen, wie man zunimmt.« Sie strahlte Dr. Norden an. »Ich häkle Schuhchen für Helmut«, verkündete sie. »Mir wäre ja lieber, wenn er Danny heißen würde, weil Denni und Danny lustig klingt, aber wenn sie sowieso nicht bei uns wohnen, soll er halt Helmut heißen. Aber wenn ich mal ein Brüderchen bekomme, nennen wir ihn Danny.«

»Sie setzt uns die Pistole auf die Brust«, sagte Raimund seufzend.

Aber es war wieder die reizende, fröhliche, unbeschwerte Denise, und alle Traurigkeit war aus ihren Augen verschwunden. Kinder vergaßen schnell, wenn ihre Welt wieder heil war.

Raimund Attenberg mußte sich dagegen noch mit seinen körperlichen Schmerzen herumplagen, obwohl sein Seelenleben auch wieder in Ordnung gekommen war. Er fragte nach Mollys Adresse und bekam sie auch, und Molly erlebte noch am gleichen Tag eine Überraschung, die sie überwältigte. Ein Bote brachte ihr eine wunderschöne goldene Armbanduhr, die mit Brillanten besetzt war.

»Das kann ich doch gar nicht annehmen für die paar Stunden«, stammelte sie, aber ihre Tochter Sabine meinte lachend, daß sie solche Aushilfen ruhig öfter annehmen könne.

Ein Raimund Attenberg konnte seine Dankbarkeit so zeigen. Frau Nowatzki konnte Dr. Norden nur mit einem Blick aus tränenfeuchten Augen danken, mit ein paar Worten, die aus tiefstem Herzen kamen.

»Daß Sie sich so um die Kinder kümmern, Herr Doktor«, flüsterte sie, aber er legte ihr schnell den Finger auf die blassen Lippen.

»Pssst, Kräfte sparen, Frau Nowatzki. Sie brauchen sie. Sie wollen doch schnell wieder auf den Beinen sein.«

»Werde ich das jemals?« fragte sie stockend.

»Nun, ein bißchen humpeln werden Sie schon, aber dafür bekommen Sie dann auch einen schönen ruhigen Posten im Büro.«

Er wußte, wie er mit ihr reden mußte. Sie hatte in allen Lebenslagen Mut bewiesen. Ihr brauchte man keine Wahrheit zu verheimlichen. Sie wuchs mit jeder Anforderung, die an sie gestellt wurde. Und sie erlebte so viel unerwartete Freude in diesen Tagen, daß sie voller Zuversicht war, auch den neuen Lebensabschnitt meistern zu können.

Dr. Norden hatte schon viel erlebt in seiner Praxis, manch einen, der meinte sterben zu müssen, weil ihn eine Wespe gestochen hatte, andere, die viele Jahre unendliche Schmerzen ertrugen.

Gewiß konnte eine kleine Ursache unvorhergesehene Folgen haben, aber ein großes Unglück konnte auch zu einem unverhofften Glück werden.

Das erlebten sie nun gleich zweimal.

Leslie konnte ihr Glück so wenig begreifen wie Frau Nowatzki. Es kam auf verschiedenen Wegen zu ihnen. Sie kannten sich nicht, waren sich nie begegnet. Das Einzige, was sie gemeinsam hatten, war, daß sie in Krankenhausbetten lagen und fürsorglich betreut wurden. Eine Hauptrolle spielte in Frau Nowatzkis Leben Dr. Daniel Norden, eine Nebenrolle Kommissar Röck. Bei Leslie war es umgekehrt.

*

Daniel Norden genoß mit seiner Frau einen sehr geruhsamen Nachmittag. Lenni war mit Danny und Ursel spazierengegangen. Frank wollte mal in der Wohnung nach dem Rechten sehen. Das hatte er der Mutti versprochen. Es mußte gelüftet und Staub gewischt werden. Das konnte er besser als Ursel. Es sollte jedenfalls alles so sein, wie es früher gewesen war, wenn die Mutti zurückkam.

»Was man so alles erlebt«, sagte Daniel, sinnend in den Garten blickend. »Da meint man manchmal, es könne gar keine Überraschungen mehr geben, weil man irgendwann doch alles schon mal mitgemacht hat.«

»Und immer wieder ist es doch ein bißchen anders«, sagte Fee.

»Ein bißchen sehr«, lächelte er. »Aber was wäre das Leben, wenn wir ewigem Gleichmaß ausgeliefert wären.«

»Das hast du schön gesagt«, meinte Fee träumerisch. »Ich glaube, es wird doch wieder ein Junge«, fuhr sie dann sprunghaft fort.

»Wie kommst du denn jetzt darauf?« fragte er, seine Lippen zärtlich auf ihre Wange drückend.

»Er ist so ungestüm«, lächelte sie. »Er boxt mich, daß mir manchmal die Luft wegbleibt.«

Erschrocken sah er sie an. »So schlimm? Warum sagst du nichts?«

»Ich beschwere mich schon bei ihm«, sagte sie mit leisem Lachen. »Aber es ist ja gut, wenn man spürt, wie es sich rührt.«

»Ist wirklich alles in Ordnung, Fee?« fragte Daniel, noch lange nicht beruhigt. »Du warst schon lange nicht bei Schorsch.«

»Das ist morgen fällig. Du weißt ja, daß er den Sonntag für mich aufhebt, weil er überzeugt ist, daß es ein Sonntagskind wird. Er hat es genau ausgerechnet. In sechs Wochen ist Termin, basta.«

»Bei Leslie Holden war der Termin auch früher«, meinte er.

»Hätte ich doch bloß nichts gesagt«, meinte Fee, »nun bist du schon wieder kribbelig.«

»Ich bin nicht kribbelig. Auf dich muß man achtgeben.«

»Hast du gehört, Sprößling«, sagte Fee. »Jetzt bist du brav, sonst regt dein Papi sich auf.«

Daniel zog sie in seine Arme. »Du bist wunderbar, Fee«, flüsterte er.

Sie lächelte zu ihm empor und küßte ihn. »Siehst du, jetzt ist er wieder brav. Wir können uns sehr gut verständigen. Er ist ein Kavalier. Es tut mir nur leid, weil du dir doch ein Mädchen gewünscht hast.«

»Ich nehme auch einen Felix«, sagte er.

»Katja will ihren ersten Sohn Benjamin nennen«, sagte Fee.

»Da der Vater David heißt, paßt das ja«, erwiderte

er.

»Dann wird er doch Benni genannt, und wir haben einen Danny, eine Lenni und einen Benni. Und eine Denni hatten wir auch schon mal für eine Nacht. Denise ist ein hübscher Name, aber eigentlich klingt er erwachsen.«

Daniel lachte auf. »Was du dir so ausdenkst. Jedes Kind wird mal erwachsen, aber seinen Namen behält es. Aus Danny wird später auch mal ein Daniel werden.«

»Geht nicht, weil ich euch ja unterscheiden muß.«

»Er wird nicht immer bei uns bleiben, Liebes.«

»Red doch nicht davon. Bis dahin vergeht noch viel Zeit. Wenn er bloß nie in schlechte Gesellschaft gerät.«

»Wir müssen halt dafür sorgen, daß er die schlechte Gesellschaft meidet. Wenn ein Kind Vertrauen zu seinen Eltern hat, ist es solchen Gefahren nicht ausgesetzt.«

»Ist bei Denise alles wieder in Ordnung?« fragte Fee.

»Als wäre nichts gewesen. Sie häkelt Schuhchen für Leslies Baby.«

»Was haben wir uns noch vor einer Woche ihretwegen den Kopf zerbrochen«, sagte Fee nachdenklich.

»Manche Rätsel lösen sich von selbst, wie man sieht.«

»Ja, wie bei einem Silbenrätsel. Man sucht nach einem Wort und findet es nicht, und dann bleiben am Ende nur ein paar Silben übrig, und man braucht sie nur richtig aneinanderzufügen. Du, ich glaube, wir haben mal wieder unseren philosophischen Tag.«

»Weil unser Sohn uns nicht in Atem hält. Ich meine den Großen«, fügte er mit einem weichen Lächeln hinzu, »der schon auf seinen eigenen Beinen gehen kann.«

Ja, wer hätte je gedacht, daß Daniel Norden einmal so reden und fühlen würde. Der einstmals so umschwärmte und als Frauenliebling bekannte Arzt lebte für seine Frau, seine Familie und seine Patienten. Auch die Stunden, die sie mit den alten Freunden verbrachten, waren selten Und nach einer so anstrengenden Woche waren ein paar Stunden völliger Entspannung besonders schön. Um Danny brauchten sie sich nicht zu sorgen, Lenni bewachte ihn. Auf sie konnten sie sich verlassen. Sie war noch jung genug, um das Temperamentsbündel im Zaum zu halten, und nicht zu jung, um alle etwa drohenden Gefahren leichtzunehmen.

*

Annette war für die Enttäuschung, »ihr« Patenkind nicht sehen zu dürfen, von ihrem Papi reich entschädigt worden.

Sie hatten einen wunderschönen Ausflug gemacht und über unendlich wichtige Dinge gesprochen.

Zuerst darüber, daß der kleine Helmut noch ein paar Tage im Brutkasten bleiben mußte. Erstmals erfuhr Annette, daß sie das auch mitgemacht hatte. Sie ließ sich genau beschreiben, wie das vor sich ging, und Helmut Röck versuchte dies, so gut er es konnte. Die Hauptsache war ja, daß sie es verstand und der kleine Helmut schon ganz fidel war. Er hatte den Schrecken, so schnell und dramatisch ins rauhe Erdendasein befördert zu werden, gut überstanden, wie der große Helmut sich hatte überzeugen können und wie ihm auch von Dr. Leitner noch bestätigt worden war.

Das nächste Gesprächsthema war dann Leslie. Das fiel Helmut nun doch ein bißchen schwerer, denn es war ein Unterschied, ob Annette sich über ein Patenkind freute, oder ob sie sich mit den Gedanken vertraut machen konnte, auch eine Mami zu bekommen. Annette machte es ihrem Vater nicht allzu schwer. Allerdings wollte sie ganz genau wissen, wie er Leslie kennengelernt hatte, und mit der Erklärung mußte er doch sehr vorsichtig sein, damit sie, diese kleine kritische Person, ihm später mal keine Vorwürfe machen konnte.

Er kannte seine Tochter. Sie war sein ein und alles gewesen, bis nun auch Leslie in sein Leben trat. Sie sollte gewiß nicht zu kurz kommen in der Zuwendung von Liebe.

Annette erfuhr eine etwas beschönigte und märchenhaft klingende Geschichte.

»Denise hat mir aber gar nichts davon erzählt«, sagte sie dann sehr nachdenklich.

»Sie denkt nicht mehr dran«, meinte er, »und außerdem habt ihr euch doch noch gar nicht richtig kennengelernt.«

»Richtig kennengelernt hat sie mich schon«, erklärte Annette. »Ich habe ihr gleich gesagt, daß unser Patenkind und Leslie nicht bei ihnen wohnen werden. Das geht wirklich nicht, Papi. Es gehört zu uns, wenn es Helmut heißt.«

Er war tief gerührt. »Dann müßte Leslie aber auch zu uns gehören«, sagte er leise.

»Na, das ist doch klar. Es braucht ja eine Mami, wenn es so klein ist.«

»Und wenn Leslie nun auch gern deine Mami sein möchte?« fragte er mit belegter Stimme.

»Dann mußt du ja mit ihr verheiratet sein. Geht das denn?«

»Warum sollte es nicht gehen?«

Sie sah ihn aufmerksam an. »Würde sie mich denn auch noch als Kind haben wollen, wenn sie ein kleines Baby hat?«

»Wenn du sie liebgewinnen würdest, Annette, würde sie das sehr gern wollen.«

»Ich kenne sie leider noch nicht.« Leider war ein viel gebrauchtes Wort von ihr. »Aber wenn du sie liebhast, werde ich sie auch liebhaben. Da wäre dann noch Omi. Die guckt sich die Leute immer genau an.«

»Das kann sie. Ihr wird Leslie gefallen.«

»Aber sie hat manchmal gesagt, daß sie lieber allein wirtschaftet, als wenn ihr jemand dreinredet.«

»Das wird sich alles finden«, sagte Helmut, denn er wollte nicht gleich sagen, daß seine Mutter gegebenenfalls zu ihrer Freundin Betty ziehen wollte. Annette konnte das womöglich so verstehen, daß er die Omi dann nicht mehr im Hause haben wolle, oder daß dies so von Leslie gewünscht würde.

»Es ist zu dumm, daß ich nicht in die Klinik darf und Leslie anschauen kann«, meinte Annette, »dann könnte ich dir gleich sagen, ob sie mir als Mami auch gefallen würde.«

»Ein bißchen Geduld müssen wir schon haben, Kleines. Jetzt muß Leslie sich auch erst erholen.«

»Kriegt sie auch genug zu essen, sonst bringen wir

ihr morgen lieber was von unserem Essen«, sagte die Kleine.

»Nein, das braucht sie nicht. Sie wird schon bestens versorgt.«

»Du wirst dich aber darum kümmern, nicht wahr, Papi?«

»Das werde ich tun«, versprach er glücklich, daß sie so gar nicht abweisend war.

»Leider hast du ja sehr wenig Zeit«, fuhr sie fort, »aber vielleicht kann Omi dann mal hingehen. Ich kann ja mal Denise besuchen. Sie haben mich eingeladen. Sie darf auch nicht zu Leslie, obwohl sie schon größer ist als ich.«

Das war ihr doch eine Genugtuung, und als sie dann wieder daheim waren und die Omi auch bald kam, hatte sie genug der Neuigkeiten zu verkünden.

Es war natürlich eine große Freude, daß die Omi gar kein Gesicht machte, sondern schmunzelte. Und selbstverständlich war sie auch bereit, Leslie zu besuchen.

»Leslie ist ein sehr, sehr hübscher Name«, sagte Annette. »Wenn wir mal noch ein Mädchen bekommen, nennen wir es auch so, gell, Papi?«

»Nun hast du es gehört«, raunte Frau Röck ihrem Sohn zu. Und sie freute sich, daß er rot wurde.

*

Am nächsten Vormittag konnte auch Fee das kleine Sorgenkind der Frauenklinik betrachten. Selbst Ärztin, konnte sie sich schon ein eigenes Urteil erlauben. Das lautete durchaus positiv.

»Der macht sich«, sagte sie. »Es wird nicht mehr lange dauern, bis er alles aufgeholt hat.«

Über ihren eigenen Zustand konnte Dr. Leitner seinen Freund Daniel beruhigen.

»Fee ist in Bestform«, sagte er. »Du bist ein beneidenswerter Bursche, Dan.«

»Jetzt wird es langsam Zeit, daß du dich auch mal an die Kette legen läßt«, scherzte Daniel, dem es immer leid tat, wenn er den melancholischen Blick des Freundes sah. Bei ihm brauchte er nicht zu rätseln, wo der Hase im Pfeffer lag. Schorsch vermißte das Familienleben. Er war sehr sensibel. Bei ihm ging alles unter die Haut, auch wenn es nicht die große Liebe war. Die Frauen, die seinen Weg gekreuzt hatten, waren am Ende doch nicht die richtigen gewesen, und es war gut, daß es nie zur Heirat gekommen war.

Das jedenfalls war Daniels Meinung.

Schorsch brauchte eine Frau, die lebensbejahend, lustig, sogar ein bißchen forsch war, die ihn aufmunterte, ohne ihn zu treiben.

Er war ein guter Mensch und der beste Freund, den man sich vorstellen konnte. Er hatte lange mit seiner Mutter zusammengelebt, und die hätte auch gern eine Schwiegertochter und Enkel gehabt, aber sie hatte einen anderen Geschmack als ihr Sohn.

Zeit für einen Frühschoppen nahm er sich schon, aber dann wollte er gleich wieder an die Arbeit gehen.

»Du bist nicht zu retten«, sagte Fee.

»Das kannst du deinem Mann aber manchmal auch sagen«, erwiderte er.

»Das tue ich auch, Schorsch.« Sie blickte auf und sah eine junge Dame kommen, die freundlich grüßend vorbeiging.

»Wer ist denn das?« fragte Fee interessiert.

»Schwester Claudia«, erwiderte Schorsch. »Sie hat vorige Woche angefangen. Sie ist sehr tüchtig.«

»Und sehr hübsch«, sagte Fee lächelnd.

»Tatsächlich?« fragte Schorsch irritiert. »Mir kommt es darauf an, daß sie etwas leistet.«

»Aber genauer anschauen könntest du sie auch mal«, sagte Fee neckend.

»Was bringt das schon ein? Soll sie denken, ich gehöre zu denen, die gleich ein Gspusi anfangen? Sie hat ihre letzte Stellung aufgegeben, weil sie diesbezüglich nicht mit dem Chefarzt ausgekommen ist.«

»Woher weißt du das?«

»Weil sie es mir gesagt hat, um keine Unklarheiten aufkommen zu lassen.«

»Eine resolute junge Dame«, stellte Daniel fest.

»Ja, sie ist eine Dame«, sagte Schorsch und lächelte nun doch flüchtig. »Und deshalb nehme ich lieber ihre beruflichen Qualitäten zur Kenntnis als ihre Erscheinung.«

»Über sie hinwegsehen kann man aber nicht«, meinte Fee neckend, und als sie dann mit Daniel vor der Tür stand, raunte sie ihm zu: »Anscheinend ist er wirklich nicht zu retten.«

»Warten wir es ab.«

Fee warf ihm einen schrägen Blick zu. »Diesmal hörst du aber die Flöhe husten, Schatz«, sagte sie.

»Tja, anscheinend bin ich heute besonders hellhörig«, gab er lächelnd zurück. »Du wirst ja in sechs Wochen Gelegenheit haben, diese junge Dame genau unter die Lupe zu nehmen, und dann wollen wir doch mal sehen, ob der gute Schorsch nur ihre beruflichen Qualitäten schätzt.« Er machte eine kleine Pause, denn sein Blick war abgeschweift. »Ei, wer kommt denn da?« murmelte er. »Kommissar Röck mit Familie. Da hat es wahrhaft schnell gefunkt.«

»Richtig romantisch«, sagte Fee. »So was freut einen doch. So ein nüchterner Kommissar und Liebe auf den ersten Blick.«

»So nüchtern ist er halt nicht, aber er hat uns schon gesehen. Sagen wir Grüß Gott, dann können wir gleich feststellen, in welche Familie Baby Helmut kommt.«

Sie konnten später nur übereinstimmend sagen, daß der Kleine da ganz gewaltiges Glück hatte. Aber auch für Leslie traf das zu, denn Annette sagte ganz zutraulich: »Jetzt macht Papi die Omi mit Leslie und unserem Patenkind bekannt, und da kann ich warten. Dann gehen wir zum Essen, und dann kann Papi noch mal allein hergehen, hat Omi gesagt.«

»Dann wünschen wir noch einen ganz schönen Nachmittag«, sagte Fee herzlich.

Annette hatte noch allerlei zu dieser Bekanntschaft zu sagen, vor allem aber, daß sie den netten Onkel Doktor auch haben wolle, wenn ihr mal wieder was fehle.

»Ist schon beschlossen«, versprach ihr Papi.

*

An diesem Sonntag hatte man wahrhaftig Grund, zufrieden zu sein. Den Nachmittag verbrachten Daniel und Fee mit ihrem Söhnchen und führten ein langes Telefongespräch mit der übrigen Familie, die auf der Insel der Hoffnung auch gemütlich beisammensaß.

Lenni war mit Frank und Ursel in die Klinik gefahren, damit Frau Nowatzki die gute Seele, die ihre Kinder so umsorgte, auch kennenlernte. Eine Schale mit Gebäck, Zeitschriften und einen großen Blumenstrauß hatten sie mitgenommen, aber sie fanden dann schon ein Blumenmeer vor, und die Stationsschwester stöhnte, als nun noch einer dazukam.

Wie bei einem Filmstar ginge es hier zu, meinte sie, aber sie lachte dazu freundlich.

Ja, das hätte sich Frau Nowatzki niemals träumen lassen, daß so viele Menschen ihr Freude machen wollten. Ihr Gesicht hatte schon wieder Farbe bekommen.

Sie wurde so verwöhnt, daß sie es gar nicht fassen konnte. Sogar Robert und Alfred hatten ihr geschrieben und sie um Entschuldigung gebeten. Von beiden Elternpaaren waren Blumengebinde mit einem Umschlag gekommen, in dem sich einige blaue Geldscheine befanden.

Frank und Ursel machten ganz große Augen. »Nun wirst du auch noch reich, Mutti«, sagte er, »aber lieber wäre es uns doch, wenn es nicht passiert wäre.«

Aber was wäre dann? Frau Nowatzki hatte darüber lange nachgedacht. Sie hatte doch nicht einfach zusehen können, daß beide Buben in ihrer Rauflust vor die Trambahn gefallen wären. Dieses Bild wäre sie nie in ihrem Leben losgeworden, sie, die Kinder so gern hatte. Sie hätte nicht zuschauen können, obwohl sie ihre Kinder doch so sehr liebte. Und dann sagte sie sich auch, daß der Herrgott ihr einen Schutzengel gesandt hatte, der das Schlimmste verhütete.

So unsagbar viel Freude war nun in ihr bescheidenes Leben gekommen. Es war gar nicht so einfach, daran zu glauben, daß es nun besser gehen würde als vorher, wenn auch mit einem lahmen Bein. Besser das, als vom Gewissen geplagt zu werden, nichts getan zu haben.

Bei den Attenbergs war großer Familientag. Denise hatte beide Großelternpaare um sich, die sich persönlich überzeugen wollten, daß Raimund nichts Ernsthaftes passiert war.

Von Denises Extratour erfuhren sie nichts. Das brauchte nicht noch Wellen zu schlagen. Man wollte nicht mehr davon sprechen. Jetzt strahlten ja die Kinderaugen wieder, und um ihrem geheimen Wunsch auch sehr ernsthaften Nachdruck zu verleihen, erklärte Denise, daß sie ihren Eltern schon gesagt hätte, daß sie sich ein Brüderchen wünsche.

Dafür bekam sie anerkennende Worte zu hören und die Versicherung, daß sie anscheinend klüger sei als ihre Eltern.

Ja, so ganz exakt sollte man eine Familie wohl doch nicht planen. Zu solchen Erkenntnissen waren Raimund und Gisela auch gekommen, und es war, als würden ihre zweiten Flitterwochen beginnen.

Man schob das natürlich auf den Unfall, der den ersten Schatten auf ein sorgloses Leben geworfen hatte. Gisela und Raimund wußten es besser.

*

Annette war mit ihrer Omi heimgefahren. Ganz rote Bäckchen bekam sie, wenn die Omi von Leslie erzählte, wie lieb und hübsch sie sei.

Währenddessen saß Helmut Röck bei der so gelobten und hielt ihre Hände. Eine Fotografie von Annette hatte er auch mitgebracht.

»Sie ist süß«, sagte Leslie mit einem zärtlichen Ausdruck. »Eigentlich hatte ich mir ein Mädchen gewünscht.«

»Nun hast du eins und einen Buben dazu«, sagte er. »Annette kann es kaum noch erwarten, daß du zu uns kommst. Mutter macht schon das zweite Kinderzimmer bereit. Wir haben ja noch alles von Annette da.«

Gisela hatte damals gesagt: »Wir haben noch alles von Denise da, du brauchst gar nichts anzuschaffen.«

So ganz anders war alles gekommen, so, wie es gar nicht zu erträumen gewesen war.

»Ich kann es noch nicht begreifen, daß es einen Mann wie dich gibt«, sagte sie leise.

»Wieso nicht? Ich bin doch nur ein Dutzendtyp.«

»Du, das sagst du nicht wieder. Wo gibt es schon einen, der es gleich so ernst meint.«

»Entweder gleich oder gar nicht«, lächelte er.

»Und sich auch noch ein Kind aufladen läßt«, fuhr sie stockend fort.

»Ich nehme es ja freiwillig, Leslie. Man kann das halt nicht erklären, und ein Romantiker bin ich nicht. Bist du dir klar, daß ich einen sehr harten Beruf habe?«

»Und einen gefährlichen dazu. Ich werde sehr oft Angst um dich haben.«

»Du wirst manchmal lange auf mich warten müssen, manche Nacht und manchmal sogar ein paar Tage hintereinander.«

»Ich werde immer sehr glücklich sein, wenn du dann kommst.« Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter, diese breite starke Schulter, und sie spürte seine Lippen auf ihrem Haar.

»Nein, man kann es nicht erklären. Ich kann es nicht begreifen, daß es vor dir einen anderen Mann gegeben hat, Helmut.«

»Es hat in meinem Leben auch eine andere Frau gegeben, Leslie. Ich habe sie sehr lieb gehabt. Ich dachte nicht, daß es eine andere geben könnte. Aber jetzt ist es ganz anders.«

»Ganz anders«, wiederholte sie gedankenverloren. »Ich würde nicht mit halbem Herzen ja sagen, Helmut.«

»Ich hätte dich nicht mit halbem Herzen gefragt, mein Liebes.« Und dann fanden sich ihre Lippen in einem sehr langen, sehr innigen Kuß.

Sechs Tage später konnte Leslie den kleinen Helmut zum ersten Mal im Arm halten. Schon drei Tage durfte sie zeitweise aufstehen, und sie konnte dem großen Helmut entgegengehen, wenn er kam.

Dann betrachteten sie den Kleinen, um festzustellen, welche Fortschritte er machte. Und sie sprachen über Annette, die dann mal mit der Omi kam.

Nun konnten sie es alle kaum noch erwarten, daß sie Leslie und den Kleinen heimholen durften. Die Zeit wurde Leslie schon recht lang, wenn auch Gisi und Raimund abwechselnd kamen, um sie ihr zu vertreiben.

Die beiden konnten es auch noch nicht so recht glauben, daß aus der Romanze ein Bund fürs Leben werden sollte, aber daran gab es nichts zu rütteln. Wenn der Kommissar Röck mal eine Entscheidung getroffen hatte, führte er sie auch bis zur letzten Konsequenz durch, im Beruf und auch im Privatleben. Und noch niemals war ihm eine Entscheidung so leicht gefallen, das durfte nicht unerwähnt bleiben.

Denise ging wieder zur Schule, wo man gedacht hatte, daß sie auch von der Erkältungswelle betroffen wäre, wie viele Mitschüler und Lehrer, sie war selbstbewußt und fröhlich. Daheim brachte sie aber bei jeder Gelegenheit das Gespräch auf das Baby Helmut, damit ihre Eltern nur ja nicht vergaßen, wie gern sie ein Baby im Hause haben wollte. Sie konnte schon sehr hartnäckig sein. Gisela meinte, daß sie das von ihrem Vater hätte, aber sie hatte sich auch schon mit dem Gedanken vertraut gemacht, mit einunddreißig Jahren nicht zu alt zu sein, um noch für Nachwuchs zu sorgen.

Man konnte wohl sagen, daß jener aufregende Tag erfreuliche Folgen hatte, abgesehen davon, daß Raimund Attenberg sich eine neue Geschäftsführerin suchen mußte.

Omi Röck meinte einmal scherzhaft zu Gisela, mit der sie ja nun fast täglich zusammentraf, daß sie es sehr bedauere, schon zu alt für diesen Posten zu sein, der sie sehr gereizt hätte.

»Zu alt?« meinte Gisi nachdenklich. »Eine seriöse ältere Dame, die so gut mit Menschen umzugehen weiß, wäre doch eigentlich sehr in Betracht zu ziehen.«

»Es war wirklich nur Spaß«, meinte Frau Röck.

Aber Gisela fand es wert, mit ihrem Mann darüber zu sprechen, der sich, trotz mancher Bewerbung, schwer entschließen konnte. Schließlich brauchte er jemanden, der unbedingt vertrauenswürdig war, und seinerseits bemerkte er, daß man sich das doch gemeinsam überlegen solle. Und es wurde überlegt. Auch anderes wurde dabei in Erwägung gezogen, denn Leslies Wunsch war es, daß die Mutter bei ihnen wohnen bleiben solle. Sie hatten eine sehr tiefe gegenseitige Zuneigung zueinander gefaßt. Margarete Röck war überzeugt, daß ihr Sohn, wenn auch sehr schnell, doch die richtige Entscheidung getroffen hatte.

»Ich habe schon so lange keine Mutter mehr, und ich habe dich lieb«, sagte Leslie eines Tages bewegt zu ihr. »Bitte, bleib immer bei uns.«

»Ja, wenn es so ist, dann muß meine Freundin Betty sich wohl doch eine kleinere Wohnung nehmen«, sagte die Ältere gerührt. »Aber wenn man mich wirklich nicht für zu alt befindet, könnte ich doch Herrn Attenbergs Angebot annehmen, damit ich nicht das Gefühl habe, euch dauernd auf der Pelle zu hocken. Das heißt, wenn er sich noch ein paar Wochen geduldet, denn die erste Zeit muß du dich daheim schonen und gut versorgt werden.«

Die Nordens waren doch ziemlich fassungslos, als sie diese Neuigkeiten erfuhren.

»Da hat Denise ja allerlei vollbracht«, sagte Daniel schmunzelnd. »Aber warum soll eine Frau, die so rege ist wie Frau Röck, nur Großmama sein. Man bleibt länger jung, wenn man sich Aufgaben sucht. Sie wird ihre Pflichten mit Charme und Gelassenheit erfüllen. Bewiesen hat sie doch schon, wie rasch sie sich in völlig neue Situationen findet.«

Das hatte sie wahrhaftig. Da hatte es gar kein Trara gegeben, keine Probleme. Ein entzückendes Zimmerchen wartete auf den kleinen Helmut. Es war aber auch alles vorhanden, was ein Baby brauchte, manches noch von Annette, aber auch so manches Neue, weil es jetzt schon noch viel hübschere Sachen gab.

Eigentlich gab es nur ein Problem, denn unmöglich konnte Helmut der Pate seines eigenen Sohnes sein, wenn es zur Taufe kam. Doch auch dieses Problem löste sich ganz überraschend, als es im Präsidium bekannt wurde, daß der Kommissar wieder heiraten würde. Sein Dezernent bot sich an, die Patenschaft für den kleinen Helmut zu übernehmen.

Man bewies ihm, wie beliebt er war. Da gab es keine anzüglichen Bemerkungen und keine hintergründigen Gedanken. Er konnte seiner Leslie sogar ein ganz großes Geschenk machen, als er sie endlich heimholen durfte. Er wußte das schon ein paar Tage, und es war ihm recht schwer gefallen, es noch für sich zu behalten, aber er wollte es ihr doch erst im eigenen Heim sagen.

Alles war bereit zum Empfang. Eigentlich hätte sie erst Anfang der Woche entlassen werden sollen, aber der kleine Helmut hatte so gute Fortschritte in seiner Entwicklung gemacht, daß Dr. Leitner es erlauben konnte, daß Helmut sie schon am Samstag abholte, denn da hatte Annette schulfrei und sie durfte doch nicht fehlen, wenn Leslie und das Baby ihren Einzug hielten. Sie war so aufgeregt, daß sie kaum zu bändigen war.

Alle Räume waren mit Blumen geschmückt. Omi Röck hatte großen Hausputz gehalten. Alles blitzte und blinkte, und es duftete nach guten Sachen.

Aufgeregt war an diesem Tag auch der sonst so ruhige Helmut Röck. Sehr feierlich sah er aus in seinem grauen Anzug, den er sich extra gekauft hatte, und dazu hatte ihn seine Mutter ausnahmsweise mal nicht mit Engelszungen überreden müssen.

»Du siehst vielleicht toll aus, Papi«, sagte Annette anerkennend. »Viel schicker als die Kommissare im Fernsehen.«

»Du sollst dir doch keine Krimis ansehen, Schätzchen«, sagte er geistesabwesend.

»Bloß mal so«, sagte Annette. »Omi meint, daß die manchmal keine Ahnung haben, wie es in Wirklichkeit ist. Und Omi meint auch, daß es gut ist, wenn Kinder kritisch sind. Sie erlaubt es auch nur, wenn es vor sieben Uhr ist. Ich finde die Filme sowieso blöd.«

Er horchte auf.

»Du hast ja sowieso richtig gesagt«, staunte er.

»Ich muß doch jetzt aufpassen, daß mein Brüderchen alles richtig lernt«, sagte sie eifrig. »Nun mach schon, Papi, fahr endlich los.«

Elf Uhr, hatte Dr. Leitner gesagt. Ihm wollte die Zeit auch nicht vergehen. Er war schon eine halbe Stunde vorher in der Klinik, und Leslie war noch bei der Nachuntersuchung.

Helmut lief mit der Babytasche hin und her, bis es dann endlich soweit war, daß er Leslie in die Arme nehmen konnte.

Der Kleine wurde warm eingepackt. An alles hatte Margarete Röck gedacht, auch an die Schwestern, für die Helmut ein großes Paket ins Schwesternzimmer gestellt hatte.«

»Alles in Ordnung, mein Liebes?« fragte er mit bewegter Stimme.

»Alles«, erwiderte Leslie und gab ihm einen innigen Kuß. Die Frauenklinik hatte ein modernes Märchen erlebt. Der Abschied war entsprechend.

Dr. Leitner begleitete sie bis zum Ausgang. Auch in dieser schnellebigen Zeit gab es noch Liebe. Wie beglückend das doch war.

Er vergaß im Augenblick, wie einsam er sich manchmal fühlte, denn als er sich umdrehte, blickte er in Schwester Claudias Augen und las in diesen ein Staunen – oder auch noch etwas anderes, das er nicht ergründen konnte.

»So etwas gibt es auch noch«, sagte sie gedankenvoll. Dann lächelte sie verlegen. »Entschuldigung«, fügte sie hinzu.

»Wofür?« fragte er

»Es waren meine ganz persönlichen Gedanken.«

»Warum sollten Sie die nicht aussprechen? Ich dachte das auch.« Er überwand seine Hemmungen. »Gefällt es Ihnen bei uns, Schwester Claudia?«

»Ja, sehr.«

»Sie machen sehr oft Dienst, wie ich festgestellt habe.«

Sie errötete. »Ich würde gern mal ein ganzes Wochenende freihaben, wenn es möglich ist«, sagte sie.

»Das wird doch zu machen sein.« Ein Schatten fiel über sein Gesicht. »Wenn Sie private Sorgen haben, können Sie es mir sagen. Ich habe festgestellt, daß Sie in den letzten Tagen sehr ernst sind.«

Und er hatte auch darüber nachgedacht, ob daran ein Mann schuld sein könnte.

»Meine kleine Schwester ist krank«, erwiderte Schwester Claudia leise. »Sie ist in einem Internat. Sie hat nur mich.«

»Warum haben Sie das nicht schon früher gesagt?« fragte er bestürzt.

»Ich habe bisher nicht erlebt, daß jemand dafür Verständnis hat.«

»Wie alt ist Ihre Schwester?« fragte er.

»Vierzehn.«

»Und was fehlt ihr?«

»Das weiß man noch nicht. Deswegen möchte ich mich selbst darum kümmern.«

»Das tun Sie aber sofort. Es wird sich eine Vertretung finden lassen.«

»Danke, Herr Doktor«, sagte sie leise.

»Einen Augenblick noch«, sagte Dr. Leitner. »Sorgen Sie allein für Ihre Schwester?«

Sie nickte. Jetzt sah sie ihn nicht an. Sie hatte den Kopf gesenkt.

»Warum haben Sie das nicht angegeben? Sie hätten doch Anspruch auf eine Beihilfe? Wir werden das regeln, wenn Sie zurück sind. Lieber Gott, bin ich denn so furchterregend?«

»Ich bin erst so kurze Zeit hier«, erwiderte sie stockend. Dann legte sich doch ein Lächeln um ihren Mund. »Furchterregend sind Sie gewiß nicht, wenn ich mir diese Bemerkung gestatten darf.«

»Und in Ehrfurcht braucht niemand vor mir zu erstarren«, sagte er, aber dann verschwand er schnell in seinem Zimmer.

*

Helmut Röck fuhr indessen ganz vorsichtig durch die Straßen. Das Baby schlief in der warmgepolsterten Tasche. Leslie saß neben dieser auf dem Rücksitz. Die freudige Erregung auf das Kommende hatte sie beide stumm gemacht.

Leslie stand ja das Zusammentreffen mit Annette bevor.

Für beide war es dann ein ganz großer Augenblick, als sie sich gegenüberstanden. Leslie streckte die Hände aus, das Kind legte seine kleinen hinein, dann umarmten sie sich.

»Mein liebes kleines Mädchen«, flüsterte Leslie.

»Ich freue mich so«, sagte Annette und drückte sich ganz eng in diese liebevollen Arme, die sie umschlossen. »Darf ich gleich Mami sagen, oder muß ich noch warten?«

»Es ist so schön, daß du mich liebhaben willst!« Tränen rannen über Leslies Wangen.

»Aber weinen darfst du nicht«, flüsterte Annette. »Du sollst dich freuen.«

Und dann mußte sie das Baby betrachten. Sie tat es aus angemessener Entfernung, wie es die Omi gesagt hatte.

»Ich würde ihm ja gerne ein Bussi geben«, sagte Annette, »aber man muß sehr vorsichtig sein mit so einem kleinen Wesen, hat Omi gesagt. Ich will auch nichts falsch machen. Ihr könnt euch auf mich verlassen.«

»Das wissen wir«, sagte Helmut. Und dann setzte sich Annette auch brav neben die Wiege, in der schon sie gelegen hatte, und Helmut konnte Leslie das Haus zeigen, in dem sie nun zu Hause sein würde.

Diskret hatte Margarete Röck sich zurückgezogen, nachdem Leslie die moderne Küche bewundert hatte.

»Du kannst ja noch so manches ändern nach deinem Geschmack«, sagte Helmut.

»Ich finde alles sehr hübsch«, sagte sie leise. »Ich werde ein richtiges Zuhause haben. Wie kann ich dir nur danken?«

Er küßte sie zärtlich. »Du bist bei mir. Es ist wunderschön, Leslie. Ich bin dankbar. Du wirst bald meine Frau sein, und ich werde eine ganze Menge Zeit haben, damit du dich auch richtig an mich gewöhnen kannst. Ich habe noch vom letzten Jahr Urlaub zu bekommen und den neuen kann ich gleich anschließend nehmen. Und dann– hoffentlich gefällt dir das – werde ich einen Schreibtischposten übernehmen. Eine Stufe klettere ich aufwärts.«

»Das ist weniger wichtig, aber der Schreibtischposten gefällt mir sehr. Ich werde nicht dauernd Angst um dich haben müssen. Das ist ein herrliches Hochzeitsgeschenk, Liebster.«

Sie sanken sich in die Arme, erfüllt von einem berauschenden Glücksgefühl. Und tatsächlich hätten sie in diesen Minuten fast das Baby vergessen.

Aber Annette wachte ja über dessen Wohlergehen. Zaghaft kam sie herein.

»Darf ich mal stören?« fragte sie. »Unser Baby weint, aber es weint so leise, daß man es kaum hört. Meint ihr nicht, daß es Hunger hat?«

»Wenn wir dich nicht hätten«, sagte Leslie. »Ja, jetzt braucht es sein Fläschchen.«

»Später kann ich es ihm dann ja geben, wenn ich genau Bescheid weiß«, sagte Annette. »Dann brauche ich euch nicht mehr zu stören.«

»Du bist ein Schatz«, sagte Leslie weich. »Aber du störst uns nie.«

»Jetzt bist du erst mal Papis Schatz«, erwiderte Annette darauf. »Und das ist auch recht so.« Aber dann hörte man den Kleinen doch. Er hatte eine ganz kräftige Stimme, wenn ihm das Warten zu lange wurde.

»Sei mal schön friedlich, mein Kleiner«, sagte Leslie. »Du hast ja keine Ahnung, was du für ein Glück hast.«

*

Ganz vollkommen war dies Glück dann, als Hochzeit und Taufe gleichzeitig gefeiert wurden. Eine pikante Note bekam dieser schöne Tag, als Denise freudestrahlend verkündete, daß sie nun auch ein Baby bekommen würden. Betrüblich nur, daß sie noch Monate darauf warten mußte, aber währenddessen konnte sie ja auch schon einige Erfahrungen sammeln, wie man mit so einem kleinen Wesen umgehen mußte, denn sie weilte jetzt sehr oft bei den Röcks.

Als springlebendige Omi wurde Margarete Röck ihren vielseitigen Pflichten gerecht, zur Freude Raimund Attenbergs, der, wie er sagte, den besten Fang seines Lebens mit ihr gemacht hatte.

»Da siehst du es, Mutsch«, meinte Leslie, »du verstehst es besser als ich.«

»Ich brauche wenigstens nicht zu fürchten, daß Ma uns mit einem Baby überrascht«, lachte Raimund.

»Als Omi genießt man sie mehr«, wußte Margerete Röck schlagfertig zu erwidern. »Richtig jung bin ich noch mal geworden.«

Und so sah sie auch aus. Sie konnte ja auch rundherum zufrieden sein. Ihr großer Sohn war glücklich, Annette hatte eine liebevolle und heißgeliebte Mami, und ganz bestimmt würde der kleine Helmut nicht das letzte Enkelkind bleiben. Da war sie ganz sicher. Und außerdem war es für sie eine Genugtuung, nicht zum alten Eisen zu gehören, wenn sie auch von ihrer Freundin Betty die herbe Kritik einstecken mußte, daß sie so selten Zeit für einen Kaffeeklatsch hatte.

*

Fee und Daniel Norden hatten auch allen Grund, sich zu freuen. Sie hatten es gern, wenn sich alles zum Guten wendete, und Daniel freute sich, wenn seine Patienten keine ärztliche Hilfe brauchten. Es gab immer wieder andere, die ohne solche nicht auskamen.

Frau Nowatzki konnte jedenfalls auch mit Hoffnung in die Zukunft blicken. Sie würde wieder ganz gesund werden. Ihre Opferbereitschaft wurde nicht schnell vergessen, wie es sonst manchmal im Leben war.

Für Fee und Daniel rückte nun der Tag immer näher, an dem ihr zweites Kind zur Welt kommen sollte. Schorsch Leitner war für jeden Fall vorbereitet, und es schien, daß die Tage, die Fee dann in der Klinik verbringen mußte, recht aufschlußreich werden würden, in bezug auf die reizende Schwester Claudia, an derem persönlichen Schicksal der sonst so zurückhaltende Dr. Leitner doch recht regen Anteil zu nehmen schien.

»Man bringt ja nichts aus ihm heraus«, sagte Daniel, wenn Fee sich erkundigte, was denn nun mit Schwester Claudias jüngerer Schwester sei, die seit ein paar Tagen in der Behnisch-Klinik lag.

»Ich werde schon dahinterkommen«, sagte Fee. »Innerhalb von zehn Tagen kann man so allerhand erfahren. Am nächsten Sonntag ist unser Felix fällig.«

Ihm wurde es ziemlich mulmig bei dem Gedanken, aber er zwang sich zu einem Lächeln.

»Vielleicht wird es doch eine Felicitas«, sagte er mit erzwungener Ruhe.

»Wollen wir wetten, daß es ein Junge wird?« fragte Fee.

Zärtlich nahm er sie in die Arme. »Es ist doch ganz gleich, mein Liebes. Wenn es nur erst da ist«, schloß er mit einem tiefen Seufzer.

»Geduld, Geduld, es soll ja ein Sonntagskind werden«, sagte Fee aufmunternd.

Ob Dr. Leitner und Fee nun recht behalten würden mit dieser Diagnose? Darauf sollten alle, die Fee und Daniel Norden von Herzen zugetan waren, voller Spannung warten und auch darauf, was sich zwischen Dr. Leitner und Schwester Claudia in Zukunft noch ereignen würde.

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