Читать книгу Sophienlust Paket 3 – Familienroman - Patricia Vandenberg - Страница 6

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Spiegelglatt war die Eisfläche, auf der ein zierliches kleines Mädchen graziös dahinschwebte. Ganz allein war es, und es sah winzig aus.

»Mach jetzt endlich ein paar Sprünge, Ruth«, rief eine helle Frauenstimme.

Das Kind blieb stehen. Wenn Tante Lilo sie »Ruth« rief, war sie nicht zufrieden. Wenn sie »Sabine« sagte, drückte das Lob aus.

Das kleine Mädchen hieß Ruth-Sabine Campen, und von ihrem Daddy wurde sie Rubinchen genannt. Sie vermisste den zärtlichen Kosenamen ebenso wie ihren Daddy selbst, der in der Türkei eine Maschinenfabrik leiten musste und sie in der Obhut von Tante Lilo zurückgelassen hatte.

»Na, wird es bald«, rief Tante Lilo ungehalten.

Rubinchen lief mit gleitenden Schritten auf die pelzvermummte Gestalt zu, die am Rand der Eisfläche stand.

»Es ist so kalt, Tante Lilo«, sagte sie. »Ich friere.«

»Stell dich nicht so an. Du weißt genau, dass wir nur früh am Morgen so viel Platz haben. Wenn du dich mehr bewegst, wird es dir schon warm werden.«

Rubinchen schlugen die Zähne aufeinander, aber sie wusste genau, dass sie von Tante Lilo, die vom Ehrgeiz besessen war, ihre Nichte zu einer Eisprinzessin zu machen, kein Verständnis erwarten konnte.

Rubinchen hatte frühzeitig Schlittschuhlaufen gelernt und sich als sehr talentiert erwiesen. Mit Daddy hatte es ihr auch viel Spaß gemacht. Sie überlegte kurz, ob Daddy wohl einverstanden wäre, wenn er wüsste, dass sie so hart trainiert wurde.

Was Training bedeutete, hatte Lilo ihr hinreichend erklärt. Rubinchen hatte einen langen Vortrag darüber zu hören bekommen, nachdem ein fremder Mann, den sie grässlich fand, zu Tante Lilo gesagt hatte, dass sie ein Naturtalent sei.

Lilo Lüdke war Sportlehrerin, und im Winter gab sie, selbst eine recht gute Eisläuferin, Unterricht in diesem Sport. Allerdings konzentrierte sie sich neuerdings ausschließlich auf ihre Nichte, was seine guten Gründe hatte.

Rubinchen hätte nicht gewagt, Tante Lilo zu widersprechen. Das hätte bedeutet, den ganzen Tag im Zimmer bleiben zu müssen, um Achter und Kreise zu malen.

So drehte sie sich auf dem frostklirrenden Eis, wie Tante Lilo es befahl, und bemerkte nicht, dass sie inzwischen auch andere Zuschauer bekommen hatte.

»Bezaubernd«, sagte Denise von Schoenecker zu der jungen Dame, die neben ihr stand. »Das ist ja ein entzückendes Kind, Nanni.«

»Für den Betrachter«, erklärte Nanette von Willbrecht. »Für mich ist es ein bedauernswertes Kind, das schamlos strapaziert wird.«

»Das müssen Sie mir erklären, Nanni«, sagte Denise erschrocken. In diesem Augenblick stürzte Rubinchen.

Es tat höllisch weh, aber sie unterdrückte die aufsteigenden Tränen, weil Tante Lilo über die Eisfläche auf sie zukam.

»Nimm dich zusammen, Ruth«, sagte sie streng. »Die Stunde ist noch nicht um.«

Rubinchen rappelte sich auf. Als sie sich umblickte, flog ein heller Schein über ihr kleines Gesicht. Winkend hob sie die Hand. Lilo Lüdke drehte sich um und sah Nanette von Willbrecht. Ihre Miene verdüsterte sich.

»Du sollst nicht mit ihr reden, Ruth«, sagte sie unwillig.

»Warum denn nicht?«

Lilo blieb ihr die Antwort schuldig, denn sie entdeckte jetzt einen Mann im hellen Ledermantel, der sich auf einer Bank niedergelassen hatte.

»Du übst den Rittberger«, sagte sie. »Noch zehn Minuten! Hast du verstanden?«

»Ja, Tante Lilo«, erwiderte Rubinchen gehorsam, weil sie genau wusste, dass Tante Lilo abgelenkt war. Der Fremde, der ihr dieses harte Training eingebrockt hatte, war wieder da. Rubinchen war entschlossen, diesen Mann noch viel abscheulicher zu finden als vor vierzehn Tagen.

Sie übte zweimal den Rittberger, trotz der scheußlichen Schmerzen im Knie, aber dann sah sie, dass Tante Lilo sich angeregt mit dem Fremden unterhielt, und sie entdeckte den großen schneeweißen Hund, der sich neben Nanette von Willbrecht niedergelassen hatte.

Ganz nahe lief sie an die Bande heran. »Pipp«, rief sie und der Hund legte seine Ohren zurück. Dann sah Rubinchen zwei Buben, einen großen und einen kleinen, und der große sagte: »Du kannst vielleicht toll Schlittschuh laufen. Ich bin ganz weg.«

Da vergaß sie ihre Schmerzen und lief weiter. Sie sprang den Rittberger und den Salchow fehlerlos und ahnte nicht, dass sie dadurch alles noch schlimmer für sich machte.

»Sie haben schon viel erreicht«, sagte der Fremde anerkennend zu Lilo Lüdke. »Wenn die Kleine weiter solche Fortschritte macht, kann ich sie nächstes Jahr in die Revue einbauen.«

»Was springt für mich dabei heraus, Mr Miles?«, fragte Lilo.

»Vorerst fünftausend, wenn Sie den Vertrag unterschreiben«, erwiderte er. »Ich werde die Kleine morgen noch beobachten. Abends treffen wir uns dann, okay?«

Lilo nickte ihm mit ihrem betörendsten Lächeln zu. Wenigstens glaubte sie, dass es betörend sei. Für ihre Begriffe war Mr Gordon Miles der attraktivste Mann, der ihr seit Langem begegnet war, und sie war immerhin bereits dreißig.

Rubinchen drehte indessen eine Pirouette und versetzte ihre interessierten Zuschauer damit in helles Entzücken. Ganz schnell glitt sie dann wieder an die Bande, wo Nanette stand.

»Wenn ich fort kann, komme ich heute Nachmittag«, flüsterte sie. »Darf ich?«

»Immer, Rubinchen«, erwiderte Nanni, und der weiße Hirtenhund Pipp bellte zweimal.

*

Denise und Alexander von Schoenecker waren mit ihren Söhnen Dominik und Henrik für ein paar Tage Gäste der Familie von Willbrecht. Nanette war als Krankengymnastin einige Wochen im Kinderheim Sophienlust gewesen und hatte sich dort sehr wohl gefühlt. Seit dieser Zeit bestand zwischen ihr und der Familie von Schoenecker ein freundschaftlicher Kontakt.

Weil Dominik und Henrik einmal ein richtiges Eishockeyspiel sehen wollten, während Denise sich mehr für den Eiskunstlauf begeisterte, hatten sie die Einladung von Nanettes Eltern, ein paar Tage bei ihnen zu verbringen, gern angenommen.

Friedrich von Willbrecht und seine Frau Annemarie freuten sich, die Schoen­eckers persönlich kennenzulernen. Sie hatten aus der Not der Nachkriegsjahre eine Tugend gemacht und ihr hochherrschaftliches Haus zu einer Pension umgestaltet, in der sie ausschließlich Stammgäste aufnahmen. Für private Gäste blieben aber immer ein paar Zimmer reserviert. In diesen waren jetzt die Schoeneckers untergebracht.

Nick und Henrik waren betrübt, weil Pünktchen diesmal daheim bleiben musste. Aber Pünktchen, deren richtiger Name Angelina Domin lautete und die schon ganz zu den Schoeneckers und Sophienlust gehörte, musste noch die Folgen einer schweren Grippe auskurieren.

»Pünktchen kann zwar auch sehr gut Schlittschuh laufen«, sagte Henrik auf dem Heimweg vom Stadion, »aber sie hätte vielleicht gestaunt, was die kleine Eisprinzessin für Sprünge macht.«

Denise von Schoenecker dachte immerzu daran, was Nanni über dieses bezaubernde Kind gesagt hatte: Ein bedauernswertes Kind, das schamlos strapaziert wird.

Denise, die seit Jahren das Kinderheim Sophienlust leitete und darauf bedacht war, immer nur das Beste für ihre Schützlinge zu bewirken, wollte zu gern wissen, was Nanni damit gemeint hatte.

Als sie bei dem wunderschönen Haus anlangten, das den Willbrechts schon in der dritten Generation gehörte, sah sie zu Nanni: »Sie müssen mir unbedingt von dieser kleinen Eisprinzessin erzählen.«

Nick spitzte die Ohren, aber er hörte auch, wie Nanni erwiderte: »Wenn wir allein sind, Frau von Schoenecker.«

Das ergab sich bald, ohne dass Nick etwas dagegen unternehmen konnte. Der ungarische Hirtenhund Pipp war nämlich zum Herumtollen aufgelegt, und darüber vergaß Nick alles andere. Sie hatten zwar in Sophienlust und Schoeneich viele Hunde der verschiedensten Rassen kennengelernt, aber Pipp war ein ungewöhnliches Exemplar. Herr von Willbrecht hatte den Buben erzählt, dass er schon Menschen aus Lawinen gerettet hatte. Er war als drei Monate altes Hundebaby zu den Willbrechts gekommen, mit dem stolzen Namen Pippin, aber Nanni hatte ihn gleich Pipp genannt, und so war es geblieben.

Man konnte ihn mit dem Korb zum Bäcker schicken, und er brachte die frischen Brötchen nach Hause, ohne dass ein einziges gefehlt hätte. Er holte die Zeitungen und trug sie zwischen seinen Zähnen, ohne dass sie je eingerissen wären.

Nun hatte Henrik einen großen Knochen ganz am Ende des Gartens tief unter dem Schnee vergraben, weil er genau wissen wollte, ob Pipp ihn finden würde, und um ihn abzulenken, gingen sie erst noch mit ihm die Straße auf und ab.

So konnten Denise und Nanni sich ganz ungestört unterhalten, während Friedrich von Willbrecht und Alexander von Schoenecker eine Partie Schach spielten.

Denise und Nanni hatten es sich beim Kamin gemütlich gemacht.

»Ich fürchte, dass ich bei dieser Geschichte leicht in den Verdacht geraten kann, klatschhaft zu sein«, begann Nanni verlegen.

»Iwo, Nanni. Ich kenne Sie doch. Das Kind interessiert mich wirklich sehr. Erzählen Sie bitte!«

»Dann sollte ich wohl bei Lilo beginnen. Früher haben wir uns gedutzt. Sie ist vier Jahre älter als ich und war mit meinem Bruder Hasso befreundet, als sie noch ein junges Mädchen war. Vielleicht hatte sie Torschlusspanik bekommen, als ihre Schwester Jan Campen heiratete, jedenfalls zeigte sie es Hasso ein bisschen zu deutlich, dass sie geheiratet werden wollte. Vielleicht war es auch etwas anderes, dass er sich von ihr trennte. Er hat nie darüber gesprochen, und seit zwei Jahren ist er nun mit der richtigen Frau verheiratet. Lilo hat mich seither wie eine Fremde behandelt. Das macht mir zwar nichts aus, aber seit Rubinchen hier ist, muss auch das Kind darunter leiden. Wir haben uns nämlich auf Anhieb gemocht.«

»Rubinchen ist ein reizender Name, so reizend wie das Kind selbst«, warf Denise ein.

Nanni erklärte ihr, wie der Name entstanden war, und sie sagte auch, dass Lilo abwechselnd Ruth oder Sabine sagte.

»Schon mit den Namen zeigt sie ihre Launen. Sabine sagt sie nur höchst selten. Einmal hat mir die Kleine schon ihr Herzchen ausgeschüttet, aber es ergibt sich nur höchst selten eine Gelegenheit, allein mit ihr zu sprechen, und seit Lilo das Kind wie verrückt trainiert, was ich nicht nur für unsinnig, sondern auch für schädlich halte, ist es ganz aus.«

»Und der Vater? Duldet er das denn?«

»Herr Campen ist schon seit Monaten in der Türkei. Deswegen hat er Rubinchen seiner Schwägerin in Obhut gegeben. Ruth, Rubinchens Mutter, ist bei der Geburt gestorben. Sie war ganz anders als Lilo. Sie war meine Freundin. Jan Campen kenne ich nur flüchtig. Er hat jetzt eine Bombenstellung, und soviel ich weiß, liebt er sein Kind auch sehr. Ich glaube nicht, dass er damit einverstanden wäre, was Lilo mit dem Kind treibt. Was mich aber besonders nachdenklich stimmt, ist die Tatsache, dass Lilo jetzt des Öfteren mit diesem Mr Miles zusammensteckt. Er ist Manager einer Eisrevue.«

»Du lieber Himmel«, sagte Denise erschrocken, »sie wird doch nicht schon Kapital aus dem Kind schlagen wollen?«

»Das eben fürchte ich. Nun, vielleicht kann Rubinchen heute entwischen und ich erfahre mehr.«

Denise überlegte. »Wir werden morgen noch früher ins Stadion gehen«, sagte sie. »Vielleicht komme ich mit dieser Lilo ins Gespräch. Sie haben mich neugierig gemacht, Nanni.«

Aber das war es nicht allein. Denise hatte ein Herz für Kinder und besonders für jene, die nicht unbeschwert Kind sein durften. Nicht umsonst nannte man Sophienlust das Haus der glücklichen Kinder.

*

Rubinchen staunte, wie freundlich Tante Lilo heute mit ihr war. Sie bekam Kalbschnitzel, die sie besonders gern mochte, ihr Knie wurde bandagiert, und Lilo raffte sich sogar zu ein paar mitfühlenden Worten auf. Rubinchen sah die Möglichkeit, ihr zu entwischen, allerdings immer mehr schwinden.

»Schreiben wir an Daddy?«, fragte sie.

»Dazu habe ich heute keine Zeit«, erwiderte Lilo. »Ich muss noch dein Kleidchen für morgen fertig machen. Ach ja, du könntest von Frau Brühl einen Reißverschluss holen. Das wird dein Bein wohl nicht zu sehr anstrengen.«

In diesem Augenblick tat es gar nicht mehr weh, denn von dem kleinen Laden der Frau Brühl war es wirklich nicht weit bis zu den Willbrechts. Rubinchen sah einen Silberstreif am Horizont.

»Ich kann ja langsam gehen«, sagte sie schlau. »Hinfallen darf ich nicht noch einmal, wenn ich morgen laufen soll.«

»Du bist ja ganz vernünftig«, meinte Lilo, und ihr schmaler Mund, der schon ein bisschen verkniffen wirkte, lächelte.

Rubinchen schlüpfte in die langen Hosen und zog ihren Anorak an. Frühzeitig war sie zur Selbstständigkeit erzogen worden.

»Binde den Schal um, damit du kein Halsweh bekommst«, sagte Lilo mahnend.

Rubinchen tat widerspruchslos, was man von ihr verlangte. »Kann ich noch etwas für dich besorgen, Tante Lilo?«, fragte sie.

»Ein paar Krapfen kannst du uns mitbringen. Die magst du doch.«

Von so viel Freundlichkeit wurde Rubinchen verblüfft. Sie überlegte, ob das wohl auch mit dem fremden Mann zusammenhing. Vielleicht wollte Lilo mit ihm ausgehen. Langsam ging Rubinchen die Straße entlang, bis sie vom Haus aus nicht mehr zu sehen war. Dann lief sie schneller.

Vielleicht findet Lilo doch einen, der sie heiratet, dachte sie. Dann wird sie endlich nicht mehr davon reden, dass es für mich das Beste wäre, wenn Daddy sie heiraten würde. Der Gedanke, dass Tante Lilo Daddys Frau werden könnte, ängstigte sie, aber Daddy hatte so etwas nie verlauten lassen.

Nun sah sie das Haus der Willbrechts und dachte nicht mehr an Tante Lilo, denn Pipp kam ihr schon entgegengelaufen, als hätte er sie längst gewittert.

»Lieber Pipp«, sagte sie zärtlich und kraulte ihm den Kopf, und dann sah sie Nanni. Ein glückliches Leuchten kam in die schönen Augen des Kindes.

»Ich muss etwas holen, und darum konnte ich schnell kommen«, rief sie.

»Hast du dir heute Morgen arg wehgetan?«, fragte Nanni besorgt.

»Es geht schon«, erwiderte Rubinchen. »Muss ja morgen laufen, vor all den vielen Leuten am Nachmittag.«

Erschrocken sah Nanni das Kind an. »Willst du das?«

»Tante Lilo will es«, erwiderte Rubinchen seufzend. »Ich kann nichts machen. Ich habe bloß Angst, dass ich mich blamiere. Ich möchte so gern spielen.« Sehnsüchtig wanderten die Augen zu den beiden Jungen, die jetzt näher kamen.

»Bleib doch hier«, rief Henrik, der es gehört hatte.

Rubinchen schüttelte den Kopf.

»Meine Tante wartet«, sagte sie. »Vielleicht darf ich übermorgen kommen, wenn ich morgen gut laufe.«

»Dann fahren wir schon bald wieder weg«, sagte Henrik enttäuscht.

»Nanni, ich möchte dir gern etwas sagen«, flüsterte Rubinchen.

»Du kannst mir alles sagen.«

Des Kindes Blick verdunkelte sich. »Ich muss aber schnell wieder heim«, erwiderte es.

»Dann begleite ich dich ein Stück.«

Henrik wollte auch hinterherlaufen, aber Nick hielt ihn zurück. Er hatte begriffen, dass das kleine Mädchen etwas auf dem Herzen hatte, was sie nicht jedem erzählen wollte. Und so war es auch. »Weißt du, Nanni, Tante Lilo hat gesagt, dass Daddy es gern will, wenn viele Leute mir zuschauen. Sie sagt, dass er das geschrieben hat. Aber sie hat mir einen ganz alten Brief von Daddy vorgelesen, in dem das stehen soll, und vorher hat es da nicht dringestanden. Ist das Lüge?«

Was sollte Nanni dazu sagen? Sie traute es Lilo ohne Weiteres zu, dass sie so etwas tat, wenn es ihren eigenen Zielen nützlich war.

»Vielleicht hast du dich getäuscht und es war doch ein anderer Brief, Rubinchen«, sagte sie beklommen.

»Aber Daddy hat mich doch lieb. Er weiß doch, dass ich es gar nicht mag, wenn die Leute mich anschauen.«

»Er wird aber auch stolz sein auf sein begabtes Töchterchen«, meinte Nanni.

»Wir sind doch aber immer nur zum Spaß gelaufen, und mit Daddy war das auch schön«, sagte Rubinchen. »Ich muss mir so viel den Kopf zerbrechen. Jetzt bin ich schon bald sechs Jahre, aber ich möchte so gern noch fünf bleiben, Nanni. Am liebsten möchte ich jetzt gar nicht mehr Schlittschuh laufen.«

Nanni verspürte eine tiefe Verzweiflung. Sie konnte dem Kind nicht helfen. Sie musste es mit billigem Trost abspeisen. Sie wusste genau, dass Lilo Lüdke noch unnachsichtiger werden würde, wenn sie sich einmischte.

»Ich möchte auch zu gern wissen, warum Tante Lilo dich nicht mag«, sinnierte Rubinchen. »Vielleicht weil du so hübsch bist und die Männer dir immer nachschauen.«

»Zerbrich dir darüber nicht den Kopf, mein Kleines«, sagte Nanni. »Morgen sind wir wieder im Stadion, ganz früh.«

»Danke«, entgegnete Rubinchen, »dann bin ich nicht so allein. Könnten die Buben nicht auch ganz früh Schlittschuh laufen?«

»Vielleicht geht es.«

Rubinchen ging in den Laden von Frau Brühl. Sie blieb einen Augenblick an der Tür stehen und sah Nanni und Pipp mit sehnsüchtigen Augen an. Dann ging sie hinein.

»Einen Reißverschluss für mein Kleid. Einen roten«, sagte Rubinchen zu Frau Brühl.

»Musst du immer in einem so leichten Kleid bei der Kälte laufen?«, fragte Frau Brühl missbilligend.

»Wenn es Tante Lilo doch so will«, erwiderte Rubinchen.

»Dass dein Vater das zulässt, wo du so klein und dünn bist«, brummte Frau Brühl. Rubinchen schwieg.

Die Krapfen vergaß sie in der Aufregung, aber daran dachte Lilo auch nicht mehr. Sie hatte hochrote Wangen, als Rubinchen heimkam.

»Du hast einen feinen Vater«, platzte sie erregt heraus. »Du wirst noch dankbar sein, wenn ich mich um dich kümmere. Er hat geschrieben – und was meinst du wohl, hat er vor? Heiraten will er!« Lilo schrie es fast.

Seltsame Gedanken gingen durch den Kopf des Kindes. War das wieder gelogen? Sie wusste nicht mehr, was bei Tante Lilo Wahrheit oder Schwindel war.

»Ich werde es dir vorlesen«, sagte Lilo heiser, und diesmal hatte sie einen Brief in der Hand, den Rubinchen noch nicht gesehen hatte. Sie hörte erst richtig zu, als Lilo eine bestimmte Stelle erreicht hatte: »Sobald wir ein Haus gefunden haben, werde ich dich holen, Rubinchen. Du wirst dich mit Yasmin bestimmt gut verstehen. Sie mag Kinder sehr gern, und sie ist sehr hübsch und sehr lieb. Wir werden endlich wieder beisammen sein.«

»Ist das eine Türkin?«, fragte Rubinchen leise.

»So eine wird es wohl sein, aber ich werde deinem Vater schon die Meinung sagen. Schließlich war deine Mutter meine Schwester, und ich werde nicht zulassen, dass du eine Stiefmutter bekommst.«

Rubinchen schluckte, dann fragte sie: »Und wenn Daddy dich geheiratet hätte, wärest du dann nicht meine Stiefmutter?«

»Leg dich jetzt hin und schone dein Bein«, stieß Lilo wütend hervor.

Das ließ sich Rubinchen nicht zweimal sagen, denn das Bein schmerzte höllisch, weil sie so schnell gelaufen war.

*

Jan Campen war groß, blond, und er hatte die gleichen Augen wie seine Tochter. Er war ein Mann, nach dem die Frauen sich umdrehten, besonders in diesem Land, wo man solche Männer höchst selten sah.

Er ging in seinem modernen Büro hin und her, und die nachtdunklen Augen der bildhübschen jungen Frau, die vor der Schreibmaschine saß, folgten ihm.

»Jetzt werden sie meinen Brief wohl schon haben, Yasmin«, sagte er mit gepresster Stimme.

Sie lächelte ironisch. »Das klingt, als hättest du Angst vor deiner Tochter, Jan«, sagte sie anzüglich.

»Ich habe plötzlich Bedenken, wie Lilo es ihr beibringen wird. Sie ist unberechenbar. Vielleicht hätte ich es Rubinchen besser selbst sagen sollen.«

Yasmin Haman war klug und diplomatisch. Sie sagte nichts, was ihn hätte ärgern können. Es hatte Monate gedauert, bis sie diesen recht verschlossenen Mann aus seiner Reserve gelockt hatte, und nun wollte sie ihn um keinen Preis mehr verlieren.

Er war für sie die große Chance, herauszukommen aus dieser engbegrenzten Welt, in der sie sich nach der Familie richten musste. Sie war die älteste von vier Geschwistern, ihr Vater war ein kleiner Beamter. Recht und schlecht hatte er seine Familie durchs Leben gebracht und wirklich alle Hoffnung auf seine ebenso kluge wie schöne Tochter gesetzt, die einen blendend bezahlten Posten als Sekretärin bekam und ihm nun den Direktor der Firma auch noch als Schwiegersohn präsentierte.

»Jetzt mach dir nicht so viel Gedanken, Jan«, sagte sie in ihrem sehr guten Deutsch, das nur einen aparten Akzent aufwies. Ihre großen dunklen Augen, die wie ein samtener Nachthimmel schimmerten, sahen ihn lockend an.

Sie hatte ihn bezaubert mit ihrem Charme. Sie war so ganz anders als Ruth, die immer ein wenig gehemmt gewesen war.

»Es ist eben ein dummes Gefühl, wenn man eine fast sechsjährige Tochter mit in die Ehe bringt«, bemerkte er.

Sie lachte melodisch. »Ich habe doch kleine Geschwister. Für mich ist das nicht so schlimm.«

»Ich hätte sie nicht bei Lilo lassen sollen«, sagte er. »Nein, das war nicht richtig. Es kompliziert alles.«

»Dann hast du Angst vor dieser Frau?«, fragte Yasmin.

»Angst nicht. Aber ich fürchte, sie hat sich Hoffnungen gemacht, dass ich sie heiraten würde.« Nun war es heraus. Yasmin sah ihn nachdenklich an.

»Hast du ihr solche Hoffnungen gemacht?«, fragte sie.

»Gott bewahre, nein, aber sie ist schon dreißig und hat noch keinen Mann. Aber lassen wir das jetzt. Wir gehen heute Abend aus. Jetzt werden es deine Eltern erlauben.« Er holte tief Atem. »Schau mich nicht so an, Yasmin. Du bringst mich noch ganz durcheinander.«

Sie war sich seiner sehr sicher. Kein Mensch auf der ganzen Welt würde es fertigbringen, sie noch zu trennen, auch diese Lilo nicht. Vielleicht wäre es nicht einmal das Schlechteste, wenn das Kind bei ihr bleiben würde. Doch darüber konnte sie mit Jan reden, wenn sie erst verheiratet waren.

*

Lilo hatte Rubinchen Baldriantropfen gegeben. Sie wusste sehr gut, dass die Verletzung am Knie schmerzhaft sein musste, aber mehr denn je setzte sie ihre ganze Hoffnung auf den morgigen Tag. Wie sehr sie Jans Brief mit Zorn erfüllt hatte, zeigte sie nicht. Sie hatte sich beherrscht und sogar zu Rubinchen gesagt, dass sie sich keine Gedanken machen solle.

»Wenn dir diese Frau nicht gefällt, bleibst du eben bei mir«, hatte sie bemerkt. »Hier gefällt es dir doch.«

»Ich möchte aber auch mit anderen Kindern spielen«, sagte Rubinchen, mit kindlicher Schläue ihre Chance nutzend.

»Das darfst du auch, wenn du morgen alles zeigst, was du kannst«, erwiderte Lilo. »Du darfst dann auch zu Nanette in die Gymnastikstunde gehen.«

Das kam Rubinchen alles ein bisschen komisch vor, aber immerhin eröffneten sich ihr da Möglichkeiten, von denen sie nicht zu träumen gewagt hätte. Sie war auch etwas zornig über ihren Daddy. Wenn er eine fremde Frau heiraten wollte, traute sie es ihm auch zu, dass er mit ihren Eislaufkünsten protzen wollte. Es war doch möglich, dass er dieser Yasmin davon erzählt hatte und dass sie auch so ehrgeizig war wie Tante Lilo. Rubinchen dachte sich noch manches, bis sie endlich einschlief. Sie spürte den Schmerz im Bein nicht mehr. Das Herz tat ihr viel weher. Sie wurde früh geweckt, noch früher als sonst. In der Nacht war wieder Neuschnee gefallen, und es war ganz hell draußen, sodass Rubinchen gar nicht wusste, wie früh es noch war.

»Du ziehst heute besser lange Hosen und den dicken Pulli an«, sagte Tante Lilo. »Du läufst nach Kalinka. Die Musik allein macht schon Eindruck. Wir proben es dreimal durch, und dann kannst du dich ausruhen bis heute Nachmittag.«

Nach ihrem Bein erkundigte sie sich nicht, und Rubinchen dachte nur daran, dass Nanni heute schon ganz früh ins Stadion kommen wollte.

*

»Ist aber mächtig kalt heute«, murrte Henrik, der gar nicht begeistert war, das warme Haus so früh verlassen zu müssen.

»Du kannst ja hierbleiben«, schlug Denise vor. »Wir wollen uns Rubinchen anschauen.«

Nanni machte sich Sorgen um Rubinchen. Das Thermometer war auf zwölf Grad unter Null gefallen. Aber Lilo würde auch das nichts ausmachen.

»Ich finde, dass das eine Quälerei ist«, bemerkte Frau von Willbrecht. »Es müsste verboten werden, dass kleine Kinder so drangsaliert werden.«

Sie hatten am Abend noch lange über Rubinchen gesprochen, und Nick hatte manches mitgekriegt.

»Mit Pünktchen haben sie es auch so gemacht«, sagte er. »Sie musste schon als ganz kleines Kind im Zirkus auftreten.«

»Und wenn Nick sie nicht gefunden hätte, müsste sie das immer noch«, warf Henrik ein.

So erfuhren die Willbrechts nebenbei auch die Geschichte von Pünktchen, die Nick eines Tages im Park in ziemlich verwahrlostem Zustand aufgegriffen und mit nach Sophienlust genommen hatte, wo sie dann geblieben war und immer bleiben sollte.

»Können wir Rubinchen nicht auch mitnehmen, Mami?«, fragte Henrik. »Bei uns wird sie nicht drangsaliert.«

Ihm gefiel dieser Ausdruck, über dessen Bedeutung Nick ihn schnell aufgeklärt hatte.

Aber Denise bemerkte, dass man Rubinchen wohl nicht so einfach mitnehmen könne, da ihre Tante über sie zu bestimmen hätte.

»Das wird eine schöne Tante sein«, meinte Nick unwillig.

»Sie ist ein Mannweib«, sagte Friedrich von Willbrecht. Darauf riss Henrik staunend die Augen auf. Er wollte wissen, was ein Mannweib sei.

»Ich gehe schon voraus«, sagte Nanni plötzlich, ihrem Vater diese Erklärung überlassend.

»Sie hat einen Narren an dem Kind gefressen«, stellte Herr von Willbrecht fest. »Sie sollte lieber heiraten und selber Kinder in die Welt setzen.«

»Sie hat eben noch nicht den richtigen Mann gefunden«, lenkte Annemarie von Willbrecht ein.

»Krankengymnastin musste sie werden«, polterte der Hausherr.

»Du weißt ja warum«, sagte Annemarie von Willbrecht leise, da schwieg ihr Mann.

Denise wusste auch, warum Nanni diesen Beruf ergriffen hatte. Ihr Jugendfreund war mit neunzehn Jahren an Kinderlähmung erkrankt, und das hatte das sensible Mädchen völlig verändert. Niemand hatte ihm helfen können. Er war nach einem Jahr gestorben, doch Nanni trauerte ihrer ersten Liebe wohl immer noch nach.

»Ich gehe jetzt auch«, sagte sie. »Wenn es euch zu kalt ist, bleibt ihr eben hier.«

»Papi schläft noch«, meinte Henrik.

»Er hat es nötig. Ihm steckt die Grippe immer noch in den Gliedern«, sagte Denise. »Das Schaulaufen will er sich aber nicht entgehen lassen.«

*

Rubinchen war schon auf dem Eis, als Nanni mit Pipp nahte. Es war so kalt, dass der Hauch vor dem Mund gefror.

Findet sich denn niemand, der Lilo gehörig die Meinung sagt, dachte Nanni niedergeschlagen, doch im Grunde musste sie Rubinchens Zähigkeit bewundern. Sie lief fehlerlos. Pipp war kein Freund von Musik. Er begann kläglich zu jaulen. Empört drehte sich Lilo um. »Wir sind beim Training«, sagte sie scharf. Sie war wütend, dass Nanni schon wieder hier war.

Nanni straffte sich. »Haben Sie das Stadion gepachtet?«, fragte sie zurück. Sie konnte sich einfach nicht mehr beherrschen.

»Lassen Sie doch wenigstens den Hund draußen«, fuhr Lilo sie an.

Pipp trottete von selbst davon. Rubinchen zog weiter ihre Kreise, als hätte sie nichts bemerkt.

Nanni zog ihre Schlittschuhstiefel an, und als sie mit dem Verschnüren fertig war, nahten auch schon die Schoeneckers.

Lilo konnte nicht aufbegehren. Wenn die Gäste auch selten zu so früher Stunde im Stadion erschienen, hindern konnte man sie nicht, die Eisfläche zu benutzen.

»Du kannst aufhören, Sabine«, sagte sie. »Du hast deine Sache gut gemacht.«

Das passte Rubinchen heute nun gar nicht. »Ich übe noch mal die Pirouette«, sagte sie.

Denise hatte die Situation schnell erfasst. Sie zwang sich zu einem Lächeln, als sie an Lilo herantrat.

»Ein ungewöhnliches Talent«, sagte sie. »Wohl eine große Hoffnung für die Zukunft?«

Lilo wusste nicht, wie sie diese Dame mit Nanni in Einklang bringen konnte. Es schmeichelte ihr, dass Rubinchens Können so viel Aufmerksamkeit geschenkt wurde.

»Wenn man ein Talent beizeiten schult, kann man für die Zukunft hoffen«, sagte sie. »Leider verstehen nicht alle, dass es ohne Fleiß auch keinen Preis gibt.«

Denise wusste genau, dass dies auf Nanni gemünzt war.

»Es ist ja auch sehr selten, dass ein Kind schon so früh derart perfekt ist«, bemerkte sie.

»Ich habe mir auch die größte Mühe gegeben«, sagte Lilo.

»Vielleicht könnten Sie meinen Kindern auch ein paar Trainingsstunden geben«, sagte Denise. »Übrigens, mein Name ist Schoenecker.«

»Mir fehlt augenblicklich leider die Zeit«, sagte Lilo. »Warum wenden Sie sich eigentlich nicht an Fräulein von Willbrecht?«, fügte sie dann noch spitz hinzu.

Nanni glitt schon über die Eisfläche. Staunend sahen Nick und Henrik, wie sie sicher ein paar Sprünge ausführte und sich dann rasend schnell um ihre eigene Achse drehte.

»Toll«, sagte Nick.

»Ja, warum wende ich mich eigentlich nicht an Fräulein von Willbrecht«, sagte Denise. »Ich wusste gar nicht, dass sie so perfekt läuft.« Denise konnte auch herablassend sein, wenn es ihr angebracht erschien, und diesmal traf das zu.

»Komm jetzt, Ruth«, sagte Lilo im Befehlston. »Du musst dich schonen.«

»Du hast aber doch gesagt, dass ich auch einmal mit andern Kindern spielen darf«, begehrte Rubinchen jetzt auf.

»Morgen. Auf dem Eis wird nicht gespielt.«

Nur mühsam unterdrückte Rubinchen die Tränen. Wieder wurde ihr alles verdorben. Sie hatte so sehr gehofft, dass sie die beiden Jungen ein bisschen näher kennenlernen könnte.

*

»Es ist schwer, dieser Lilo beizukommen«, sagte Denise zu Nanni.

»Wem sagen Sie das? Ich würde Herrn Campen gar zu gern meine Meinung sagen.«

»Warum schreiben Sie ihm nicht? Als Freundin von Rubinchens Mutter könnten Sie das doch tun?«

»Ich mische mich nicht gern ein. Ich weiß doch nicht, wie er eingestellt ist. Ich glaube, dass er ein Mann ist, bei dem man leicht ins Fettnäpfchen treten kann.«

Denise musterte sie mit einem eigentümlichen Blick.

»Was ist er für ein Mann?«, fragte sie. »Herrisch?«

»Sehr selbstbewusst. Ich denke, auch sehr ehrgeizig. Aber, wie gesagt, ich kenne ihn nur flüchtig. Ich war achtzehn, als er Ruth heiratete, und da war Karlheinz gerade gestorben. Deswegen war ich auch nicht auf der Hochzeit.«

Henrik kam angestolpert. »Ich lerne das nie, Mami«, sagte er kleinlaut. »Schau bloß Nick an. Er kann sich auch schon drehen.«

»Du lernst es auch noch, Henrik«, sagte Nanni und sie schien froh, abgelenkt zu werden. »Komm, wir probieren es gemeinsam.

So wurde die Stunde auf dem Eis für die Schoenecker-Kinder doch noch zu einem Erlebnis, denn unter Nannis Obhut lernte auch Henrik, wie man umsprang. Es erfüllte ihn mit ungeheurem Stolz.

*

In Sophienlust vermisste man Nick und Henrik. Pünktchen sah noch sehr verschnupft aus. Ihr Näschen war rot, während ihr reizendes Gesicht sehr blass war und die Sommersprossen, denen sie ihren Namen verdankte, traten doppelt deutlich hervor.

Heute hatte sie eine Ansichtskarte von Nick bekommen, doch ihre Freude darüber wich schnell, als sie las, wie er von dem kleinen Mädchen schwärmte, das so wundervoll eislaufen konnte.

»Einfach klasse!«, schrieb er, und das war dreimal unterstrichen. Das Alter von Rubinchen hatte er nicht dazu geschrieben, und nun war Pünktchen doppelt bekümmert, denn unwillkürlich stellte sie sich ein Mädchen in ihrem Alter vor, da Nick auch zu ihr manchmal »kleines Mädchen« sagte. Man hatte auch in so jungen Jahren schon seine Nöte, wenn man jemand so schrecklich gern hatte wie Pünktchen ihren Nick, dem sie es doch zu verdanken hatte, dass sie sorglos heranwachsen durfte.

Eine Eisprinzessin war bestimmt etwas ganz Besonderes. Pünktchen konnte nicht ahnen, wie glühend Rubinchen sie beneidet hätte, wüsste sie von ihrem glücklichen, unbeschwerten Dasein in Sophienlust, das nur vorübergehende Kümmernisse kannte.

Rubinchen hatte mehr als eine Sorge. »Liest du mir Daddys Brief bitte noch einmal vor, Tante Lilo?«, fragte sie.

»Heute nicht. Du musst ruhen«, sagte Lilo. »Es war dumm von mir, es dir überhaupt zu sagen. Dein Vater wird es sich sicher noch anders überlegen.«

»Vielleicht hat er sie sehr lieb«, flüsterte Rubinchen. »Ob er sie lieber hat als mich?«

Lilo wünschte diese Yasmin gewiss zum Teufel, andererseits überlegte sie aber auch schon, was sie tun könnte, damit Jan Rubinchen bei ihr ließ. Sie sollte ihn vielleicht noch einmal nachdrücklich darauf hinweisen, dass das Klima in der Türkei dem Kind gar nicht zuträglich sein würde.

Und das wollte sie ihm gleich heute schreiben. In ihr war eine schreckliche Unruhe. Sie hatte Sorge, dass Rubinchen patzen würde, und Gordon Miles das Interesse an ihr verlor.

Sie sah das Kind schon als Eisstar, und sie würde auch einen Teil des Erfolges honoriert bekommen. Heute würde man ihren Namen schon nennen, wenn Rubinchen angekündigt wurde. Miles arrangierte das bestimmt großartig. Er war überhaupt ein großartiger Mann. Warum sollte sie ihre Gedanken eigentlich noch an Jan verschwenden?

Sie musste heute äußerlich wirken. Als sie einen langen Blick in den Spiegel geworfen hatte, kam es ihr zum Bewusstsein, dass sie nicht viel dafür getan hatte.

»Ich gehe jetzt zum Friseur«, sagte sie zu Rubinchen. »Schlaf jetzt.«

Das war leicht gesagt. Wie konnte sie schlafen mit all den wirren Gedanken und der Angst, die sie vor den vielen Leuten hatte? Wenn sie allein lief, war das ganz anders.

Sie wartete, bis Lilo das Haus verlassen hatte, dann setzte sie sich ans Fenster. Der Himmel war wolkenverhangen. Bestimmt würde es wieder schneien. Und kalt würde es sein! Fröstelnd zog sie die Schultern zusammen.

Und da sah sie auf der Straße Nanni daherkommen. Pipp trottete neben ihr her.

Rubinchen vergaß alle Vorsicht. Sie öffnete das Fenster und rief laut: »Nanni!«

Nanni hob den Kopf. Sie war sichtlich verwirrt. Aber sie blieb stehen.

»Ich komme runter«, rief Rubinchen. Es war ihr ganz gleich, ob jemand sie hörte.

Nanni zögerte. Ihr Herz klopfte schnell, als sie über die Straße ging und in der Eingangstür des Hauses stehen blieb. Pipp setzte sich brav neben sie.

Rubinchen kam schon. »Tante Lilo ist beim Friseur«, sagte sie. »Komm doch herein, Nanni. Ich muss dich etwas fragen.

»Ich möchte nicht, dass du geschimpft bekommst, Rubinchen«, sagte Nanni.

»Mir ist alles egal«, platzte das Kind heraus. »Daddy will heiraten. Sie heißt Yasmin, und sie ist so was wie eine Türkin, und Tante Lilo will, dass ich dann bei ihr bleibe. Ich weiß gar nicht, was ich tun soll, Nanni. Ich kann Daddy doch nicht schreiben. Ich kann doch noch gar nicht schreiben. Würdest du das für mich tun? Bitte, bitte! Du kannst ihm doch schreiben, dass ich dich darum gebeten habe.«

»Ich habe seine Adresse nicht, Rubinchen«, sagte Nanni.

»Ich hole sie dir. Bitte, tue es. Schreib ihm, dass ich nicht immer bei Lilo bleiben will. Was sie ihm schreibt, weiß ich doch nicht.«

»Gut, ich werde ihm schreiben«, sagte Nanni, um das erregte Kind zu beruhigen.

Rubinchen lief die Treppe hinauf und kam bald atemlos mit einem Briefumschlag zurück.

»Da ist er«, flüsterte sie. »Und bitte, drück mir heute Nachmittag die Daumen. Ich habe solche Angst.«

Nanni nahm sie liebevoll in die Arme. »Ich werde immerzu an dich denken, Kleines«, flüsterte sie mit erstickter Stimme. »Ich möchte dir so gern helfen, Rubinchen. Ich weiß doch nicht, wie ich das tun kann.«

»Mein Bein tut so weh. Viel schlimmer als gestern. Es ist ganz heiß. Ach, Nanni, wenn du doch meine Tante wärst!«

Es klang wie ein Aufschrei in tiefster Herzensnot. Nanni fühlte, wie ihre Augen feucht wurden. Ich muss etwas tun, dachte sie. Ich kann dieses Kind nicht im Stich lassen. Sie spürte, wie Rubinchen bebte.

»Wenn ich gut laufe, darf ich mit anderen Kindern spielen«, flüsterte sie. »Ich muss ganz gut laufen, Nanni.«

»Ich werde dort sein«, sagte Nanni leise. »Wir alle werden dort sein.«

»Dann wird es schon gehen«, erwiderte Rubinchen. »Danke, Nanni.«

*

Nanni hatte am Nachmittag darauf gedrängt, dass sie früh genug zum Eisstadion gingen, obgleich sie sich ihre Platzkarten schon gesichert hatten. Pipp musste diesmal daheim bleiben. Er war tief gekränkt und zeigte das deutlich, indem er sich vor den Kamin legte und keine Notiz mehr von Nanni nahm.

Nanni hatte lange grüne Hosen an und eine rote Jacke, die schmeichelnd ihr gebräuntes Gesicht mit einem hochgestellten Kragen einrahmte.

Denise von Schoenecker war in ihrem dunklen Mantel unglaublich attraktiv anzusehen. Mit ihrem interessanten Mann an der Seite waren sie wohl das Paar, dem am meisten Beachtung geschenkt wurde, und auch der bildhübsche Nick erntete schon bewundernde Blicke.

Denise wurde es manchmal ganz bange, wenn auch reifere Mädchen so offensichtlich seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen suchten. Aber dazu lachte Alexander von Schoenecker nur.

»Dieser Kindskopf merkt das doch gar nicht«, flüsterte er seiner Frau leise zu.

Die Halle war bald bis auf den letzten Platz gefüllt, nur direkt vor Nanni und den Schoeneckers waren noch zwei Plätze frei. Ausgerechnet Mr Miles und eine recht junge Begleiterin nahmen dort Platz.

Nanni, die bisher geistesabwesend auf die spiegelblanke Eisfläche gestarrt hatte, geriet in eine fieberhafte Spannung, als sie einige Worte aus der Unterhaltung der beiden auffing. Sie sprach Englisch, aber das beherrschte Nanni perfekt.

Sie entnahm dem Gespräch, dass die junge Dame Bedenken hatte wegen Rubinchens sehr jungen Jahren.

»Sieh sie dir erst einmal an, Jane«, bemerkte er, da ertönte auch schon ein Tusch. Grell hallte darauf eine Stimme durch den Lautsprecher. Die Gäste wurden willkommen geheißen. Dann kam auch schon die erste Ankündigung, die Nanni Herzklopfen bereitete.

»Sozusagen als Aperitif präsentieren wir Ihnen, verehrte Gäste, einen aufgehenden Stern am Eislaufhimmel. Ruth-Sabine Campen, fünf Jahre jung, Rubinchen genannt, und, wie Sie sehen werden, wahrhaft ein Juwel. Trainiert wird die junge Dame von Frau Lilo Lüdke.«

Dann schwebte Rubinchen in einem roten Kleidchen auf die Eisfläche. Klein und verloren stand sie da, so rührend hilflos, dass Nanni am liebsten zu ihr geeilt wäre, um sie dem Scheinwerferlicht zu entreißen.

Die Leute klatschten, und an Nannis Ohren rauschten Ausrufe vorbei. »Wie süß! Ach, ist die niedlich! Goldig!«

Dann lief das kleine Rubinchen nach der russischen Volksweise »Kalinka« das von Lilo mit so großer Zähigkeit einstudierte Programm. Sie tanzte und sprang, und was ihr an Routine und Kraft fehlte, machte sie durch ihre rührende Zerbrechlichkeit wett. Man klatschte im Takt und auch gegen den Takt der Musik, und Nanni hielt sich die Ohren zu.

Zum Schluss kam die Pirouette. Nanni sah, dass das Kind fast am Zusammenbrechen war, aber als der tosende Beifall emporbrandete, sah sie wie durch einen Schleier Lilo an der Bande stehen, die Rubinchen wohl noch zu einer Zugabe bewegen wollte. Ohne eine Sekunde zu überlegen, sprang Nanni auf. Nick und Henrik sahen sie ganz erschrocken an, als sie an ihnen vorbeihastete, und Denise bemerkte beunruhigt, dass sie geradewegs auf Lilo Lüdke zueilte.

Rubinchen hielt sich das Knie, als sie die Eisfläche verließ. Sie winkte mit der anderen Hand schüchtern.

Die Leute klatschten immer noch.

»Du musst noch eine Zugabe geben«, sagte Lilo eben zu dem Kind, als Nanni neben ihr auftauchte.

»Das wird sie nicht«, sagte Nanni scharf. »Sie werden es bitter bereuen, wenn Sie das Kind dazu zwingen. Ich schrecke vor einem Skandal nicht zurück. Der Arzt soll sofort das Knie untersuchen.«

Ein paar Sekunden musste Lilo nach Fassung ringen, dann sagte sie: »Solche Wichtigtuerei! Sie sind bloß neidisch.«

Doch glücklicherweise wurde das Programm schon fortgesetzt. Lilo griff nach Rubinchens Hand und zerrte sie durch den Vorhang. Rubinchen warf Nanni noch einen hilflosen, flehenden Blick zu, und Nanni musste es hinnehmen, dass sie von einigen Zuschauern mit missbilligenden Zurufen und Blicken bedacht wurde.

Wie in Trance stieg sie die Treppe empor und auf den Ausgang zu, und da hörte sie plötzlich wieder englische Worte.

»Ein Talent ist sie, Gordon, aber niemals den Strapazen einer Tournee gewachsen. Sei vorsichtig. Ich warne dich. Du kannst in Teufels Küche kommen, wenn du dir nicht die Einwilligung des Vaters holst.«

»Unsinn, es wird ein Spaß für das Kind, Jane.«

»An dem du verdienst. Aber glaub nur nicht, dass sich diese Lilo mit …«

Da stand Nick neben Nanni und sagte: »Warum wollen Sie denn schon gehen, Nanni? Ist Ihnen nicht gut?«

Sie konnte nicht mehr hören, was jene Jane noch gesagt hatte. Sie sah Nick verwirrt an.

»Rubinchen ist doch prima gelaufen«, sagte Nick. »Wirklich ganz toll. Vor uns saßen Amerikaner, die haben was von einer Revue geredet. Ich hab’s verstanden, Nanni.«

»Sei nicht böse, Nick, aber mich friert es. Ich möchte euch den Spaß nicht verderben. Ich wärme mich nur ein bisschen auf, dann komme ich wieder.«

Aber ans Aufwärmen dachte sie nicht, obgleich sie innerlich wirklich fror. Sie wollte schleunigst Jan Campen schreiben, bevor es zu spät war. Hemmungen durfte sie nicht mehr haben.

*

»So schlimm ist das Knie doch gar nicht«, sagte Lilo zu ihrer eigenen Entschuldigung. »Es ist gar nicht gut, wenn wir ein paar Tage aussetzen.«

»Jetzt ist mir heiß«, flüsterte Rubinchen.

»Das macht der Tee«, erklärte Lilo. »Du schläfst jetzt. Ich habe heute Abend noch eine Verabredung.«

Gerade heute wollte sie fortgehen. Sonst ging sie nie aus. Mit fiebrigen Augen blickte Rubinchen ihre Tante an.

»Morgen bekommst du etwas ganz Schönes für deine gute Leistung«, versprach Lilo. »Was wünschst du dir denn?«

»Dass Daddy bald kommt«, schluchzte Rubinchen.

»Er hat jetzt etwas anderes zu tun«, sagte Lilo gehässig. »Aber vielleicht werden wir zwei bald eine schöne weite Reise machen.«

Das wollte Rubinchen gar nicht, aber sie wagte nicht zu widersprechen. Sie war müde, und der Kopf tat ihr schrecklich weh. Sie schlief bald ein und hörte nur im Unterbewusstsein, dass Lilo noch einmal an ihr Bett trat.

»Ich gehe jetzt«, sagte sie. Rubinchen rührte sich nicht. Lilo griff nach ihrer Hand und war nun doch erschrocken, wie heiß diese war. Aber das Kind lag schließlich im Bett, und was konnte da schon passieren?

*

Bei Willbrechts hatte man sich zum Abendessen versammelt. Nick und Henrik erzählten vom Schaulaufen, und schon kam das Gespräch wieder auf Rubinchen.

Nanni beteiligte sich nicht daran. Ihr Gesicht war still und verschlossen.

»Ich finde es grässlich, wenn Kinder zu Stars gezüchtet werden«, äußerte sich Friedrich von Willbrecht, »aber meistens gefällt es den Kindern ja. Eislaufen ist immerhin noch besser, als wenn sie schon mit vier Jahren auf dem Fernsehschirm erscheinen und Schlager singen. Da bekommt man das kalte Grauen.«

»Du vielleicht«, sagte seine Frau, »andere sind entzückt!«

»Was haben denn diese armen Würmchen schon vom Leben, wenn sie so dressiert werden? Das Geld, das sie verdienen, bringen doch die Angehörigen meistens um die Ecke.«

»Und vor allem der Manager verdient«, schaltete sich Alexander von Schoenecker ein.

»Wenn andere gerade den Kinderschuhen entwachsen, werden diese kleinen Showstars schon zum alten Eisen geworfen«, sagte Friedrich von Willbrecht. »Als Nanette acht war, wollte so ein Verrückter sie auch für Medaillen trainieren. Aber dazu muss man schon ein dickeres Fell haben.«

Nick und Henrik hörten interessiert zu. Das rosige Licht, in dem sie das beifallsumrauschte Rubinchen gesehen hatten, färbte sich langsam grau, und sie begriffen schnell, dass der Ruhm auch seine Schattenseiten hatte.

»Da bin ich vielleicht froh, dass ich nicht gut Schlittschuh laufen kann«, äußerte sich Henrik.

»Und singen auch nicht«, warf Nick anzüglich ein.

*

Rubinchen erwachte, weil sie Durst hatte. Lilo hatte, schon ganz auf ihr Redezvous mit Gordon Miles eingestellt, vergessen, die Jalousien herabzulassen. Der Vollmond warf sein kaltes Licht durch das Fenster. Manchmal hatte Rubinchen Angst vor dem Mond, besonders dann, wenn er so rund war. Sie drehte sich zur Wand, aber sie konnte nicht wieder einschlafen.

Der Hals tat ihr weh, der Kopf auch, und das Bein schmerzte höllisch. Das Angstgefühl wurde immer stärker, und niemand war da, zu dem sie sich flüchten konnte.

Sie wusste gar nicht recht, was sie tat, als sie aufstand und sich ankleidete. Es war gar nicht so einfach, denn ihre Hände waren feucht und heiß.

Aber dann hörte sie ein dumpfes Geräusch, das sie nicht deuten konnte. Eine Dachlawine war auf die Straße herabgeprasselt, doch das begriff Rubinchen nicht. Sie glaubte, dass jemand in der Wohnung sei, und nun war sie erfüllt von Furcht und stolperte zur Tür. Als sie im Treppenhaus stand und lauschte, fiel die Tür hinter ihr ins Schloss. Der Rückweg war ihr versperrt.

Es war ihr schwindlig, als sie die Treppe hinunterschlich, und als sie auf die Straße trat, wurde sie sogleich von einem dichten Schneewirbel umhüllt.

Menschenleer war die Straße. Rubinchen wusste nicht, dass es schon sehr spät war. Sie hatte jetzt nur einen Gedanken: Sie wollte zu Nanni.

Die Straße war fast so glatt wie die Eisfläche im Stadion. Rubinchen rutschte und fiel hin. Mühsam stand sie wieder und ging weiter. Schnell laufen konnte sie nicht, weil ihr Bein sehr weh tat. Der Flockenwirbel wurde dichter und dichter. Der kalte Nordwind blies ihr ganze Wolken ins Gesicht, sodass sie kaum mehr sehen konnte. Da passierte es, dass sie den Halt verlor und einen kleinen Hang hinunterrutschte. Ihr Kopf schlug irgendwo auf, und ein heftiger Schmerz durchzuckte sie. Das war das Letzte, was sie spürte. Sie blieb liegen, der Schnee wehte über sie hinweg und deckte die kleine Gestalt zu.

*

Pipp saß an der Tür und jaulte. »Was hast du denn?«, fragte Nanni. »Führ dich nicht so auf, du warst lange genug draußen.«

Der sonst so gehorsame Pipp reagierte nicht. Er scharrte an der Tür und versuchte, die Klinke niederzudrücken, aber die Haustür war schon verschlossen.

Da begann er laut zu bellen, worauf Nanni die Tür doch aufmachte, denn die Schoeneckerkinder schliefen bereits und sollten nicht geweckt werden.

Wie ein Blitz schoss Pipp davon. Annemarie von Willbrecht erschien in der Diele.

»Was hat Pipp denn plötzlich für Manieren?«, fragte sie erstaunt.

»Ich weiß nicht«, sagte Nanni, »aber ich sehe lieber nach. Vielleicht ist etwas passiert. Er ist doch sonst nicht so hysterisch.«

Sie schlüpfte in ihren Mantel und lief durch den Garten. Sie rief nach Pipp, aber er gab keinen Laut. Dann vernahm sie plötzlich klagendes Jaulen, das ziemlich weit entfernt war, und als sie auf die Straße trat, kam er mit großen Sprüngen daher. Er zerrte sie am Arm und führte sich auf wie wildgeworden.

»Ich komme schon«, sagte sie. »Was willst du mir denn zeigen, Pipp?«

An einer Schneewehe begann er wieder zu scharren, und dann sah Nanni zu ihrem Entsetzen eine kleine Hand.

»Oh, mein Gott«, stieß sie hervor. Wenig später hielt sie Rubinchen in den Armen. Sie wusste nicht, wie sie über die Straße gelangt war, ohne selbst auszu­gleiten. Ihr Vater kam ihr entgegen und nahm ihr das Kind ab. Pipp stieß immer noch klagende Laute aus.

»Bitte, ruf den Arzt, Paps«, keuchte Nanni. »Er soll schnell kommen.«

Friedrich von Willbrecht bekam keine Verbindung. Die Leitung war tot.

»Dieser verfluchte Schneesturm«, sagte er. »Mein Bein hat schon den ganzen Tag rebelliert.«

Annemarie von Willbrecht begann mit zitternden Händen das Kind zu entkleiden. Da kam auch Denise, schon im Nachthemd und Morgenmantel.

»Ich hole Dr. Hellmers«, sagte Nanni. »Wer weiß, wie lange Rubinchen schon dort lag.«

»Wir werden sie versorgen«, sagte Denise tröstend. »Ein wenig verstehe ich von Erster Hilfe.«

»Nimm Pipp mit«, rief Friedrich von Willbrecht seiner Tochter nach, aber das war gar nicht notwendig, denn Pipp war schon wieder an der Tür.

Nanni kämpfte sich durch die Schneemassen, die innerhalb weniger Stunden vom Himmel gefallen waren. Glücklicherweise hatte sie den Wind im Rücken. Mit dem Auto wäre sie wahrscheinlich noch langsamer vorangekommen oder ganz stecken geblieben.

Sie erreichte schließlich das Arzthaus und läutete, doch niemand meldete sich. Es war still und dunkel.

Fieberhaft arbeiteten ihre Gedanken. Dr. Belling wohnte mitten im Ort. Wenn sie ihn nun auch nicht erreichte? Sie tastete sich an den Häuserwänden entlang.

Aus der Bongo-Bar schallten Tanzrhythmen und wiesen ihr den Weg zu Dr. Bellings Haus, als sie schon fast nichts mehr sehen konnte, so sehr tränten ihre Augen von dem so scharfen Wind und dem aufwirbelnden Schnee.

Und dann vernahm sie eine ihr wohlbekannte Stimme. »Natürlich geht das in Ordnung, Mr Miles. Am Montag können wir fliegen.«

Nanni drückte sich instinktiv an die Hauswand. Pipp, so weiß wie der Schnee, hockte sich neben sie und war ohnehin nicht zu unterscheiden.

Lilo und Gordon Miles standen im Eingang der Bongo-Bar. »Das ist ja teuflisch«, sagte Gordon Miles. »Da hetzt man keinen Hund auf die Straße. Kommen Sie, Lilo, wir trinken noch einen. Grund haben wir ja.«

Ich müsste es ihr sagen, wie wir Rubinchen gefunden haben, dachte Nanni, aber dann stieg kalter Groll in ihr empor. Lilo hatte Rubinchen allein gelassen. Sie feierte, während das Kind fast erfror. Sie sollte ihre Strafe bekommen.

Wenig später drückte Nanni auf die Klingel unter dem Namen Dr. Belling, und diesmal wurde ihr geöffnet. Der junge Arzt, der sich erst vor ein paar Monaten hier niedergelassen hatte, war eben erst von einem Krankenbesuch zurückgekommen, und sein Wagen, der mit Schneeketten ausgerüstet war, war noch warm. Pipp weigerte sich allerdings, ihn zu besteigen.

»Er meint wohl, dass er auf seinen vier Beinen schneller heimkommt«, sagte Nanni. So war es dann auch. Pipp stand schon schwanzwedelnd an der Gartenpforte, als sie eintrafen.

*

Rubinchen kehrte aus einer fernen Welt, die kalt und dunkel gewesen war, in die Wirklichkeit zurück. Alles war noch verschwommen, und die Stimmen, die sie vernahm, klangen fremd. Sie wusste nicht, wo sie sich befand, und konnte sich an nichts erinnern.

Es dauerte einige Zeit, bis sie die verschiedenen Stimmen unterscheiden konnte, und ihr kleines Herz begann schneller zu klopfen, als sie die Nannis erkannte.

»Sie kommt jetzt zu sich«, sagte eine Männerstimme. »Anscheinend ist sie mit dem Kopf auf einen Stein oder eine Eisplatte aufgeschlagen. Das kann einen vorübergehenden Gedächtnisschwund zur Folge haben.«

»Sie meinen, dass sie sich an nichts mehr erinnern kann, Dr. Belling?«, fragte Nanni, und diese Bemerkung setzte sich in Rubinchens Köpfchen fest. Ihr Kopf tat wirklich furchtbar weh.

»Das Knie sieht böse aus«, fuhr der junge Arzt fort. »Nun, wir werden die nächsten Tage abwarten müssen. Vielleicht wäre es besser, das Kind in die Klinik zu bringen, Fräulein von Willbrecht.«

»Nein, sie bleibt hier«, erklärte Nanni entschlossen. »Ich kann sie pflegen.«

Rubinchen hörte alles ganz deutlich. Hoffentlich merkte man das nicht, denn sie wollte gern noch mehr erfahren.

»Die Angehörigen werden wohl die letzte Entscheidung haben«, sagte Dr. Belling. »Sind Sie eigentlich schon verständigt?«

»Der Vater des Kindes befindet sich in der Türkei«, sagte Nanni. »Sie ist hier bei ihrer Tante, und wenn ich mir die Bemerkung gestatten darf, ist sie kaum fähig, ein krankes Kind zu betreuen. Deutlicher gesagt, ich gebe ihr an allem die Schuld.«

Nanni erzählte, was sie beobachtet und miterlebt hatte. Sie nahm kein Blatt vor den Mund.

»Es ist mir ganz gleich, was es für Folgen für mich hat«, sagte sie, »aber

Rubinchen steht jetzt unter meinem Schutz, bis Herr Campen seine Entscheidung trifft. Ich habe ihm bereits geschrieben.«

Nanni hat an Daddy geschrieben, dachte Rubinchen, und das ließ ihren Puls schneller schlagen.

Dr. Belling hielt seine Finger um das schmale Handgelenk des Kindes gespannt.

»Hallo, kleines Fräulein, hörst du mich?«, fragte er.

Rubinchen blinzelte. »Wer bist du?«, fragte sie.

»Dr. Belling.«

Nannis Gesicht war jetzt dicht über ihr, und am liebsten hätte Rubinchen ihre Arme um Nannis Hals gelegt, aber sie hatte sich bereits eine Rolle ausgedacht, die ihr Verbleiben in diesem Hause rechtfertigen konnte.

»Rubinchen, kennst du mich nicht?«, fragte Nanni ängstlich.

»Nein«, stieß Rubinchen hervor. »Wo bin ich denn?«

»Bei uns. Pipp hat dich im Schnee gefunden«, sagte Nanni gepresst.

»Pipp?«, flüsterte Rubinchen. »Wer ist Pipp?«

Angstvoll schaute Nanni Dr. Belling an.

»Sie erinnert sich wirklich nicht«, flüsterte sie mit Tränen in den Augen.

»Das Erinnerungsvermögen wird schon wiederkommen«, sagte er tröstend. »Das Kind braucht jetzt Ruhe und Schlaf. Es fiebert. Sie übernehmen da eine große Verantwortung, Fräulein von Willbrecht.«

»Sie wird mich nicht erdrücken«, erwiderte Nanni ruhig. »Das Wohlergehen des Kindes liegt mir am Herzen. Sie können Fräulein Lüdke unterrichten, wo Rubinchen sich befindet. Ach ja, sie legt Wert darauf, Frau Lüdke genannt zu werden«, fügte sie sarkastisch hinzu.

Erstaunt sah er sie an. »Vielleicht informieren Sie mich doch ein bisschen eingehender«, sagte er. »Ich denke, unsere kleine Patientin wird jetzt wieder schlafen. Erfrierungen sind glücklicherweise nicht erkennbar.«

Er bedeutete Nanni, dass er sich lieber draußen mit ihr unterhalten wolle. Pipp schob sich zur Tür herein und trottete zum Bett.

Gemächlich ließ er sich davor nieder und legte seinen Kopf auf die Vorderpfoten.

Rubinchen hätte sich nun doch beinahe verraten, so sehr freute sie sich, dass Pipp zu ihr kam, aber schnell zog sie ihre kleine Hand, mit der sie seinen Kopf streicheln wollte, wieder zurück. Doch Nanette hatte es gesehen und machte sich ihre Gedanken darüber. Geistesabwesend folgte sie dem jungen Arzt in die Diele.

»Kommen Sie doch bitte hier herein«, forderte sie ihn auf, und sie betraten das Wohnzimmer. Im Kamin flackerte noch ein helles Feuer.

»Ich bin durchgefroren«, sagte Nanni. »Unser Telefon ist gestört. Der Schneesturm ist wohl schuld daran.«

»Es wäre nicht auszudenken, was dem Kind geschehen wäre, hätte Ihr Hund es nicht gefunden«, sagte Dr. Belling.

»Er hat Erfahrung«, erklärte Nanni beiläufig. »Bei dem Lawinenunglück, das wir vor zwei Jahren hatten, rettete er drei Menschen, die schon aufgegeben worden waren. Er kennt Rubinchen.«

Dr. Belling beobachtete das junge Mädchen forschend. Sie gab ihm Rätsel auf. Die leidenschaftliche Anteilnahme, die sie dem Kind entgegenbrachte, stand in scharfem Gegensatz zu den sarkastischen Bemerkungen, die sie über Rubinchens Tante gemacht hatte.

»Sie mögen das Kind, aber Sie haben etwas gegen die Tante«, bemerkte er.

»Sehr richtig«, erwiderte Nanni kühl. »Wenn Sie es genau wissen wollen, habe ich eine Mordswut auf sie. Sie hat das Kind gepeinigt bis zum Umfallen. Trotz der Knieverletzung musste Rubinchen heute laufen. Was sagt der Arzt dazu?« Ihre Augen blitzten ihn feindselig an.

»Ich hätte es nicht erlaubt«, sagte Dr. Belling. »Auf mich brauchen Sie doch nicht auch böse zu sein. Ich möchte dem Kind doch helfen.«

»Dann unterstützen Sie mich bitte in meinen Bemühungen, Lilo Lüdke von Rubinchen fernzuhalten.«

»Wenn sie aber darauf besteht, dass die Kleine in die Klinik kommt?«

»Dann sagen Sie, dass sie nicht transportfähig ist. Das können Sie doch.«

»Versuchen will ich es ja«, erklärte er.

Nun fand Nanni ihn schon sympathischer. Sympathisch sah er wirklich aus. Er war auch nicht so robust wie Dr. Hellmers.

»Jedenfalls freut es mich, Sie einmal persönlich kennengelernt zu haben«, sagte er verlegen. »Bisher hatte ich dazu noch keine Gelegenheit. Sie sind Krankengymnastin, wie ich hörte.«

»Ja, aber ich war ein Weilchen auswärts. Wir werden sicher noch öfter miteinander zu tun haben«, sagte Nanni. »Was kann ich noch für Rubinchen tun?«

»Wenn das Fieber steigt, machen Sie bitte Wadenwickel. Ich werde morgen früh wiederkommen. Wie war doch die Adresse von Fräulein Lüdke?«

»Hangstraße 14«, sagte Nanni. »Aber bitte Frau Lüdke!«

Sie lächelte flüchtig.

Dr. Belling musste langsam fahren, denn die Schneewehen waren noch stärker geworden. Als er zur Hangstraße 14 kam, öffnete ihm auf sein Läuten niemand. Er versuchte es mehrmals und wartete noch ein paar Minuten. Er wusste nicht, dass Lilo Lüdke währenddessen in der Bongo-Bar saß und Rubinchen völlig vergessen hatte.

*

Nanni hatte die ganze Nacht an Rubinchens Bett gewacht. Sie hatte die kleine Hand gehalten und auf die Atemzüge des Kindes gelauscht.

Als das fahle Morgenlicht in das Zimmer kroch, kam ihre Mutter. »Leg dich jetzt ein bisschen hin, Nanni«, sagte sie besorgt.

»Nein, ich warte, bis Dr. Belling kommt«, sagte Nanni.

»Dann mache ich uns einen Kaffee«, sagte Frau von Willbrecht seufzend.

Pipp hatte nur den Kopf gehoben, als sie eintrat, und ein paar Mal mit dem Schwanz auf den Vorleger geschlagen.

»Du hast wohl auch keinen Hunger?«, fragte Annemarie von Willbrecht. Pipp gähnte. Sein Kopf sank wieder auf die Vorderpfoten zurück.

»Nerven hat Lilo schon«, sagte Annemarie von Willbrecht, »aber das hat sie schon bei Hasso bewiesen.«

Sie ging aus dem Zimmer, doch Nanni folgte ihr jetzt. »Was war eigentlich der Grund, dass Hasso Schluss mit ihr gemacht hat?«, fragte sie ihre Mutter.

»Kein Mann lässt sich gern an die Kandare legen, Kindchen«, sagte die ältere Frau. »Hasso lässt sich nicht gern kommandieren, das weißt du. Mir behagt die ganze Geschichte nicht, Nanni. Sie wird uns das Haus einrennen.«

»Sie wird gar nicht hereinkommen«, erklärte Nanni energisch.

»Da bin ich nicht so sicher«, sagte Annemarie von Willbrecht seufzend.

»Ich habe gestern an Jan Campen geschrieben«, sagte Nanni, während ihre Mutter die Kaffeemaschine in Betrieb setzte. »Ich werde noch ein Telegramm hinterherschicken. Jemand muss Rubinchen doch helfen. Wir können doch nicht zuschauen, Mutti, wie dieses Kind aus Geldgier gequält und ausgenutzt wird.«

»Du siehst vielleicht zu schwarz, Nanni.«

»Nein, ich habe Verschiedenes gehört. Lilo wird mit Rubinchen auf Reisen gehen, wenn wir es nicht verhindern. Sie verhandelt schon mit einem Manager.«

»So schnell wird die Kleine nicht gesund werden. Reg dich doch nicht so schrecklich auf, Nanni. Vielleicht zahlst du nur drauf bei dieser Geschichte. Hier, trink eine Tasse Kaffee.«

Nannis Hände umschlossen die heiße Tasse, die fast ihren Händen entglitt.

»Ich werde Herrn Campen vorschlagen, dass er Rubinchen nach Sophienlust gibt«, sagte sie. »Dort wäre sie am besten aufgehoben. Ich will nicht, dass sie sich zu sehr an mich gewöhnt, das darfst du nicht denken, Mutti.«

Sie ging schnell aus der Küche und wieder zurück zu Rubinchen, die nun mit weit offenen Augen in ihrem Bett lag und ihr Ärmchen nach Nanni ausstreckte.

Nanni umfing den schmalen, bebenden Körper des Kindes liebevoll. »Geht es wieder besser?«, fragte sie flüsternd. »Kannst du dich jetzt wieder erinnern?«

»Ich kann schon, aber ich will nicht«, sagte Rubinchen. »Aber mit dir kann ich nicht fremd tun, Nanni. Hilfst du mir?«

»Ja, ich helfe dir, mein Liebling«, sagte Nanni zärtlich.

*

Gegen sieben Uhr kam Dr. Belling. »Die Nacht war ganz gut«, sagte Nanni, »aber Rubinchen kann sich an nichts erinnern. Sie erkennt nicht einmal mich.«

Er sah sie skeptisch an, sagte aber nichts. Er untersuchte das Kind.

»Eine tüchtige Erkältung wird sie schon bekommen«, stellte er fest, »aber an einer Lungenentzündung kommen wir wohl vorbei.«

Rubinchen blinzelte bloß. »Ich bin müde, so müde«, sagte sie.

»Du hast viel Zeit zum Schlafen«, erklärte er.

Sie gingen wieder aus dem Zimmer. Nanni sah ihn erwartungsvoll an.

»Was hat Lilo gesagt?«, fragte sie.

»Ich habe sie gar nicht erreicht. Es hat niemand geöffnet. Sehr merkwürdig, finden Sie nicht?«

Natürlich fand Nanni das merkwürdig, aber sie sagte noch immer nichts davon, dass sie Lilo mit Gordon Miles vor der Bongo-Bar gesehen hatte.

Nachdem Dr. Belling wieder gegangen war, duschte sich Nanni und kleidete sich um.

»Wohin willst du denn?«, fragte Frau von Willbrecht. »Du solltest lieber schlafen.«

»Ich fahre zur Post und gebe ein Telegramm an Herrn Campen auf«, erwiderte Nanni. »Schaust du nach Rubinchen, Mutti?«

Frau von Willbrecht nickte.

*

Lilo erhob sich mit schwerem Kopf, als der Wecker läutete. Es war sieben Uhr. Erst um vier Uhr morgens war sie nach Hause gekommen. Benommen taumelte sie in das Bad, um sich dann erst zu erinnern, was gestern gewesen war.

Sie hatte einen schalen Geschmack im Mund, trank ein paar Schluck kaltes Wasser und duschte sich ab. Sonst weckte sie Rubinchen immer vorher, aber beim Duschen fiel ihr ein, dass sie heute Morgen nicht trainieren wollten. So ging sie, in den Frotteemantel gehüllt, in die Küche, um Kaffeewasser aufzusetzen. Dabei wurden ihr die Ereignisse der Nacht bewusst.

Ihre Augen kniffen sich zusammen, und ihr Mund wurde noch schmaler.

Sie ging nun doch in Rubinchens Zimmer und erstarrte, als sie das Bett leer fand.

»Sabine«, rief sie gellend. »Wo bist du, Sabine?« Alles blieb still.

Sie suchte die ganze Wohnung ab, halb irr vor Schrecken. Sie riss die Schränke auf, schaute unter die Betten. Doch das Kind war nicht da. Zum ersten Mal in ihrem Leben empfand Lilo Lüdke Angst.

In fliegender Hast kleidete sie sich an und rannte auf die Straße. Aber wen sollte sie fragen? Von überall schienen drohende Schatten auf sie zuzukommen. Das hatte ihr Gordon Miles eingebrockt. Seinetwegen hatte sie das Kind allein gelassen!

Wie lange war Rubinchen überhaupt schon fort? Sie hätte es nicht sagen können. Miles musste ihr helfen.

Sie stand vor dem Hotel, und da wurde ihr bewusst, was sie aufs Spiel setzte. Jeder kannte sie in diesem Ort. Die Mäuler würde man sich zerreißen über sie, so wie damals, als Hasso von Willbrecht eine andere geheiratet hatte.

Niemals würde sie ihm das verzeihen, seiner ganzen Familie nicht. Ob Rubinchen nicht nur von Nanette aufgehetzt worden war und sich irgendwo im Haus versteckte, um sie etwas zu ärgern?

Sie ging zurück. Es war immer noch so glatt, und wieder dachte sie daran, wie sie auf die Straße gefallen war und Gordon Miles dazu gelacht hatte.

Vor ihrem Haus stand jetzt ein Auto. Sie kannte es nicht. Ein Mann stieg aus. Dr. Belling. Sie kannte ihn, obgleich sie noch nichts mit ihm zu tun gehabt hatte.

Er war ein gut aussehender Mann, aber natürlich war er auch verheiratet. Immer, wenn ihr ein Mann gefallen hatte, war er schon verheiratet.

Jetzt tat sie, als bemerkte sie ihn nicht, und hastete zur Haustür, aber er trat auf sie zu und sprach sie an.

»Frau Lüdke?«

»Ja, was wünschen Sie?«, fragte Lilo abweisend.

»Ich wollte Ihnen sagen, dass Ihre Nichte sich im Haus Willbrecht befindet«, sagte Dr. Belling.

»Wieso?«, fragte sie.

»Sie wurde von dem Hund heute Nacht im Schnee gefunden«, erklärte er. »Sie wäre erfroren, wenn Pipp sie nicht gefunden hätte.«

»Das sind doch Märchen«, stieß sie hervor.

»Das ist eine sehr traurige Wahrheit«, erwiderte er mit ernstem Nachdruck. »Ich wollte es Ihnen schon heute Nacht mitteilen, aber Sie waren nicht zu Hause.«

Lilo wurde es schwarz vor den Augen. Sie hielt sich an der Türklinke fest und meinte schon zu hören, was man nun alles über sie reden würde.

»Ich hatte noch eine dringende Verabredung«, stammelte sie. »Das Kind hat geschlafen, als ich die Wohnung verließ. Sie wollen mir nur Angst einjagen. Bestimmt hat Fräulein von Willbrecht Ruth geholt.«

»Nein, das hat sie gewiss nicht. Aber es kann durchaus möglich sein, dass das Kind, von Angst geplagt, jemand suchte, bei dem es sich sicher fühlte. Es war ein entsetzlicher Schneesturm. Haben Sie das Kind jetzt erst vermisst?«

»Was wollen Sie eigentlich von mir?«, begehrte Lilo auf. »Ich bin heimgekommen und habe mich hingelegt. Ich konnte doch nicht annehmen, dass Ruth ausgerissen ist. Bestimmt ist sie zu Fräulein von Willbrecht gelaufen, und alles andere ist erdichtet.«

Dr. Belling drehte sich um. »Ich habe Sie informiert«, sagte er eisig. »Das Übrige ist Ihre Angelegenheit.« Dann stieg er in seinen Wagen.

*

Nanni war noch nicht zurück, als Lilo bei den Willbrechts auftauchte. Sie hatte sich vorgenommen, den Spieß umzudrehen und alle Schuld auf Nanni abzuwälzen. Nur so konnte sie ihr Gesicht noch wahren.

Sie hatte sich zwar geschworen, dieses Haus nie wieder zu betreten, doch jetzt blieb ihr nichts anderes übrig.

Als Frau von Willbrecht ihr die Tür öffnete, bogen sich Lilos Mundwinkel abwärts.

»Dr. Belling hat mich unterrichtet, dass Sie meine Nichte in Ihrem Haus aufgenommen haben«, sagte sie mit frostiger Stimme. »Ich würde gern die näheren Umstände erfahren.«

»Sie sind gut«, entfuhr es Annemarie von Willbrecht. »Es war purer Zufall, dass unser Pipp die Kleine gefunden hat.«

»Da haben Sie sich eine hübsche Geschichte ausgedacht«, sagte Lilo.

»Ich muss doch sehr bitten«, sagte Annemarie von Willbrecht empört, und ganz plötzlich war Pipp da. Er knurrte so gefährlich, dass Lilo zurückwich.

»Halten Sie den Hund zurück«, kreischte sie. »Ich will meine Nichte mitnehmen.«

»Nein«, rief Nanni laut. Sie trat durch die halb offen stehende Tür. »Das Kind bleibt hier, bis wir Nachricht von Herrn Campen haben. Ich habe ihm telegrafiert.«

Lilo wurde totenblass. Ihre Lippen bewegten sich, ohne dass sie einen Laut hervorbringen konnte.

»Sie können sich übrzeugen, wie krank das Kind ist, Frau Lüdke«, sagte Nanni mit einem drohenden Unterton. »Aber vor allem sollten Sie froh sein, dass sie überhaupt noch lebt.«

*

Yasmin reichte Jan Campen den Telefonhörer. »Der Boss will dich sprechen«, sagte sie. Es klang missmutig, und zwischen ihren Augenbrauen erschien eine steile Falte.

Trotz ihrer betörenden Nähe wusste Jan Privates und Geschäftliches noch immer zu trennen. Er war ganz Ohr, und während des Gespräches hellte sich sein Gesicht, das die letzten Tage recht düster gewesen war, auf.

»Selbstverständlich kann ich das einrichten«, hörte Yasmin ihn sagen. »Es kommt mir sogar sehr gelegen. Ja, danke. Dann bis Montag.«

Er legte den Hörer auf. Yasmin sah ihn erwartungsvoll an. »Was ist denn?«, fragte sie.

»Ich soll am Montag in München sein«, erwiderte er. »Wichtige Besprechungen. Das trifft sich gut. Dann kann ich am Samstag fliegen und mich um Rubinchen kümmern. Ich bin beunruhigt.«

»Aber wieso denn?«, fragte Yasmin. »Es kann doch noch gar keine Antwort da sein. Ich bin sehr traurig, Jan. Ich bin dir völlig nebensächlich.«

»Red doch keinen Unsinn. Wir sind Tag für Tag zusammen, aber von Lilo habe ich schon zehn Tage keine Post mehr bekommen. Was kann in zehn Tagen alles passieren!«

»Nimm mich mit, Jan«, bat sie.

»Das geht nicht, Kleines. Ich bin Mittwoch wieder zurück. Was sollte ich dem Boss sagen – und deine Eltern würde auch nicht einverstanden sein.«

Ihm kamen diese Ausreden selbst ein bisschen lahm vor, aber er konnte Yasmin Rubinchen nicht einfach vor die Nase setzen. Er wollte erst wissen, wie das Kind reagierte.

Yasmin war gekränkt, und sie zeigte es ihm, aber er hatte so viele dringliche Dinge zu erledigen, dass er wenig Notiz davon nahm. Der Vormittag verging mit Konferenzen. Mittags aß er mit einem ausländischen Gast. Es war nichts Ungewöhnliches, aber heute fasste Yasmin es als persönliche Beleidigung auf.

Als er sie dann gerade in den Arm nehmen wollte, um sie wieder versöhnlich zu stimmen, wurde ihm das Telegramm gebracht. Er war völlig verwirrt, als er die wenigen Worte las.

Sabine erkrankt, in meiner Obhut. Erbitte dringend Nachricht auf meinen Brief. Nanette Willbrecht.

»Ist heute ein Brief für mich gekommen, Yasmin?«, fragte er erregt.

»Kein Privatbrief«, erwiderte sie. »Was ist denn?«

Er reicht ihr das Telegramm. »Wer ist Nanette Willbrecht?«, fragte sie. Eifersucht klang aus ihrer Stimme.

»Weiß ich nicht. Ich kann mir keinen Reim darauf machen.« Er schlug sich an die Stirn. »Warte, ich glaube, so hieß eine Freundin meiner Frau. Jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Mein Gott, sie werden doch keinen Unfall gehabt haben?«

Er war völlig verwirrt. Warum telegrafierte Nanette Willbrecht? Warum nicht Lilo?

Was sollte er für einen Brief bekommen haben? Wieso war Rubinchen krank? Lilo hatte doch immer geschrieben, dass das Kind sich bester Gesundheit erfreue. Zum Teufel noch mal, Lilo hätte sofort ein Blitzgespräch anmelden müssen, wenn Rubinchen etwas fehlte und es nicht anderen überlassen dürfen, ihn darüber zu informieren.

So aufgeregt hatte Yasmin ihren zukünftigen Mann noch nie gesehen, doch es wurde ihr jetzt klar, welche große Rolle sein Kind in seinem Leben spielte.

Sie drückte sich an ihn. »Melde doch ein Blitzgespräch an, Liebster«, sagte sie mit samtweicher Stimme. »Dann brauchen wir uns nicht zu sorgen.«

»Bist ein Schatz, Yasmin. Du nimmst Anteil, das tröstet mich.« Schnell drückte er ihr einen zärtlichen Kuss auf die vollen Lippen. Aber als sie sich an seinen Hals hängte, schob er sie von sich. »Bitte, melde das Gespräch an. Ich frage inzwischen nach, ob noch einmal Post eingegangen ist.«

Gerade sei ein Luftpostbrief mit Eilzustellung gebracht worden, erfuhr er. Jans Nerven waren äußerst gespannt. Er eilte dem Boten entgegen und schlitzte den Brief schon auf dem Gang auf.

Sehr geehrter Herr Campen, als frühere Freundin Ihrer verstorbenen Frau nehme ich mir die Freiheit, Sie auf einige Missstände aufmerksam zu machen, die Rubinchens Entwicklung gefährden könnten.

Lieber Gott, klang das altbacken!

Er konnte sich beim besten Willen nicht mehr an die Freundin seiner Frau erinnern. Wahrscheinlich war diese vom gleichen Schrot und Korn wie Lilo.

Jan las weiter. Nun klangen die Worte eindringlicher.

Rubinchen wird von Ihrer Schwägerin zum Eislaufstar getrimmt. Das Kind hat keinerlei Freiheiten und darf mit niemandem reden. Seit Kurzem mischt sich bereits der Manager einer Eisrevue ein, und wenn Sie nicht schnellstens etwas unternehmen, weiß ich nicht, wie ich, die von Lilo als Feindin betrachtet wird, etwas tun könnte, um noch größeres Unheil abzuwenden. Rubinchen kann das weder körperlich noch seelisch durchstehen. Bitte, setzen Sie sich umgehend mit Ihrer Schwägerin in Verbindung.

Nanette von Willbrecht.

Yasmin kam aus dem Büro.

»Wo steckst du denn, Jan?«, fragte sie. »Das Gespräch wird bald kommen.«

»Mach es rückgängig. Ruf diese Nummer an. Ich muss diese Nanette schleunigst sprechen.«

Er gab Yasmin den Brief, auf dem Adresse und Telefonnummer vermerkt waren, und ging mit erregten Schritten in seinem Büro hin und her.

Yasmin wählte wieder das Fernamt und gab den neuen Auftrag. Dabei las sie den Brief, und ihre Augen verengten sich.

»Scheint eine recht geltungsbedürftige Person zu sein«, sagte sie über die verdeckte Sprechmuschel hinweg zu Jan. »Wahrscheinlich auch neidisch. Sei doch froh, dass du ein so talentiertes Kind hast. Wer weiß, ob da nicht eine Intrige dahintersteckt.« Sie lauschte wieder in den Hörer. »Ja, ein Blitzgespräch«, sagte sie. »Wir warten.«

»Ich kann das alles nicht begreifen«, sagte Jan. »Es war doch nie die Rede davon, dass Lilo das Kind trainiert. Sie hat mir nichts davon geschrieben. Natürlich ist Rubinchen viel zu zart. Deswegen habe ich sie auch nicht hierhergebracht.«

»Nanette von Willbrecht – wahrscheinlich eine adlige alte Tante, die nichts zu tun hat, als anderen Leuten auf die Finger zu schauen«, sagte Yasmin verächtlich. »Miss dem doch nicht so viel Bedeutung bei, Jan. Ich hasse es, wenn andere Leute sich in meine Angelegenheiten mischen.«

Er mochte das auch nicht, aber es ging um Rubinchen, und er zwang sich dazu, sich an Nanette von Willbrecht zu erinnern. Zuerst kam ihm die Erleuchtung, dass Lilo einmal so gut wie verlobt mit einem Hasso von Willbrecht gewesen war, und hatte diese Nanette damals nicht gerade ihren Freund verloren, als er und Ruth heirateten? Ja, jetzt wusste er es wieder ganz genau. Sie war deshalb nicht zur Hochzeit bekommen, und Ruth hatte das sehr bedauert. Später hatte er sie dann kennengelernt, flüchtig nur. Ein stilles blasses Mädchen mit traurigen Augen. Wahrscheinlich hatte sie sich in ihren Kummer vergraben und machte nun auch bei anderen aus Kleinigkeiten gleich Affären.

Das Telefon klingelte und riss ihn in die Gegenwart zurück. Schnell nahm er Yasmin den Hörer aus der Hand.

»Hier spricht Campen – Campen, Ankara. Fräulein von Willbrecht bitte.« Da hatte sich erst eine Frau von Schoenecker gemeldet, doch nun tönte eine andere Stimme an sein Ohr, weich und anscheinend recht verwirrt. Aber die Verbindung war glänzend, als wäre sie nur ein paar Häuser weiter.

»Bitte, sprechen Sie ausführlich. Es ist gleich, was mich das Gespräch kostet. Darum brauchen Sie sich nicht auch noch Gedanken zu machen. Mich interessiert einzig und allein meine Tochter.«

Sehr höflich war das nicht, aber darüber machte er sich wirklich keine Gedanken. Mehr darüber, dass ihn die sanfte Mädchenstimme so faszinierte, dass er völlig in ihren Bann geschlagen wurde.

Nanni hatte sich durch seinen barschen Ton nicht täuschen lassen. Im Gegenteil, sie wurde viel selbstsicherer. Ihr war es nur recht, wenn sie alles ausführlich erzählen konnte, denn kurz zuvor hatte sie eine zweite, heftige Auseinandersetzung mit Lilo gehabt, die sich sehr dreist aufgeführt hatte.

Endlich – Yasmin konnte es schon gar nicht mehr erwarten – sagte Jan: »Ich komme am Samstag nach Deutschland und werde am späten Nachmittag dort sein, um die Angelegenheit an Ort und Stelle zu klären.«

»Was hat sie darauf gesagt?«, fragte Yasmin neugierig. Sinnend blickte Jan vor sich hin. »Rubinchen wird glücklich sein«, hatte Nanni gesagt, und wie sie es sagte, hatte ihn tief beeindruckt. Ein langer Draht, an jedem Ende ein dem anderen fremder Mensch, und doch konnte er sich nicht erinnern, sich jemals einem anderen Menschen so eng verbunden gefühlt zu haben.

»Rubinchen ist nachts weggelaufen und im Schnee bewusstlos geworden«, berichtete er mit heiserer Stimme. »Der Hund von Fräulein von Willbrecht hat sie gefunden.«

»Wie dumm von dem Kind, nachts wegzulaufen«, fiel Yasmin ihm ungehalten ins Wort. »Das klingt mir ein bisschen zu sehr nach Kriminalroman. Hatte diese besagte Nanette es früher vielleicht auf dich abgesehen, Jan?«

»Was du denkst!«, sagte er ärgerlich. »Es geht um Rubinchen, begreifst du das noch immer nicht?«

»O doch, ich begreife, dass ich eine untergeordnete Rolle in deinem Leben spiele, mon cher«, sagte Yasmin anzüglich.

»Himmel, diese Frauen! Eine wie die andere«, brach es aus ihm heraus. »Ich habe ein Kind, das ich liebe. Das wusstest du von Anfang an. Ich glaubte, dass du auch Verständnis für dieses Kind aufbringen würdest, Yasmin.«

»Himmel, diese Männer, dass sie nicht begreifen, dass eine verliebte Frau in dem Mann ihres Herzens Nummer eins sieht«, sagte Yasmin und fiel ihm um den Hals. »Sei doch nicht böse, Jan. Du warst doch überzeugt, dass Rubinchen bei Lilo gut aufgehoben ist. Es will mir nicht in den Sinn, dass sich daran etwas geändert hat.«

»Ich dachte, sie hätte sich geändert«, bemerkte er deprimiert. »Es war mein Fehler. Wir müssen wirklich so schnell wie möglich heiraten, damit das Kind wieder ein richtiges Zuhause bekommt und die Liebe, die es braucht. Sie braucht sehr viel Liebe.«

Doch während er Yasmin küsste, dachte er, dass dort in Deutschland eine junge Frau war, die Rubinchen liebte und sich um sie sorgte, die sich ihretwegen sogar mit Lilo anlegte – und das wollte schon etwas bedeuten.

*

Wutentbrannt war Lilo zum Hotel gefahren. Sie musste Gordon Miles unbedingt sprechen. Gestern war es ihr nicht mehr gelungen. Doch diesmal traf sie ihn in der Halle, und es sah so aus, als wolle er abreisen. Er hatte bereits seinen extravaganten Ledermantel an.

»Gordon«, rief sie. Er drehte sich um und blickte mürrisch drein. Einen Schritt trat er auf sie zu. »Wozu so viel Aufheben?«, fragte er ironisch.

»Ich muss dich sprechen, Gordon. Hast du denn schon alles vergessen?«

»Gab es etwas Wichtiges, was ich nicht vergessen dürfte?«, fragte er zynisch.

»Die Reise – du hast uns doch die Reise versprochen, Gordon!«

»Ich habe gar nichts versprochen. Ich wollte einen Vertrag, der leider bis heute nicht unterzeichnet wurde. Ich wollte einem talentierten Kind den Weg zu einer glänzenden Karriere ebnen, doch leider ist dieses Kind erkrankt und befindet sich in einer Obhut, die einer Festung gleicht. Du hast augenblicklich nichts zu vermelden. Der Nachrichtendienst funktioniert hier erstklassig, liebe Lilo. Sagen wir, es wär’ so schön gewesen, es hat nicht sollen sein. Ich kann keine Zeit mehr vergeuden. Jane, bist du fertig?«

Jane kam die Treppe heruntergetänzelt, schick, hübsch, ganz die große Dame. Das war das Schlimmste für Lilo. Alle ihre Träume zerstoben in ein Nichts. Sie spürte die spöttischen Blicke, die ihr folgten, wie Nadelstiche.

Sie hatte wieder einmal den Kürzeren gezogen, wieder einmal verspielt und eine Niederlage einstecken müssen. Warum nur erging das ausgerechnet immer ihr so?

Dass sie selbst Schuld daran tragen könnte, wurde ihr nicht bewusst. Sie zog sich für diesen Tag in ihre Wohnung zurück und ließ sich nirgendwo sehen.

*

Rubinchen ging es schon wieder recht gut. War es nun die Freude, bei Nanni sein zu können und von Nannis Mutter liebevoll umsorgt zu werden, war es das Gefühl, befreit von allem Zwang zu sein, oder die Gesellschaft von Nick und Henrik, die ihr die Zeit vertreiben halfen und sie mit allerlei Scherzen zum Lachen brachten?

Nick begann von Sophienlust zu erzählen, doch anfangs hielt Rubinchen das alles für ein Märchen.

»Das gibt es wirklich«, erklärte Henrik. »Du musst es dir einmal ansehen. Ein Heim für Tiere haben wir auch. Unser Schwager ist nämlich Tierarzt.«

»Ist das wirklich wahr, Nanni?«, fragte Rubinchen, als Nanni eintrat.

»Freilich ist es wahr. Ich war schon selbst dort.«

»Fährst du mit mir auch einmal dorthin?«, fragte sie.

»Wir wollen sehen, Rubinchen. Nun lasst ihr beiden uns einmal allein. Ich muss Rubinchen etwas erzählen«, sagte Nanni zu den Schoeneckerbuben.

»Aber nachher müssen sie mir noch mehr erzählen, auch von dem Tierheim«, sagte Rubinchen.

»Was würdest du denn sagen, wenn dein Daddy dich besuchen kommt?«, lenkte Nanni sie schnell ab.

Keine jubelnde Freude, wie sie erwartet hatte, folgte.

»Mit ihr?«, fragte Rubinchen verschreckt.

»Doch nicht mit Lilo«, sagte Nanni tröstend.

»Ich meine doch die, die er heiraten will«, flüsterte das Kind. »Ich mag sie vielleicht gar nicht.«

Ein neues Problem tat sich für Nanni auf. »Würdest du dann lieber bei Tante Lilo bleiben?«, fragte sie.

Rubinchen schüttelte den Kopf.

»Dann würde ich lieber mit nach Sophienlust gehen«, sagte sie leise. »Bei dir werde ich nicht bleiben können.«

»Nein, das geht leider nicht«, erwiderte Nanni, »so gern ich es auch hätte. Aber ich habe meinen Beruf und am selben Ort mit Lilo – nein, Rubinchen, damit müssen wir uns abfinden, das ist nicht zu machen.«

»Frau von Schoenecker gefällt mir sehr gut«, meinte Rubinchen, »und wo du doch schon in Sophienlust warst, könntest du vielleicht noch dorthin gehen?«

»Das wäre vielleicht möglich, aber nun freue dich doch, dass dein Daddy kommt.«

»Ich weiß nicht, worauf ich mich noch freuen kann«, sagte Rubinchen bekümmert. »Wenn mir Yasmin nicht gefällt, kann ich mich nicht freuen, und wenn Daddy mich von dir wegnimmt, auch nicht, und wenn Tante Lilo mit den alten Sachen daherkommt, muss ich sogar weinen.«

»Was denn für alte Sachen, Rubinchen?«, fragte Nanni sanft.

»Dass Daddy sich nicht richtig um Ruth gekümmert hat, zum Beispiel. Ruth war meine Mama.«

»Ja, das weiß ich, Rubinchen. Ich habe sie gekannt.«

»Wenn du meine Mama gekannt hast, weißt du vielleicht auch, ob es stimmt, dass Daddy Lilo erst viel lieber hatte?«

»Nein, das weiß ich nicht«, erwiderte Nanni und fand wieder einen Grund, Lilo Vorwürfe zu machen. Auf welche Arten mochte sie bloß versucht haben, sich das Kind gefügig zu machen? »Ich weiß nur, dass Ruth sehr glücklich war, als sie deinen Daddy heiratete, und sie war sehr hübsch.«

»Hast du Daddy da auch schon gekannt?«, fragte Rubinchen gedankenvoll.

»Nur ganz flüchtig, vom Sehen. Wir haben kaum ein paar Worte miteinander gesprochen. Ich war damals noch sehr jung, mein Kleines.«

Damit kam sie bei Rubinchen nicht an. »Du bist auch jetzt noch sehr jung, und ich finde es wunderschön, wenn man eine junge Mutti hat. Hast du eigentlich schon einen Mann, Nanni?«

»Nein, mein Kleines.«

»Aber du hast einen Hund und Eltern, und wenn ein Mann nie da ist, braucht man eigentlich auch keinen. Herr von Schoenecker ist immer da. Er ist ein richtiger Vater.«

Anscheinend wollte sie an sich selbst einen Widerstand gegen ihren Daddy erzeugen, und Nanni ahnte, dass dies daher kam, weil er wieder heiraten wollte. Sie konnte Rubinchen verstehen. Wahrscheinlich dachte sie nach ihren Erfahrungen mit Lilo daran, dass sie vom Regen in die Traufe kommen könnte, und solche Befürchtungen waren auch nicht einfach von der Hand zu weisen.

Lassen wir alles an uns herankommen, dachte sie, und sah dem Besuch von Jan Campen mit sehr gemischten Gefühlen entgegen.

*

Alexander von Schoenecker wollte mit seinen beiden Söhnen am Samstagnachmittag noch ein Eishockeyspiel besuchen. Für Denise war das nichts. Sie leistete deshalb Rubinchen Gesellschaft, weil Nanni eine Patientin besuchen musste, die jede Woche auf diese Bewegungstherapie angewiesen war.

Während des Winters betreute Nanni nur ihre Stammkundinnen, denn da war die elterliche Pension meist voller Gäste, und sie musste ihrer Mutter zur Hand gehen.

Frau Hagen, die Nanni besuchte, war eine alte Freundin ihrer Mutter, eine sehr feine und gebildete alte Dame, mit der Nanni sich gern unterhielt. Ihr Mann war Diplomat gewesen, und sie war viel in der Welt herumgekommen. Ihr Sohn, Karlheinz, war Nannis Jugendfreund gewesen, der an Kinderlähmung gestorben war. Ein gerütteltes Maß von Leid hatte die einsame Frau zu tragen, und die Stunden, in denen Nanni bei ihr war, waren die schönsten in ihrem Leben.

Die Zuneigung beruhte auf Gegenseitigkeit. »Nicht böse sein, Tante Tresi, dass ich erst heute komme, aber bei uns hat sich allerlei getan.«

»Annemarie hat mich schon angerufen, Kindchen. Ich habe mich schon gesorgt um dich«, sagte Frau Hagen, und Nanni fand, dass sie heute besonders erschöpft wirkte. »Viel kannst du nicht mit mir anfangen, Nanni. Mir scheint eine Grippe in den Gliedern zu stecken. Aber ich alte egoistische Frau wollte dich gern wieder einmal sehen.«

»Ich werde bald wieder mehr Zeit haben, Tante Tresi. Wenn Rubinchen gesund ist und ihr Vater kommt, wird er sie wohl mitnehmen oder nach Sophienlust bringen.«

Frau Hagen ließ ihren Blick in die Ferne schweifen. »Jan Campen – ich kann mich noch recht gut an ihn erinnern«, sagte sie gedankenverloren. »Eigentlich habe ich die beiden damals zusammengebracht. Wie seltsam das Leben doch spielt! Du kannst dich daran gewiss nicht mehr erinnern. Du warst ja noch im Internat. Jan Campen verbrachte hier einen Skiurlaub. Er wohnte bei mir. Ich hatte gern junge Menschen um mich, und damals war Karlheinz noch ein begeisterter Skiläufer. Meisterschaften wollte er gewinnen. Mein gutes Kind, nun wecke ich wieder traurige Erinnerung. Es tut mir leid.«

»Erzähl nur weiter, Tante Tresi. Ich habe nie wieder einen Jungen wie Karlheinz kennengelernt. Ich werde ihn nie vergessen.«

Frau Hagen streichelte ihre Wangen. »Es soll aber nicht der Anlass sein, dass du nie an ein eigenes Glück denkst, Nanni. Das Schicksal hat mir viel genommen, aber verbittert bin ich nicht, nur wehmütig. Ach ja, ich wollte doch erzählen, wie ich Jan Campen und Ruth zusammenbrachte. Ruth erledigte mir immer meine Besorgungen in der Stadt, und als sie an jenem Tag zurückkam, war ein Schneesturm wie neulich. Jan und Karlheinz waren noch nicht zurück vom Berg, und ich hatte natürlich Angst. Da blieb Ruth bei mir, und als die beiden dann kamen, versorgte sie die durchgefrorenen Burschen. Jan Campen muss das sehr gefallen haben, und er fragte mich, ob er Ruth nicht öfter sehen könne. Es war nicht einfach, denn Lilo hängte sich immer an sie. Sie dachte immer, sie würde sonst etwas versäumen. Sie haben sich dann schnell verlobt, die beiden, und als sie heirateten, war Karlheinz schon nicht mehr dabei.«

Ihre Stimme war immer leiser geworden. Auch Nanni spürte, wie ihre Augen feucht wurden. Sie fühlte, dass die alte Dame in einer trübseligen Stimmung war, und das bereitete ihr Sorgen, denn Teresa Hagen verschonte ihre Umwelt sonst weitgehend mit ihren eigenen Problemen.

»Ich will dir nicht das Herz schwer machen, Kindchen«, sagte sie leise, »aber so langsam geht es auch mit mir zu Ende. Da wollte ich noch über einiges mit dir sprechen, Nanni. Du bist der einzige Mensch, der mir nahesteht. Du sollst alles bekommen, was ich hinterlasse.«

»Sprich doch bitte nicht davon, Tante Tresi«, sagte Nanni gequält.

»Warum nicht? Man kann die Zeit nicht aufhalten. Ich bin ganz ruhig, das sollst du wissen. Meine Lieben warten schon lange auf mich. Wäre Karlheinz bei uns geblieben, wärest du eines Tages wohl meine Schwiegertochter geworden, und ich hätte das Glück genießen können, Enkel zu haben. Das Schicksal wollte es anders. Aber weil ich dich so lieb habe, will ich nicht, dass du aus einem nüchternen Testament erfährst, dass du meine Erbin sein wirst. Du sollst nämlich keine Verpflichtungen darin sehen, Karlheinz immer die Treue zu halten. Ich meine, dass Jahre genug vergangen sind und dass du Anspruch auf Glück hast.«

»Es lässt sich nicht erzwingen, Tante Tresi. Es muss von selbst kommen«, sagte Nanni.

»Ach, man muss manchmal auch etwas dazu tun. Wie viel Menschen verbauen sich das Glück aus Rücksicht auf andere, vielleicht auch Selbstlosigkeit und manchmal wohl auch aus Unglauben. Man muss an das Glück glauben und manchmal auch dafür kämpfen. Ich weiß selbst nicht, warum ich das sage. So manches geht mir jetzt durch den Sinn. Ach was, erzähl mir jetzt lieber von Rubinchen. Gesehen hätte ich das Kind schon gern einmal.«

Nanni erzählte zunächst von Rubinchen, dann von den Schoeneckers, damit Frau Hagen auf frohere Gedanken gebracht wurde.

»Ja, das ist eine schöne, beglückende Lebensaufgabe«, sagte sie. »Aber es gehört viel Mut dazu und Selbstaufopferung.«

»Und dennoch haben sie es verstanden, auch in ihrer eigenen Familie eine vollkommene Harmonie zu erhalten.«

Während Nanni erzählte, bewegte sie die Arme und Beine der alten Dame in sanftem Rhythmus, aber sie spürte, wie kraftlos diese schon war.

*

Mittags war Jans Maschine mit halbstündiger Verspätung in München gelandet. Jede Minute der Verzögerung hatte seine Ungeduld gesteigert. Dann fand er auch noch einen Taxifahrer, der eine so weite Fahrt strikt ablehnte, weil er schon auf sein freies Wochenende vorbereitet gewesen war, und ihm einen Zug empfahl, der bereits in einer Stunde vom Hauptbahnhof fahren würde. Damit käme er bei dem Wochenendverkehr, wo alles in die Berge ströme, ohnehin schneller zum Ziel.

Er erreichte den Zug gerade noch und blieb bis zur nächsten Station allein im Abteil. Dann stieg eine sehr elegante junge Dame ein. Sie maß ihn mit einem kurzen abschätzenden Blick, setzte sich ihm gegenüber und schlug die Beine graziös übereinander.

Aus ihrer Tasche kramte sie ein goldenes Zigarettenetui. »Würden Sie bitte haben Feuer?«, fragte sie mit deutlichem Akzent. Er tippte auf Amerikanerin, die sich jedoch die Eleganz einer Pariserin angeeignet hatte.

Er holte ein Feuerzeug aus seiner Tasche und knipste es an. Als sie sich vorbeugte, fielen ihr die Illustrierten, die auf ihren wohlgeformten Knien gelegen hatten, zu Boden.

Jan bückte sich, und seine Augen wurden starr, denn auf dem Titelbild war unverkennbar seine Tochter Rubinchen zu sehen.

»Verzeihung, dürfte ich diese Zeitschrift einmal ansehen?«, fragte er höflich.

»Bitte schön«, erwiderte die junge Dame lächelnd, ihn unter halbgeschlossenen Lidern betrachtend.

Seine Tochter als Titelbild auf einer Illustrierten! Schlug Lilo etwa auch daraus Kapital? Stimmt wirklich alles, was Nanette von Willbrecht ihm geschrieben hatte?

»Ein süßes Kind, nicht wahr?«, fragte sein Gegenüber. »Ein ganz großes Talent. Ihretwegen fahre ich in diesem Zug.«

In Jans Kopf tickte es. Sollte der Zufall ihm mehr an Auskünften bescheren, als er auch nur im Entferntesten hatte ahnen können? Mit einigem diplomatischen Geschick müsste er eigentlich mehr aus ihr herausbekommen. Er war gewiss nicht eitel, aber er wusste recht gut, dass er seine Wirkung auf Frauen nicht verfehlte, wenn er seinen Charme spielen ließ.

»Ich finde es immer ein wenig bedauerlich, wenn kleine Kinder sich schon so produzieren«, bemerkte er beiläufig.

Die junge Dame lachte hellauf. »Ach, das macht ihnen doch Spaß, und sie verdienen schon eine ganze Menge Geld damit«, sagte sie. »Diese kleine Eisprinzessin kann in ein paar Jahren steinreich sein. Mein Name ist übrigens Jane Watts. Ich habe selbst meine Karriere als Eiskunstläuferin gemacht – finden Sie, dass mir dies schlecht bekommen ist?« Ein klingendes Lachen folgte.

»Haben Sie auch schon so früh angefangen?«, erkundigte sich Jan.

»Darf ich nicht erst Ihren Namen erfahren?«, fragte sie anzüglich.

Er überlegte blitzschnell. Sie kannte Rubinchen, also würde sie auch ihren Familiennamen kennen. Himmel, wollte ihm denn nichts einfallen!

»Hagen«, sagte er dann. »Jan Hagen.«

»Jane und Jan«, lachte sie, »wie amüsant! Ich bin immer froh, angenehme Reisegesellschaft zu haben. Mit dem Wagen kommt man heute ja nicht voran. Die Straßen sind alle verstopft.«

Er lenkte ganz schnell wieder auf das Thema über, das ihn mehr interessierte.

»Sie kennen diese kleine Eisprinzessin persönlich?«, fragte er.

»Ich konnte ihr Talent bewundern, und wir hatten sie schon in unsere Eisrevue eingeplant. Aber da ergaben sich ein paar Schwierigkeiten mit dem Manager, der mit der Trainerin nicht klar kam. Man muss natürlich gerade, was ein Kind anbetrifft, vorsichtig sein. Die Trainerin hat Haare auf den Zähnen. Sie hat auch vielleicht ein bisschen des Guten zu viel getan. Uns ist bekannt geworden, dass der Vater des Kindes am Wochenende kommt, und vielleicht kann man mit ihm besser ins Geschäft kommen. Väter, die keine Zeit für ihre Kinder haben, sind oft aufgeschlossener.«

Jane blieb redselig. Der attraktive Mann gefiel ihr, und da er selbst wenig zum Gespräch beitrug, plauderte sie munter weiter.

»Man muss natürlich Freude in einem so kleinen Mädchen erzeugen. Es darf das Training nicht als Strafe empfinden. Ich selbst werde mich des Kindes annehmen, wenn es zu einem Vertrag kommt, und ich muss gestehen, dass ich noch immer erreichte, was ich wollte.« Ein vielsagendes Lächeln begleitete diese Worte. »Schade, dass Sie dieses Kind noch nicht tanzen und springen sahen«, redete sich Jane in Begeisterung. »Sie wären doch bestimmt stolz, eine solche Tochter zu haben.«

»Ich weiß nicht«, erwiderte er gepresst.

Jane lachte wieder. »Dann bräuchten Sie nichts mehr zu tun. Das Geld würde das Kind bringen. Verstehen Sie übrigens etwas vom Eislaufen?«

»Für den Hausgebrauch geht es«, erwiderte Jan.

»Haben wir das gleiche Ziel? Wollen wir es einmal probieren?« Lockend sahen ihn ihre graugrünen Augen an.

»Vielleicht ergibt es sich. Ich fahre zu einem Bekanntenbesuch«, erwiderte er ausweichend.

»Und ich kann nur hoffen, dass unsere kleine Eisprinzessin wieder auf den Beinen ist.«

»Hatte sie sich verletzt?«, fragte Jan mit rauer Stimme.

»Ach Gott, mit Verletzungen laboriert man eigentlich immer herum. Aber da mischten sich dann solche Spießer ein, weiß der Himmel, was das für Leute sind, die es als Verbrechen betrachten, wenn man ein ungewöhnliches Talent fördern will. Ich werde die Dinge jetzt selbst in die Hand nehmen, und wenn der Vater des Kindes einigermaßen ansprechend ist, werde ich es mit Charme machen.«

Charme hatte sie jetzt schon genug an ihn verschwendet, und Jan war heilfroh, ihr seinen richtigen Namen vorenthalten zu haben. Die attraktive junge Dame schien tatsächlich mit allen Wassern gewaschen zu sein. Wie gut es doch gewesen war, dass er nicht mit dem Taxi gefahren war. Er wollte den Zufall nutzen. Er hoffte nur, dass niemand ihn vorzeitig mit dieser Jane beisammen sah.

»Bleiben Sie länger?«

»Leider nur bis morgen«, erwiderte er.

»Dann könnten wir doch vielleicht den heutigen Abend miteinander verbringen? Es gibt eine schicke Bar. Bongo-Bar. Dort finden Sie mich, wenn Sie Zeit haben.«

Ganz hübsch forsch. Wie verschieden doch die Frauen waren. Yasmin hatte es mit sehr viel Zurückhaltung und Raffinesse geschafft, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ruth hatte es damals mit ihrer mädchenhaften Natürlichkeit erreicht. Die paar Frauen dazwischen wollte er lieber aus seinem Gedächtnis streichen, aber der Name Hagen, der ihm plötzlich in Erinnerung gekommen war, weckte nun auch andere Erinnerungen. Er dachte an Karlheinz, der so früh hatte sterben müssen und für den es immer nur ein Mädchen gegeben hatte. Nanni! Überall hatte er ihr Bild bei sich gehabt, und wenn sie auf einem Gipfel saßen, hatte er es hervorgeholt und es betrachtet.

Das also war diese Nanni von Willbrecht, und sie hatte ihre erste Liebe wohl immer noch nicht vergessen. Solche Frauen gab es eben auch.

Jan Campen gelangte zu der Überzeugung, dass dieser kurze Zwischenaufenthalt, der nur der Klärung der Familienverhältnisse dienen sollte, ihm manches andere bescheren würde, vielleicht sogar ein Rendezvous mit der attraktiven Jane.

*

Der Zug lief in den Bahnhof ein, und er entdeckte sofort Lilo. Unmöglich, dass sie von seiner Ankunft informiert sein sollte. Sie musste auf jemand anderen warten.

»Wir verabschieden uns besser hier«, sagte er zu Jane. »Ich sehe meine Freunde ganz weit vorn.«

Jane lachte anzüglich. »Verstehe«, nickte sie. »Heute Abend in der Bongo-Bar?«

»Wenn Sie allein kommen«, sagte er, um sie schnell loszuwerden, denn draußen kam Lilo gefährlich nahe.

Er hastete durch den Zug bis zum vordersten Wagen und blieb dort noch eine Weile in der Tür sehen. Er sah, wie Jane und Lilo sich entfernten, und erst dann stieg er aus.

»Wird auch höchste Zeit«, sagte der Schaffner, »wir fahren gleich weiter.«

Er wurde von niemand erwartet. Er hatte nur einen leichten Koffer bei sich und verzichtete auf ein Taxi. Schnell wich er hinter einen Zeitungsstand zurück, als er Lilos Wagen erkannte, den er ihr damals selbst überlassen hatte. Jane saß neben ihr. Der Kampf um Rubinchen schien noch in vollem Gang zu sein. Er war sehr gespannt, was er bei den Willbrechts erfahren würde, aber als er sich nach der Straße, wo sie wohnten, erkundigte, erfuhr er auch, dass es noch ein ganzes Stück zu Fuß sein würde.

Das machte ihm nichts aus. Lange schon hatte er keinen Schnee mehr gesehen und vor allem nicht so viel. Die Luft war herrlich, und die Sonne schien frühlingshaft warm.

Er schritt schnell aus. Die Kirchturmuhr zeigte auf vier. Das Haus der Willbrechs lag außerhalb des Ortes. Jetzt erinnerte er sich auch daran. Die Zeit mit Ruth erschien ihm fern. Sie hatten sich nicht lange gekannt, und ihre Ehe war auch nur kurz gewesen. Das Kind kam, und Ruth starb. Niemand hatte daran glauben wollen, er selbst am wenigsten. Mit Ruth hätte man ein Leben ohne Aufregungen verbringen können. Sie konnte sich anpassen. Man spürte sie kaum. In atemlose Spannung hatte sie ihn nie versetzt. Aber das hattte er auch nicht gewollt. Er hatte an seine Karriere gedacht. Er wollte es erst zu etwas bringen. Alles andere kam dann später. Und es war gekommen, doch ohne Ruth.

Ein riesiger weißer Hund sauste an ihm vorbei. Der Schnee stob um ihn herum, und unwillkürlich blickte er ihm nach, um wie gebannt stehen zu bleiben. Der Hund sprang an einem jungen Mädchen hoch, riss es fast um.

Jan eilte zurück. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er.

»Iwo«, kam die muntere Antwort, »Pipp tut bloß so, als käme ich von einer Weltreise zurück.«

Ihre Augen lächelten. Sie sah ganz bezaubernd aus. Jan hätte nicht erklären können, worin ihr besonderer Liebreiz lag, aber er war einfach da, in ihrem Gesicht, in ihrer ganzen Erscheinung, vor allem aber in ihrem Lachen.

Dann hatte Pipp sich beruhigt, und Nanni sah den Mann voll an. Ihre Augen weiteten sich, das Lächeln erstarb.

»Jan Campen«, sagte sie leise. »Sie sind also gekommen.«

Er betrachtete sie noch immer erstaunt. »Sie sind doch nicht etwa Nanette?«, sagte er leise.

»Doch, ich bin ein Stück gewachsen und um einiges älter geworden, aber ich bin es. Sie sind allein?« Sie konnte es nicht verhindern, dass eine beklemmende Spannung von ihr Besitz ergriff.

»Sollte ich jemand mitbringen?«, fragte er mit leichtem Spott.

»Rubinchen erzählte mir von einer gewissen Yasmin«, erwiderte sie.

Yasmin! Sie dünkte ihm unendlich weit, und in diesem Augenblick hatte kein Gedanke an sie Platz in seinem Kopf. »Was soll ich dazu sagen«, meinte er verlegen.

»Gar nichts. Sie werden gleich Rubinchen sehen. Es geht ihr schon viel besser.«

»Wauwau«, machte Pipp. Nanni lächelte. »Er will daran erinnern, dass er auch Verdienste hat«, sagte sie.

»Guter Pipp«, sagte Jan. »Du bekommst auch noch etwas Feines von mir. Ich bin sehr froh, dass alles sich so ergeben hat. Das Telegramm und der Brief haben mich ziemlich durcheinandergebracht.«

»Es ist schwer, jemand zu schreiben, den man nicht kennt«, sagte Nanni. »Ich musste es einfach tun. Vielleicht werden Sie mich nicht verstehen, aber ich hätte mir immer einen Vorwurf gemacht, wenn ich schweigend zugesehen hätte.«

»Wir werden über alles noch sprechen«, sagte er.

Dann gingen sie auf das Haus zu.

*

Hier, in diesem Haus, erschien ihm der Orient nicht mehr verlockend. Alles war so anheimelnd, als Jan sich am Kamin niederließ. Nanni wollte erst schauen, ob Rubinchen bereits von ihrem Mittagsschlaf erwacht war.

Frau von Willbrecht und Frau von Schoenecker erschienen und begrüßten ihn. Der Anblick von Denise verwirrte ihn, aber welchem Mann erging es nicht ähnlich? Dass sie Mutter von zwei Kindern sei, dazu noch zwei aus der ersten Ehe ihres Mannes aufgezogen hatte, die sie nicht weniger liebte als ihre eigenen, und noch immer Zeit fand, rund zwanzig Kinder in Sophienlust zu betreuen, war jedem ein Rätsel, der es erfuhr. Und mehr noch blieb es ein Rätsel, dabei so schön und so jung auszusehen.

Rubinchen war gerade erwacht, als Nanni zu ihr ins Zimmer trat. »Wo warst du heute so lange?«, wollte das Kind sogleich wissen.

»Bei einer lieben alten Freundin, mein Schatz. Sie hat mich schon sehr vermisst.«

»Darf ich auch mit zu dieser lieben alten Freundin gehen, Nanni?«

»Dafür wird keine Zeit sein. Dein Daddy ist gekommen.«

Rubinchens Wangen bekamen Farbe. »Mein Daddy! Ist er allein?«, fragte sie beklommen.

»Ja, er ist allein.«

»Oh, Nanni, ich bin so froh, dann kann ich doch so mit ihm reden, wie wir früher geredet haben. Muss ich noch im Bett bleiben?«

»Ja, das musst du, mein Schatz. Dein Knie muss erst richtig auskuriert werden, und die Erkältung haben wir auch noch nicht ganz hinter uns.«

»So böse husten muss ich aber nicht mehr«, sagte Rubinchen.

Nanni holte Jan.

»Ich habe mich noch gar nicht bedankt bei Ihnen«, sagte er.

»Das ist auch nicht nötig. Ich war sehr froh, dass Rubinchen bei uns sein konnte. Ich muss wohl nicht extra bemerken, dass dies einige Schwierigkeiten mit sich brachte.«

»Mit Lilo? Ich kann es mir vorstellen. Aber auch darüber müssen wir noch reden.«

»Daddy«, rief Rubinchen, und dann hatte er nur noch Augen für sein Kind. Nanni zog sich leise zurück.

»Nanni hätte ruhig hierbleiben können«, bemerkte Rubinchen sofort.

»Wir haben uns aber doch eine ganze Menge allein zu erzählen«, sagte Jan.

»Nanni weiß alles viel besser als ich. Lilo hat es mir immer verboten, mit ihr zu sprechen.«

»Warum?«

»Sie kann Nanni nicht leiden. Warum, weiß ich auch nicht, denn Nanni redet nicht darüber.«

Sollte es daher kommen, dass sie einmal mit Hasso so eng befreundet gewesen war, überlegte Jan. Aber solche Fragen mochte er Rubinchen nicht stellen. Er wollte erst ihre Meinung über das Eislaufen erforschen.

»Du hast inzwischen schon einen Riesenerfolg gehabt«, bemerkte er. »Dein Bild prangt schon auf den ersten Seiten der Zeitung.«

»Das gefällt mir aber gar nicht«, sagte sie. »Sicher hat Tante Lilo Geld dafür bekommen. Magst du das eigentlich, Daddy?«

»Nun ja, natürlich freut es mich, eine so hübsche und talentierte Tochter zu haben.«

»Ich glaube nicht, dass Nanni das gern hören würde«, sagte Rubinchen. »So schön ist es auch wieder nicht, wenn man bei der Kälte auf die Eisbahn muss und dann auch noch geschimpft kriegt, wenn man hinfällt. Nanni ist ganz närrisch geworden, als ich mit dem schlimmen Bein laufen musste. Sie hat Tante Lilo auch die Meinung gesagt.«

»Und dann bist du auf den Gedanken gekommen, wegzulaufen?«, fragte er forschend.

»Erst am Abend, als ich ganz allein in der Wohnung war. Ich musste so viel denken, und mir war so heiß und schwindlig. Tante Lilo hatte mir deinen Brief vorgelesen, wo du geschrieben hast, dass du heiraten wirst. An alles das habe ich denken müssen und konnte mit keinem reden, und da wollte ich zu Nanni gehen. Es hat so geschneit, und die Straße war so glatt, und da bin ich ausgerutscht. Aber Pipp hat mich gleich gefunden. Er hat mich nämlich auch gleich leiden können. Aber mit Pipp durfte ich auch nicht spielen.«

»Und seitdem bist du hier?«

Rubinchen nickte. »Ich habe mein Gedächtnis verloren«, sagte sie treuherzig. »Ich kann niemand mehr erkennen. Nur Nanni und ihre Eltern und die Schoeneckers, sonst niemand. Auch Tante Lilo nicht.«

So ein schlaues kleines Ding, dachte er, aber er konnte ihr wirklich nicht böse sein. »Pipp kennst du aber, und mich hast du auch erkannt«, sagte er.

Rubinchen warf ihm einen schrägen Blick zu. »Dich habe ich auch schon lange nicht mehr gesehen«, sagte sie. Sie warf die Arme um seinen Hals. »Ich will nicht wieder zu Tante Lilo. Ich möchte lieber nach Sophienlust, wenn ich schon bei Nanni nicht bleiben kann. Warum musst du Yasmin heiraten? Sie hat mich bestimmt nicht so lieb wie Nanni. Warum kannst du nicht Nanni heiraten, Daddy?«

Sie ahnte nicht, welche Zweifel, welchen Zwiespalt sie in ihm weckte. »Und in einer Eisrevue willst du wohl nicht auftreten?«, fragte er ablenkend.

»Willst du denn das?«, fragte sie erschrocken. »Weißt du denn, wie man da drangsaliert wird? Onkel Friedrich kann es dir erzählen. Er weiß es. Er hätte es nie erlaubt, obwohl Nanni auch so gut eislaufen konnte. Es ist doch kein Spaß mehr, es ist Schwerstarbeit, sagt Onkel Friedrich. Aber deine Yasmin will wohl auch ein berühmtes Kind?«

»Das ist alles Unsinn, Rubinchen. Ich will nur das Beste für dich. Was du dir wünschst, soll in Erfüllung gehen.« Er sagte es leichthin und ahnte nicht, was es für Folgen haben würde.

»Was ich mir wünsche, soll in Erfüllung gehen?«, fragte Rubinchen gedankenverloren. Sie machte eine kleine Pause. »Dann möchte ich immer bei Nanni bleiben, wenn du deine Yasmin heiratest. Und noch viel lieber wäre es mir, wenn du Nanni heiraten würdest. Das würde ich mir wünschen.«

»Aber ob das in Erfüllung geht, liegt nicht allein an mir«, sagte er.

»Das ist es eben. Man kann sich noch so viel wünschen, doch was geht schon in Erfüllung?«

»Du bist eine sehr kritische junge Dame geworden«, versuchte er zu scherzen.

»Ich habe auch hart trainiert«, erklärte sie. »Da muss alles bis aufs I-Tüpfelchen stimmen. Das ist nicht so, wie wenn wir miteinander gelaufen sind und Spaß gemacht haben.«

»Nun wollen wir aber von Nanni reden«, sagte er.

»Da werden wir so schnell aber nicht fertig. Angefangen hat es, als Nanni früh im Stadion war. Da war gleich der erste Krach mit Tante Lilo, weil Nanni gesagt hat, dass es viel zu kalt für mich wäre. Lilo hat gesagt, sie solle ihren Mund halten und außerdem gestatte sie ihr nicht, mit mir zu sprechen. Von euch Willbrechts habe ich genug, hat sie gesagt. Dann haben Nanni und ich uns bloß noch zugeblinzelt, aber wir wussten genau, was wir meinten. Mit Nanni kann man sich auch verstehen, ohne zu reden, Daddy. Ich glaube, dass Lilo Nanni nur nicht leiden kann, weil sie so hübsch ist.«

Jan sah sein Töchterchen überrascht an. »Du findest sie hübsch?«

»Du etwa nicht? Sie ist die allerschönste Frau von der ganzen Welt. Sie hat Augen wie Sterne, und sie sieht aus wie eine Prinzessin aus dem Märchen, wenn sie ihr Haar offen trägt. Alle Männer schauen ihr nach, und das ärgert Lilo mächtig. Ganz grün wird sie immer im Gesicht. So schön kann deine Yasmin gar nicht sein.«

»Du kennst sie doch gar nicht«, meinte Jan. »Yasmin ist auch sehr hübsch. Sie sieht aus wie eine orientalische Prinzessin.«

Er sagte es ohne Überzeugungskraft, und das wurde ihm auch bewusst. Yasmin sah exotisch aus, und sie fiel deswegen auf, aber sie hatte nicht die Klasse von Nanni. Ihm stieg das Blut in die Stirn bei diesem Gedanken.

»Aber sie ist fremd«, sagte Rubinchen heftig. »Daran kann ich mich bestimmt nicht gewöhnen. Ich will nicht in das fremde Land zu dieser fremden Frau. Lieber will ich nach Sophienlust zu der lieben Tante Isi, zu Nick und Henrik und den andern Kindern. Du hast gesagt, dass ich mir etwas wünschen darf. Nun wünsche ich mir, dass ich nach Sophienlust darf.«

»Ich werde mit Frau von Schoenecker sprechen«, erklärte Jan.

Rubinchen war mit sich zufrieden. Sollte Daddy nur glauben, dass sie keinen größeren Wunsch hätte, als nach Sophienlust zu kommen. Wenn er erst wieder weit vom Schuss war, würde sie sich schon etwas ausdenken, um wieder bei Nanni zu sein.

Mit Tante Lilo musste Daddy fertig werden. Ob er seine Yasmin wirklich so gern heiraten wollte? Er hatte gar nicht so freudig dreingeschaut. Vielleicht mochte er sie doch nicht so sehr. Aber das würde sie schon herauskriegen. Rubinchen fühlte sich in blendender Form. Ihr Unfall hatte keine Spuren hinterlassen. Selbst die Erkältung hielt sich im Rahmen. Sie hätte schon wieder herumspringen können, doch das wollte sie nicht, bevor die ganze Situation geklärt war. So tat sie immer noch ein bisschen leidend.

Denise gewann unterdessen einen recht guten Eindruck von Jan Campen. Er redete nicht um den heißen Brei. Er schilderte ihr seine Situation, die sie schon ungefähr kannte. Yasmin ließ er jedoch aus dem Spiel. Es ging ihm vor allem darum, nicht den Eindruck zu erwecken, dass er Rubinchen ihretwegen loswerden wollte. Das entsprach schließlich auch der Wahrheit. Er konnte sich Yasmin kaum noch als Mutter für Rubinchen vorstellen, und er ahnte auch die größten Schwierigkeiten wegen der Einstellung des Kindes voraus.

»Es steht nichts im Wege, dass wir Rubinchen gleich mitnehmen«, sagte Denise freundlich. »Wir fahren morgen ohnehin zurück.«

Darüber wollte Jan aber noch mit Nanni sprechen. Zuvor musste allerdings die Auseinandersetzung mit Lilo stattfinden.

Nanni kam mit Pipp vom Einkaufen zurück, als er sich auf den Weg machte. Sie sah entzückend aus in dem moosgrünen Umhang und der weichen Fuchsmütze, die ihr feines Gesicht umrahmte. Selbstvergessen betrachtete er sie und konnte sich überhaupt nicht erklären, was in ihm vor sich ging.

»Ich begebe mich jetzt in die Höhle des Löwen«, sagte er.

»Lassen Sie sich nicht verschlingen«, erwiderte sie fröhlich.

»Nach einem Zimmer muss ich mich auch umschauen.«

»Da werden Sie Pech haben. Alles belegt. Aber warum wollen Sie nicht bei uns übernachten? Gefällt es Ihnen nicht?«

»Wenn das möglich wäre?«

»Wir sind schließlich ein Pensionsbetrieb.«

»Übrigens …« Er geriet ins Stocken, und Nanni sagte: »Bringen Sie das erst hinter sich, dann können wir miteinander reden.«

Er griff nach ihrer Hand und zog sie an seine Lippen. Verwirrt sah sie ihn an, und Pipp stupste ihn mit der Schnauze.

»Er bewacht Sie sehr gut«, sagte Jan lächelnd. »Ihnen darf wohl niemand zu nahe treten.«

Verstohlen blickte Nanni ihm nach, als er über die Straße ging. Sie versuchte, sich an jenen jungen Jan Campen zu erinnern, dem sie damals flüchtig begegnete, aber er hatte sich zu sehr verändert. Er war ein ganzer Mann geworden – und was für ein Mann!

Dieser Gedanke verursachte ihr Herzklopfen. Ganz versunken stand sie da, bis ihre Mutter rief: »Wo bleibt denn der Kuchen?«

*

Lilo war fassungslos, als Jan unangemeldet plötzlich vor ihr stand. Sie gab sich die erdenklichste Mühe, ein Lächeln zustande zu bringen, aber es misslang ihr gründlich. Ihr Gesicht war eine verzerrte Grimasse.

»Rubinchen ist nicht hier«, brachte sie stockend über die Lippen.

»Das weiß ich. Ich habe sie schon besucht«, erwiderte er kühl.

»Es ist eine infame Intrige«, stieß sie hervor. »Sie haben das Kind ins Haus gelockt. Natürlich werden sie es dir ganz anders erzählen, aber sie wollen mir schaden, wo sie nur können.«

»Tatsächlich? Sie wollten Rubinchen helfen. Du hast mein Vertrauen missbraucht, Lilo, darüber gibt es keinen Zweifel. Du wolltest aus dem Kind einen Star machen, zu deinem Nutzen. Ich sehe das alles ganz klar.«

»Doch nicht zu meinem Nutzen«, widersprach sie heftig. »Rubinchen ist ein ungewöhnliches Talent, das muss man nutzen. Auch du hättest davon nur Vorteile. Denk doch einmal vernünftig, Jan.« Sie hatte sich halbwegs wieder gefangen. Für sie ging es ums Ganze. Sie redete mit Engelszungen. »Nanette konnte mich nie leiden. Sie hat auch Hasso und mich auseinandergebracht. Sie hat doch nur aus einem Grund ein Interesse an Rubinchen – und der bist du!«

»Ich?«, fragte er verblüfft.

»Du bist eine gute Partie, und sie hat trotz aller Bemühungen noch immer keinen Mann gefunden. Sie war doch schon damals in dich verliebt. Hasso hat es mir erzählt. Sie hat immer ein Bild von dir bei sich gehabt.«

»Was du nicht sagst«, erwiderte er und fragte sich, ob er ihr Glauben schenken konnte. Aber wann sollte man Lilo glauben? Sie log, wann immer es ihr in den Kram passte. »Du hattest Rubinchen jedenfalls verboten, mit Nanni zu sprechen«, sagte er. »Aber du hast alles in die Wege geleitet, um dieses kleine Geschöpf in eine Eisrevue zu bringen.«

»Ach was, sie sollte nur so zum Spaß laufen. Mr Miles sieht in ihr ein entwicklungsfähiges Talent. Natürlich fehlt ihr noch viel, und es wird Jahre dauern, bis sie perfekt ist, aber …«

»Kein Aber. Mein Kind wird kein Star. Schlag dir das aus dem Kopf. Im Übrigen hättest du dich darüber erst mit mir beraten müssen.«

»Du hast doch jetzt ganz andere Interessen. Du hast überhaupt keinen Grund, mir Vorhaltungen zu machen. Du willst dem Kind eine Stiefmutter vor die Nase setzen.«

»Ich will vorerst gar nichts. Rubinchen kommt nach Sophienlust, und weitere Entscheidungen werde ich in aller Ruhe treffen. Das wollte ich dir mitteilen.«

»Nach Sophienlust? Was ist das?«

»Ein sehr gutes Kinderheim. Ich habe Frau von Schoenecker bei den Willbrechts kennengelernt und bereits alles mit ihr besprochen. Du wirst dich nicht darüber zu beschweren haben, dass Nanni das Kind unter ihren Einfluss bringen will, und ich muss ihr dankbar sein, dass sie mich darauf aufmerksam machte.«

»Das ist ein Komplott«, sagte Lilo wütend. »Es ist meine Nichte, die Tochter meiner verstorbenen Schwester.«

»Rubinchen ist in erster Linie mein Kind«, sagte er ruhig. »Ich bin überzeugt, dass Ruth genauso denken würde wie ich und kein Verständnis für deine Absichten hätte. Ich dulde in Zukunft keine weitere Einmischung deinerseits, das lass dir gesagt sein. Wohin das führt, habe ich jetzt gesehen.«

»Du lässt dich beeinflussen, Jan«, sagte Lilo jetzt in flehendem Ton. »Hör doch auch mich an.«

»Was gibt es da noch zu sagen?«

»Bedenke, dass Rubinchen dir später einmal bittere Vorwürfe machen könnte, wenn du dich ihrer Karriere in den Weg stellst.«

Er zog die Augenbrauen hoch. »Meinst du, ein fünfjähriges Kind könnte entscheiden, was gut für seine Zukunft ist?«

»Sie ist fast sechs.«

»Und kommt jetzt erst zur Schule. Sie kann eislaufen, wann immer sie will, aber nur, wenn es ihr Spaß macht, und wenn sie später einmal, falls sie die Kondition hat, sich dafür entscheidet, eine vielbewunderte Eisprinzessin zu werden, dann in Gottes Namen – aber nicht, solange sie noch Kind sein kann. Wunderkinder sind mir ein Gräuel.«

»Weil du selbst so selbstherrlich bist«, schrie sie ihn an. »Du hast dir alles erarbeiten müssen. Woher kommst du denn schon? Dein Studium hast du dir selbst verdienen müssen.«

»Und darauf bin ich stolz. Trag doch die Nase nicht so hoch, vor allem nicht auf Kosten meiner Tochter. Muss ich noch deutlicher werden? Muss ich dir auch noch sagen, dass ich niemals die Absicht hatte, dich zur Nachfolgerin von Ruth zu machen? Du hasst die Willbrechts, weil Hasso dich nicht geheiratet hat. Aber warum hat er dich nicht geheiratet?«

»Du bist taktlos und gemein«, begehrte sie auf. »Mach doch mit deinem Kind, was du willst. Wir sind fertig miteinander.«

»Hoffentlich vergisst du das nie«, sagte er und ging.

*

Es ist alles meine Schuld, warf Jan sich vor. Meine Karriere war mir wichtiger als mein Kind. Ich war nicht zufrieden mit dem Erreichten. Ich wollte mehr, immer mehr. Im Grunde bin ich nicht weniger ehrgeizig als Lilo. Er war in einer recht trüben Stimmung, und deshalb wollte er nicht gleich in das Willbrechtsche Haus zurückkehren. Er ging in ein Lokal und bestellte sich einen Obstler.

Als er sich wieder beruhigt hatte und den Rückweg einschlagen wollte, lief ihm Jane Watts über den Weg. Sie lächelte ihn verführerisch an, während er sich fragte, ob sie wohl auf dem Weg zu Lilo sei. Doch ihr schien es mehr nach einem Bummel mit ihm zumute zu sein.

Er beschloss, ihr gleich seine Meinung zu sagen.

»Ich habe Sie im Zug beschwindelt«, platzte er heraus. »Ich bin Jan Campen, Rubinchens Vater. Es war sehr interessant, was Sie mir erzählten.«

Ihre Augen kniffen sich zusammen. »Eine feine Methode«, sagte sie. »Und ich hielt Sie schon für einen Gentleman.«

»Nun wissen Sie, dass ich keiner bin, und Sie können Ihre Hoffnungen begraben. Ich habe meiner Schwägerin eben Bescheid gesagt, dass Rubinchen ein Kind bleiben soll und kein Star werden.«

»Sie vergessen die Vorteile, Mr Campen«, sagte Jane. »Es springt eine Menge Geld für Sie dabei heraus. Können wir nicht in aller Ruhe darüber sprechen?«

»Nein. Mich interessiert das Geld nicht.«

»Auch nicht hunderttausend Dollar im Jahr?«, fragte sie.

Eine hübsche Summe. Mehr verdiente er auch nicht. Er konnte nur stumm den Kopf schütteln.

»Überlegen Sie, was Sie Ihrem Kind damit für eine Existenzgrundlage verschaffen können«, sagte Jane. »Lassen Sie es sich in aller Ruhe durch den Kopf gehen. Bis heute Abend – in der Bongo-Bar – Mr Campen.«

Jan war völlig benommen. Er konnte jetzt sogar begreifen, dass Lilo wie chloroformiert gewesen sein musste. Hunderttausend Dollar im Jahr für ein noch nicht sechsjähriges Kind.

*

Annemarie von Willbrecht hatte Jan etwas auszurichten. Frau Hagen hatte angerufen und den Wunsch geäußert, Jan zu sehen. Er war sehr überrascht.

»Mein Gott, es ist eine Ewigkeit her«, sagte er. »Durch Frau Hagen lernte ich Ruth kennen. Es war mein erster Urlaub nach dem Studium.«

»Es geht ihr nicht gut«, sagte Frau von Willbrecht leise. »Kranke Menschen haben das Bedürfnis, alte Erinnerungen aufzufrischen, und sie ist ein sehr lieber Mensch.«

»Ich werde morgen Vormittag zu ihr gehen«, sagte er.

Annemarie von Willbrecht nickte. »Sie wird sich sehr freuen. Jetzt werde ich Ihnen Ihr Zimmer zeigen, Herr Campen.«

Er war richtig dankbar, dass er deswegen nicht noch einmal fragen musste. Er war auch Nanni dankbar, dass sie alles mit leichter Hand arrangiert hatte, aber Lilos Worte hallten in seinen Ohren. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Nanni je in ihn verliebt gewesen sein könnte. Jetzt konnte er sich wieder an alles erinnern. An die Zeit bei Frau Hagen, an Karlheinz, diesen netten und klugen Jungen, der von einer Zukunft mit Nanni träumte, an das blasse, stille Mädchen, das Ruth ihm dann als Nanni vorgestellt hatte.

Lilo hatte sich da ein schönes Märchen ausgedacht. Was Frauen doch für eine Phantasie entwickeln konnten! Und was konnte man ihnen eigentlich wirklich glauben? War nicht auch Yasmin eine Frau, deren Äußerungen nicht immer den Tatsachen entsprachen? Welches Leben erhoffte sie sich an seiner Seite? Wollte sie wirklich nur Frau und Mutter sein?

Ihm wurde wohler, als er geduscht und sich umgekleidet hatte. Als er herunterkam und Nanni sah, dachte er nicht mehr an die hunderttausend Dollar, die Rubinchen verdienen konnte, und auch nicht an Yasmin. Er blickte in zwei strahlende Augen, die ihm die schönsten der Welt dünkten und in denen kein Falsch lag.

»Das Abendessen ist angerichtet«, sagte Nanni, doch selbst diese alltäglichen Worte konnten den Zauber nicht zerreißen, der ihn gefangen nahm.

»Werden wir noch Gelegenheit haben, allein miteinander zu sprechen?«, fragte er mit belegter Stimme.

»Ich denke, dass es sich einrichten lassen wird«, erwiderte Nannie leichthin.

Alexander von Schoenecker war ebenso wie Friedrich von Willbrecht daran interessiert, von Jans Tätigkeit in der Türkei zu erfahren. Es waren Männergespräche, die sie führten, wie Annemarie von Willbrecht seufzend bemerkte.

So sehr erbaut war auch Denise nicht davon. Sie und ihr Mann hatten wenig Zeit füreinander, und sie hatte wenigstens die Abende dieses Kurzurlaubs mit ihm genießen wollen.

»Wir wollen heute Abend doch noch ein bisschen bummeln, Alexander«, mischte sie sich in das Gespräch ein.

»Richtig, Liebling, die Zeit läuft einem buchstäblich davon. Wie ist es, Herr Campen, haben Sie nicht Lust, sich anzuschließen. Nanni, Sie haben doch wohl auch nichts dagegen?«

»Um Rubinchen kümmere ich mich«, sagte Frau von Willbrecht rasch, als Nanni zögerte.

»Aber sie wird vielleicht gekränkt sein«, sagte Nanni.

Das Gegenteil war der Fall. Rubinchen versicherte, dass sie sowieso müde sei. Sie fand es nämlich himmlisch, dass Nanni mit ihrem Daddy ausgehen würde. Bestimmt würde sie wieder die Hübscheste sein, und alle Männer würden ihr nachschauen, und ihr Daddy müsste blind sein, wenn er nicht sehen würde, dass Nanni seine Yasmin bei Weitem in den Schatten stellte.

Nanni hatte ein wunderhübsches Kleid an, als sie kam, um Rubinchen gute Nacht zu sagen.

»Daddy wird sehr stolz sein, wenn er mit dir ausgehen darf«, sagte Rubinchen. »Du bist bestimmt die Allerschönste.«

Zumindest wurde sie von Denise nicht in den Schatten gestellt, und Jan konnte bemerken, dass die Männer ihr nachschauten. Rubinchen hatte richtig beobachtet.

Im Festsaal des Alpen-Hotels hatte sich ein exklusives Publikum versammelt, den Preisen entsprechend. Dass dennoch eine vorzügliche Stimmung herrschte, war nicht zuletzt der erstklassigen Band zuzuschreiben.

»Man ist hier ganz international geworden«, stellte Jan fest.

»War es früher nicht so?«, fragte Nanni.

»Das müssten Sie doch besser wissen als ich«, bemerkte er.

»Ich bin nie ausgegangen. Früher nicht und in jüngerer Zeit auch nicht. Für mich ist das eine fremde Welt«, fügte sie leise hinzu.

»Aber doch eine ganz amüsante«, sagte Jan. »Es hat sich überhaupt vieles verändert seit damals. Sie waren noch ein Schulmädchen, als ich Sie kennenlernte, und jetzt sind Sie eine bezaubernde junge Dame geworden, Nanni.«

»Du liebe Güte, ein übrig gebliebenes altes Mädchen«, erwiderte sie lächelnd.

»Das möchte ich überhört haben.« Jan war schon nach dem ersten Glas Sekt in Stimmung geraten. Die Schoeneckers genossen ihren Ausflug vom Alltag und tanzten bereits.

»Tanzen wir auch, Nanni?«, fragte Jan.

Er hatte schon ihre Hand ergriffen, und sie ließ sich von ihm auf die Tanzfläche führen. Augenblicklich hatte sie das Gefühl, sich in eine Gefahr zu begeben, aber dann ließ sie sich einfach treiben. Die Musik passte zu ihrer Stimmung. Er legte den Arm fest um ihre Schultern.

Eine Sängerin mit einer hübschen dunklen Stimme sang den Refrain »I love you« hingebungsvoll, und Jan sagte: »Wir werden über sehr viel sprechen müssen, Nanni.«

Das Blut hämmerte in ihren Schläfen, und es wurde ihr ganz dunkel vor Augen, weil seine Stimme so zärtlich klang.

Es blieb nicht bei diesem einen Tanz. Natürlich gehörte es sich, dass er mit Denise tanzte und Alexander mit Nanni, aber schon während der Zugabe wechselten sie wieder. Diesmal zog Jan Nanni noch fester an sich.

Während er den Duft ihres Haares einatmete und ein unwiderstehliches Verlangen verspürte, sie zu küssen, wusste er, dass alles, was vorher gewesen war, nichts bedeutete im Vergleich zu diesem Erlebnis. Er wusste, dass er Nanni lieben könnte, wie er nie eine Frau geliebt hatte, und doch hatte er Angst, dass sie seine Liebe nicht erwidern würde.

Und dann, ganz plötzlich, stand Jane Watts vor ihm. In ihren graugrünen Augen blitzte es gefährlich.

»Waren wir nicht verabredet, Mr Campen?«, fragte sie. Es war der falscheste Augenblick, den sie wählen konnte.

»Sie hatten den Vorschlag gemacht«, sagte er kalt. »Mir steht der Sinn nicht nach Geschäften. Meine Tochter ist mir mehr wert als eine Million Dollar, Miss Watts.«

Und ehe Nanni es noch begriffen hatte, legte er den Arm um ihre Schultern und führte sie aus dem Saal.

»Ich möchte nicht unhöflich sein zu den Schoeneckers«, sagte er, »aber ich möchte jetzt mit dir allein sein, Nanni.« Denise mochte dies mit weiblichem Instinkt schon vorher erfasst haben, denn Jan und Nanni fanden den Tisch leer, als sie sich verabschieden wollten.

Nanni war sehr verlegen. »Hoffentlich haben wir sie nicht verärgert«, sagte sie.

»Bestimmt nicht. Ich könnte mir nichts Schöneres wünschen, als nach so viel Ehejahren auch noch so verliebt zu sein wie die beiden«, bemerkte Jan.

Bald darauf standen sie im Freien. Es war eine klare Winternacht, in der der Himmel noch viele tausend Sterne mehr zu haben schien, als sonst.

Jan hielt Nanni fest an sich gedrückt. Seine Lippen lagen auf ihrem Haar.

»Es ist verrückt«, sagte sie leise.

»Was ist verrückt? Dass ich dich liebe?«

»Du darfst es nicht sagen, Jan«, flüsterte sie mit bebender Stimme.

»Wenn es doch die Wahrheit ist. Es ist ein eigenartiges Gefühl, wenn man sich klar wird, wie wenig bewusst man bisher lebte. Sprich jetzt bitte nicht von Yasmin, Nanni. Das ist eine Sache, die ich in Ordnung bringen muss – und ich werde sie in Ordnung bringen. Sag mir nur, dass du Geduld haben wirst.«

Nanni war sich längst klar, dass es für sie keinen anderen Mann mehr geben würde, aber sie hatte Angst, dass dem Zauber dieser Nacht ein böses Erwachen folgen könnte. Sie konnte sich nicht von dem Gedanken lösen, dass es da ein Mädchen gab, das Jan vielleicht genauso liebte und für das es auch ein böses Erwachen aus einem schönen Traum geben würde.

Als er sie küsste, vergaß sie alles, und sie sagte, was er hören wollte. Dass sie ihn liebe, dass sie Geduld haben würde, und dass sie glücklich sei.

Sie war glücklich. So unbegreiflich dies auch sein mochte, es hatte sich ihr ganzes Leben in wenigen Stunden verändert. Er hob sie empor. Er trug sie durch den Schnee. Sie spürte das heftige sehnsüchtige Klopfen seines Herzens, und sie verschwendete keinen Gedanken mehr daran, dass es irgendwo ein Yasmin gab.

*

Annemarie von Willbrecht hatte lange an Rubinchens Bett gesessen, auch dann noch, als das Kind schon lange schlief. Das Gespräch, das sie miteinander geführt hatten, klang immer noch in ihren Ohren nach.

»Nanni müsste meine Mami sein«, hatte Rubinchen gesagt. »Mehr würde ich mir wirklich gar nicht wünschen, aber ihr hättet das wohl gar nicht so gern?«

»Das will ich nicht sagen«, hatte sie erwidert.

»Was gefällt dir daran nicht, Tante Annemarie?«

»Dein Daddy hat andere Pläne, Rubinchen, und es ist besser, wenn du dich nicht in Träumen verlierst.«

»Immer möchte ich nicht in Sophienlust bleiben«, hatte Rubinchen gesagt. »Es kann ja sehr schön sein. Nick hat mir viel erzählt. Pünktchen ist auch schon viele Jahre dort, aber sie hat schließlich keinen Daddy. Schlimm wäre es schon, wenn Daddy eine Frau hätte, die ich nicht mag, und wenn man einen Daddy hat, will man ihn doch auch sehen. Nick hat auch gesagt, dass manche Leute Kinder adoptieren. Würdet ihr mich vielleicht adoptieren?«

»Wir wollen uns darüber jetzt nicht den Kopf zerbrechen, Rubinchen. Jetzt wird erst geschlafen.«

Das war ein recht billiger Rückzug nach Annemarie von Willbrechts Meinung. Sie hatte kein besonders gutes Gewissen dabei.

Sie fand in dieser Nacht auch keine Ruhe. Sie hörte die Schoeneckers kommen, aber sie waren allein. Dann ging sie in die Küche und machte sich ein Glas Orangensaft zurecht. Warum sie das tat, wusste sie nicht, denn Durst verspürte sie eigentlich nicht. Sie saß in der Küche auf der Eckbank, sinnierte und nach einer Weile vernahm sie wieder, dass die Haustür aufgeschlossen wurde.

Pipp erhob sich von seinem Schlafplatz, aber er schlich gleich wieder auf seine Decke zurück.

Das alles kam ihr recht merkwürdig vor. Sie öffnete leise die Küchentür. Im Treppenhaus war es dunkel, aber sie sah, dass Nannis Tür im Obergeschoss geöffnet wurde, und sie vernahm flüsternde Stimmen. Dann wurde die Tür wieder geschlossen. Nur die eine.

Annemarie von Willbrecht lehnte an der Wand, und ihr Herz klopfte wie ein Hammer. Mein Gott, dachte sie, lass das Kind nicht unglücklich werden.

Sie lag noch lange mit offenen Augen in ihrem Bett, die Hände gefaltet. Was konnte sie schon anderes tun, als für das Glück ihres Kindes beten. Nanni war erwachsen. Sie musste ihren Weg gehen, so oder so.

*

Rubinchen war der Meinung, während der letzten Tage viel zu viel geschlafen zu haben. Gewohnt, schon ganz früh am Morgen aufstehen zu müssen, erschien es ihr widersinnig, auch im Bett zu bleiben, wenn ihr nicht danach zumute war.

Sie hatte herrlich geträumt und fühlte sich pudelwohl. Der Kopf schmerzte nicht mehr, und das Bein tat auch nicht mehr weh. Sie stand leise auf und schlich zum Fenster.

Heute war Sonntag. Dr. Belling hatte gestern gesagt, dass er heute wohl nicht kommen müsse. Dafür war Daddy gekommen, und er schlief nur ein paar Zimmer von ihr entfernt. Tante Annemarie hatte es ihr gesagt.

Gestern war ihr Daddy mit den Schoen­eckers noch aus gewesen, aber auch mit Nanni. Sie wollte doch zu gern hören, wie es gewesen war und was Daddy über Nanni sagte.

Auf Zehenspitzen ging sie zur Tür. Schon stand sie draußen auf dem Gang. Sie überlegte. Das war Nicks und Henriks Zimmer und daneben war das von Herrn und Frau von Schoenecker. Dann musste das nächste das ihres Daddys

sein.

Sie stand ein paar Sekunden vor der Tür und lauschte, dann drückte sie leise die Klinke nieder.

Rubinchen schob sich in das Zimmer und ließ ihren Blick herumschweifen. Sie hatte sich gleich an das Dämmerlicht gewöhnt. Lautlos tappte sie zum Bett und vernahm tiefe, ruhige Atemzüge. Sie kniete auf den Bettrand und beugte sich über das warme Gesicht, das ein bisschen stopplig war. Sie fühlte sich versucht zu lachen, weil sie das schon lange nicht mehr erlebt hatte, sich aber noch gut daran erinnern konnte, dass Daddy morgens immer solche Stoppeln gehabt hatte.

»Nanni«, flüsterte er, »Liebste!«

Rubinchen hielt den Atem an. Sie war ebenso erschrocken wie beglückt. Das klang so schrecklich lieb, und sie hätte es gern noch einmal gehört, dann aber fürchtete sie, dass es Daddy gar nicht recht sein würde, dass sie es gehört hatte.

Lautlos, wie sie gekommen war, schlich sie wieder zurück. Auf dem Gang blieb sie stehen, und ihr Herz klopfte ungestüm.

»Rubinchen«, sagte da eine Stimme – eine Stimme, die sie über alles liebte. Nanni erschien in ihrer Tür.

»Ich wollte nach Daddy gucken, aber er schläft noch«, flüsterte Rubinchen, und ihre Augen glänzten dabei wie Sterne.

»Du bist barfuß«, sagte Nanni besorgt.

»Tut mir leid, Nanni«, flüsterte Rubinchen. »Ich habe es gar nicht bemerkt. Du bist auch schon munter.«

»Komm, wärme dich bei mir auf«, sagte Nanni, hob sie empor und trug sie in ihr Zimmer, in ihr noch warmes Bett, in das Rubinchen sich wie ein Kätzchen hineinkuschelte.

»Meine Uhr war stehen geblieben. Ich wollte nur schauen, wie spät es ist«, sagte Nanni.

»Horch, die Uhr schlägt«, flüsterte Rubinchen.

Siebenmal schlug sie.

»Heute ist Sonntag«, sagte Nanni.

»Ein schöner Sonntag«, sagte Rubinchen. »Sonst musste ich auch sonntags immer früh aufstehen. War es gestern Abend schön, Nanni?«

»Sehr schön.«

»Hast du dich gut mit Daddy verstanden?«

»Wir waren nett beisammen«, erwiderte Nanni zögernd.

»Erzähle mir ein bisschen etwas. Was habt ihr denn so geredet?«

»Wir haben getanzt«, sagte Nanni träumerisch.

»Kann Daddy gut tanzen? Mit dir bestimmt. Da werden die Leute geschaut haben.«

Hoffentlich nicht, dachte Nanni beklommen. Da habe ich nun seine Tochter im Arm. Was soll denn jetzt nur noch werden? Welche verfänglichen Fragen würde Rubinchen wohl noch stellen?

Sie stellte aber keine mehr. Sie kuschelte sich in Nannis Arm und sagte: »Am allerliebsten würde ich immer bei dir bleiben, Nanni. Könnten wir nicht auch anderswohin gehen, wo keine Tante Lilo ist, die uns nachschnüffelt?«

Was hatte Jan gesagt, bevor er sie aus seinen Armen ließ?

»Wir werden irgendwohin gehen, wo niemand uns kennt, wo wir allein sind mit unserer Liebe, Nanni.«

Und mit Rubinchen, dachte Nanni. Abe würde das jemals Wirklichkeit werden? Würde Jan auch heute noch so denken?

*

Niemand dachte an Teresa Hagen an diesem Vormittag. Nanni nicht, Jan erst recht nicht, und selbst Annemarie von Willbrecht hatte über ihre familiären Probleme die alte Freundin vergessen.

Es war Dr. Belling, der sie daran erinnerte. Er hatte einige Krankenbesuche zu machen und wollte noch einmal rasch bei Rubinchen vorbeischauen. Aber sie spielte schon ganz vergnügt mit Nick und Henrik.

»Sie haben wirklich eine ganz erstaunliche Tochter, Herr Campen«, sagte er zu Jan. »Dann werde ich gleich zu Frau Hagen fahren.«

»Ich wollte sie besuchen«, erinnerte sich Jan.

Dr. Belling sah ihn nachdenklich an. »Sie hatte heute Nacht einen schweren Herzanfall. Falls Sie sie noch einmal sehen wollen, wird Ihnen wenig Zeit bleiben.«

»Tante Tresi«, flüsterte Nanni tonlos. »Ich war gestern noch bei ihr. Komm, Jan, sie hat so viel von dir gesprochen. Wir müssen zu ihr.«

Annemarie von Willbrecht wunderte sich über gar nichts mehr, auch nicht darüber, dass ihre Tochter nun Jan Campen so vertraut anredete. Alles andere wäre ihr doch ein bisschen zu gezwungen erschienen.

Dr. Belling fuhr voraus. Nanni holte ihren kleinen Wagen aus der Garage.

»Tante Tresi hat mir erzählt, dass sie dich und Ruth zusammengebracht hat«, sagte Nanni, während sie das Auto sicher über die vereisten Straßen steuerte.

»Mir wäre es lieber, sie hätte uns zusammengebracht«, sagte er.

»Ich war damals noch ein halbes Kind«, sagte Nanni leise.

»Ruth war auch nur zwei Jahre älter als du, aber Karlheinz war deine große Liebe.«

Sie warf ihm einen nachdenklichen Blick zu. »Warum sagst du das so, Jan?«, fragte sie. »Vielleicht war ich seine große Liebe und er meine erste. Wir hatten gar keine Zeit, uns darüber klar zu werden. Er wurde bald krank.«

»Als ich ihn kannte, schwärmte er nur von dir«, sagte Jan.

»Darauf wirst du doch wohl nicht eifersüchtig sein?«

»Jetzt bin ich es«, stieß er hervor. »Was hat er dir bedeutet, Nanni?«

»Ich könnte dich fragen, was Ruth dir bedeutet hat. Schließlich hast du sie geheiratet. Aber ich finde, dass wir uns daran nicht erhitzen sollten. Es ist lange her, und die Gegenwart hat andere Probleme.«

»Nein«, sagte er und griff in das Steuer. »Bitte, halt an.«

Sie tat es ganz mechanisch. Er legte seinen Arm um sie und presste seine Lippen auf ihren Mund.

»Es gibt keine Probleme, nur einen Irrtum, der aus der Welt zu schaffen ist, Nanni«, sagte er.

»Du stellst dir alles so leicht vor«, sagte sie zaghaft. »Yasmin hat auch ein Herz, und ich finde, dass man ein Glück nicht auf dem Unglück eines anderen Menschen aufbauen kann.«

»Wer von uns sollte denn glücklich werden?«, fragte er nach kurzem Überlegen. »Ich liebe dich, Rubinchen liebt dich – rechtfertigt das nicht meine Entscheidung? Und auch die deine, Nanni, falls du mich liebst?«

»Ich möchte so gern daran glauben«, sagte Nanni, »und dennoch …« Sie unterbrach sich. »Lass uns jetzt zu Tante Tresi fahren«, bat sie.

Teresa Hagen wusste, dass die Zeit ihres Erdendaseins bald zu Ende sein würde. Sie hatte mit dem Leben abgeschlossen. Sie war bei Bewusstsein, als Nanni an ihr Bett trat. »Mein gutes Kind«, flüsterte sie.

»Liebe Tante Tresi, was kann ich für dich tun?«, fragte Nanni.

»Ist Jan Campen gekommen?«, fragte Teresa Hagen.

»Er wartet draußen.«

»Dann soll er zu mir kommen.«

Nanni ging, und Jan kam. Er erkannte die alte Dame kaum noch. Er wusste auch nicht, was er sagen sollte.

»Ihr wart noch so jung«, flüsterte sie. »Ihr habt gelacht und getanzt. Schade, dass Nanni damals noch nicht dabei war. Es sind so viele Jahre vergangen. Meine Zeit geht zu Ende.«

»Was kann ich für Sie tun, Frau Hagen?«, fragte Jan beklommen.

»Meine Träume erfüllen«, flüsterte sie. »Fliegen Sie nicht mit der Maschine, die die Zahl 348 trägt. Nanni – denken Sie an Nanni. Sie soll nicht wieder weinen.«

Ihre Finger legten sich auf seine Hand, er spürte, wie kalt sie schon war. »Ich wünsche euch Glück, viel Glück«, hauchte sie, dann sank ihre Hand herab.

Wie erstarrt saß Jan, keines Gedankens fähig. Dann kniete Nanni neben dem Bett und schluchzte lautlos.

»Tante Tresi, liebe Tante Tresi!«

Jan hob sie auf. »Sie ist bei denen, die sie liebte«, sagte er leise.

*

Für die Kinder war Teresa Hagens Tod ohne große Bedeutung. Sie hatten sie nicht gekannt. Dennoch überschattete er diesen Sonntag, der so hell begonnen hatte. Nach dem Essen rüsteten die ­Schoeneckers wieder zur Abreise.

»Wir werden Rubinchen morgen bringen, bevor ich nach München fahre«, sagte Jan. Man akzeptierte es, nur Friedrich von Willbrecht runzelte seine dichten Brauen.

»Was heißt wir, Annchen?«, fragte er seine Frau.

»Nanni wird mitfahren«, erwiderte sie.

»Das scheint mir ein bisschen zu familiär«, polterte er.

»Du wirst dich daran gewöhnen müssen, Friedrich«, sagte Annemarie. »Nanni ist erwachsen und wird künftig ihre eigenen Entscheidungen treffen.«

»Will sie das Kind behalten?«, fragte er. »Das ist doch Unsinn. Rubinchen hat einen Vater. Wenn sie unbedingt ein Kind haben will, können wir doch eins adoptieren. Du bist doch auch verrückt nach diesen hilflosen Küken. Ich habe nichts dagegen. Da habe ich heute in Bild von einem kleinen Columbianer in der Zeitung gesehen. Schau es dir an.«

»Wir wollen lieber Rubinchen behalten«, sagte seine Frau.

Friedrich von Willbrecht kniff die Augen zusammen.

»Und den Vater wohl auch?«, fragte er bissig. »Dann soll er erst Ordnung in sein Innenleben bringen.«

»Das wird er tun«, sagte Annemarie.

»Unsere Tochter ist kein Spielzeug«, brummte er. »Du kennst meine Meinung.«

»Ja, ich kenne sie. Aber sie ist nicht mehr achtzehn, sondern sechsundzwanzig, lieber Friedrich.«

»Teresa ist heute gestorben. Es war ihr sehnlichster Wunsch, dass Nanni ihre Schwiegertochter wird.«

*

Der Start für den nächsten Morgen war früh geplant. Gegen zehn Uhr musste Jan in München sein. Vorher wollte er Rubinchen noch nach Sophienlust bringen.

Er war als Erster auf den Beinen und ging zu Annemarie von Willbrecht in die Küche.

»Sie werden eine Erklärung von mir erwarten, gnädige Frau«, sagte er mit belegter Stimme.

»Bitte, erst später«, sagte Annemarie. »Sie haben viel zu erledigen. Ich kann nur hoffen, dass sich alles zum Guten für mein Kind und für Ihr Kind auswirkt, Herr Campen.«

»Sie hätten mir auch die Tür weisen können«, bemerkte er.

»So veraltete Ansichten haben wir nun doch nicht. Unser Paps poltert gern ein bisschen herum, aber das hat er früher auch schon gemacht, und was seine Nanni anbetrifft, hat jeder, der ein Auge auf sie wirft, etwas auszustehen. Ich denke, wir sollten uns darüber keine Gedanken machen. Wir wollen es der Zeit überlassen. Es würde mich freuen, Sie wieder bei uns zu sehen, aber wenn Sie sich dazu entschließen, Rubinchen früher oder später mit in die Türkei zu nehmen, wäre es besser, von einem persönlichen Abschied abzusehen.«

Sie hatte gesagt, was ihr am Herzen lag, und sie hatte es ihm diskret zu verstehen gegeben, ohne dabei eine Tür zuzuschlagen.

»Vorerst darf ich Ihnen danken, und ich bitte Sie, dies Nanni zu geben, wenn sie wieder heimkehrt.«

Er reichte ihr ein schmales Päckchen. Mit einem beklommenen Gefühl nahm es Annemarie an sich.

»Selbst möchten Sie es ihr nicht geben?«, fragte sie.

»Nein. Sie steht noch unter dem Eindruck von Frau Hagens Tod. Es ist auch seltsam, dass sie gerade heute starb. Zur Beerdigung wird Nanni sicher wieder hier sein. Dann geben Sie ihr bitte das Päckchen.«

Annemarie von Willbrecht hatte viel zu überlegen, als sich nun die kleine Gesellschaft fertig machte. Sie hatten kaum Platz in Nannis kleinem Wagen, denn Pipp ließ es sich nicht nehmen, auch mitzufahren.

In Sophienlust würde dann ein Mietwagen auf Jan warten, der ihn nach München bringen sollte. Jetzt saß er vorn bei Nanni, die die Straßen und auch ihr Auto besser kannte. Hinten hatten es sich Rubinchen und Pipp so bequem wie möglich gemacht.

Da Nanni und Jan schwiegen, unterhielt sich Rubinchen mit Pipp.

»Jetzt freuen wir uns aber, dass wir uns Sophienlust anschauen können, nicht wahr, Pipp«, sagte Rubinchen. »Ich bin sehr gespannt, ob es so schön ist, wie Nick erzählt hat. Du auch?«

Pipp gab seltsame Laute von sich, die eher so zu deuten waren, dass er lieber mit Rubinchen daheimgeblieben wäre. Zumindest wollten sie von ihr so gedeutet werden.

»Vielleicht brauchen wir auch nicht lange dort zu bleiben«, fuhr sie fort. »Vielleicht können wir bald wieder heim zu Nanni, wenn Onkel Friedrich nichts dagegen hat.«

»Er hat bestimmt nichts dagegen«, sagte Nanni, die wohl wusste, dass es auch für ihre Ohren bestimmt war.

»Es ist ja bloß wegen Tante Lilo, Pipp. Wenn sie nicht da wäre, wäre alles ganz einfach. Aber wir könnten natürlich nicht erlauben, dass sie immer wieder ekelhaft zu Nanni ist. Das mag Daddy nämlich auch nicht.«

Was ist sie nur für ein durchtriebenes Persönchen, dachte Jan, aber er dachte es nicht ohne Stolz. Er betrachtete Rubinchen als seine größte Verbündete.

Rubinchen redete sich in Feuer.

»Wenn Daddy aus der Türkei zurück ist, wird er bestimmt alles in Ordnung bringen, Pipp. Man muss ja nicht immer im Ausland arbeiten. Hast du nicht einmal gesagt, dass du ein Haus im Schwarzwald gekauft hast, Daddy?«

»Das ist nur ein kleines Häuschen, wo man Urlaub machen kann«, erklärte er.

»Dann können wir ja Urlaub machen. Nicht bloß zwei Tage. Nanni kann dann Gymnastik mit dir machen, damit du nicht so steif wirst.«

»Ich bin doch nicht steif«, sagte er.

»Onkel Friedrich hat aber gesagt, dass du ein bisschen steif bist und dass es Zeit braucht, bis du warm wirst.«

Nanni musste unwillkürlich lachen. Sie sah so schelmisch aus, dass Jan Rubinchen und Pipp vergaß und ihr ganz schnell über die Wange streichelte.

Rubinchen bemerkte es mit Wohlgefallen und verhielt sich nun ganz still. Leider gelangten sie viel schneller nach Sophienlust, als ihr lieb war. Dort wurden sie freudig empfangen.

Leider war Nick schon in der Schule, aber für Henrik begann sie erst eine Stunde später. Deshalb leitete er das Empfangskomitee mit Pünktchen, die nun endlich in den Genuss kam, die kleine Eisprinzessin, von der Nick so geschwärmt hatte, kennenzulernen. Alle Zweifel in ihr schwanden. Das war ja ein ganz kleines Mädchen, und wenngleich es auch sehr niedlich war, so brauchte sie nicht zu fürchten, dass Nick sein Herz an sie verloren haben könnte. Es war für Pünktchen eine so große Beruhigung, dass sie ganz besonders freundlich zu Rubinchen war.

Nur wenige Minuten blieben Jan und Nanni für den Abschied. »Du wirst keine Zweifel hegen?«, fragte er bittend.

»Wir wollen jetzt noch nicht an die Zukunft denken, Jan«, erwiderte Nanni. »Für Rubinchen ist im Augenblick die beste Wahl getroffen. Du kannst nicht alles hinter dich werfen.«

»Sag mir, dass du mich liebst und mir vertraust«, bat er.

»Ich liebe dich«, flüsterte sie, doch eine bange Ahnung erfüllte sie, dass mit Yasmin noch zu rechnen wäre.

Und wenn man nach Pipp gehen wollte, der herzzerreißend jaulte, als Jan davonfuhr, musste ein Wiedersehen wohl in ganz weiter Ferne liegen.

*

»Nun, Nanni, wie wäre es, wenn Sie wenigstens eine Woche blieben?«, fragte Denise.

»Ich muss zur Beerdigung von Frau Hagen zurück sein«, erwiderte sie. »Das bin ich ihr schuldig.«

»Aber dann können Sie doch wiederkommen. Es gibt wirklich einiges für Sie zu tun.«

»Bitte, bitte, Nanni«, ließ Rubinchen sich vernehmen.

»Mir gefällt es hier ja, aber ohne dich und Pipp bin ich doch allein.«

»Pipp kannst du hierbehalten«, räumte Nanni ein.

»Das ist aber sehr lieb von dir«, schmeichelte Rubinchen.

Pipp dagegen schien sich noch nicht ganz schlüssig zu sein, ob es für ihn denn angebracht war, zwischen all dem Getier, das an ihm herumschnupperte, ein angenehmes Leben zu verbringen.

Rubinchen, schon ganz mit seinem Seelenleben vertraut, redete ihm zu. »Stell dir vor, wenn ich mich wieder verlaufe, kennt mich keiner so gut wie du, und stell dir vor, wenn Tante Lilo käme, um mich fortzuholen, was wäre dann?«

Ernsthaft hegte sie einen solchen Gedanken wohl nicht, aber als sie ihn ausgesprochen hatte, kam er ihr doch tiefer zu Bewusstsein, und sie umklammerte Pipps Hals so fest, dass jeder überzeugt sein musste, dass sie ohne seinen Schutz Angst hatte.

So fuhr Nanni allein zurück. Sie fühlte sich sehr einsam. Aber Rubinchen erging es nicht anders, und ebenso Pipp. Doch auch von Jan konnte man nicht sagen, dass er das Büro seines Chefs voll Zuversicht betrat.

*

Generaldirektor Dr. Peschke war eine imponierende Erscheinung. Er überragte den ohnehin recht langen Jan noch um einige Zentimeter und war auch eine beträchtliche Spur breiter. Jan und er sahen sich forschend an, dann nahmen sie Platz.

»Große Ereignisse stehen bevor«, begann Dr. Peschke.

»Ich rief am Samstag in Ankara an und erfuhr, dass Sie schon unterwegs wären.«

»Ich musste schwierige Familienangelegenheiten regeln«, sagte Jan rasch, »meine Tochter war bei meiner Schwägerin untergebracht.«

»Und nun haben Sie wohl alles in die Wege geleitet, um das Kind mit nach Ankara zu nehmen?«

»Nein, ich habe sie in ein Kinderheim gebracht, wo sie besser aufgehoben ist.«

»Das war ein guter Entschluss«, sagte Peschke erfreut. »Ankara fällt nämlich flach für Sie. Wir haben andere Dispotitionen getroffen. Sie werden Herrn Suliman nachher kennenlernen. Er wird die Niederlassung übernehmen. Er weiß mit den Gegebenheiten vor Ort besser umzugehen, und vor allem stiftet er nicht so viel Verwirrung unter den weiblichen Angestellten.«

Man hatte also schon Wind bekommen. Jan sah der Fortsetzung des Gesprächs mit einigen Bedenken entgegen, denn meist begannen sie taktvoll und freundlich, und das dicke Ende kam dann nach. Doch seltsamerweise fühlte er sich gar nicht so sehr bedrückt. Du liebe Güte, selbst wenn man ihm den Stuhl vor die Tür setzte, würde er anderswo eine Stellung finden. Kismet, dachte er, doch da fuhr Dr. Peschke schon fort:

»Sie haben gute Arbeit geleistet da drunten, lieber Campen, aber wir sind zu der Überzeugung gekommen, dass Sie an einem anderen Platz nützlicher sein könnten. Wir haben mit der Maschinenfabrik Dexter fusioniert, aber im Stammwerk im Südwesten eine heillose Unordnung vorgefunden. Ich bin zwar durchaus dafür, die leidenden Herrn nicht vorzeitig in Pension zu schicken, aber wenn sie starrsinnig auf Kosten von Firma und Angestellten weiterwirtschaften, muss man mit hartem Besen kehren. Ich mache Ihnen also das Angebot, das Werk zu übernehmen, was natürlich auch mit einer höheren Dotierung verbunden wäre. Außerdem steht Ihnen ein hübsches Haus zur Verfügung, dass Sie sich ganz nach Ihrem Geschmack einrichten können. Vierzehn Tage werden Sie schätzungsweise brauchen, um Suliman in Ankara einzuweisen. Nanu, Sie machen ja ein deprimiertes Gesicht. Fühlen Sie sich so stark an Ankara gebunden?« Es klang hintergründig.

»Nein, ich wäre sehr froh, in der Nähe meiner Tochter zu sein«, sagte Jan rasch, »und das wäre dann ja gegeben. Es kommt eigentlich wie ein Geschenk des Himmels, Herr Generaldirektor.«

»Deswegen brauchen Sie nicht gleich so formell zu werden«, meinte Peschke lächelnd. »Vielleicht wünschen Sie mich zum Teufel, wenn Sie mit dem Tohuwabohu fertig werden müssen, das Sie erwartet, und außerdem muss die Produktion um zwanzig Prozent während des laufenden Jahres gesteigert werden, sonst geraten wir in die roten Zahlen. Wenn Sie ja sagen, können Sie in genau vierzehn Tagen anfangen.«

»Ich sage ja.«

»Dann ist alles klar. Sie können morgen früh mit Herrn Suliman zurückfliegen. Ihr Herz werden Sie in Ankara wohl kaum zurücklassen?«

Lauerte da nicht schon wieder eine Anzüglichkeit im Hintergrund?

»Nein«, erwiderte er ein bisschen zu rasch und hatte ein schlechtes Gewissen dabei.

*

Er hatte hin und her überlegt, ob er Nanni anrufen sollte, aber dann kam er doch zu der Überzeugung, dass es besser sei, sich zuerst mit Yasmin auseinanderzusetzen.

Am Abend war er mit Dr. Peschke zusammen, und auch Herr Suliman leistete ihnen Gesellschaft. Es war ein gescheiter Mann, und Jan hatte gleich das Gefühl, dass er der Mentalität seines eigenen Volkes weit besser gewachsen sein würde als er. Yasmin würde von dem neuen Chef nicht erbaut sein. Jan hatte ein recht ungutes Gefühl, wenn er an sie dachte. Yasmin wollte bestimmt, dass er sie mitnähme, dessen war er sicher, und was sie sonst noch sagen würde, wenn er ihr reinen Wein einschenkte, war gar nicht auszudenken.

So hatte Herr Suliman keinen sehr gesprächigen Reisegefährten, aber auch er schien keinen Wert darauf zu legen. Erst als die Reise sich dem Ende entgegen neigte, begann er zu sprechen. Von seiner Frau und seinen beiden Kindern Sib und Fatima, die er nun nach einjähriger Trennung wiedersehen sollte.

Jan erwartete am Flughafen eine große Überraschung. Er erkannte Yasmin schon von Weitem. Sie musste auch auffallen in ihrem hocheleganten Mantel.

Sie kam ihm ein paar Schritte entgegen, doch da tauchte Suliman hinter ihm auf. Es war eine eigentümliche Situation, denn Yasmin wich zurück, als wäre sie auf der Flucht.

Jan war völlig verwirrt. Er sah Suliman, wie er auf eine sehr attraktive Frau zueilte, die zwei Kinder an der Hand hielt, und wie es dort eine freudige Begrüßung gab. Dann hielt er wieder Ausschau nach Yasmin, aber sie war nirgends zu sehen. Er hatte nur die Erklärung, dass sie ahnungslos gewesen war, dass er sich in Gesellschaft befand, und sie deshalb taktvollerweise nicht in Erscheinung getreten war.

Suliman machte ihn mit seiner Frau und den Kindern bekannt. Alle strahlten, und Jan wurde schon für den nächsten Abend zum Souper eingeladen.

Er entfernte sich danach rasch, hielt nochmals Ausschau nach Yasmin, aber er fand sie erst in einem Taxi, aus dem sie ihm winkte. Er setzte sich zu ihr, und das Taxi fuhr rasch los, als fürchte man, noch erkannt oder verfolgt zu werden.

»Es kam nur die Mitteilung, dass du mit dieser Maschine eintriffst«, erklärte sie überstürzt.

»Ich flog mit meinem Nachfolger Suliman«, bemerkte er mit rauer Stimme. »Du wirst ihn morgen kennenlernen, Yasmin.«

»Nein, das werde ich nicht.« Sie sagte es so zornig, dass er aufhorchte.

»Aber ich bitte dich, Yasmin, er ist ein sehr gebildeter, wohlerzogener Mann.«

»Man wird dich versetzen. Ich habe es geahnt. Bringe mich schnell fort von hier, Jan. Ich bitte dich. Ich will fort. Ich will nicht mehr hierbleiben. Ich habe geahnt, dass man uns auseinanderbringen will.«

»Davon kann keine Rede sein«, erwiderte er, »zumindest nicht, was die Direktion anbetrifft. Gewiss ist mir eine neue Aufgabe zugeteilt worden, aber das hat doch nichts mit dir zu tun. Du behältst deinen Posten.«

»Du willst, dass ich hierbleibe, während du weggehst?«, begehrte sie auf. »Wohin wirst du versetzt?«

»Nach Deutschland, und das kommt mir sehr entgegen. Die Sache mit Rubinchen ist kritischer, als ich dachte.«

»Wir wollten heiraten. Hast du das vergessen?«, fragte sie.

»Yasmin, es fällt mir nicht leicht. Aber darüber müssen wir noch sprechen.«

Sie kniff die Augen zusammen. »Hierzulande gilt ein Versprechen«, sagte sie hart. »Sage jetzt nicht, dass du es dir anders überlegt hast, Jan.«

Das hatte er gefürchtet, und vielleicht war es Nanni ebenso gegangen. Man konnte nicht einfach einen Schlussstrich ziehen. Man musste an Yasmins Vernunft appellieren. Doch wohl war ihm bei diesem Gedanken nicht.

»Du wirst heute Abend zu uns kommen«, sagte sie herrisch.

Gerade das durfte er nicht tun, denn in dem Augenblick, wo er die Schwelle eines türkischen Hauses überschritt, in dem er als Schwiegersohn betrachtet wurde, war er schon so gut wie verheiratet. Bisher hatte er es vermeiden können, und es war ihm von Yasmin auch noch nicht angetragen worden.

»Ich bin sehr müde. Ich habe anstrengende Tage hinter mir«, erklärte er. »Ich fahre jetzt zu meiner Wohnung. Morgen sprechen wir weiter.«

Sie ließ das Taxi halten. Unter halbgeschlossenen Lidern sah sie ihn an.

»Du bist sehr elegant heute«, stellte er beiläufig fest.

»Für dich«, sagte sie spöttisch, »aber du nimmst es ja kaum zur Kenntnis.«

Er überlegte jedoch nur, woher sie das Geld für diesen teuren Mantel hatte. Aber warum sollte ihn das interessieren? Er musste sich auf diplomatische Weise aus einer prekären Situation ziehen. Das allein war wichtig.

Erst, als er allein in seiner Wohnung war, kam ihm nach längerem Überlegen in den Sinn, dass Yasmin etwas gegen Suliman haben musste, da sie alles vermieden hatte, um ihm zu begegnen. Aber Suliman hatte mit ihm so wenig zu schaffen wie mit Yasmin – erst recht nicht mit seinen privaten Verstrickungen. Wenn er ihr als Chef nicht behagte, würde er sich eine andere Chefsekretärin suchen müssen. Aber das war ein zweitrangiges Problem. Viel komplizierter würde es sein, Yasmin klarzumachen, dass es in seinem Leben eine Frau gab, die ihm mehr bedeutete als alles andere auf der Welt.

Yasmin war zu einer Episode geworden. Das Alleinsein in dem fremden Land war die Voraussetzung dafür gewesen, dass er ihren Reizen nicht widerstehen konnte. Aber konnte er sich tatsächlich als Gentleman aus der Affäre ziehen?

*

Zu gern wollten nun auch die Kinder von Sophienlust Rubinchens Eislaufkünste bewundern. Pünktchen meinte, dass der Dorfweiher noch ganz fest zugefroren sei. Da Rubinchen nun wieder ganz gesund war, wollte sie doch auch beweisen, dass sie sich geschickt anstellte.

Denise war dagegen, aber Rubinchen meinte, dass sie zum Spaß gern laufen würde. Es war ihr doch in den Ohren hängen geblieben, dass man sehr viel Geld damit verdienen könnte, und in ihrer kindlichen Phantasie spukte die Sorge, dass ihr Daddy seine Stellung verlieren würde, wenn er Yasmin nun doch nicht heiratete, wie man es wohl von ihm erwartete. Rubinchen war überzeugt, dass Daddy Nanni nicht so lieb anschauen und ihr auch noch die Wange streicheln würde, wenn er sie nicht ganz mächtig gern hätte. Ob sie wohl einmal mit Tante Isi darüber sprechen konnte? Sie scheute sich zwar ein bisschen davor, aber Tante Isi kannte Nanni schon recht lange, und Erwachsene wussten eben doch mehr als Kinder.

So begab sich Rubinchen zu Denise ins Büro. Natürlich folgte ihr Pipp auf dem Fuß. Er blieb stets seiner Beschützerrolle treu, und außerdem konnte er sich nicht recht daran gewöhnen, der alten Umgebung entrissen worden zu sein. Hier wurde ihm nicht erlaubt, Brötchen zu holen, und die Zeitungen kamen mit einem Boten ins Haus. Auch gab es noch all die anderen Kinder, die ihn dauernd streicheln wollten. Begeistert war er davon nicht, denn meist ging das nicht besonders sanft vor sich, und Pipp war sanfte Hände gewohnt.

»Nun, was hast du auf dem Herzen, Rubinchen?«, fragte Denise. »Na, den Pipp haben wir ja auch. Vermisst ihr etwas?«

»Ganz ehrlich, Tante Isi, Nanni vermissen wir schon«, erwiderte Rubinchen. »Das verstehst du doch?«

»Freilich verstehe ich das. Sie wird bald wiederkommen. Du weißt doch, dass sie zu der Beerdigung von Frau Hagen fahren musste.«

»Beerdigungen sind nicht schön. Da kriegen die Leute nur so ein Grab. Ich habe das nicht gern. Meine Mutti, die ich nicht gekannt habe, hat auch ein Grab. Ich möchte sie mir lieber im Himmel vorstellen.«

»Du wolltest dich doch sicher nicht über so traurige Dinge mit mir unterhalten«, sagte Denise.

»Nein, ich wollte dich eigentlich fragen, wie es ist, wenn man einen Menschen sehr lieb hat, Tante Isi. Bei einem Hund ist es doch so, dass man ihn streichelt und ihn lobt, und wenn nun ein Mensch einen anderen streichelt und lieb anschaut, was ist das dann?«

»Dann hat er ihn wohl auch lieb«, erwiderte Isi verblüfft. Bei Rubinchen musste sie sich wohl noch auf einiges gefasst machen.

»Und wenn nun ein Mensch einen anderen sehr, sehr lieb hat, was tut er dann?«

»Nun, er bemüht sich, ihm keinen Kummer zu bereiten.«

»Wie ist das dann direkt bei einem Mann und einer Frau?«

Du liebe Güte, wenn ich nur wüsste, worauf sie hinaus will, dachte Denise.

»Es kann doch auch sein, dass ein Mann eine Frau heiraten will, die er nicht so richtig lieb hat, was meinst du?«, fragte Rubinchen.

»Jeder Mensch kann sich irren.«

Rubinchen seufzte. »Mein Daddy kann sich wohl auch geirrt haben, als er Yasmin heiraten wollte?«

»Dazu kann ich nichts sagen, Rubinchen. Möglich sein kann es schon, aber zu dieser Erkenntnis muss dein Daddy wohl selbst kommen.«

»Ich bin aber ganz sicher, dass er Nanni mehr lieb hat als Yasmin. Kann ich denn gar nichts tun, dass ihm das auch ganz schnell klar wird?«

»Rubinchen, das ist gut gemeint, und ich kann dich auch verstehen, aber wenn es so ist, wird dein Daddy dieses Problem selbst zu lösen wissen. Dabei kann ihm niemand helfen.«

Betrübt blickte Rubinchen zu Boden. »Nick hat doch gesagt, dass die Frauen im Orient noch einen Schleier tragen, und wenn nun der Schleier fällt und Daddy ein ganz schreckliches Weib sieht, was macht er dann? Nanni hatte er doch richtig gesehen und weiß, wie hübsch sie ist.«

Nick und seine Weisheiten, dachte Denise. Jan Campen hatte sich gewiss keine hässliche Gefährtin ausgesucht, denn so zurückgeblieben war die Türkei nun auch nicht. Aber Denise wusste auch von der orientalischen Beharrlichkeit jener Frauen, und diese bereitete ihr größere Sorgen als die Äußerlichkeiten. Dass Nanni sehr viel für Jan Campen übrig hatte, war ihr nicht entgangen.

»Jetzt gehen wir ein halbes Stündchen Schlittschuh laufen, Rubinchen«, lenkte sie ab. »Lange wird das Eis nicht mehr halten, wenn die Sonne weiterhin so warm scheint.«

*

Viele hatten Frau Hagen das letzte Geleit gegeben, viele, die sich schon lange nicht mehr um sie gekümmert hatten. Es war schließlich keine angenehme Aufgabe, kranken Menschen Gesellschaft zu leisten. Nun wurde gerätselt, wer wohl erben würde. Nanni war es furchtbar peinlich, als diese Vermutungen um ihre Ohren schwirrten.

»Sie wird ganz schön etwas hinterlassen haben«, sagte eine Frauenstimme hinter ihr. »Stammte ja aus einer feinen Familie, und ihr Heiratsgut war beträchtlich.«

»Und was hat sie davon gehabt?«, fragte eine andere. »Die Söhne hat sie verloren und den Mann auch. Und krank war sie auch lange genug.«

»Der Kirche wird sie es vermacht haben«, wurde eine dritte Stimme laut. »Oder der Stadt. Einer wird sich schon ins Fäustchen lachen.«

Nanni ging schneller. Ihre Mutter hielt sie zurück. »Paps kann nicht mithalten«, flüsterte sie.

»Dieser schreckliche Klatsch, ich kann ihn nicht hören, Mutti«, flüsterte sie.

Endlich standen sie vor der Familiengrabstätte. Nannis Augen hingen an dem Grabstein, auf dem der Name von Karlheinz stand. Sieben Jahre war es her, dass er hier zur letzten Ruhe bestattet worden war, und sie erlebte diesen Tag noch einmal. Es war nicht, als senke man seine Mutter in die Erde, es war ihr, als sehe sie ihn wieder vor sich.

Ein richtiger Junge war er noch gewesen, und doch schon viel reifer und ernster als die anderen. Kaum am Anfang des Lebens, hatte er sich schon in das Ende gefunden. Wie tapfer war er gewesen.

»Werde du glücklich, Nanni«, hatte er gesagt. »Es ist alles, was ich mir wünsche. Du bist ein Mensch, der viel Glück geben kann. Es muss alles zu dir zurückkommen.«

Das waren seien Abschiedsworte gewesen. Sie beide waren noch so jung, und sie hatte es nicht glauben wollen. Sie hatte nur immer gewünscht, dass doch noch ein Wunder geschehen würde. Aber wann geschehen schon Wunder?

So waren denn ihre Gedanken bei dem toten Karlheinz, der der Erste und Einzige gewesen war, der sie küsste, bis nun Jan gekommen war.

Sie fühlte fast ein Schuldbewusstsein, dass sie an diesem Grab an Jan denken konnte. Aber nicht Karlheinz wurde beerdigt, sondern seine Mutter. Karlheinz – das lag schon sieben Jahre zurück, eine Ewigkeit fast.

Als alles vorbei war und die Leute Erde und Blumen auf den Sarg warfen, trat ein schlanker schwarzgekleideter Herr auf Nanni zu.

»Mein Name ist Dr. Ott. Ich hätte Sie gern im Haus von Frau Hagen gesprochen, gnädiges Fräulein, wenn das möglich wäre.«

Nanni nickte. Sie wusste genau, was man hinter ihrem Rücken tuscheln würde. Es war nicht aufzuhalten. Bei einer Beerdigung waren die Leute noch mitteilsamer als sonst, und es gab eigentlich kaum etwas, woran sie sich nicht erinnerten. Doch das hörte sie glücklicherweise nicht, denn sie fuhr mit Dr. Ott zu Teresa Hagens Haus, das still und verlassen lag. Nur die alte Kathi hatte noch ausgeharrt und empfing sie mit rotgeweinten Augen.

»Ist niemand sonst hier?«, fragte Nanni.

»Nein, was ich Ihnen zu sagen habe, ist nur für Sie und Kathi bestimmt«, sagte Dr. Ott freundlich. »Nehmen Sie doch bitte Platz, gnädiges Fräulein.«

»Ich war am Samstag noch bei ihr – und dann, als sie starb, mit Herrn Campen«, sagte Nanni leise.

»Ich weiß. Das Testament wurde schon vor Jahren abgefasst. Es ist auch nicht mehr geändert worden. Es besteht keinerlei Zweifel an der Richtigkeit dieser Bestimmungen. Sie wurden im Besitz völliger Geisteskraft niedergeschrieben, und es steht außer Zweifel, dass Sie, Fräulein von Willbrecht, die Alleinerbin sind. Für Kathi hat Frau Hagen ein Zweizimmerappartement in einem Altenwohnheim gekauft, wo sie bestens untergebracht sein wird.«

»Das hat die liebe gnädige Frau für mich getan«, schluchzte Kathi. »Aber wer soll denn die Gräber pflegen? Ich kann doch nicht jeden Tag so weit zum Friedhof gehen.«

»Die Gräber werde ich pflegen, Kathi«, sagte Nanni gepresst. »Sie können sich darauf verlassen.

»Sie haben es ja auch bisher immer getan«, sagte Kathi. »Die gnädige Frau hat Ihnen das nie vergessen, Fräulein Nanni.«

Habe ich genug getan?, fragte sich Nanni. Hätte ich nicht auch für sie mehr tun müssen? Wie ist es alten Menschen zumute, die immer allein sind? Wie würde es mir zumute sein, wenn ich nur mit einer unwiederbringlich verlorenen Vergangenheit leben müsste?

Dr. Ott hatte seine Papiere vor sich ausgebreitet. »Da wäre also dieses Haus, mit dem Frau Hagen den Wunsch verknüpft hat, dass es zu einem Altenwohnheim umgestaltet wird. Das nötige Kapital dazu wäre vorhanden, allerdings liegt die letzte Entscheidung bei Ihnen, gnädiges Fräulein.«

»Es soll alles so werden, wie Frau Hagen es wünschte«, sagte Nanni leise.

»Der Schmuck und das Privatvermögen fallen Ihnen ohnehin zu«, fuhr er fort. »Ich werde Ihnen alles nachher überreichen. Es befindet sich im Safe im Hause. Als Letztes wären dann noch die Anteile an der Fabrik, die Frau Hagen von ihrem Vater erbte. Das Werk war wohl nicht mehr ertragreich. In ihren letzten Lebenswochen leitete sie noch eine größere Fusion ein mit einem Industrieunternehmen. Darüber bin ich nicht hinreichend informiert worden. Meines Wissens nach wurden die Verfügungen so getroffen, dass Sie von der Werksleitung direkt verständigt werden und dann entscheiden können, ob Sie Ihre Anteile ablösen oder selbst behalten wollen.«

Nanni war völlig verwirrt. »Davon weiß ich nichts«, erwiderte sie.

»Davon wusste auch hier niemand. Frau Hagen hat hier ein bescheidenes Leben geführt und ihre Gewinnanteile bekommen. Ob Sie reich sind, kann ich Ihnen nicht einmal sagen, denn diesbezüglich hat Frau Hagen andere Verfügungen getroffen. Doch ich denke, dass Sie allem ganz gelassen entgegensehen können. Sie sind zu beglückwünschen, Fräulein von Willbrecht. Es handelt sich um ein beträchtliches Vermögen.«

»Aber womit habe ich das verdient?«, stammelte sie.

»Dafür wird es mehrere Gründe geben. Auch in der heutigen Zeit wissen Menschen Treue zu schätzen, und Frau Hagen hatte niemand außer Kathi, dem sie so sehr zugetan gewesen war. Ich bin überzeugt, dass sie die richtigen Bestimmungen getroffen hat.«

*

Wie im Traum trat Nanni den Heimweg an. Sie konnte das alles noch nicht begreifen. Still und bescheiden hatte Teresa Hagen dahingelebt, und niemand hatte gewusst, welches Vermögen hinter ihr stand.

Der Zufall wollte es, dass Lilo Lüdke ihren Weg kreuzte. Nanni erntete einen giftigen Blick, ging aber rasch weiter. Verborgen würde es dem Ort nicht bleiben, wenn man sich auch darum bemühte. Lilo würde es vermutlich beinahe zerreißen.

Wenig später war sie mit ihren Gedanken doch wieder bei Jan. Ob er schon in Ankara war? Warum hatte er nicht wenigstens noch einmal angerufen? Kam jetzt schon die Angst und die Eifersucht?

»Nun, Kind«, wurde sie von ihrer Mutter empfangen, »was war?«

»Tante Tresi hat mich zur Haupterbin eingesetzt«, erwiderte sie leise.

Frau von Willbrecht strich ihr über das Haar. »Sie hat eben doch immer ihr Schwiegertöchterchen in dir gesehen, Nanni.«

»Aber wir wissen doch nicht, was gekommen wäre, Mutti«, schluchzte Nanni. »Ich bin nicht glücklich bei diesem Gedanken.«

»Dann wird sich ein Weg finden, dass du andere damit glücklich machen kannst, mein Kind«, sagte Annemarie von Willbrecht. »Was hast du nun vor? Willst du wieder nach Sophienlust fahren?«

»Nicht gleich, Mutti. Es gibt so viel zu bedenken.«

»Rubinchen wird sich schon wohlfühlen in Sophienlust«, meinte ihre Mutter.

Nanni musste an ihren letzten Besuch bei Tante Tresi denken, und erst jetzt wurden ihr deren Worte voll bewusst. Sie hatte ihr damit etwas sagen wollen, was sich in die Zukunft richtete und nicht in die Vergangenheit. Ja, so hatte Tante Tresi ihre Worte wohl begriffen haben wollen. Dennoch konnte Nanni nicht viel damit anfangen, denn was für sie wichtig war, lag fern und im Ungewissen.

*

Jan war an diesem Morgen pünktlich wie immer in seinem Büro, und auch Suliman erschien wenig später. Yasmin war allerdings nicht erschienen.

»Miss Haman ist sonst eigentlich immer pünktlich«, sagte Jan entschuldigend.

Suliman sah ihn staunend an. »Miss Haman?«, fragte er. »Doch nicht Yasmin?«

»Gewiss Yasmin Haman.«

»Erstaunlich«, erklärte Suliman. »Man hat sie also behalten.«

»Sie ist eine ausgezeichnete Sekretärin«, stellte Jan fest.

Das zumindest glaubte er Yasmin schuldig zu sein.

»Sehr interessant. Gewiss ist sie eine ausgezeichnete Sekretärin, aber auch eine ausgezeichnete Spionin. Sollte das Dr. Peschke unbekannt sein?«

»Das müsste erst bewiesen werden«, sagte Jan aufgebracht. Das fehlte ihm gerade noch.

»Keine Erregung, mein Freund«, sagte Suliman gelassen. »Keine Spionin im üblichen Sinn. Eine charmante junge Dame, die ihre Chancen zu nutzen weiß, um sich bei maßgeblichen Stellen Ansehen zu verschaffen. An geheime Dokumente kommt sie wohl auch nicht heran.«

Blitzschnell überlegte Jan, ob Yasmin während dieser Zeit nicht doch Einblick in manche Dokumente gehabt hatte, die nur für seine Augen bestimmt gewesen waren. In seinem Kopf herrschte aber völliges Durcheinander.

»Sie wird erfahren haben, dass ich diesen Posten übernehme, und zieht es vor zu verschwinden«, erklärte Suliman. »Verständlich. Ich hatte eine kleine persönliche Reiberei mit ihr. Sie ist sehr empfindlich, wenn sie nicht zum Zuge kommt, um es dezent auszudrücken, aber bei einem Mann wie Ihnen war da wohl ohnehin nichts drin.«

Alles klang hintergründig, und Jan überlegte, ob man ihn nicht doch auf ein totes Gleis schieben wollte. Und das alles, weil er Yasmin nicht hatte widerstehen können? Das würde dann allerdings eine teure Affäre gewesen sein.

»Sprechen wir offen miteinander, Herr Campen«, sagte Suliman. »Yasmin war siebzehn, als sie hier anfing. Ich spreche ihr ein gewisses Format nicht ab, und tatsächlich ist es ihr auch gelungen, einigen Direktoren die Hölle heiß zu machen, bis Sie hierherkamen. Auch ich, das gebe ich offen zu, habe mich erst im letzten Augenblick aus der Affäre ziehen können und musste dafür mit mehrjähriger Trennung von meiner Familie bezahlen. Sie haben Glück, dass Sie zurückberufen werden, bevor für Sie Probleme entstanden – oder rief man Sie zurück, weil solche bereits im Gespräch waren?«

»Das ist wohl meine Angelegenheit«, sagte Jan steif, aber am liebsten hätte er sich selbst geohrfeigt. Was hätte daraus noch entstehen können! Eben diese Intrigantin hätte er Rubinchen als Mutter vor die Nase setzen wollen. Eine fatale Geschichte.

»Wollen wir uns also um eine neue Sekretärin umsehen«, sagte Suliman mit orientalischer Gleichmütigkeit, die Jan sich selbst jetzt auch gewünscht hätte. »Dann werden wir sehen, dass Sie Ihre Arbeit hier so bald als möglich beenden und sich Ihren neuen Aufgaben zuwenden können. Ihre Tochter wird Sie brauchen. Es ist nicht gut, lange von den Kindern getrennt zu sein. Wofür leben wir schließlich? Wenn wir schon arbeiten und vorankommen wollen, dann doch nur für unsere Familien. Sie werden einiges zu erledigen haben, Herr Campen. Heute komme ich recht gut allein zurecht.«

Wieder dieses undurchschaubare Lächeln. Er musste unbedingt Yasmin erreichen und mit ihr in aller Offenheit sprechen. Er wollte einfach nicht glauben, dass sie schon jahrelang ein falsches Spiel getrieben hatte, auch mit ihm.

Er fuhr zu seiner Wohnung, und dort fand er sie zu seiner Überraschung vor. Sie lag in einem Sessel, hielt eine silberne Zigarettenspitze in der Hand und betrachtete ihn mit einem verführerischen Lächeln.

»Ein schlauer Fuchs, dieser Suliman. Er kann dich wohl nicht schnell genug loswerden, Darling?«, fragte sie. »Ich möchte wissen, was er dir über mich alles erzählt hat. Nein, ich brauche es nicht zu wissen. Ich weiß nur, dass es für dich sehr unangenehm werden kann, wenn ich noch länger hierbleibe, und ich will dir keine Schwierigkeiten bereiten, mein Lieber. Sie wollen den Ast absägen, auf dem du sitzt. Mich natürlich mit, das ist der Sinn des Ganzen. Ich bin reisefertig. Ich habe meinen Eltern gesagt, dass du mich schon jetzt nach Deutschland schicken willst, damit ich mich um deine Tochter kümmere. Ich habe für die Abendmaschine gebucht und hoffe, dass du bald nachkommen wirst.«

»Yasmin, so geht das doch nicht«, stieß er hervor.

»O doch, es geht, mein Lieber. Es macht keine Schwierigkeiten. Diese kann uns höchstens noch der raffinierte Mr Suliman machen.«

»Aber es gibt doch vieles zwischen uns zu klären, Yasmin. Es muss geklärt werden!«

»Du kannst mir das alles auf dem Weg zum Flugplatz erzählen, Darling. Es eilt nämlich.«

In einer derartigen Situation hatte Jan sich noch nie befunden. Was sollte er jetzt tun? Hatte Nanni solche Schwierigkeiten nicht vorausgeahnt? Aber von Nanni wusste sie glücklicherweise noch nichts.

Nur Lilos Adresse kannte sie, und für Lilo konnte das ein gefundenes Fressen werden.

»Bitte, fahren wir«, sagte Yasmin freundlich. »Ich denke wirklich in erster Linie an dich. Du hast doch hoffentlich so viel Geld, um mein Ticket auszulösen.«

Er hätte ihr alles Geld, was er besaß, gegeben, wenn er sie damit nur losgeworden wäre. Aber es stellte sich ihm die bange Frage, ob er sie wohl jemals loswürde.

Er war in sehr niedergedrückter Stimmung, als er Yasmin zum Flugplatz brachte.

»Was wolltest du mir sagen?«, fragte sie völlig ruhig.

»Es wird dich vielleicht treffen«, stieß er hervor, »aber ich bin einer Frau begegnet, die ich liebe.«

»Ach nein«, sagte sie spöttisch. »Ich glaubte, du liebst mich.«

»Das war ein Irrtum, Yasmin. Diese einsame Zeit hier, deine ständige Nähe – du bist eine begehrenswerte Frau, das leugne ich nicht. Ich möchte auch nicht, dass wir im Groll auseinandergehen. Aber da ist Rubinchen, die dich ablehnt. Das Kind bedeutet mir sehr viel.«

»Und wahrscheinlich hat diese besagte Frau größere Chancen, ihr Herz zu gewinnen«, erklärte Yasmin sachlich. »Sie scheint sehr geschickt zu sein und ihre Chancen zu nutzen. Handelt es sich um deine Schwägerin Lilo?«

»Gott bewahre. Durch sie ist doch alles erst entstanden.«

»Wie dem auch sei, ich will nach Deutschland, und wie du dich dann aus der Affäre ziehst, musst du dir überlegen. In deinem Interesse hoffe ich, dass dir eine für mich annehmbare Lösung einfällt. Den Laufpass lässt man sich hier nicht so einfach geben.«

»Was verlangst du?«

Ihre Augen waren eiskalt. »Dass du jetzt mein Ticket auslöst und mich mit so viel Geld versorgst, dass ich über die Runden komme, bis wir uns in deiner schönen Heimat treffen.«

»Und wo wollen wir uns treffen?«

»Ich habe die Adresse deiner Schwägerin.« Sie lachte auf. »Einstweilen werde ich mich ein bisschen umschauen, dank deiner Großzügigkeit.«

»Lass Lilo aus dem Spiel«, sagte er heiser.

Sie lachte spöttisch. »Warum? Es ist doch eine Familienangelegenheit.«

Weil er fürchten musste, dass ihm noch größere Schwierigkeiten entstünden, wenn sie hierbleiben würde, ließ er sie gehen. Es war verrückt, es war völlig absurd, was er da getan hatte, aber für sie schien es selbstverständlich zu sein.

Sie drehte sich sogar noch einmal um und winkte ihm zu. Aber er sah nicht, dass am Ausgang schon ein Mann mit graumelierten Haaren auf sie wartete.

»Nun, hat es geklappt?«, fragte er.

»Bestens. Ich hätte nicht gedacht, dass ich auch noch als Siegerin aus dieser Geschichte hervorgehen würde.«

»Du bist ganz große Klasse, Yasmin. Wir werden etwas auf die Beine stellen, dass die Welt Mund und Augen aufsperren wird.«

»Und wenn es schiefgeht, werde ich meinen Eltern sagen können, dass Jan mich in diese Situation gebracht hat. Es ist immer gut, wenn man sich absichert.«

»Aber es geht nicht schief. Mit dir nicht. Du wirst die Judith in meinem Film. Ich habe es vom ersten Augenblick an gewusst. Nun müssen wir nur noch ein entsprechendes Kind finden, das tänzerische Begabung hat.«

Yasmin lachte. »Damit kann ich vielleicht auch dienen, aber dazu müssten wir ein paar Tage in Deutschland bleiben, Steve.«

Steve Kintosh warf ihr einen schrägen Blick zu. »Willst du mich aufs Glatteis führen?«, fragte er.

»Das vielleicht auch«, erwiderte Yasmin lachend. »Du wirst mir die Füße küssen, Steve. Hast du bis jetzt etwa draufgezahlt bei mir?«

»Nein, Süße.«

Wieder lachte sie. »Also vertraue auf mich!«

Und für sich dachte sie: Wenn Jan wüsste!

*

Nanni rüstete sich zur Fahrt nach Sophienlust. Sie hielt es vor Sehnsucht nach Rubinchen einfach nicht mehr aus.

Am Morgen war ein amtlich aussehender Brief für sie gekommen, in dem sie von der Direktion der Apparatebau-Firma Hugenbald aufgefordert wurde, am 15. des Monats an einer Aufsichtsratsitzung teilzunehmen, um ihre Rechte als Inhaberin der Aktienmehrheit zu klären.

Plötzlich war sie zur Großaktionärin geworden, doch das war ihr ein schrecklicher Gedanke. Immerhin waren noch fast vierzehn Tage Zeit bis dahin, und ihr Vater hatte sich bereit erklärt, sich entsprechend zu informieren. Friedrich von Willbrecht war nicht gerade guter Laune während dieser Tage. Nicht, dass er etwas gegen die Erbschaft seiner Tochter einzuwenden gehabt hätte, aber im Haus war es ihm plötzlich zu öde.

»Schau zu, dass du Pipp wieder mitbringst«, sagte er, »und meinetwegen auch Rubinchen. Es ist ja trostlos. Eine Schnapsidee war es, das Kind nach Sophienlust zu schicken«, polterte er weiter, als Nanni das Haus verlassen hatte. »Die haben doch wahrhaftig Kinder genug, und wir sind nun unsere Nanni los und die Kleine auch noch.«

»Aber gepasst hätte es dir auch nicht, wenn Lilo uns dauernd das Haus eingelaufen hätte«, sagte Annemarie von Willbrecht. »Das wollte uns Herr Campen ersparen.«

»Ach, mit der wäre ich schon fertig geworden. Hasso hat sie sich doch auch vom Hals gehalten.«

»Er vermeidet es aber tunlichst, mit Uschi herzukommen, und das sicher nur, um ihr nicht zu begegnen. Es gibt Menschen, die anscheinend nur auf der Welt sind, um Unfrieden zu stiften.«

»Was Hasso und Lilo auseinanderbrachte, war übel«, sagte Friedrich von Willbrecht. »Erinnerst du dich nicht mehr?«

»Ich habe überhaupt keine Ahnung. Eines Tages war es aus, wie es bei jungen Leuten nun eben ist.«

»Ganz so war es doch nicht. Lilo hat gesagt, dass Nanni sich an Jan Campen herangemacht hätte, nachdem Karlheinz gestorben war. Hasso hat es mir erzählt. Deswegen schmeckt mir die ganze Geschichte nicht sehr, Annchen.«

»Das ist purer Blödsinn. Sie hat ihn doch höchstens flüchtig kennengelernt. Das hat Lilo aus der Luft gegriffen.«

»Aber merkwürdig ist es doch, dass unsere Nanni sich jetzt ziemlich engagiert hat.«

»Es ist sieben Jahre her. Jetzt ist sie erwachsen. Sie mag das Kind, sie mag ihn, was ist da schon dabei? Aber früher, nein, das sind böse Gerüchte. Aber typisch für Lilo.«

»Vielleicht hat sie das sieben Jahre vorausgeahnt«, sagte er mit ironischer Betonung. »Aber wie ich diese Intrigantin kennen, wird sie jetzt womöglich sagen, dass sie erst gewartet hat, bis sie das Erbe von Teresa Hagen in der Tasche hatte, um sich dann doch noch Campen zu angeln.«

»Paps, du hast eine blühende Phantasie«, stöhnte Annemarie von Willbrecht. »Man denkt wahrhaftig viel, wenn der Tag lang ist.«

»Darum wird es auch Zeit, dass wieder Leben ins Haus kommt«, brummte er.

*

Frohes Leben herrschte in Sophienlust, als Nanni eingetroffen war. Pipp überschlug sich fast. Rubinchens Freude kannte keine Grenzen, und sie wich keinen Schritt mehr von Nannis Seite.

»Du, Habakuk ruft schon immer Nanni, Nanni«, sprudelte sie hervor.

»Dann muss ich ihm aber gleich guten Tag sagen«, meinte Nanni. »War Daddy nochmals hier?«

Betrübt schüttelte Rubinchen den Kopf. »Er musste wohl gleich wieder zurück in die Türkei. Du, Nanni, Nick hat gesagt, da dürfen Männer auch mehrere Frauen haben.«

»Na, das ist eine schöne Wirtschaft«, sagte Nanni.

»So was mögen wir nämlich nicht. Wir wollen unseren Daddy allein haben, nicht?«

Nanni errötete. Rubinchen schien schon weiterzudenken. Sie fuhr auch bereits fort: »Unser Daddy will uns ganz sicher allein haben. Ich habe mir alles überlegt, Nanni. Er hat dich gestreichelt und lieb angeschaut, also hat er dich auch lieb.«

»Es kommt nicht nur darauf an, Rubinchen«, sagte Nanni leise.

»Nein, wenn man sich ganz mächtig lieb hat, kriegt man auch Babys«, sagte Rubinchen ernst. »Es wäre natürlich sehr schön gewesen, wenn Daddy dir ein Baby dagelassen hätte, denn dann könnte Yasmin gar nichts mehr machen.«

»Wir wollen jetzt nicht von Yasmin sprechen, Rubinchen«, sagte Nanni.

»Nein, das wollen wir beide nicht«, sagte das Kind. »Aber von Babys könnten wir schon sprechen. Möchten wir noch welche?«

Das waren sehr verfängliche Fragen, doch sie sollten eine Aufklärung finden, die dann doch ein Lachen auf Nannis Gesicht zauberte.

»Es ist nämlich so, Nanni, der Pipp hat sich in eine Hundedame verguckt. Sie ist viel kleiner als er und ein Setter, aber ganz närrisch sind sie miteinander. Pünktchen hat gesagt, dass die Panja, so heißt sie nämlich, jetzt Hündchen kriegen könnte. Hoffentlich wird Onkel Friedrich nicht sehr verärgert sein und mir die Schuld geben. Ich wusste doch gar nicht, wie das ist. Es ist schon recht schwierig, meinst du nicht auch? Wo Pipp doch so schön ist, so weiß wie Schnee, und Panja ist gescheckt. Was da wohl dabei herauskommt?«

»Das sind Probleme, nicht wahr, Nanni«, sagte Denise. »Aber kommen Sie bitte. Da ist eben ein Telegramm durchgegeben worden für Sie. Für Sie ganz allein.«

Nanni folgte ihr ins Büro. Fein säuberlich hatte Denise aufgeschrieben, was man durchgesagt hatte.

Yasmin auf dem Weg nach Deutschland. Vorsicht! Ich liebe Dich, Nanni, was auch geschehen mag. Du darfst nicht zweifeln. Dein Jan. Nur Dein Jan.

»Das kostet ein Vermögen«, sagte Denise. »Ich denke, Sie haben nicht den geringsten Grund, so ängstlich zu schauen.«

»Aber wenn sie hierherkommt?«

»Hierher? Das glaube ich nicht. Und wenn schon! Dann werden wir uns anhören, was sie zu sagen hat. Aber Sie brauchen gewiss nicht den Kopf hängen zu lassen, Nanni.«

Ich liebe dich, klang es in ihren Ohren. Dein Jan, nur dein Jan. Aber Yasmin war auf dem Weg nach Deutschland.

*

Steve Kintosh kam immer mehr zu der Überzeugung, mit Yasmin das Große Los gezogen zu haben. Hübsch waren die Starlets alle, die er an Land zog, aber sie war dazu auch noch gescheit. Sie sprach vier Sprachen beinahe perfekt, und sie konnte den Bauchtanz noch perfekter. Sie war eine Schau, mit der Geld zu machen war. Viel Geld. Natürlich musste sie einen Teil davon abbekommen, denn dass sie auch geschäftstüchtig war, hatte er auch schon begriffen.

Sie hatte den Wunsch geäußert, eine Nacht in einem exklusiven Hotel in München das Leben zu genießen, und er hatte ihr diesen Wunsch umso lieber erfüllt, als dies auch Erlebnisse für ihn versprach.

Nun ergab es sich aber, dass sich in dem Nachtklub auch einige Herren befanden, von denen zumindest einer kein Auge von Yasmin wandte. Sie bemerkte es nicht. Sie war in bester Stimmung und bemüht, Steve in ebensolcher zu halten.

Er war bereits so von ihr fasziniert, dass er sie keinem andern mehr gönnte. Der Jüngste war er nicht mehr, aber sie gab ihm die Illusion der Jugend zurück.

»Dieser Lustgreis hat ein Auge auf dich geworfen, Yasmin, Blüte meiner schlaflosen Nächte!« Doch als er sich umdrehte, war besagter Lustgreis verschwunden.

»Aha, er hat gemerkt, dass du zu mir gehörst«, sagte er.

»Gehöre ich zu dir, Steve?«, fragte sie mit schmelzender Stimme.

»Und wie! Du wirst mich nicht mehr los. Auf nach Las Vegas, dann wird geheiratet.«

»Steve, Darling, du bist wunderbar«, flötete sie.

»Aber zuerst müssen wir uns noch das Püppchen sichern, Sternchen«, entgegnete er, denn seine Geschäfte vergaß er nie.

»Gleich morgen.«

»Warum nicht heute? Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen«, meinte er. »So sagt man in Germany.«

»Wir müssen ins Gebirge fahren.«

»Dann fahren wir doch, Sternchen.«

»Jetzt bin ich aber müde, und ich habe mich so gefreut, allein mit dir zu sein«, sagte sie.

»Kannst du haben, Süße. Aber das andere bringen wir schnell über die Runden. Es wird doch keine Schwierigkeiten machen?«

»Gar keine«, erwiderte Yasmin überzeugt.

*

Es war nachts gegen ein Uhr, als Jan einen Anruf seines Chefs bekam. Er hatte geschlafen, aber die Stimme von Dr. Peschke machte ihn sofort munter.

Es ging um Yasmin. Peschke hatte sie in einem Nachtlokal in München gesehen.

»Ich habe mich erkundigt, Campen. Irrtum unmöglich. Sie war in Gesellschaft eines amerikanischen Filmmanagers. Total engagiert und total betrunken. Was haben Sie dazu zu sagen?«

»Nichts«, erwiderte Jan.

»Man hörte, dass Sie liiert mit ihr seien.«

Jan blieb vorerst die Luft weg. »Ich werde eine andere Frau heiraten. Nanette von Willbrecht heißt sie.«

»Sie packen morgen Ihre Sachen, nehmen die erstbeste Maschine, meinetwegen chartern Sie auch ein Privatflugzeug, und melden sich zum Rapport«, sagte Dr. Peschke.

Aus, dachte Jan. Das habe ich nun davon. Jetzt halten sie mich für einen Frauenverführer. Wenn jetzt nur Nanni zu mir hält. Ob sie sein Telegramm schon hatte? Aber vielleicht war sie gar nicht in Sophienlust. Vielleicht war sie daheim.

Sie wird mich verachten, Rubinchen wird mich nicht mehr mögen, ich werde ohne Stellung dastehen. Langsam geriet er in Weltuntergangsstimmung.

Aber was sollte es. Mitten in der Nacht rief er am Flughafen an. Morgen früh um zehn Uhr konnte er starten.

Doch pflichtbewusst, wie er war, rief er auch Suliman an, der gelassen und freundlich blieb, obgleich er aus tiefstem Schlaf geweckt worden war.

»Alles ist klar, Mr Campen, ich habe damit gerechnet«, sagte er.

Jan stand auf und duschte sich. Er rauchte ein paar Zigaretten. Ein ruhmloser Abschied, dem ein noch ruhmloseres Ende folgen würde, und die Willbrechts würden ihn zum Teufel jagen, wenn er es wagen sollte, um Nannis Hand anzuhalten.

*

Es war neun Uhr morgens, als ein amerikanischer Straßenkreuzer vor Lilo Lüdkes Haus hielt. Das fiel sogar hier auf, nur Lilo merkte noch nichts davon, denn sie schlief und erwachte erst, als es mehrmals an ihrer Tür läutete.

Sie zog sich den Morgenmantel über, der eines ihrer dekorativsten Kleidungsstücke war.

Vor ihr stand eine bildhübsche junge Dame.

»Ich bin Yasmin«, flötete sie. »Liebe Lilo, wie freue ich mich, dich kennenzulernen.«

Lilo wusste nicht, wie ihr geschah. Yasmin war ganz Herrin der Situation. »Wo ist Rubinchen, unser kleiner Engel?«, fragte sie.

»Wissen Sie es denn nicht?«, stotterte Lilo.

»Bleiben wir doch bei dem Du, meine Liebe. Ich weiß gar nichts. Jan ist in Deutschland. Ich dachte, er wäre bei dir. Mit meinem Pass hat nicht gleich alles geklappt. Ich musste nachkommen. Ich bin ohne jede Nachricht von Jan. Bitte, kläre mich doch etwas auf.«

»Das ist eine ziemlich lange Geschichte«, sagte Lilo stockend, während sie die andere plötzlich als Verbündete betrachtete.

»Erzähle die lange Geschichte kurz. Jan ist in Schwierigkeiten«, erklärte Yasmin schlau.

»In Schwierigkeiten?«, staunte Lilo.

»Das erzähle ich dir später. Zuerst muss ich wissen, wo Rubinchen ist.«

»Jan hat sie in ein Kinderheim gebracht«, platzte Lilo heraus. »Auf Betreiben von Nanette von Willbrecht. Sie ist hinter Jan her.«

»Dachte ich mir doch«, sagte Yasmin geistesgegenwärtig. »Ich bedarf deiner Unterstützung, Lilo. Wir sitzen in einem Boot, und jetzt geht es um das Kind. Ich habe Nachrichten, dass Jan sich in einer Klemme befindet und schnellstens nach Amerika muss. Sein Freund Steve Kintosh leistet uns Hilfestellung. Jan ist in eine Spionageaffäre verwickelt. Er kann nichts dafür, aber du weißt ja, wie schwer es ist, das zu beweisen.«

Vielleicht hätte sie nicht so sehr aufschneiden sollen, denn nun wurde Lilo richtig wach und sah ihre eigenen Vorteile. Zwei Gegnerinnen, die ihre Karten nicht aufdeckten, standen sich gegenüber.

Lilo war gewiss nicht dumm, aber sie hatte immer Komplexe, wenn sie mit einer attraktiven Frau konfrontiert wurde, und man konnte Yasmin ihre ungewöhnlichen äußeren Vorzüge nicht absprechen. Sie war wütend gewesen, als Jan schrieb, dass er Yasmin heiraten würde, jetzt aber verspürte sie gegen Nanette von Willbrecht einen viel heftigeren Hass. Dennoch wollte das, was Yasmin zum Besten gab, ihr nicht in den Sinn. Sie beschloss, auf der Hut zu sein.

»Spionage?«, sagte sie kopfschüttelnd, »das ist doch Unsinn!«

»Natürlich ist es Unsinn, aber du kennst unsere Landsleute nicht. Jan wurde hierherbeordert. Er ist nicht mehr nach Ankara zurückgekehrt. Steve sucht ihn. Ich soll inzwischen das Kind holen. Du musst mir helfen, Lilo. Wir nehmen dich mit in die Staaten.«

»Warum das?«, fragte Lilo misstrauisch. »Ich hatte Krach mit Jan wegen Rubinchen.«

»Das klärt sich. Du wirst Rubinchen weiter betreuen und trainieren. Du sollst die Früchte deiner Arbeit ernten«, fügte sie salbungsvoll hinzu.

»Gegen Jans Willen?«, fragte Lilo wieder, denn wenn sie vor einem Menschen Respekt hatte, dann war es Jan.

»Er ist damit einverstanden. Diese Person hatte ihn nur vorübergehend beeinflusst. Wo ist Rubinchen jetzt?«

»In Sophienlust. Es ist nicht weit entfernt.«

»Dann fahren wir.«

»Ich muss mich umziehen.«

»Dann beeile dich«, drängte Yasmin. »Wir müssen das Kind in Sicherheit bringen. Was hatte man dem Kind doch für die Revue geboten?«

Lilo wurde stutzig.

»Über die Gage wurde noch nicht geredet«, erwiderte sie ausweichend.

»Nun, Steve und ich werden schon einiges herausschlagen, und Jan wird dankbar sein, wenn er einen solchen Start hat. Er wird dir jetzt dankbar sein, Lilo.«

»Meinst du?«

»Sonst wäre ich doch nicht hier«, log Yasmin. »Wir zwei werden uns schon verstehen, wenn du auch gegen mich warst.«

Lilo war gewohnt, nüchtern zu denken. Das kam ihr alles ein bisschen verworren vor. Es klang zu sehr nach Krimi, aber oft genug spielten sich auch im Leben solche Dinge an. Sie versuchte, sich selbst davon zu überzeugen, dass Yasmin nicht hier wäre, wenn bei Jan alles stimmen würde. Aber wenn er in der Klemme saß, war nicht einzusehen, dass er Rubinchen aus dem sicheren Sophienlust fortholen wollte.

Doch dieser vernünftige Gedanke wurde verdrängt von dem Gefühl des Triumphes, dass Lilo Rache an Nanette nehmen konnte mit Hilfe von Yasmin.

*

Schon früh am Tag herrschte munteres Leben in Sophienlust. Man wollte einen Ausflug machen, und die Kinder freuten sich schon darauf, denn sie sollten an der Wildfütterung teilnehmen. Pipp war diese Teilnahme aber nicht gestattet, und so war Rubinchen auch nur auf gutes Zureden von Nanni bereit, sich anzuschließen. Nanni hatte eine schlechte Nacht hinter sich. Jans Telegramm ging ihr nicht aus dem Sinn. Was auch geschehen mag. Was sollte das nur bedeuten? Wollte Yasmin ihn zur Heirat zwingen? Es blieb ihr nur übrig, geduldig zu warten, bis ein Brief von Jan eintreffen würde.

Pipp schlich trübsinnig umher, seit die Kinder sich in Marsch gesetzt hatten, und ließ sich dann auf gutes Zureden unter Denises Schreibtisch nieder, als Nanni sich anbot, bei den Büroarbeiten zu helfen.

»Sie dürfen sich keine derartigen Sorgen machen, Nanni«, sagte Denise herzlich.

»Ich mache mir Sorgen, dass Jan in Gefahr sein könnte«, sagte Nanette.

»Eine gekränkte Frau vermag zwar viel, aber ein Mann wie Jan Campen wird klug genug sein, sich dagegen zu wehren«, meinte Denise.

»Es ist ja nicht nur Lilo, es ist auch Yasmin«, sagte Nanni.

»Ich weiß. Herr Campen hatte so viel Vertrauen zu mir, darüber zu sprechen. Er wird diese Angelegenheit bestimmt in Ordnung bringen.«

Diese Überzeugung geriet dann allerdings auch arg ins Wanken, als Yasmin und Lilo in demonstrativer Einigkeit dem Straßenkreuzer entstiegen. Nanni wurde blass.

»Überlassen Sie das vorerst mir, Nanni«, sagte Denise rasch. »Gehen Sie einstweilen in den Wintergarten. Ich will hören, was diese beiden Damen herführt.«

Pipp knurrte gefährlich, aber er rührte sich auch dann nicht von seinem Platz, als Nanni ihn dazu aufforderte, und das war ungewöhnlich.

Als Lilo Denises Büro betrat, richtete Pipp sich zähnefletschend auf.

Lilo fuhr zurück. »Wieso ist der Hund hier?«, fragte sie schrill.

»Rubinchen hat ihn mitgebracht«, erwiderte Denise gelassen. »Was wünschen Sie?«

»Zuerst entfernen Sie den Hund«, stieß Lilo hervor, und auch Yasmin machte einen ängstlichen Eindruck, als Pipp sie ebenfalls mit einem wütenden Knurren bedachte. Doch da trat Nanni wieder ein und warf Denise einen bittenden Blick zu. Es erschien ihr ungerecht, Denise diese Unannehmlichkeiten, die der Besuch unweigerlich mit sich bringen würde, allein zu überlassen.

»Sieh da«, sagte Lilo gehässig, »sie ist auch hier – nicht nur der Hund. Das ist Fräulein von Willbrecht, liebe Yasmin.«

»Die sich so sehr bemüht, mir meinen Verlobten abspenstig zu machen«, sagte Yasmin von oben herab. »Glücklicherweise weiß Jan ja, wo sein Glück liegt.«

Nanni dachte an das Telegramm, krampfhaft bemüht, sich durch diese Frau nicht irre machen zu lassen.

»Ich bin hier, um Rubinchen zu holen«, sagte Yasmin.

»Um Rubinchen zu holen?«, rief Nanni aus.

Ein vernichtender Blick traf sie.

»Das passt Ihnen wohl nicht? Aber es ist Jans Wunsch. Wir fliegen noch heute in die Staaten mit dem Kind. Er hat alles schon vorbereitet und wünscht Sie, aus begreiflichen Gründen, nicht mehr zu sehen«, sagte Yasmin, während Lilo nicht wusste, wo sie hinschauen sollte.

»Herr Campen ist aber sehr schnell von Ankara nach München gekommen«, mischte sich Denise ein.

Yasmin warf den Kopf herum.

»Er war gar nicht mehr in Ankara«, sagte sie hochnäsig. »Er hat mich herkommen lassen. Wir wollen uns bei Lilo treffen, aber er hat noch Dringendes zu erledigen.«

»Er war gar nicht in Ankara?«, fragte Denise sehr betont, und dadurch wurde Nanni ihren Gedanken entrissen. Sie fing Denises Blick auf.

»Ich habe es doch schon gesagt«, erwiderte Yasmin. »Wo ist das Kind?«

»Da müssen Sie sich gedulden. Die Kinder sind auf einem Ausflug und kommen vor Nachmittag nicht zurück.«

Yasmin wurde blass, Lilo wurde noch blasser. Denise ließ die beiden nicht aus den Augen.

»Sie werden sich also gedulden müssen«, sagte Denise.

»Und vielleicht können Sie uns erklären, wieso Herr Campen Fräulein von Willbrecht ein Telegramm aus Ankara schicken konnte, wenn er gar nicht dort gewesen ist?«

»Es muss fingiert sein«, behauptete Yasmin kühn.

»Es ist ein sehr persönliches Telegramm«, erklärte Denise gelassen, »und in Ankara kann man kaum etwas von der Verbindung zwischen Herrn Campen und Fräulein von Willbrecht wissen. Sie werden verstehen, dass ich erst direkte Anweisungen von Herrn Campen haben möchte, bevor ich das Kind herausgebe. Ich trage nämlich die Verantwortung für Rubinchens Wohlbefinden.«

»Sie sind anmaßend«, sagte Yasmin.

»Das nehme ich in Kauf. Es bleibt mir genügend Zeit, mit Ankara zu telefonieren, bis die Kinder zurück sind. Sie können gern warten.«

Lilo raffte sich auf. »Stimmt das wirklich mit der Spionageaffäre, Yasmin?«, fragte sie gepresst.

»Sei still jetzt. Merkst du nicht, dass man uns in die Enge treiben will? Ich befolge Jans Anordnungen, sonst nichts. Man scheint hier zu glauben, dass Fräulein von Willbrecht mehr Rechte an ihm und dem Kind hat.«

Pipp begann wieder zu knurren und dann, als sich die Tür auftat, war er mit einem Satz hinaus, bevor Nanni ihn noch zurückhalten konnte.

Es war der Telegrammbote. Er brachte diesmal gleich drei Nachrichten, und davon waren zwei für Nanni bestimmt. Das eine war das, welches man gestern schon telefonisch durchgesagt hatte, das zweite versetzte sie in noch größere Erregung.

Eben in München eingetroffen. Komme auf schnellstem Weg. Jan.

Sie sah es noch an, während Denise ihres las:

Eben Anruf von Generaldirektor Peschke erhalten. Etwas im Gang gegen Campen. Rubinchen streng bewachen. Willbrecht.

Nein, so etwas, dachte Denise, was steckt da bloß dahinter? Sie tauschte mit Nanni die Telegramme aus, als sie Nannis hilflosen Blick bemerkte.

Doch Denise war schon mit den seltsamsten Situationen fertig geworden.

»Es wird Sie interessieren, Miss Haman«, sagte sie gelassen. »Herr Campen teilt Fräulein von Willbrecht mit, dass er eben in München eingetroffen ist und auf schnellstem Weg hierherkommen wird. Sie werden ihn also hier treffen können, wenn Sie sich noch ein wenig gedulden.«

Yasmin hatte es die Stimme verschlagen. Sie brauchte ein paar Minuten, um ihre Fassung zurückzugewinnen.

»Doch nicht in Gegenwart dieser Person«, sagte sie gereizt. »Ich werde ihn im Hotel treffen.«

»In welchem?«, fragte Denise.

»Es wird hier doch eines geben«, sagte Yasmin.

»Es gibt den Goldenen Löwen, einen Gasthof«, erklärte Denise gleichmütig.

»Also gut, dann erwarte ich Herrn Campen dort, wenn er sich mit Ihnen auseinandergesetzt hat. Komm bitte, Lilo.«

»Ich verstehe das alles nicht«, sagte Lilo verwirrt. »Irgendetwas stimmt da doch nicht.«

»Das meine ich auch«, sagte Denise, »aber es wird sich in den nächsten Stunden bestimmt aufklären.«

*

Denise griff nach Nannis kalter Hand, als sich die beiden entfernt hatten. »Keine Aufregung, Kindchen, ich glaube nicht, dass wir die beiden wiedersehen werden.«

»Ich verstehe gar nichts mehr«, stammelte Nanni.

»Vieles ist mir ebenfalls unklar«, sagte Denise, »aber eines weiß ich gewiss: Niemals hat Jan Campen dieser Yasmin den Auftrag gegeben, Rubinchen von hier fortzuholen. Unklar ist mir allerdings auch, wer dieser Peschke ist, der mit Ihren Eltern telefoniert hat.«

»Der Generaldirektor«, flüsterte Nanni.

»Es wird sich schon alles klären«, meinte Denise mutig. »Die Frage ist jetzt: wo steckt Pipp?«

Der Hund war nirgends zu finden, und nun hatte Nanni noch eine Sorge mehr. Doch sie dachte an jenen Abend, als Pipp ebenfalls nicht zu halten gewesen war und dann Rubinchen im Schnee fand. Witterte er wieder eine Gefahr, oder hatte nur Lilo ihn beunruhigt?

Und noch ein Rätsel gab es. Warum rief Generaldirektor Peschke ihre Eltern an? Wieso wusste er von ihrer Existenz? Was sollte gegen Jan im Gang sein und warum sollte Rubinchen streng bewacht werden? Das konnte doch nur bedeuten, dass Peschke ein doppeltes Spiel von Yasmin vermutete. Es war jedenfalls recht eigenartig, dass er sich selbst einschaltete. Das musste einen ganz besonderen Grund haben.

*

In ihrer durchaus verständlichen Eile hatte Yasmin den verkehrten Weg eingeschlagen. Auch Lilo, die vor Aufregung zitterte, achtete nicht darauf.

»Was hast du mir erzählt?«, brachte sie bebend über die Lippen. »In was hast du mich da hineingezogen?«

»Halt doch deinen Mund«, herrschte Yasmin sie an. »Deine Methoden waren auch nicht besser. Auswischen wollte ich ihm eins, wie du auch. Es macht nicht gerade Spaß, wenn man den Laufpass bekommt.«

Das konnte Lilo verstehen, aber sie sah keinen Grund, Yasmin jetzt noch die Stange zu halten. Sie merkte jetzt auch, dass sie in verkehrter Richtung fuhren. »Lass mich heraus, wir sind falsch gefahren«, sagte sie.

»Wie du willst«, sagte Yasmin knapp. Dann war sie Lilo wenigstens wieder los, denn nutzen konnte sie ihr doch nicht mehr. Im nächsten Augenblick aber war die Situation schon wieder verändert.

Als Lilo auf freier Strecke aussteigen wollte, rief sie aus: »Im Wald dort sind Kinder, und da – ich sehe Rubinchen!«

Yasmins Augen begannen zu funkeln. »Großartig«, sagte sie, »handeln wir schnell. Wir sind ein schönes Stück weiter. Los, zögere nicht, du machst ein gutes Geschäft, Lilo.«

»Ein wie gutes?«, fragte Lilo zurück.

Yasmin war nicht kleinlich in Anbetracht dessen, dass sie Lilo doch abzuschieben gedachte.

»Freiflug nach Amerika und zehntausend vorerst«, sagte sie. »Halten wir uns jetzt damit nicht auf. Wir können noch darüber reden.«

Sie steuerte den Wagen in den Waldweg hinein. Die Kinder waren stehen geblieben und schauten sich um. Ein solcher Wagen erregte immer Aufmerksamkeit, und als Lilo dann ausstieg, war Rubinchen so überrascht, dass sie nur staunend rief: »Tante Lilo, du?«

Yasmin stand schon bei ihr. »Nun, mein kleiner Schatz, ist die Überraschung gelungen«, fragte sie im freundlichsten Ton. »Ich bin Yasmin. Ich soll dich abholen und zu Daddy bringen. Er wartet schon auf uns.«

Rubinchen wurde blass. Henrik baute sich neben ihr auf. Pünktchen und Nick kamen hinter den Bäumen hervor und Wolfgang Rennert, der die Aufsicht über die Kinder führte, sagte ruhig: »Ohne Einwilligung von Frau von Schoenecker kann ich das nicht gestatten.«

»Ach was, seien Sie nicht so pedantisch. Wir sind in Eile. Wir haben mit der Suche schon so viel Zeit verloren.«

»Nein, ich will nicht«, rief Rubinchen aus. »Ich will nicht. Ich will bei Nanni bleiben, wenn Daddy sie doch heiratet.« Sie klammerte sich an Nick und Pünktchen und schrie noch einmal gellend: »Ich will nicht mit.«

Und da kam Pipp angeschossen, japsend vom schnellen Lauf, im dichten Fell trockene Zweige und Kienäpfel. Mit einem gewaltigen Satz sprang er auf Lilo zu und warf sie um. Sie kannte er. Sie erschien ihm wohl als größter Feind.

»Pipp, lieber Pipp«, flüsterte Rubinchen, während dicke Tränen über ihre Wangen kullerten. In der allgemeinen Aufregung ergriff Yasmin die Flucht, hastete zum Wagen, und im nächsten Augenblick heulte der Motor auf.

Lilo konnte einem richtig leidtun, wie sie da am Boden lag mit ihrem schreckensvollen und zugleich einfältigen Gesichtsausdruck, und dem zurückstoßenden Wagen nachblickte.

»Schöne Geschichte«, sagte Pünktchen.

»Keine schöne Geschichte«, sagte Henrik. »Gemeine Geschichte.«

»Aber mein Pipp findet mich überall«, schluchzte Rubinchen glücklich. »Und so eine will mein Daddy heiraten.« Tiefste Empörung war in ihrer Stimme.

»Das will er doch gar nicht«, sagte nun Lilo, als könne sie sich damit verteidigen. »Yasmin hat mich belogen. Es stimmt alles gar nicht, was sie mir erzählte.«

Rubinchen sah ihre Tante nachdenklich an. »Aber du glaubst ja auch immer alles, wenn es bloß gegen Nanni geht«, sagte sie voll Verachtung. »Nanni würde nie gemein sein.«

Da schwieg Lilo lieber. Am Ende war sie noch froh, dass sie mit einem blauen Auge davonkam und von Sophienlust aus mit dem Schulbus zum Bahnhof gebracht wurde.

*

Während man in Sophienlust alle möglichen Überlegungen anstellte, was hinter dieser Geschichte eigentlich steckte, fuhr eine schwere Limousine von München aus in Richtung nach Sophienlust. Der Fahrer schenkte dem dahinbrausenden Straßenkreuzer, der ihnen auf halber Strecke begegnete, keine Beachtung. Er hatte seinem Begleiter schon eine lange Rede gehalten, und dabei war ihm der Mund trocken geworden.

»Ja, mein lieber Campen, wenn ich Yasmin, diese kleine Circe, nicht zufällig in dem Nachtclub gesehen hätte, säßen Sie jetzt noch in Ankara«, sagte Generaldirektor Dr. Peschke. »Ich dachte mir, dass es doch nicht mit rechten Dingen zugehen müsse, dass sie mit diesem Amerikaner schmuste, anstatt Ihre Post zu tippen. Da habe ich natürlich gleich ein paar Erkundigungen eingezogen.«

»Aber ich hatte keine Ahnung, dass Sie wussten, dass …«

»Lassen Sie mich weiterreden, sonst geht mir die Spucke aus, bevor wir in Sophienlust sind«, sagte Dr. Peschke. »Ach, geben Sie mir doch aus dem Fach die Flasche. Ein kleiner Schluck kann nicht schaden. Notfalls können Sie fahren.«

»Das könnte ich«, sagte Jan.

»Gut, wechseln wir den Platz. Mit einem einzigen Schluck ist meiner trockenen Kehle auch nicht gedient. Aber wehe, wenn Sie uns in den Graben steuern, wenn ich weiterrede. Sie werden nämlich noch einige Überraschungen erleben.«

»Noch mehr«, stöhnte Jan.

Peschke stärkte sich ausgiebig, dann atmete er tief auf. »Also weiter im Text. Natürlich hörte ich läuten, dass zwischen Ihnen und Yasmin Haman etwas im Gange ist. Bei Ihnen hat es länger gedauert, als bei den andern.«

»Wie meinen Sie das?«

»Dass sie es schon ein paar Mal vorher probiert hatte, ich meine bei Ihren Vorgängern, doch da es schwieriger ist, eine gute Sekretärin zu bekommen als einen Direktor …«

»Ein schönes Kompliment«, fiel Jan ins Wort.

Peschke lachte. »Für Sie sollte es von vornherein eine Übergangsstation sein, und ehrlich gesagt, hätte ich wirklich nicht gedacht, dass Yasmin Sie auch herumbringt.«

»Ich war ein schöner Trottel«, sagte Jan seufzend.

»Trösten Sie sich. Diese rätselhaften Samtaugen hätten mich beinahe auch verzaubert. Aber zur Sache. Ich hatte Ihnen bereits gesagt, dass Sie künftig die Dexter-Werke übernehmen.«

»Gilt das noch?«, fragte Jan.

»Was meinen Sie, warum ich hier neben Ihnen sitze und Ihre Angelegenheiten zu meinen mache?« Er machte eine kleine Pause. »Immerhin sollte ich mich aber doch erst vergewissern, ob Sie die ehrliche Absicht haben, Fräulein von Willbrecht zu heiraten.«

»Was hat das damit zu tun?«, fragte Jan.

»Eine ganze Menge.« Peschke lachte. »Ich lege großen Wert auf moralischen Lebenswandel«, spottete er. »Scherz beiseite. Fräulein von Willbrecht ist nämlich seit einigen Tagen Hauptaktionärin der Dexter-Werke.«

»Jetzt machen Sie sich auch noch über mich lustig«, sagte Jan.

»Nichts liegt mir ferner. Fräulein von Willbrecht ist Haupterbin von Frau Hagen, deren letztwillige Verfügung dahin ging, dass die Fabrik mit meinem Konzern fusioniert wird, wenn Ihnen, Herr Campen, die Leitung übertragen würde. Von mir aus gesehen, konnte sie keine bessere Verfügung treffen. Die alte Dame muss Sie sehr gern gehabt haben.«

Jan war blass geworden. Seine Lippen pressten sich aufeinander. Seine Kehle war eng geworden.

»Sie hatte vor allem Nanni sehr gern«, sagte er leise. »Sie hatte sich Nanni wohl einmal als Schwiegertochter gewünscht.«

Auch Dr. Peschkes Gesicht war sehr ernst geworden. »Ein tragisches Schicksal«, sagte er, »aber ihr Unglück hat sie nicht so verbittert, dass sie nicht das Glück anderer im Auge hatte.«

»Und was sagt Nanni dazu?«, fragte Jan leise.

»Sie hat noch keine Ahnung, welche Rolle Ihnen zugedacht ist. Für Nanette von Willbrecht scheint es nichts Wichtigeres zu geben, als die Tochter eines gewissen Herrn Campen zu behüten.«

»Worüber niemand glücklicher ist als ich«, sagte Jan.

*

»Weißt du, Annchen, ich begreife immer noch nicht, wie dieser Generaldirektor Peschke darauf gekommen ist, bei uns anzurufen«, sagte Friedrich von Willbrecht zu seiner Frau.

»Er wollte doch Nanni sprechen«, erklärte sie beruhigend.

»Aber wieso kennt er Nanni?«

»Schnell im Kombinieren warst du noch nie, mein Guter«, sagte Annemarie von Willbrecht nachsichtig. »Er wird von Herrn Campen erfahren haben, dass Nanni die künftige Frau Campen ist.«

»Du redest es so dahin, als ob es nichts wäre«, polterte er los.

»Es ist sehr viel, mein guter Friedrich. Unsere Nanni wird nun doch noch eine glückliche Frau werden.«

»Und dank Teresa macht er eine gute Partie.«

»Das hat er doch nicht gewusst. Nun suche doch nicht gleich wieder ein Haar in der Suppe.«

»Da habe ich mich nun gefreut, dass Nanni mit der Kleinen bald wieder bei uns sein wird, und nun – nun wird es immer so still sein bei uns, Annchen.«

»Ich denke, dass wir sie oft bei uns haben werden. Vergiss nicht, dass das das Los aller Eltern ist. Unseren ist es auch nicht anders ergangen. Wenn Teresas Haus ein Altenheim wird, haben wir unsere Beschäftigung. Unsere Pensionsgäste bringen doch auch Abwechslung. Schau nicht so grimmig drein.«

»Pipp werden sie auch mitnehmen«, grollte er.

Annemarie von Willbrecht überließ ihren Mann seinen Betrachtungen. Sie wusste genau, dass er sich wie sie freuen würde, wenn Nanni eine glückliche Frau wurde.

*

Und das war sie, als Jan sie so fest in seinen Armen hielt, als wären sie Ewigkeiten getrennt gewesen. Rubinchens Gesicht war geradezu verklärt. Sie sah es so gern, wie zärtlich ihr Daddy Nanni anschaute, und es passte ihr gar nicht recht, dass der mächtige Herr Generaldirektor ihre kleine Hand ergriff und ein Stück mit ihr weiterging.

»Es ist ein sehr hübsches Kinderheim«, sagte Robert Peschke.

»Ja, es ist sehr schön«, erklärte Rubinchen geistesabwesend.

»Möchtest du noch lange hierbleiben?«

»Nur so lange, wie Nanni da ist«, sagte Rubinchen.

»Das schönste Kinderheim kann keine Mami ersetzen«, sagte Robert Peschke.

Rubinchen hob den Kopf. »Du bist Daddys Chef«, sagte sie. »Du kannst kommandieren. Kannst du Daddy auch befehlen, dass er Nanni heiratet?«

Robert Peschke lachte. »Das brauche ich ihm nicht zu befehlen, Rubinchen. Das tut er ganz bestimmt von selbst.«

»Ist das wahr? Ist das bestimmt wahr? Dann hat Yasmin noch viel mehr gelogen, als ich gedacht habe?«

»Denk nicht mehr an sie, Kleine. Dein Daddy weiß schon, wer die richtige Mami für dich ist.«

Rubinchens Augen strahlten. »Du bist der beste Chef für meinen Daddy. Auch wenn du so groß bist, dass ich deine Augen gar nicht richtig sehen kann.«

Da hob er sie empor, ganz dicht vor sein Gesicht. »Kannst du sie jetzt sehen?«, fragte er verschmitzt.

Rubinchen nickte. »Und wie sie funkeln«, lachte sie. »Wie beim Nikolaus.« Ganz unversehens bekam Robert Peschke einen feuchten Kuss auf die Nase.

»Für solch eine süße Tochter muss man sich aber schon eine besonders hübsche Mami aussuchen«, bemerkte er, als Jan und Nanni nahten. »Und das hat er nun ja auch getan.«

*

In Sophienlust war man sehr betrübt, dass Rubinchen schon so bald wieder fortgehen sollte, und selbst Pipp schien damit nicht recht einverstanden zu sein. Man fand ihn nach langem Suchen im trauen Beisammensein mit der Setterdame Panja.

»Sie haben etwas miteinander«, sagte Pünktchen. »Ganz ernst.«

»Wo die Liebe hinfällt«, bemerkte Denise lachend. »Wenn er euch einmal ausreißt, Nanni, wisst ihr ja, wo ihr ihn zu suchen habt.«

»Und wenn Panja verkauft wird?«, fragte Nick.

»Ihr wollt sie verkaufen?«, fragte Nanni.

»Wir können doch nicht alle Hunde behalten«, meinte Nick. »Sonst haben wir bald mehr als Kinder.«

»Dann nehmen doch wir sie mit«, schlug Nanni vor. »Paps wird es uns ohnehin nur schwer verzeihen, wenn wir ihm Pipp wegnehmen.«

So geschah es denn, dass Generaldirektor Peschke in seinem Wagen nicht nur Rubinchen, sondern auch zwei sehr ungleiche Hunde beförderte, die aber genauso glücklich schienen wie die Menschen.

Viele winkten ihnen nach. Sophienlust war wieder einmal Zwischenstation gewesen für ein Kind, das nun einer glücklichen Zukunft entgegenfuhr.

*

»Nun sind wir wieder da!« Mit diesen Worten umarmte Rubinchen Annemarie von Willbrecht. »Allesamt. Pipp hat sich auch eine Frau mitgebracht.«

Sie warf Friedrich von Willbrecht einen schrägen Blick zu und überlegte dann, wie er wohl darauf reagieren würde.

»Potztausend, ein Setter«, sagte er.

»Eine Setterin«, erklärte Rubinchen. »Pipp hat sich in sie verliebt.«

Annemarie von Willbrecht unterdrückte ein Lächeln. »Das soll bei Hunden auch passieren«, sagte sie.

Rubinchen nickte. »Und Kinder kriegen Hündinnen auch. Nanni sagt, das wird eine Promenadenmischung, wenn Panja Junge kriegt. Es ist nämlich möglich.«

»Dann wirst du ja deine Beschäftigung haben, Paps«, sagte Annemarie augenzwinkernd.

Dies war eine für Rubinchen äußerst befriedigende Reaktion. »Verstoßt ihr sie nicht, Tante Annchen?«, fragte sie.

»Einen Setter hatten wir früher, als wir geheiratet haben«, sagte Annemarie von Willbrecht gedankenverloren.

»Es sind treue Tiere«, fügte ihr Mann hinzu.

Rubinchen verschränkte die Hände auf ihrem Rücken.

»Der Generaldirektor möchte auch mit euch reden«, sagte sie. »Er hat gesagt, dass ihr jetzt Oma und Opa für mich seid. Stimmt das?«

»Wenn es der ›General‹ sagt«, bemerkte Friedrich von Willbrecht geistesgegenwärtig, und diesmal schaltete er schneller als seine Frau, die dem gewaltigen Robert Peschke etwas zaghaft die Hand entgegenstreckte.

»Wo ist denn Nanni?«, fragte sie.

»Nanni kommt gleich mit Daddy. Sie werden sich wohl noch etwas zu erzählen haben«, sagte Rubinchen. »Menschen reden miteinander, wenn sie verliebt sind, Hunde beschlecken sich nur.«

Dass es kein verliebtes Gespräch gewesen war, was sie geführt hatten, erfuhr niemand. Jan hatte Nanni erzählen müssen, was Teresa Hagen bestimmt hatte, und da hatte Nanni einige Zeit gebraucht, um ihrer Rührung Herr zu werden. Doch Rubinchen verstand es sehr schnell, ein frohes Lächeln auf ihr Gesicht zu zaubern.

»Opa mag Panja, und nun sind wir alle gespannt, was sie für Kinderchen kriegt. Ob sie aussehen wie Pipp, oder mehr wie Panja?«

»Sie werden wohl von jedem etwas haben«, meinte Nanni.

*

Ein knappes Jahr war vergangen, als Rubinchen im Stadion wieder graziös dahinschwebte. Es war nicht sehr früh am Morgen, und die Sonne schien schon recht warm. Sie war ein Stück gewachsen, aber noch immer so zierlich.

An der Bande saß Pipp, neben ihm Panja, und Friedrich von Willbrecht hatte seine liebe Not, drei ganz putzige, braun-weißgefleckte langhaarige Hündchen zu bändigen. Er machte dabei aber einen sehr vergnügten Eindruck.

Auch Lilo Lüdke war da und plagte sich redlich mit zwei Kindern. »Tag, Tante Lilo«, sagte Rubinchen, nachdem sie direkt vor ihr eine Pirouette gedreht hatte.

»Du bist auch wieder da«, sagte Lilo heiser.

»Bei Oma und Opa, weil ich gerade ein Brüderchen bekommen habe.«

»Da können sie dich wohl jetzt nicht mehr brauchen«, sagte Lilo bissig.

»Du verstehst das nicht«, sagte Rubinchen. »Oma und Opa freuen sich doch, wenn ich bei ihnen bin, und bei uns gibt es keine richtige Eisbahn. Ich bin gern hier.«

»Aber du hast viel verlernt.«

Nachdenklich sah Rubinchen Lilo an. »Aber jetzt macht es wieder Spaß«, sagte sie. »Und jetzt gehe ich auch schon zur Schule. Reg dich nicht auf, Pipp, ich komme schon. Wiedersehen, Tante Lilo.«

Für Rubinchen gab es keine Probleme. Sie war ein völlig glückliches Kind.

»Du verbietest mir doch nicht, dass ich mit ihr rede, Opa?«, fragte sie ängstlich.

»I wo, du kannst reden, mit wem du willst, Rubinchen.«

»Ihr seid ja auch vernünftige Menschen«, sagte sie. »Wenn alle so wären, hätte man nie Ärger.«

*

Ganz so selbstverständlich, wie Rubinchen es Lilo verkündet hatte, war die Geburt des Brüderchens doch nicht für sie gewesen. Man konnte sagen, dass sie sich am meisten aufgeregt hatte, abgesehen von Daddy natürlich. Da war zuerst einmal die Tatsache, dass Panja ihre Jungen viel früher bekam und dann gleich fünf auf einmal, aber Nanni erklärte ihr, dass ein kleiner Mensch länger brauchte, und das begriff sie auch, aber das Warten war schrecklich aufregend.

Dann jedoch kam das Herumrätseln, ob es ein Brüderchen oder Schwesterchen werden würde, und es behagte Rubinchen gar nicht, dass man es nicht bestimmen konnte. Natürlich wünschte sie sich ein Brüderchen, daran ließ sie keinen Zweifel.

Man konnte sagen, dass Rubinchen die Nachricht von der Geburt ihres Brüderchens sehr zufrieden aufgenommen hatte. Daddy strahlte, Oma und Opa strahlten, sogar Onkel Hasso und Tante Uschi hatten ihren Besuch angekündigt, die sie seit der Hochzeit nicht mehr gesehen hatte. Dabei hatte es Rubinchen doch so gern, die ganze Familie versammelt zu wissen. Nun durfte Rubinchen das Brüderchen endlich auch sehen. Das war natürlich auch so eine Sache, dass man eine ganze Woche darauf warten musste.

In einem blauen Kleidchen, in den Händen einen Strauß Märzenbecher haltend, trippelte sie zu Nanni ans Bett. Ihre Augen blinkten feucht, so glücklich war sie, ihre geliebte Mami zu sehen.

»Schau, Mami, jetzt wird es Frühling«, sagte sie. »Die Blumen wachsen in unserem Garten, und die Sonne scheint schon für unser Baby. Ich bin sehr froh, dass es nun endlich da ist.«

Andächtig betrachtete sie den Kleinen. Sie kam sich mächtig groß vor und fand ihn winzig klein.

»Warum soll er eigentlich Karlheinz heißen?«, fragte sie, »und nicht Friedrich wie Opa? Karlheinz heißt bei uns doch keiner.«

»So hieß ein Junge, den wir alle sehr gern hatten«, sagte Jan rasch, »und dem wir am Ende auch zu verdanken haben, dass wir so glücklich sein dürfen.«

Das verstand Rubinchen nicht ganz.

»War er so etwas wie eine Fee?«, fragte sie. »Wie nennt man das, wenn es ein Junge ist? Vielleicht ein Heinzelmännchen? Freilich, wenn er Karlheinz geheißen hat.« Und schon hatte auch ihr Brüderchen seinen Kosenamen weg. Er hieß nur noch Heinzelmännchen.

»Tante Lilo habe ich gestern auch gesehen«, erzählte Rubinchen munter. »Sie ärgert sich mit so ein paar Anfängern herum. Ich habe ihr gleich gesagt, dass ich ein Brüderchen habe.«

»Und was hat sie gesagt?«, fragte Jan.

»Du weißt ja, wie sie so redet. Ich hab es schon wieder vergessen. So findet sie nie einen Mann, wenn sie immer so bissig schaut.«

Damit war auch dieses Kapitel abgeschlossen. Nichts konnte ihr Glück trüben. Und weil Jan Nanni wieder zärtlich anschaute, ging Rubinchen lieber hinaus, denn in besonderen Augenblicken sollten sie auch einmal allein sein. Sie hatte jetzt viele Menschen, mit denen sie reden konnte und die sie lieb hatten.

Sophienlust Paket 3 – Familienroman

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