Читать книгу Dr. Norden Staffel 4 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 6

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In den Nachrichten haben sie gemeldet, dass ein Sturm aufzieht«, erklärte Felicitas Norden. Sie hielt das Telefon ans Ohr und blickte forschend durchs Wohnzimmerfenster nach draußen. »Bist du sicher, dass dein Flug geht?«

Ihr Mann Daniel Norden hatte an einem Kongress in London teilgenommen und war im Begriff, in das nächste Flugzeug nach München zu steigen.

»Hier ist alles in Ordnung, und es gibt auch keine Meldungen«, versuchte Daniel, Fee zu beruhigen. »Wahrscheinlich übertreiben die Medien wieder mal schamlos. Um das Sommerloch zu füllen, ist ihnen jedes Mittel recht.«

Während er telefonierte, saß er am Tresen einer Bar, eine Cola vor sich, und beobachtete eine blonde Frau, die ein Stück von ihm entfernt ebenfalls auf einem Barhocker saß. Sie erregte nicht etwa seine Aufmerksamkeit, weil sie ein außergewöhnliches Gesicht hatte. Vielmehr war ihm aufgefallen, wie sie nervös mit den Fingern auf den Tresen aus schwarzem Marmor klopfte.

»Schon möglich«, räumte Fee in die Gedanken ihres Mannes hinein ein und unterdrückte ein Husten.

Seit Tagen fühlte sie sich nicht wohl in ihrer Haut und kämpfte tapfer gegen den Anflug einer Sommergrippe, wie sie vermutete.

Aufmerksam, wie er war, bemerkte Daniel, dass etwas nicht stimmte.

»Bist du immer noch krank?«

»Ach, krank ist übertrieben. Ich habe ein bisschen Schnupfen, mehr nicht.« Die schmerzhaften Blasen, die sie am Morgen auf ihrer Mundschleimhaut entdeckt hatte, erwähnte sie vorsichtshalber nicht. Auf keinen Fall wollte sie ihren Mann beunruhigen. »Zum Glück hab ich mir heute Urlaub genommen. Ich werde es mir also mit meinen Büchern auf der Couch bequem machen und für meine Facharztprüfung büffeln.«

»Mir wäre es lieber, du würdest es dir mit mir dort gemütlich machen«, entfuhr es Daniel, und Fee lachte geschmeichelt.

»Mir auch«, ging sie auf seine sehnsüchtige Liebeserklärung ein. »Darauf kannst du Gift nehmen.«

»Lieber nicht!«, raunte er in den Hörer. Die Frau am Tresen war inzwischen aufgestanden und wanderte rastlos auf und ab, wie er aus den Augenwinkeln bemerkte. Und auch für ihn wurde es langsam Zeit, sich auf den Weg zu machen. »Es reicht, wenn du mir die Sinne benebelst. Und das wirst du mit Sicherheit tun, wenn du wieder vor mir stehst.« Schon jetzt freute er sich auf dieses besondere Kribbeln, das ihn auch nach all den Jahren noch überfiel, wenn er seine Frau nach längerer Trennung wiedersah.

Wieder lachte Fee, diesmal leise und verführerisch.

»Ich werde mein Bestes geben«, versprach sie fast feierlich, bevor sie eine völlig andere Art von Kribbeln fühlte. Schnell hielt sie den Hörer vom Kopf weg und nieste herzhaft. »Bist du noch dran?«, fragte sie dann schniefend.

»Gesundheit, mein Schatz«, wünschte Daniel mitfühlend. »Ich seh schon, es wird höchste Zeit, dass ich endlich heimkomme und dir meine Spezialbehandlung angedeihen lasse.«

»Ich kann’s kaum erwarten.« Als Felicitas einen Kuss in den Hörer hauchte, war der angekündigte Sturm längst vergessen, und schon jetzt konnte sie es kaum erwarten, ihren geliebten Mann endlich wieder in die Arme zu schließen.

*

»Haben Sie Flugangst?«, erkundigte sich Dr. Daniel Norden mitfühlend bei der Frau, die neben ihm im Flugzeug Platz genommen hatte. Wie es der Zufall wollte, war es dieselbe, die er schon an der Bar beobachtet hatte.

Sie saß noch nicht richtig, als sie sich auch schon anschnallte und mehrfach prüfte, ob der Gurt auch richtig saß. Als der Arzt sie ansprach, hielt sie inne und musterte ihn verlegen aus grünen Katzenaugen.

»Nein!«, erklärte sie dann mit Nachdruck heraus. »Nein, ich habe keine Angst. Ich habe … na ja, ein bisschen vielleicht«, räumte sie schließlich zögernd ein. »Aber vielleicht sollte ich mich erst mal vorstellen«, wechselte sie schnell das Thema und hielt ihm verkrampft lächelnd die Rechte hin. »Mein Name ist Ricarda Schmied.«

»Daniel Norden. Freut mich, Frau Schmied.«

Während die Stewardess durch die Gänge ging und prüfte, ob die Fluggäste die Gurte geschlossen hatten, musterte Ricarda ihren Sitznachbarn forschend.

»Kann es sein, dass wir uns irgendwoher kennen?«, fragte sie dann.

»Wir waren in derselben Bar«, klärte Daniel sie lächelnd auf. »Dort habe ich bemerkt, dass Sie ganz schön aufgeregt sind.«

»Dann ist Leugnen also zwecklos.«

Die Maschine setzte sich in Bewegung und rollte auf die richtige Startbahn. Als sie abhob, schloss Ricarda die Augen und umklammerte die Lehnen, dass ihre Fingerknöchel weiß hervor traten. Sie entspannte sich erst wieder ein bisschen, als der Gong ertönte zum Zeichen, dass der Startvorgang abgeschlossen war.

»Wissen Sie, dass die meisten Flugzeuge beim Start und bei der Landung abstürzen?«, wandte sie sich an Daniel, der inzwischen ein Magazin aufgeschlagen hatte. »Das ist ja schon im Normalfall nicht besonders toll. Aber ausgerechnet jetzt wäre es noch viel blöder.«

Daniel ahnte, dass das Mitteilungsbedürfnis der jungen Frau von ihrer Nervosität rührte, und klappte das Heft wieder zu. Er hatte ohnehin keine Lust zu lesen und wandte sich an Ricarda.

»Ach, wirklich?«

Eine Flugbegleiterin bot Getränke an. Ricarda entschied sich für Sekt, während Dr. Norden mit einem Glas Wasser Vorlieb nahm.

»Nicht, dass Sie denken, ich trinke tagsüber schon«, beeilte sie sich zu versichern. »Aber Alkohol beruhigt ja bekanntlich die Nerven. Allerdings sollte ich auch nicht betrunken sein, wenn mich Sebastian abholt.« Sie dankte der Stewardess und nahm das Glas mit zitternden Fingern. »Wissen Sie, Sebastian war meine erste Liebe. Damals war ich vierzehn. Aber unser Glück währte nur ein paar Wochen. Dann wurde mein Vater versetzt und wir sind weggezogen. Seitdem habe ich Sebastian nicht wiedergesehen.« Ricarda hielt inne und trank einen großen Schluck Sekt.

»Und jetzt haben Sie sich wiedergefunden?«, fragte Daniel teils interessiert, teils aus Mitgefühl für die von Angst geplagte junge Frau.

»Ja, ist das nicht ein Wunder?« Ricardas Augen leuchteten auf und für einen kurzen Moment vergaß sie ihre Panik. »Er hat mich auf einem sozialen Netzwerk im Internet gefunden und mich angeschrieben. Seitdem wird der Kontakt immer intensiver«, geriet sie unvermittelt ins Schwärmen. Unschwer zu erkennen, dass sie bis über beide Ohren verliebt war.

»Und jetzt fliegen Sie zu ihm, um ihn zu besuchen?«, zog Dr. Norden den richtigen Schluss aus ihren Worten.

Ricarda wollte antworten, als das Flugzeug einen Ruck machte. Sogar die Flugbegleiterin wurde überrascht und stolperte. Unvermittelt griff Ricarda nach Dr. Nordens Hand und umklammerte sie so fest, dass er vor Schmerz um ein Haar aufgeschrien hätte.

»Was war das?«, keuchte sie, Panik im Blick. »O mein Gott, das ist doch Wahnsinn, was ich hier tue! In diesem riesigen Haufen Blech hoch über den Wolken zu sitzen. Ohne Fluchtmöglichkeit. Keine Chance, einen Absturz zu überleben.«

In ihre Worte hinein gab es einen erneuten Stoß, der viel heftiger war als der erste. Diesmal war Ricarda nicht die einzige, die schrie. Auch andere Passagiere kreischten auf und umklammerten die Lehnen. Wie ein Stein stürzte das Flugzeug in die Tiefe. »Wir sterben! Wir müssen alle sterben!«, schrie Ricarda aus Leibeskräften. Taschen flogen umher, Getränke spritzten durch die Luft. Eine Flugbegleiterin war hingefallen und klammerte sich an einem Sitz fest.

Daniel schrie nicht. Doch auch aus seinem Gesicht sprach die Angst, während er sich nach vorn beugte und den Kopf mit den Händen schützte.

Ehe die Passagiere begriffen, was geschah, war auf einmal alles wieder normal. In die gespenstische Stille hinein rauschte und knackte der Lautsprecher.

»Sehr verehrte Fluggäste, hier spricht der Kapitän«, tönte eine männliche Stimme aus dem Lautsprecher. »Wir sind von sogenannten Clear-Air-Turbulenzen überrascht worden. Wahrscheinlich bleibt es auch weiterhin etwas unruhig, zumal zusätzlich ein Sturmtief über Süddeutschland zieht. Es steht zu befürchten, dass wir nicht pünktlich landen können. Bitte bewahren Sie Ruhe. Ich melde mich wieder, sobald mir neue Informationen vorliegen.«

»Ruhe bewahren?« Verächtlich schüttelte Ricarda den Kopf und sah hinüber zu Daniel Norden, der auch wieder aufrecht in seinem Sitz saß. »Der Mann hat Humor.«

Doch ehe Dr. Norden etwas erwidern konnte, gab es einen weiteren Ruck. Der Horrorflug war noch nicht zu Ende.

*

An diesem Morgen waren die Zwillinge Jan und Dési und ihre große Schwester Anneka bei leichtem Regen und böigem Wind in die Schule aufgebrochen.

»O Mann, dabei wollte ich heute mit Tom und Luis ins Freibad«, meckerte Janni und zog die Kapuze seiner Regenjacke tiefer in die Stirn.

»Du gibst doch immer damit an, dass du dich nach Nervenkitzel sehnst und vor nichts und niemandem zurückschreckst«, war Dési nicht um eine spöttische Antwort verlegen. »Dann hast du heute die beste Gelegenheit, das zu beweisen. Vorausgesetzt natürlich, das Freibad fliegt nicht samt Inhalt davon.« Eine besonders wütende Böe riss ihr die Worte aus dem Mund und trieb sie vorwärts, dass sie stolperte.

»Der liebe Gott straft jede kleine Sünde sofort«, witzelte Janni, half Dési aber trotzdem wieder auf die Beine. »Mann, ich war noch nie so froh, in der Schule zu sein, wie jetzt«, erklärte er, als sie das schützende Schulgebäude endlich erreicht hatten. Er schüttelte sich, dass die Tropfen zu allen Seiten sprühten, und machte sich damit nicht gerade beliebt bei seinen Mitschülern.

»Hey, kannst du nicht aufpassen?«, fauchte eine Elftklässlerin ärgerlich, als sie an ihm vorbei hastete.

»Reg dich ab! Bei dir kann man eh nichts mehr verderben!«, rief ihr einer von Jannis Freunden frech nach. Er hatte es nur der vorgerückten Uhrzeit zu verdanken, dass er ungeschoren davon kam.

Lachend und scherzend machten sich die Jungs auf den Weg ins Klassenzimmer, wo Dési schon die Neuigkeiten des vergangenen Nachmittags mit ihren Freundinnen besprach.

Während es draußen immer dunkler wurde, begann der Unterricht.

»Kann mal einer das Licht anmachen?«, fragte der Lehrer Martin Müller. »Hier sieht man ja bald die eigene Hand vor Augen nicht mehr.«

»Muss das sein? So kann man doch viel besser schlafen«, ließ eine vorlaute Antwort nicht lange auf sich warten.

Alle lachten, einschließlich Herrn Müller.

»Schön, dass du dich freiwillig meldest, Paul.« Er hatte die Stimme seines Schülers erkannt, und murrend machte sich der junge Mann auf den Weg zur Tür.

Als er auf seinen Platz neben Jan Norden zurückkehrte, peitschte der Regen mit einer solchen Wucht an die Scheiben, als würde jemand mit kleinen Steinen um sich werfen. Allmählich wurde es auch dem frechen Paul unheimlich zumute. »Schau mal, da drüben der Mann«, machte Jan seinen Banknachbarn entsetzt auf einen Mann aufmerksam, der vor dem Fenster mit seinem Fahrrad einfach auf die Straße geweht wurde. Er hatte nur Glück, dass in diesem Augenblick kein Auto kam. Sonst wäre er glatt überfahren worden.

Doch Pauls Aufmerksamkeit galt einem anderen Ereignis.

»Unser Dach fliegt durch die Luft.« Mit leichenblassen Gesicht deutete er auf die Ziegel, die reihenweise auf dem Schulhof zerbarsten.

Gleich darauf machte Martin Müller dem Spektakel ein Ende.

»Rollläden schließen!«, rief er und bahnte sich einen Weg durch die Schüler, die in Trauben vor den Scheiben hingen und das Spektakel mehr oder weniger beeindruckt verfolgten. »Schnell!«

Beherzt griff Dési nach einer der Kurbeln und drehte in Windeseile die Jalousie herunter. Keinen Augenblick zu früh, wie der Knall bezeugte, der gleich darauf das Klassenzimmer erschütterte.

»Das ging ja gerade nochmal gut«, stöhnte der Klassenleiter sichtlich erleichtert auf.

Die meisten seiner Schüler waren ausnahmsweise einmal derselben Meinung. Nur Dési war ein schrecklicher Gedanke gekommen. Sie packte ihren Bruder so fest am Arm, dass Janni aufschrie.

»Aua! Bist du verrückt geworden?«, fragte er schroffer als beabsichtigt.

Doch diesmal störte sich seine Zwillingschwester nicht an seinem Kommentar.

»Hoffentlich ist Dads Flugzeug nicht aus London gestartet«, teilte sie ihre sorgenvollen Gedanken mit ihrem Bruder.

Daran hatte Jan noch gar nicht gedacht, und schlagartig wich alle Farbe aus seinem Gesicht.

»Ich ruf Mum schnell an. Vielleicht weiß sie was«, raunte er ihr seine Entscheidung zu. Im Normalfall war es verboten, in der Schule ein Mobiltelefon zu benutzen. Doch Martin Müller war gerade mit einer weinenden Mitschülerin beschäftigt, sodass Jan es trotzdem wagte. Er wartete vergebens auf eine Antwort. Die Leitung war tot.

*

Auch in der Praxis Dr. Norden hatten die beiden Assistentinnen Janine Merck und Annemarie Wendel, von allen nur Wendy genannt, und der junge Arzt Danny Norden alle Hände voll zu tun, um die wenigen Patienten zu beruhigen, die den Weg in die Praxis noch vor Ausbruch des Infernos gefunden hatten.

»Bitte regen Sie sich nicht auf. Hier sind Sie in Sicherheit«, versprach Danny den beiden Männern und der Frau, die eingeschüchtert im Wartezimmer zusammen gerückt waren. »Außerdem haben wir Beruhigungsmittel für ungefähr drei Wochen hier«, versuchte er, seinen Patienten die Anspannung mit einem Witz zu nehmen.

Der Versuch glückte, und die drei lachten, wenn auch verhalten.

»Ihr Vater kann stolz auf Sie sein«, lobte Katharina Herzog den jungen Arzt und lächelte warm.

Im Normalfall hätte sich Danny Norden ehrlich über dieses Kompliment gefreut. Doch im Augenblick überwogen die Sorgen, wenn er an seinen Vater dachte. Er hatte bereits mehrfach versucht, Daniel zu erreichen. Vergebens, und so blieb ihm im Moment nichts anderes übrig, als sich um die Patienten zu kümmern.

Endlich ließ der Wind nach und auch das Trommeln des Regens wurde weniger, sodass Janine es wagte, die Jalousien wieder hochzuziehen.

Durch eine Lücke in der tiefgrauen Wolkendecke fiel ein vorwitziger Sonnenstrahl auf den Boden. Doch selbst dieses hoffnungsvolle Bild konnte den Schrecken der ehemaligen Krankenschwester nicht mildern, als sie mit wenigen Blicken das ganze Ausmaß der Katastrophe erfasste. Der Orkan war vorbei gezogen und hatte eine Spur der Verwüstung hinter lassen. Überall lag Laub und Glasscherben. Äste waren abgebrochen, ganze Bäume entwurzelt und hatten Autos zertrümmert. Allerhand Müll hatte sich großflächig verteilt.

»Da draußen sieht es aus wie nach einen Bombenangriff«, berichtete Janine kopfschüttelnd.

In ihre Worte hinein klingelte das Telefon. Wendy übernahm es, das Gespräch entgegen zu nehmen. Es dauerte nur kurz.

»Das war die Klinik«, erklärte sie ihrem jungen Chef, der immer noch bei den Patienten im Wartezimmer stand. »Es sind haufenweise Notrufe eingegangen. Jede Hand wird gebraucht, und Jenny Behnisch lässt anfragen, ob du kommen kannst.«

Diese Frage konnte Danny nicht aus dem Stegreif beantworten. Er zögerte kurz, den nachdenklichen Blick auf seine Patienten gerichtet.

Wendy wusste sofort, worüber er nachdachte.

»Also, Herr Jobst braucht lediglich einen neuen Verband. Das kann Janine übernehmen und gleichzeitig die Wunde begutachten. Falls Handlungsbedarf besteht, kannst du heute Abend nach der Klinik noch einmal bei ihm vorbeifahren«, schmiedete sie sofort maßgeschneiderte Pläne. Simon Jobst nickte zustimmend, und sie wandte sich an den Herrn neben ihm. »Herr Wagner ist wegen der Ergebnisse seiner Blutuntersuchung hier. Ich habe genug Erfahrung, um ihm die Werte zu erklären und zu entscheiden, ob eine weiterführende Behandlung notwendig ist.«

»Und ich bin ja nur wegen einer Vorsorgeuntersuchung hier«, stellte Alexa Müßiggang abschließend fest und stand auf. »Ich vereinbare einfach einen neuen Termin. Das kommt mir ganz gelegen. Ich will nämlich unbedingt wissen, ob bei mir zu Hause alles in Ordnung ist.«

Erleichtert und fast dankbar sah Danny von einem zum anderen.

»Vielen Dank für Ihre Unterstützung«, lächelte er in die verständnisvollen Gesichter, ehe er das Mobiltelefon aus der Kitteltasche zog. Frau Müßiggang hatte das entscheidende Stichwort gegeben. Während sich Janine und Wendy um die Patienten kümmerten, rief er zuerst seine Freundin in der Bäckerei an.

»Alles in Ordnung«, antwortete Tatjana Bohde zu seiner Erleichterung munter wie immer. »Stell dir vor: Durch das Schaufenster der Bäckerei wurde ein niederländischer Tourist geweht. Glücklicherweise ist ihm nichts passiert. Ihm zu Ehren werde ich ein neues Gebäck mit Namen ›Fliegender Holländer‹ kreieren«, teilte sie ihrem über die Maßen erleichterten Freund mit, sodass er das Gespräch beenden und bei seiner Mutter anrufen konnte.

»Bei Mum, Lenni und Felix ist auch alles klar«, berichtete Danny seinen beiden Mitarbeiterinnen wenig später. »Das Haus ist zwar ein bisschen lädiert. Aber ansonsten geht es allen gut.« Damit ging er zur Garderobe, um sich für den Aufbruch zu rüsten.

»Sie haben Glück, dass Ihr Parkplatz heute nicht frei war«, bemerkte Janine trocken, während sie ihrem jungen Chef dabei zusah, wie er den Kittel gegen seine Jacke tauschte und nach der Arzttasche griff. »Andernfalls wäre von Ihrem Auto nicht mehr viel übrig.« Sie deutete auf die Dachziegel, die sich durch die Windschutzscheibe eines fremden Autos gebohrt hatten. Und auch sonst war der Wagen reichlich lädiert.

»Ich hoffe, dem Flugzeug meines Vaters ist es nicht ähnlich ergangen«, waren Dannys Gedanken jedoch schon weiter geeilt. »Bitte informiert mich, sobald ihr irgendwas von Dad hört.«

»Du kannst dich voll und ganz auf uns verlassen«, versprach Wendy fast feierlich.

Von draußen ertönten Feuerwehrsirenen und Martinshörner.

Der junge Arzt zögerte noch einen Augenblick. Die Sorge um seinen Vater stand ihm ins Gesicht geschrieben, und am liebsten hätte er sich selbst ans Telefon gesetzt und Nachforschungen angestellt. Doch schließlich siegte sein Pflichtbewusstsein, und er machte sich – vorsichtshalber zu Fuß – auf den Weg in die Behnisch-Klinik.

*

Ein Gebet auf den gesprungenen Lippen saß Ricarda Schmied wie erstarrt in ihrem Flugzeugsitz und wartete auf den letzten, alles verschlingenden Knall. Als sich eine Hand auf ihre Schulter legte, zuckte sie erschrocken zusammen und riss die grünen Augen auf. Sie starrte direkt ins Gesicht der Flugbegleiterin.

»Entschuldigen Sie bitte!«

»Was?«, fragte Ricarda verwirrt. »Was ist denn?«

Die Stewardess lächelte sie freundlich an.

Im Glauben zu träumen, drehte Ricarda rasch den Kopf zu ihrem Banknachbarn. Doch auch Dr. Norden lächelte.

»Wir sind gelandet!« Die liebenswürdigen Worte der Flugbegleiterin hallten in Ricardas Ohren.

»Wir sind gelandet?«, wiederholte sie ungläubig. Als sie sich umsah, stellte sie fest, dass das Flugzeug tatsächlich auf festem Boden stand. Die anderen Passagiere begannen bereits damit, sich auf den Ausstieg vorzubereiten, öffneten die Gepäckboxen über den Sitzen, um ihre Rucksäcke und Bordcases herauszuholen und zogen ihre Jacken an. Ricarda beobachtete das geschäftige Treiben um sich herum. Trotzdem traute sie dem Frieden nicht.

»Es ruckelt ja gar nicht mehr.«

Das Lächeln auf Daniels Gesicht wurde noch tiefer.

»Nein, es ruckelt schon seit einer ganzen Weile nicht mehr. Aber Sie waren wie paralysiert und wollten nicht auf mich hören.«

Ricarda Schmied schien immer noch nicht glauben zu können, dass wirklich alles gut war.

»Dann sterben wir also doch nicht?«, fragte sie weiter.

»Nein! Zumindest nicht hier und heute.«

»Oh, gut.« Verlegen kaute Ricarda auf ihrer Unterlippe.

»Wenn Sie jetzt bitte aussteigen würden«, bat die Flugbegleiterin freundlich, aber bestimmt.

Die Gefahr war vorüber, die Nerven hatten sich beruhigt, und es galt, das Flugzeug für den nächsten Flug vorzubereiten. Alles ging seinen gewohnten Gang.

»Ja, natürlich«, stammelte die junge Frau und erhob sich von ihrem Sitz.

Sie schwankte, und instinktiv streckte Dr. Norden die Hände aus, um sie zu stützen. Ricarda war verschwitzt, ihr Haar wirr und ihre Wangen glühten noch von der überstandenen Aufregung.

»Vorsicht. Nicht, dass Ihnen auf den letzten Metern noch was passiert!«, bemerkte Daniel und sorgte dafür, dass er beim Aussteigen immer in ihrer Nähe blieb.

Seite an Seite standen sie schließlich am Gepäckband und warteten auf ihre Koffer.

»Waren Sie geschäftlich in London?«, erkundigte sich Ricarda. Endlich konnte sie wieder an etwas anderes denken als an den überstandenen Schrecken.

»Ich habe einen Ärztekongress besucht«, gab Dr. Norden bereitwillig Auskunft.

»Oh, Sie sind Arzt!«, ließ eine begeisterte Feststellung nicht lange auf sich warten. »Das war auch immer mein Traum. Leider hat es dann aber nur zur Krankenschwester gereicht. Ich arbeite im Londoner Bridge Hospital.«

»Eine ausgezeichnete Adresse!« Daniel nickte anerkennend. »Wenn ich nicht irre, ist diese Klinik nicht nur für ihre medizinischen Verdienste bekannt, sondern auch für die ausgezeichnete Pflege, die den Patienten dort zuteil wird.«

»Das wissen Sie?« Wieder begannen Ricardas Wangen zu glühen. Diesmal jedoch vor Stolz und nicht aus Angst. Das Gepäckband setzte sich in Bewegung, und ihr Blick suchte nach ihrem Koffer. »Aber dieser ausgezeichnete Arbeitgeber hat auch einen Nachteil.« Nach und nach verschwand das Lächeln wieder von ihrem Gesicht. Sie musterte Daniel aus ihren grünen Katzenaugen. »Es ist nicht so leicht, etwas Vergleichbares zu finden.«

»Sie wollen wechseln?«, wunderte sich Daniel.

»Na ja, Sebastian und ich … ich meine … wie soll das weitergehen? Er ist Dachdecker und spricht kein Englisch. Deshalb bietet es sich an, dass ich zu ihm nach Deutschland komme«, erzählte Ricarda munter vor sich hin. »Dachdecker, stellen Sie sich das mal vor! Er verbringt jeden Tag in schwindeinden Höhen. Dabei war ich nie froher als jetzt, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben.« Unvermittelt waren Ricardas Gedanken schon weitergeeilt in eine unbestimmte Zukunft.

Doch Daniel Norden verweilte beim zuerst angeschnittenen Thema.

»Moment mal«, hakte er interessiert nach. »Wenn ich Sie recht verstanden habe, haben Sie sich seit Jahren nicht gesehen«, wandte er zu Recht ein. Er hatte seinen Koffer entdeckt, der gemächlich auf dem Gepäckband in seine Richtung ruckelte.

»Stimmt schon«, gab Ricarda bereitwillig zu. »Aber irgendwie hab ich es im Gefühl, dass Sebastian und ich eine Schicksalsgemeinschaft sind. Sonst hätte ich den Flug heute überhaupt nicht überlebt. Denken Sie doch nur, wie nahe wir an einem Absturz waren!« Während Ricarda sprach – und das tat sie offenbar leidenschaftlich gern – stand sie keine Sekunde still. Ständig zappelte eines ihrer schlaksigen Körperteile oder gleich die ganze temperamentvolle Frau.

»Nun ja, ganz so schlimm scheint es glücklicherweise noch nicht gewesen zu sein. Zumindest schien mir der Kapitän sehr gefasst«, versuchte Daniel, die Tatsachen ins rechte Licht zu rücken.

Mit einem kräftigen Ruck hob er seinen Koffer vom Band und half gleich darauf Ricarda mit ihrem poppig bunten Gepäckstück. Während sie dem Ausgang entgegen strebten, schaltete er sein Mobiltelefon ein. Er hatte noch keine Gelegenheit gehabt, die Nachrichten zu lesen, als seine Begleitung einen leisen Schreckensschrei ausstieß und ihn am Arm packte.

»Was ist denn jetzt schon wieder?«, entfuhr es ihm erschrocken.

Gleich darauf erblickte auch er das ganze Ausmaß der Bescherung.

Auch hier am Flughafen hatte der Sturm gewütet und ganze Arbeit geleistet. Überall vor den Fenstern lagen Trümmerteile herum, Müll häufte sich in Gebäudeecken.

»Das war also der Orkan, von dem meine Frau am Telefon gesprochen hat«, stellte Daniel fest, nachdem er die Nachrichten auf seinem Handy abgehört hatte. »Und deshalb werde ich auch dringend in der Klinik gebraucht.«

»Ist Ihrer Familie was passiert?«, fragte Ricarda, und ihre grünen Augen wurden kreisrund vor Schreck.

Trotz ihrer Lebhaftigkeit hatte sie etwas Rührendes an sich, und unwillkürlich musste Daniel lächeln.

»Bis auf ein kaputtes Fenster zu Hause glücklicherweise nicht. In der Praxis ist offenbar das Dach kaputt, und meine Freundin und Kollegin Jenny Behnisch bittet mich um Hilfe. Sie betreibt eine renommierte Privatklinik.« Unwillkürlich musste Daniel an Ricardas Bemerkung von vorhin denken. »Dieses Krankenhaus ist zwar viel kleiner als die Londoner Bridge-Klinik, ihr aber durchaus ebenbürtig. Die Behnisch-Klinik ist weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt für ihre ausgezeichnete Versorgung. Qualifizierte Fachkräfte wie Sie werden dort übrigens immer gesucht. Melden Sie sich, wenn ich ein gutes Wort für Sie einlegen soll.« Er nestelte eine Visitenkarte aus der Jackentasche und reichte sie der Krankenschwester.

Lächelnd revanchierte sich Ricarda mit der Karte ihres Freundes.

»Und das hier ist die Adresse von Sebastian. Er ist spezialisiert auf Dachschäden.« Sie lachte herzlich über ihren eigenen Scherz. »Bestimmt hat er in nächster Zeit viel zu tun. Aber wenn Sie sagen, dass Sie mich kennen, bekommen Sie sofort einen Termin. Versprochen!«

»Vielen Dank!« Erfreut steckte Daniel die Karte ein. Dann wurde es Zeit für den Abschied. »Dann wünsche ich dem jungen Glück alles Gute! Ich drücke Ihnen die Daumen.«

Ricarda winkte ihm und machte sich auf den Weg zum nächsten Taxi, das hinter seinem parkte. Daniel konnte beobachten, wie sie die Beifahrertür öffnete, sich zum Fahrer beugte und ihn mit einem Redeschwall übergoss.

Lächelnd wandte er sich ab und stieg in sein Taxi. Schon jetzt wusste er, dass er diesen Sebastian Hühn auf jeden Fall anrufen würde. Natürlich würde das in erster Linie deshalb geschehen, weil er die Dienste des Handwerkers in Anspruch nehmen musste. Aber wenn er dabei erfuhr, wie die Geschichte zwischen der Krankenschwester und dem Dachdecker weiterging, hatte er auch nichts dagegen.

*

»Sie wollen in diesem Zustand in die Klinik gehen?«, erkundigte sich die Haushälterin der Familie Norden unwillig und musterte ihre Chefin Felicitas unwillig. Dabei schüttelte sie den Kopf. »Kein Mensch hat was davon, wenn Sie vor Schwäche zusammenbrechen. Mal abgesehen davon, dass Sie die Patienten anstecken könnten«, versuchte sie, Fee mit vernünftigen Argumenten davon abzuhalten, das Haus zu verlassen.

Doch die Ärztin dachte gar nicht daran, Jenny Behnischs Hilferuf zu ignorieren.

»Das klingt ja so, als wäre ich halb tot«, verteidigte sie sich, während sie in eine Jacke schlüpfte. »Ich habe nur eine kleine Erkältung, mehr nicht. Falls es Sie beruhigt: Ich binde mir einen Mundschutz um und helfe nur dort, wo ich nicht unmittelbar mit Patienten in Berührung komme.« Aus Erfahrung wusste Fee, dass in solchen Notlagen jede helfende Hand gebraucht wurde. Und wenn sie nur Betten schieben oder Verbandmaterial auffüllen konnte, so war das immer noch besser, als tatenlos zu Hause herum zu sitzen.

Auf dem Weg in den Flur rief Fee nach ihrem zweitältesten Sohn.

»Felix!« Sie wartete, bis er oben am Treppenabsatz auftauchte. »Ich versuche, irgendwie in die Klinik zu kommen. Kümmerst du dich bitte inzwischen ein bisschen um Lenni und hilfst ihr beim Aufräumen?« Ihr Blick wanderte über die Scherben im Wohnzimmer. Ein großer Ast lag mitten auf dem Teppich.

»Ich brauch keinen Babysitter!«, schimpfte Lenni in ihrer Sorge um Fee ungehalten. »Mir wäre es lieber, Felix würde Sie begleiten und darauf aufpassen, dass Sie sich nicht übernehmen.« Sie hatte die Hände in die Hüften gestützt und machte ihrem Unmut lautstark Luft.

Doch die Ärztin winkte nur ungerührt ab.

»Ich hab doch schon mehr als einmal bewiesen, dass Unkraut nicht vergeht«, lächelte sie versöhnlich und griff nach ihrer Tasche. »Und bitte informiert mich, sobald ihr was von Dan hört. Sein Handy ist aus, und ich mach mir große Sorgen.« Obwohl sich Felicitas tatsächlich nicht so gut fühlte, wie sie vorgab, winkte sie zum Abschied und machte sich auf den Weg in die Behnisch-Klinik.

Lenni starrte ihr erbost nach.

»Warum ist diese Frau so stur?«

Diese Bemerkung brachte Felix zum Lachen.

»Was gibt’s denn da zu lachen?«, fragte die langjährige Haushälterin ungehalten. Immer noch grinsend legte Felix den Arm um ihre Schultern.

»Das fragen Sie noch?« Er drückte sie tröstend an sich. »Dabei dachte ich, dass gerade Sie diese Eigenart besonders gut verstehen können. Immerhin sind Sie ja selbst eine Frau.« Er hatte noch nicht, ausgesprochen, als er vorsichtshalber einen großen Schritt zur Seite machte, um Lennis gutmütigem Hieb auszuweichen.

Dabei entging ihm ihr Lächeln nicht und zufrieden damit, die Sorge wenigstens vorläufig aus ihrem Gesicht vertrieben zu haben, machte er sich auf den Weg, den Auftrag seiner Mutter auszuführen und darüber hinaus das klaffende Loch in der Scheibe mit Plastik abzukleben, um die unangenehme Kühle draußen zu halten.

*

»Ricarda!« Die Krankenschwester hörte ihren Namen, als sie gerade in das Taxi steigen wollte, und erkannte die Stimme sofort. Trotzdem wunderte sie sich.

Sie hatte Sebastian gebeten, nicht zum Flughafen zu kommen. Auf das erste Treffen nach so langer Zeit wollte sich die Krankenschwester in aller Ruhe vorbereiten. Ausgiebig baden, die widerspenstigen, rotblonden Haare zähmen, sich sorgfältig schminken und schick anziehen. Sebastian hatte ihr versprochen, ihren Wunsch zu respektieren. Deshalb hielt sie das Rufen für einen Irrtum.

»Ricarda! Nicht einsteigen! Ich bin hier, um dich abzuholen!«

Die Hand auf dem Türholm des Taxis drehte sie sich doch ungläubig um.

»Ist das …?«, stammelte sie. »Nein. Das kann nicht … das kann nicht sein.«

Doch es war wirklich Sebastian, der im Laufschritt und mit strahlendem Lächeln auf sie zu rannte. Augenblicklich zog sich Ricardas Herz zusammen.

Er sah herzergreifend gut aus. Sein welliges Haar war tiefschwarz und reichte ihm bis zu den Schultern. Seine seidige Haut hatte diesen italienischen Braunton, der in unwiderstehlichem Kontrast zu den tiefblauen Augen stand. Daran hatte sich in all den Jahren nichts geändert, und Ricarda konnte es kaum fassen, dass er wirklich vor ihr stand. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass sie im Gegensatz zu ihm wie eine Vogelscheuche aussehen musste.

»Was machst du hier?«, fragte sie deshalb schroffer als beabsichtigt, als er sie ohne Umschweife in die starken Arme zog.

So dicht an seiner Brust konnte sie sein Herz schlagen fühlen.

»Gott sei Dank!«, raunte er ihr heiser ins Ohr. »Ich hatte solche Angst um dich. Geht’s dir gut?«

»Aber Basti, was machst du hier?«, wiederholte Ricarda ihre Frage. »Du weißt doch, dass ich erst ins Hotel gehen wollte.«

»Nicht böse sein. Aber ich konnte nicht anders.« Noch immer hielt er sie so fest, als wollte er sie nie mehr loslassen. »Als der Sturm losgebrochen ist, habe ich am Flughafen angerufen, um zu erfahren, ob alles in Ordnung ist. Sie haben mir gesagt, dass ihr in Turbulenzen geraten seid. Da konnte ich nicht anders und musste einfach herkommen.« Endlich löste er sich von ihr und schob sie ein Stück von sich, um sie zu betrachten. Sein Blick fühlte sich an wie ein Streicheln auf der Haut, und ein Schauer rann über Ricardas Rücken. »Ricky, ich habe die Rettungswagen hier am Flughafen gesehen. Und dann konnte ich dich nirgends entdecken. Es war schrecklich. Wenn dir was passiert wäre … Das hätte ich mir nie verzeihen können. Schließlich bist du ja nur wegen mir hierher geflogen.« Erst jetzt erkannte Ricarda die Spuren der ausgestandenen Angst auf seinem Gesicht, und vor Rührung zog sich ihr Herz schmerzhaft zusammen.

»Jetzt musst du keine Angst mehr haben, Basti. Mir geht’s gut. Aber es war wirklich schlimm und es hat eine Weile gedauert, bis ich mich wieder beruhigt habe. Zum Glück ist neben mir ein ganz netter Arzt gesessen. Er heißt Daniel Norden und hat einen Dachschaden …« Lachend hielt Ricarda inne. »Ich meine natürlich, dass der Sturm einen Schaden an seinem Praxis-Dach verursacht hat. Deshalb hab ich ihm deine Karte gegeben. Er wird sich mit dir in Verbindung setzen. Du musst ihm unbedingt helfen. Wenn er nicht gewesen wäre, wäre ich vor Angst gestorben. Er hat mir quasi das Leben gerettet«, purzelten die Worte nur so aus ihrem Mund.

Kopfschüttelnd lauschte Sebastian ihrer wortreichen Erklärung.

»Immer noch dieselbe Plaudertasche wie früher«, bemerkte er amüsiert, und Ricarda erschrak.

»Herrje, darüber hast du dich ja damals schon lustig gemacht«, erinnerte sie sich schlagartig an die Vergangenheit.

Doch Sebastian beruhigte sie sofort wieder.

»Keine Sorge. Damals war ich ein dummer Junge und wusste nicht, wie schön es ist, wenn ein Mensch so lebendig und fröhlich ist wie du. Wenn jemand etwas zu sagen hat. Und wenn es dann noch auf so charmante Art und Weise passiert, ist das umwerfend.« Er machte eine Pause und betrachtete sie zärtlich. »Außerdem gibt es da ein probates Mittel, dich zum Schweigen zu bringen«, erklärte er und schloss sie wieder in seine Arme. Ohne sie aus den Augen zu lassen, zog er sie zu sich. Ricarda bekam Herzklopfen, und als sich ihre Lippen berührten, war sie wieder einer Ohnmacht nahe. Diese Küsse waren es gewesen, nach denen sie so lange gesucht hatte. Nach Sebastian hatte sie kein Mann mehr so berührt …

»Oh, Basti, ich kann es gar nicht glauben«, stammelte sie, als sie sich nach einer gefühlten Ewigkeit voneinander lösten. Es kam selten vor, dass ihr die Worte fehlten. Doch Sebastian hatte es ihm Handumdrehen geschafft, ihr den Verstand zu rauben. »Das ist …, das ist …«

»Was denn?«, gab er heiser zurück und strich ihr eine wirre, krause Strähne aus dem Gesicht. »Was kannst du nicht glauben?«

»Dass ich nicht weiß, was ich sagen soll«, erwiderte sie treuherzig. »Du verstehst es wirklich, mich zum Schweigen zu bringen.«

Einen Moment lang starrte Sebastian sie ungläubig an. Er hatte mit einer tiefschürfenden Liebeserklärung gerechnet. Aber das war es wohl auch in Ricardas Augen, und er warf den Kopf in den Nacken und brach in schallendes Gelächter aus.

»Und du bringst mich zum Lachen!«, erklärte er, als er wieder Luft bekam. »Weißt du eigentlich, dass du erfrischend anders bist als alle anderen Frauen, die ich nach dir getroffen habe? Kein Wunder, dass mir keine gut genug war.« Er legte den Arm um Ricardas Schultern, griff nach dem Koffer und zog sie mit sich zu seinem Wagen. Wegen der umgestürzten Bäume und des Chaos‘ auf den Straßen würde es dauern, bis sie zu Hause waren. Doch das war Sebastian gerade recht.

*

»Starker Blutverlust! Schnell, wir brauchen sofort einen Arzt«, rief Noah Adam, als er, einen Rollstuhl vor sich herschiebend, in die Notaufnahme der Behnisch-Klinik raste. Er wurde von einer Menschenmenge aufgehalten, die sich in den Fluren vor der Notaufnahme angesammelt hatte.

Eine ältere Schwester drehte sich zu ihm um und musterte ihn ungerührt.

»Hinten anstellen. Du bist du nicht der Einzige hier!«, erwiderte sie lakonisch. Sie stand neben einer Liege und überwachte die Vitalfunktionen eines Mannes.

Sein Brustkorb war mit einem blutgetränkten Verband umwickelt und sein Gesicht blass.

Doch Noah hatte keine Zeit für Mitgefühl, und hektisch sah sich der Rettungsassistent in Ausbildung um. Sein Blick fiel auf Dr. Matthias Weigand, der mitten auf dem Flur stand.

»Schwester, machen Sie OP 3 bereit und bringen Sie den Patienten schon mal dorthin!« Wie ein Verkehrspolizist bemühte sich der Internist, den Überblick zu behalten und Ordnung zu schaffen. »So, lassen Sie mich überlegen. Der Junge hier gehört in den Schockraum. Wenn ich die Frau untergebracht habe, komme ich gleich nach.« Dr. Weigands Stimme war ruhig und besonnen. Die Schwestern und Kollegen, die ihm zugehört hatten, nickten zustimmend und machten sich zügig auf den Weg.

Schon wollte sich Noah einen Weg zu dem Internisten bahnen, als eine aufgeregte Stimme von hinten ertönte.

»Aus dem Weg! Schweres Schädel-Hirn-Trauma durch herabstürzenden Ast. Patient, weiblich, 18 Jahre alt, nicht bei Bewusstsein. Kreislauf instabil. Die Kleine wird beatmet«, erklärte Noahs Kollege, der mit einem weiteren Notarztwagen gekommen war, atemlos. Als er das Durcheinander auf den Gängen sah, blieb er ebenso abrupt wie ratlos neben Noah stehen. »Ach, du liebe Zeit. Ich dachte ja, dass es schlimm wird. Aber so schlimm …«

Weiter kam er nicht, denn es wurden bereits die nächsten Patienten eingeliefert. Wohin Noah auch blickte, fielen seine Augen auf Leid und Not. In diesem Moment zweifelte der junge Mann zum ersten Mal daran, ob er wirklich den richtigen Beruf gewählt hatte.

»Dachte ich es mir doch, dass ich dich hier treffe!« In seine Gedanken hinein hörte er eine wohlbekannte und tröstliche Stimme.

Erleichtert drehte sich Noah um und begrüßte den Vater seiner Freundin, Dr. Daniel Norden.

»Ein Glück, dass Sie hier sind. Können Sie mir helfen?« Er deutete auf die Frau mittleren Alters, die mit abwesendem Blick im Rollstuhl saß. »Ich hab ihr was gegen die Schmerzen gegeben«, erklärte Noah auf den fragenden Blick des Arztes hin. »Deshalb ist sie ein bisschen weggetreten.«

»Besser so«, lobte Daniel und ging um den Rollstuhl herum. Frau Mennickes rechter Unterschenkel sah so aus, als wäre er von einer Maschinengewehrsalve getroffen worden. Das, was von der Hose übrig war, hing in Fetzen herunter.

»Stellen Sie sich vor, sie hat sich mehr drüber aufgeregt, dass ihre Hose kaputt ist, als über ihre Wunden.«

»Das macht der Schock«, konnte Dr. Norden den jungen Rettungsassistenten trösten. Er kniete vor dem Rollstuhl und hatte eine erste Bestandsaufnahme beendet. Nachdenklich sah er sich um. »Dann lass uns mal eine ruhige Ecke mit einer Liege suchen. Wenn wir die gefunden haben, kümmere ich mich um die Wundversorgung und du kannst gehen und mir schon mal eine neue Aufgabe suchen«, scherzte er und zwinkerte Noah aufmunternd zu.

Ihm war der desolate Zustand des jungen Mannes nicht entgangen, und er verstand ihn nur zu gut. Diese Phase machte jeder Mensch, der sich für einen solchen Beruf entschieden hatte, wenigstens einmal durch. Entweder er blieb danach dabei. Oder aber er suchte sich danach ein neues Betätigungsfeld.

»Dann gehen wir mal auf Liegenjagd!«, erwiderte Noah, der sich durch Daniels Anwesenheit seltsam getröstet fühlte.

In diesem Moment wusste der erfahrene Arzt, dass der junge Mann Durchhaltewillen hatte, und sah ihm zufrieden nach, wie er sich einen Weg durch das Chaos bahnte.

Trotz der widrigen Umstände fand sich gleich darauf eine ruhige Ecke. Noah blieb noch bei der Patientin, bis Dr. Norden die nötigen Utensilien besorgt hatte, die er zur Behandlung brauchte. Als auch noch eine Schwester auftauchte, die überraschend Zeit hatte, dem erfahrenen Arzt zu assistieren, machte sich der junge Rettungsassistent wieder auf den Weg. Draußen gab es noch genug zu tun.

*

Nach einer knappen halben Stunde hatte Daniel Norden seinen ersten Einsatz beendet und machte sich auf die Suche nach Jenny Behnisch. Er verließ die Notaufnahme und stellte erleichtert fest, dass das Gedränge in den anderen Abteilungen nicht so groß war. Mit weitausgreifenden Schritten hastete er einen Flur hinunter, als er um ein Haar mit einer Frau zusammen gestoßen wäre.

»Hoppla!« Um einen Aufprall zu vermeiden, hielt er sie vorsichtshalber an den Schultern fest. Normalerweise hätte er sie auch mit Mundschutz erkannt. Doch die dunklen Höhlen, in denen ihre ungewöhnlich violetten Augen lagen, veränderten sie kolossal. »Alles in Ordnung?«, fragte er deshalb besorgt.

Im Gegensatz dazu hatte Fee ihren Mann natürlich sofort erkannt. Vor Erleichterung, Daniel gesund und munter vor sich zu sehen, hätte sie am liebsten der Schwäche in ihren Beinen nachgegeben. Doch die Tatsache, dass er sie nicht erkannte, reizte sie.

»Bis auf diese schrecklichen Sehnsuchtsattacken geht es eigentlich«, schniefte sie. »Sie sind meine Rettung!« Sie blinzelte ihm zu, und erst jetzt erkannte Daniel seinen unverzeihlichen Irrtum.

»Um Gottes willen, Fee!« Statt sich zu freuen, durchfuhr ihn ein entsetzlicher Schrecken. »Wie siehst du denn aus?«

Überrascht über diese unerwartete Begrüßung zuckte Felicitas zurück.

»Ehrlich gesagt habe ich mir unser Wiedersehen anders vorgestellt«, machte sie keinen Hehl aus ihrer Enttäuschung.

Ihren Worten folgte ein Hustenanfall, und es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich wieder beruhigt hatte.

Daniels Sorge wuchs von Minute zu Minute.

»Du bist ja todkrank!«, stellte er fest und legte fürsorglich den Arm um ihre Schultern. Trotz der vielen Verletzten war es in diesem Teil der Klinik verhältnismäßig ruhig, und er fand ein leeres Zimmer, in das er Fee brachte. Nachdem er die Tür geschlossen hatte, drückte er sie aufs Bett und sah sie fragend an. »Warum bist du hier und nicht zu Hause auf der Couch?«

»Ich bitte dich, Dan. Ich habe ein bisschen Grippe«, brauste Fee schlecht gelaunt auf. Die Sorge ihres Mannes gab ihr den Rest. »Das ist nichts gegen das Leid, das hier herrscht. Jenny braucht jede helfende Hand. Deshalb bin ich gekommen.« Sie machte eine Pause und studierte sein kritisches Gesicht. »Und bevor du mir noch mehr Vorwürfe machst: Nein, ich kümmere mich nicht um die Patienten und setze sie damit einer weiteren Gefahr aus. Ich erledige nur Handlangerdienste«, behauptete sie widerspenstig wie selten.

»Du solltest dich um dich kümmern und zu Hause im Bett liegen statt hier Betten zu schieben und Operationsbesteck zu sterilisieren«, erwiderte ihr Mann streng. Inzwischen hatte er Fees Puls gezählt. Die Hitze in ihren Gliedern verriet, dass sie Fieber haben musste. Ausgeschlossen, sie in diesem Zustand allein nach Hause zu schicken, zumal es keine gesicherte Diagnose gab, was ihr wirklich fehlte. »Du bleibst hier, und ich sehe nach, ob ein Behandlungszimmer frei ist. Ich will dich untersuchen.«

Fee wollte widersprechen, doch ihre Kraft reichte nicht aus. Solange sie unterwegs gewesen war, um Hilfe zu leisten, hatte sie ihre Schwäche nicht gespürt. Doch jetzt wurde sie überdeutlich. Außerdem wusste sie, dass es keinen Sinn hatte, sich gegen Daniel zu wehren, wenn er in dieser gefährlichen Stimmung war. Ergeben ließ sich Fee rückwärts in die Kissen fallen und musterte Daniel aus fiebrig glänzenden Augen. Ihre Streitlust verflog so schnell, wie sie gekommen war, und sie wurde sich bewusst, wie sehr er ihr gefehlt hatte.

»Wie gut, dass du wieder bei mir bist«, murmelte Felicitas matt. »Ich hab mir solche Sorgen um dich gemacht.«

Daniels Herz zog sich zusammen, als er seine Frau so elend dort liegen sah. Höchste Zeit, dass er herausfand, was ihr fehlte und welche Medikamente er ihr zur Linderung ihrer Beschwerden verabreichen konnte.

»Keine Angst, so schnell lass ich dich nicht mehr allein. Und schon gar nicht so lange«, versprach er fast feierlich und stand vom Bettrand auf. »Ich bin gleich wieder bei dir, mein Schatz.«

Fee nickte ergeben und Daniel machte sich auf den Weg, seinen Worten Taten folgen zu lassen.

Er war noch nicht weit gekommen, als ihm Lernschwester Carina mit wehendem Kittel entgegen kam. Panik stand in ihrem Blick.

»Herr Dr. Norden, was für ein Glück!«, rief sie schon von Weitem. »Schnell, die Chefin braucht dringend Unterstützung in der Ambulanz, OP 2. Es geht um Leben und Tod.«

Daniel zögerte nur kurz.

»Dann müssen Sie mir versprechen, sich um meine Frau zu kümmern! Fee liegt auf Zimmer 23. Sie leidet vermutlich an einem grippalen Infekt mit Fieber. Suchen Sie irgendjemanden, der sie untersuchen und versorgen kann. Ich komme so schnell wie möglich wieder.«

»In Ordnung«, versprach Carina über die Maßen erleichtert. Sie sah Daniel nach, wie er den Flur hinunter eilte, und machte sich dann auf den Weg, um sich um die Schwester ihres großen Schwarms Dr. Mario Cornelius zu kümmern. Doch als sie das Zimmer betrat, fand sie es leer vor.

*

Stunden später kamen Dr. Jenny Behnisch, Daniel Norden und die anderen Kollegen aus dem Operationssaal. Eine werdende Mutter war von einem herabstürzenden Ast getroffen worden. Mehrere lebensgefährliche Verletzungen waren die Folge gewesen, und nicht nur das Leben des Ungeborenen hatte auf dem Spiel gestanden.

»Ausgezeichnete Arbeit, meine Damen und Herren«, lobte die Klinikchefin ihr Team sichtlich zufrieden. »Es ist mir eine Ehre, mit so kompetenten Kollegen arbeiten zu dürfen.«

»Nicht so bescheiden, liebe Jenny«, bemerkte der Chirurg Dr. Kolben. »Immerhin haben Sie den kompliziertesten Teil des Eingriffs selbst erledigt. Deshalb plädiere ich dafür, dass das Kind Ihren Namen tragen wird«, erklärte er launig. »Jenny ist ein außergewöhnlich hübscher Name.«

»Vielen Dank«, lächelte die Klinikchefin geschmeichelt.

»Und was, wenn es ein Junge wird?«, gab Schwester Elena zu bedenken.

»Dann heißt er Matthias, ist doch klar!«, meldete sich Matthias Weigand zu Wort. Auch er war mit von der Partie gewesen und grinste breit. »Habt ihr gesehen, wie mich die Mutter angelächelt hat.«

»Ich bitte dich! Sie schläft tief und fest und träumt wahrscheinlich von was anderem als von einem blutverschmierten Internisten«, machte sich Elena über ihren langjährigen Kollegen lustig. »Mal abgesehen davon, dass das Kind vermutlich einen Vater hat.«

Daniel folgte der Unterhaltung, die geprägt war von maßloser Erleichterung, nur mit einem Ohr. Er hatte sich die Hände gewaschen und war mit den Gedanken jetzt wieder ganz bei Fee.

»Herrschaften, tut mir leid, dass ich euch jetzt allein lassen muss. Aber meine Frau braucht mich«, entschuldigte er sich, während er sich die Hände abtrocknete.

Sofort verschwand der belustigte Ausdruck auf dem Gesicht der Klinikchefin.

»Stimmt«, erinnerte sich Jenny an den Anblick ihrer Freundin. »Fee hat heute keinen besonders fitten Eindruck gemacht. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich sie nicht hergebeten.«

Daniel warf das Handtuch in den Eimer mit Schmutzwäsche und lächelte schmal.

»Sie wäre trotzdem gekommen. Du kennst doch meinen kleinen Sturkopf.«

»Dann solltest du sie vielleicht mal zu Hause festbinden. Zumindest, bis sie ihren Facharzt fertig hat. Ich dachte mir schon öfter, dass diese zusätzliche Belastung nicht gut ist für sie«, gab Jenny ihrem Freund und Kollegen mit auf den Weg.

»Ich werde mein Bestes geben«, versprach Daniel augenzwinkernd und machte sich endlich auf den Weg in die Abteilung, in der er Felicitas zurückgelassen hatte. Glücklicherweise hatten sich die Flure allmählich geleert und die Lage hatte sich fast normalisiert. Die Verletzten waren behandelt und auf die Betten verteilt worden, sodass Daniel nur hier und da auf ein paar Patienten oder Schwestern traf.

Als er das Zimmer betrat, in dem er seine Frau noch immer vermutete, fand er das Bett ebenso leer vor wie zuvor Schwester Carina. Keine Spur von Fee und auch keine Nachricht.

»Diese Frau ist unverbesserlich!«, stöhnte er auf und trat zurück auf den Flur. Ratlos blickte er von rechts nach links und zurück. »Wo soll ich sie denn jetzt suchen?« Es hatte keinen Sinn, durch die Klinikflure zu hetzen. Deshalb tat Dr. Norden das einzig mögliche: Er zog das Mobiltelefon aus der Tasche und wählte die Nummer von zu Hause.

»Anneka, bist du das?«, fragte er vorsichtig, als sich eine weibliche Stimme meldete.

Mit jedem Tag, den seine Töchter älter und erwachsener wurden, fiel es ihm schwerer, ihre Stimmen zu unterscheiden. Nicht mehr lange und sie würden klingen wie Fee.

»Mensch, Dad, wann lernst du eigentlich, uns auseinander zu halten?«, stöhnte Dési demonstrativ auf.

»Sagen wir mal so: Ich verlerne es jeden Tag ein bisschen mehr«, lächelte Daniel.

»Du bist lustig!« Dési lachte. »Ein Glück, dass es dir gut geht. Wir haben uns ganz schön Sorgen gemacht um dich. Aber Mum hat schon erzählt, dass alles okay ist.«

»Schön! Wenn du mir jetzt auch noch sagen kannst, wo Mum steckt, ist auch meine Welt wieder in Ordnung.«

»Danny hat sie vorhin nach Hause gebracht«, klärte das Zwillingsmädchen den Vater bereitwillig auf.

In diesem Augenblick fiel ein Stein von Daniels Herzen.

»Ein Glück!«, seufzte er erleichtert auf. »Sie hatte mir versprochen, auf mich zu warten. Aber die Operation hat ziemlich lange gedauert. Wie geht es ihr denn? Hat sie sich von einem Kollegen untersuchen lassen? Wie lange ist sie überhaupt schon daheim?«

»Mensch, Papi!«, verfiel Dési unvermittelt in die kindliche Anrede, die sie nur noch selten benutzte und nur dann, wenn sie ihren Vater tadelte. »Du kannst ja ganz schön viele Fragen auf einmal stellen. Warum kommst du nicht einfach heim zu uns?«, stellte sie eine berechtigte Frage. »Lenni kocht gerade einen Festtagsschmaus, wie sie es nennt. Und Danny ist auf dem Weg, um Tatjana abzuholen. Sie wollen den Abend mit uns verbringen und feiern, dass alle wieder gesund und munter zu Hause sind.«

Im ersten Augenblick wollte Daniel seine jüngste Tochter an den besorgniserregenden Zustand ihrer Mutter erinnern. Doch dann verzichtete er darauf und versprach, sich gleich auf den Nachhauseweg zu machen. Vielleicht ging es Fee inzwischen tatsächlich besser. Das war seine große Hoffnung, als er wenig später in ein Taxi stieg und sich durch die vom Sturm verwüstete Stadt nach Hause fahren ließ.

*

»Weißt du eigentlich, dass du mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt hast?« Wenig später stand Daniel Norden in inniger Umarmung mit seiner Frau im Flur und genoss die Wärme ihrer Liebe, die ihn einhüllte wie ein weiches Tuch.

»Tut mir leid, das wollte ich nicht«, raunte Fee ihm zärtlich ins Ohr.

Jetzt, da sie endlich wieder vereint zu Hause waren, sollte er sich keine Sorgen mehr machen. Das hatte sie sich vorgenommen und ein paar Medikamente gegen Grippe eingenommen. Tatsächlich schlugen sie an, und sie fühlte sich wesentlich besser als noch vor ein paar Stunden. »Aber so allein in diesem Krankenzimmer … Das hab ich dann doch nicht ausgehalten. Schon gar nicht, wenn ich nur ein bisschen Grippe habe.«

Daniel runzelte die Stirn und schob Felicitas ein Stück von sich. Sein kritischer Blick ruhte auf dem Gesicht seiner Frau.

»Dann hast du dich nicht untersuchen lassen?«

Ehe Fee auf diese Frage eine Antwort geben konnte, hallte Lennis aufgekratzte Stimme durch das Haus. Sie war überglücklich, ihre Familie wieder um sich vereint zu haben, und hatte groß aufgekocht.

»Essen ist fertig. Schnell, sonst fällt das Soufflé in sich zusammen«, trieb sie sämtliche Familienmitglieder zur Eile an und klatschte in die Hände.

Um Daniel nicht anzustecken, drückte Fee ihm einen Kuss auf die Wange und gesellte sich dann gemeinsam mit ihm zu ihrer hungrigen Kinderschar.

Wie von Dési schon angekündigt, hatten auch Danny und seine sehbehinderte Freundin wieder einmal den Weg ins Haus Norden gefunden. Selbst ohne Familie in Deutschland, hatte Tatjana die Nordens kurzerhand adoptiert und liebte die geselligen Runden am Esstisch über alles. Nicht selten steuerte sie eine ihrer köstlichen Kreationen als Nachtisch bei. Seit sie nach ihrem Studium eine Ausbildung als Bäckerin und Konditorin begonnen hatte, waren ihrer Kreativität keine Grenzen mehr gesetzt und sie sprudelte fast über vor ständig neuen Ideen, die sogar in einem Backbuch festgehalten werden sollten.

Gut gelaunt saß Tatjana gemeinsam mit den Geschwistern Norden und Fee und Daniel am Tisch.

»Ein Soufflé ist eine herrliche Idee!«, lobte sie Lennis Kochkünste begeistert. Dank einer Operation hatte sie einen Teil ihrer Sehkraft wieder erhalten und hypnotisierte das perfekt aufgegangene Backwerk förmlich. »Und wie das duftet! Lass mich raten.« Sie atmete tief ein und gleich darauf wieder aus. »Ich rieche Garnelen! Käse. Champignons. Und einen Hauch Zwiebeln«, zählte sie eine nach der anderen die Zutaten auf.

Gespannt starrten die Anwesenden auf Lenni. Hatte Tatjana mit ihren feinen Sinnen wieder einmal recht?

»Stimmt genau!« Die Haushälterin war sichtlich überrascht. »Woher weißt du das eigentlich immer so genau?«, fragte sie, während sie das Soufflé auf die Teller verteilte.

Versonnen lehnte sich Tatjana zurück und ließ ihre Gedanken in die Vergangenheit und zurück in die Zeit schweifen, als sie mit ihrem Vater in Marokko gelebt hatte.

»Im Deutschen gibt es das Nomen ›Souvenir‹ für Mitbringsel. In Frankreich ist dieses Wort ein Verb und bedeutet ›sich erinnern‹. Wann immer mir der Duft von besonderen Inhaltsstoffen in die Nase steigt, erinnere ich mich an die Zeit in Marokko.« Tatjanas große, dunkelblaue Augen begannen zu leuchten wie zwei Sterne. »Obwohl ich damals nichts sehen konnte, weiß ich genau, wie der Markt aussah. Noch heute kann ich sagen, wo der Stand mit den Gewürzen war, der Fischhändler, wo es Gemüse und Ziegenkäse zu kaufen gab. Kurz zuvor bin ich ja blind geworden, und in der Zeit in Marokko, auf meinen vielen Besuchen auf dem Markt, haben sich meine anderen Sinne immer mehr geschärft. Vielleicht liegt es an diesen außergewöhnlich starken Eindrücken, dass ich das mit fast jedem Gericht heute noch kann.«

Es kam selten vor, dass die selbstbewusste, schlagfertige Tatjana ihre tiefgründigen Gedanken preisgab. Wie gebannt saßen ihre Freunde mit ihr am Tisch.

»Das ist eine sehr beeindruckende Erklärung«, staunte Felicitas, die über Tatjanas innigen Worten ihre Krankheit wenigstens für einen Augenblick vergessen hatte.

»Womit die Behauptung ›Stille Wasser sind tief‹ eindeutig widerlegt ist«, kam Felix mal wieder nicht um eine freche Bemerkung herum und zwinkerte Tatjana zu.

Statt ihm böse zu sein, lachte sie belustigt auf. Mit dieser Behauptung hatte er zweifelsfrei recht. Die aufgekratzte Bäckerin war alles andere als still und wusste das selbst am besten.

»Wenn ihr nicht gleich esst, gibt es statt einem luftigen nur noch ein zähes Soufflé«, machte Lenni ihre Familie ungeduldig aufmerksam. »Und diese Behauptung lässt sich nicht widerlegen. Guten Appetit!«

Das ließen sich besonders die Männer nicht zwei Mal sagen und griffen mit gutem Appetit zu. Der aufregende Tag hatte viele Nerven gekostet, und zuerst herrschte geschäftiges Schweigen am Tisch. Eine Weile war nur das Klappern von Besteck und Geschirr, unterbrochen von zufriedenen Seufzern, zu hören. Als der erste Hunger gestillt war, entspann sich ein Gespräch zwischen Sohn und Vater.

»Weißt du übrigens schon, dass das Dach der Praxis ziemlich lädiert ist?«, erkundigte sich Danny und schob eine Gabel Salat in den Mund.

»Stimmt, ich wollte ja den Dachdecker anrufen.«

»Da bist du mit Sicherheit momentan nicht der Einzige«, wandte Felix zu Recht ein.

Doch Daniel Norden hatte noch einen Trumpf im Ärmel, den er jetzt ausspielte.

»Zufällig habe ich heute im Flugzeug neben einer Frau gesessen, deren Freund Dachdecker ist.« Triumphierend zog er die Visitenkarte aus der Hosenasche und schnitt eine Grimasse, als er sie in die Höhe hielt.

Die jüngste Tochter des Hauses hatte den beiden zugehört und sprang sofort auf, um das Telefon zu holen.

»Dann solltest du am besten gleich einen Termin ausmachen, bevor die Praxis davon schwimmt«, empfahl sie ihrem Vater, der sich mit einem gerührten Lächeln bedankte.

Das Gespräch war schnell geführt und tatsächlich bekam Dr. Norden von Sebastian Hühn sofort einen Termin für den kommenden Vormittag.

»Das klappt ja wie am Schnürchen«, freute sich auch Tatjana darüber, dass der Arbeitsplatz ihres Freundes gerettet war. »Dann kann ich ja zur Feier des Tages meine Himbeer-Zitronen-Törtchen mit Mascarpone-Topping servieren. Ihr müsst mir unbedingt sagen, ob sie es wert sind, in mein Backbuch aufgenommen zu werden.«

Als sie die kleinen köstlichen Kunstwerke auf den Tisch stellte, brachen die Zwillinge und Felix in begeisterte Rufe aus. Danny und Daniel hingegen musterten die Kalorienbomben sehnsüchtig.

»Ach, du liebe Zeit, das sieht nach schrecklich viel Hüftgold aus«, seufzte Daniel und klopfte sich auf den flachen Bauch. Dabei sah er Fee vorsichtig von der Seite an. Immerhin achtete sie penibel darauf, dass er in Form blieb. Die schien mit den Gedanken jedoch weit fort zu sein und hatte sogar ihr Soufflé nur zur Hälfte gegessen. »Hast du nicht neulich an einem Kuchen aus Kartoffeln und Karotten gearbeitet?«, wandte sich Daniel daher hilfesuchend an Tatjana.

Doch die lachte nur ausgelassen.

»Besondere Ereignisse verlangen nach besonderen Maßnahmen«, war alles, was sie dazu sagte, ehe sie ihrem Schwiegervater in spe ein Törtchen auf den Teller legte.

»Und das hier ist ein besonderes Ereignis?«, fragte Daniel immer noch skeptisch und griff unter dem Tisch nach der Hand seiner Frau.

Es war Felix, der diese Frage beantwortete.

»Das weißt du spätestens, wenn du probiert hast!«, versprach er mit vollem Mund und verdrehte genießerisch die Augen.

*

Als der Wecker am nächsten Morgen klingelte, hätte Daniel Norden in sich am liebsten die Decke über den Kopf gezogen. Der Abend war noch lang und lustig gewesen, und am liebsten hätte der Arzt die Wirklichkeit noch ein bisschen ausgesperrt. In gespielter Verzweiflung tastete er hinüber auf die andere Bettseite. Sie war leer, und schlagartig war Daniel wach.

»Fee?«

»Ich bin hier im Bad!«, kam postwendend die Antwort.

Nach einem Blick auf den Wecker sank Daniel erleichtert zurück in die Kissen.

»Bist du aus dem Bett gefallen oder warum bist du schon auf? Es ist doch noch so früh.«

Fee stand vor dem Spiegel und betrachtete die geschwollenen Lippen. Unerträgliche Schmerzen im Mund hatten sie geweckt, und sie war ins Badezimmer gegangen. Als sie die unförmigen Lippen sah, war sie furchtbar erschrocken. Doch viel schlimmer als das waren die neuen Blasen, die sich auf ihrer Mundschleimhaut gebildet hatten. Schon am Abend zuvor war ihr das Essen mehr als schwer gefallen. Doch jetzt war der Gedanke daran, Nahrung zu sich zu nehmen, schier undenkbar. Dazu kamen nach wie vor die grippeähnlichen Symptome, die wiedergekommen waren, nachdem die Wirkung der Medikamente nachgelassen hatte.

»Fee? Ist alles in Ordnung?«, rief Daniel besorgt, nachdem er keine Antwort bekommen hatte.

»Ich komme gleich zu dir.« Verzweifelt stand Fee vor dem Spiegel und dachte fieberhaft nach. Auf keinen Fall konnte sie ihren Zustand noch länger vor ihrem Mann verbergen. So blieb ihr nichts anderes übrig, als in den sauren Apfel zu beißen und ins Schlafzimmer zurückzukehren. »Nicht erschrecken!«, bat sie, bevor sie zu ihm ans Bett trat. Ihren schlanken Körper versteckte sie in einem Bademantel. Doch ihr Gesicht konnte sie schlecht verschleiern. »Ich habe eine kleine Typveränderung durchgemacht«, versuchte sie in ihrer Not zu scherzen.

»Ich liebe dich, egal wie du aussiehst …«, wollte Daniel erwidern. Doch beim Anblick seiner geliebten Frau blieb ihm das Wort ihm Hals stecken. »Um Gottes willen, Fee, was ist passiert?«, fragte er erschrocken und setzte sich kerzengerade im Bett auf. Ohne sie aus den Augen zu lassen, fasste er sie an den Händen und zog sie zu sich auf die Bettkante. »Was ist los mit dir?«

»Ich weiß es nicht!« Fees Stimme war klein und jämmerlich. »Ich hab Blasen auf der Mundschleimhaut. Die tun furchtbar weh.«

»Deine Lippen sehen furchtbar aus.« Daniels Hand schwebte Millimeter über ihrem Mund. Er wagte es nicht, ihn zu berühren, aus Angst, ihr wehzutun. »Was kann das nur sein?«

»Eine Grippe jedenfalls nicht«, musste Felicitas wohl oder übel eingestehen.

Sie war so schwach und fühlte sich so elend, dass eine einsame Träne über ihre Wange rann.

Das war der Moment, in dem es Daniel Norden mit der Angst zu tun bekam. Fee war keine der Frauen, die ohne guten Grund in Tränen ausbrachen.

»Ich bring dich in die Klinik. Die Kollegen dort müssen herausfinden, was dir fehlt«, beschloss er und schwang die Beine aus dem Bett. »Leg dich nochmal hin. Ich bin gleich wieder bei dir.« Einen heißen, kleinen Augenblick lang wünschte er sich, sie würde ihm widersprechen wie tags zuvor.

Doch Fees Widerstand war gebrochen. Wie ein Häuflein Elend rollte sie sich auf seiner Bettseite zusammen. Als er fix und fertig angezogen aus dem Bad kam und an ihre Seite trat, musste er einsehen, dass er sie nicht selbst fahren konnte. Alle Kraft schien sie verlassen zu haben. Unfähig, sich aus eigenem Antrieb zu bewegen, brauchte sie einen Krankentransport.

*

»Toast mit Butter und Honig. Süße, heiße Schokolade. Orangensaft mit Fruchtfleisch«, präsentierte Sebastian stolz das Frühstück, das er für Ricarda zubereitet hatte.

Fasziniert betrachtete sie die liebevoll gedeckte Tafel.

»Oh, Basti, das ist Wahnsinn«, schwärmte die Krankenschwester verliebt. »In all den Jahren hast du nicht vergessen, was ich gern mag.«

»Ehrlich gesagt war das nicht so schwierig, weil ich nämlich schon immer dieselben Sachen frühstücke wie du«, gestand er, obwohl das nicht die ganze Wahrheit war. Tatsächlich hatte er alles sorgfältig geplant, die Dinge eingekauft, die sie gern mochte, und sich an die eine oder andere liebenswerte Eigenart erinnert. Er wusste zum Beispiel um ihren Faible für bunte, kindlich gemusterte Servietten und hatte extra welche besorgt.

»Kann schon sein, dass du auch gern Honig zum Frühstück magst. Ansonsten bist du aber ein schlechter Lügner«, durchschaute Ricarda ihn sofort und lächelte dieses unwiderstehliche Lächeln, bei dem sich ihre Nase kräuselte. Gleichzeitig tippte sie mit der Fingerspitze des Zeigefingers auf die Luftballon-Serviette. »Du willst mir nicht im Ernst erzählen, dass die aus deinem normalen Sortiment stammt.«

Sebastian grinste breit und beugte sich über seine neue, alte Liebe, um ihr einen Klecks Butter aus dem Mundwinkel zu küssen.

»Ab jetzt schon«, erklärte er und wurde unvermittelt ernst. Er lehnte sich wieder zurück und betrachtete Ricarda eingehend, wie sie da saß. Sie trug einen roten Pyjama mit weißen Punkten. Die rotblonden Haare hatte sie zu einem wilden Dutt auf dem Kopf zusammengesteckt, und ihre grünen Augen blitzten vergnügt.

»Du bist einfach unglaublich. Weißt du … ich meine, ich will dich ja nicht verletzen, aber natürlich gab es nach dir noch andere Männer in meinem Leben. Dummerweise hat mich jeder wegen meiner Vorliebe für Seifenblasen, Konfetti und Luftballons irgendwann ausgelacht.« Ricarda ließ goldgelben Honig auf ihren Buttertoast tropfen und zog einen Schmollmund. »Früher oder später hat jeder behauptet, dass ich kindisch bin. Dabei stimmt das gar nicht. Wenn man so viel Not und Leid sieht wie ich in meinem Beruf, dann freut man sich über jedes bisschen Fröhlichkeit. Aber wenn du genauso denkst wie alle anderen, dann sag es am besten gleich. So können wir uns eine herbe Enttäuschung sparen.« Ohne Luft zu holen, hob sie ihren Toast hoch und biss herzhaft hinein. Während sie kaute, ließ sie Sebastian nicht aus den Augen. »Was denkst du?«, fragte sie, als er nicht sofort antwortete.

»Ich denke, dass du ganz anders bist als die meisten anderen Frauen, die ich bisher kennengelernt habe«, gestand er lächelnd.

Doch so leicht war Ricarda nicht zu überzeugen.

»Du meinst wie die meisten anderen hübschen, selbstsicheren, modebewussten Frauen, die du so kennst?« Zweifelnd streckte sie die Beine aus und blickte hinab auf ihre Plüschhausschuhe mit Hasenohren. Sie wackelten, wenn sie die Zehen auf und ab bewegte. »Immerhin übernimmst du mal den Betrieb deines Vaters. Als zukünftiger Geschäftsinhaber bist du sicher sehr begehrt in der Frauenwelt. Noch dazu, wo du so unverschämt gut aussiehst.« Aus Ricardas Mund klang dieses Kompliment so entwaffnend ehrlich und natürlich, dass Sebastian gar nicht erst versuchte zu widersprechen.

Zu ihrem Entsetzen nickte er auch noch. Dabei bemerkte sie nicht, wie schwer es ihm fiel, ernst zu bleiben.

»Das stimmt natürlich. Ich bin wahnsinnig begehrt«, antwortete er augenzwinkernd. »Zumindest so lange, bis diese unglaublich hübschen, erfolgreichen, modischen Frauen rausfinden, dass ich Geocaching – also diese Schnitzeljagd mit dem Navi – liebe und gern Science Fiction lese ist es gleich aus mit der großen Begeisterung.«

Als sie das Wort ›Schnitzeljagd‹ hörte, begannen Ricardas grüne Augen zu leuchten.

»Als Kind habe ich Schnitzeljagd immer geliebt. Dabei war das Suchen viel aufregender als das Finden. Oh bitte, gehst du mir mal zum Geoki … kä ….keschen?«

»Geocaching heißt es richtig«, erklärte Sebastian liebevoll und nicht minder überrascht. »Du willst wirklich mal mitkommen? Das hat freiwillig noch keine gemacht.«

»Du hast doch selbst gesagt, dass ich anders bin als die meisten anderen Frauen.« Abenteuerlustig rutschte Ricarda vom Barhocker und sah Sebastian erwartungsvoll an. »Meinetwegen können wir gleich loslegen.«

Der Dachdecker stand auch auf. Allerdings nicht, um seine Freundin zu neuen Abenteuern zu entführen.

»Leider muss das bis zum Wochenende warten. Du weißt ja, dass ich ausgerechnet jetzt wahnsinnig viel Arbeit habe.« Er nahm Ricarda in die Arme und schloss die Augen. Ihr Duft erinnerte ihn an die Leidenschaft der vergangenen Nacht, als sie ihm eine ganz andere als ihre mädchenhafte Seite gezeigt hatte. Noch immer wurde ihm schwindlig, wenn er an ihre Berührungen dachte, und schnell öffnete er die Augen wieder. »Das ist wirklich zu dumm.«

»Zu allem Überfluss hab ich dir auch noch zusätzlich Arbeit verschafft«, erinnerte sich Ricarda an den Anruf des Arztes vom vergangenen Abend. »Aber Dr. Norden war wirklich nett. Ohne ihn …«

» … hättest du den Flug nicht überlebt«, beendete Sebastian ihren Satz belustigt. »Deshalb stehe ich auch um halb elf auf seinem Praxisdach. Ich kann dir gar nicht sagen, wie dankbar ich ihm bin.«

Schlagartig wurden Ricardas Wangen heiß vor Scham.

»Scheint so, als würde ich mich wiederholen«, murmelte sie verlegen und wirkte plötzlich wieder wie ein kleines Mädchen, das sich verlaufen hatte.

Dieses Wandelbarkeit war es, die Sebastian so sehr faszinierte, und er küsste sie noch einmal, ehe es wirklich Zeit für den Aufbruch wurde.

»Kommst du ohne mich zurecht?«, erkundigte er sich besorgt und zog eine Regenjacke über. Der Wind hatte sich zwar gelegt, dafür regnete es schon den zweiten Tag ohne Unterbrechung.

»Vielleicht besuche ich dich bei Dr. Norden und schau dir zu, was du auf dem Dach so treibst«, erwiderte Ricarda und war schon wieder fröhlich und gut gelaunt.

»Ich kann’s kaum erwarten«, lächelte Sebastian und machte sich endgültig auf den Weg, ehe er ihrem Charme doch noch erlag und wieder mit ihr im Bett statt auf den Dächern seiner Kunden landete.

*

»Wenn es noch mehr regnet, können wir hier oben duschen!«, stellte Janine Merck mit einem resegnierten Blick nach oben fest.

Gemeinsam mit ihrer Freundin und Kollegin Wendy stand sie auf dem Dachboden der Praxis und rückte einen Eimer unter die Stelle, durch die langsam aber beständig Wasser tropfte.

»Mir persönlich wäre das ja zu kalt«, bemerkte Wendy und machte Anstalten, den Speicher zu verlassen.

»Dabei ist kaltes Wasser gut für die Durchblutung«, erklärte Janine augenzwinkernd und folgte ihr die Treppe hinunter. »Trotzdem müssen wir das richten lassen. Fragt sich nur, wo wir jetzt einen Dachdecker herbekommen. Das ist im Augenblick mit Sicherheit eine der gefragtesten Berufsgruppen.«

Wendy wollte eben etwas entgegnen, als eine wohlbekannte Stimme durch das Treppenhaus hallte.

»Ärzte kommen übrigens gleich nach den Dachdeckern«, rief Danny Norden munter hinauf. Bewaffnet mit einer prall gefüllten Tüte aus der Bäckerei Bärwald hatte er eben die Praxis betreten. Nichtahnend, welche schlimmen Nachrichten ihn an diesem Tag noch erwarteten, blickte er erwartungsvoll in Richtung Treppe. »Draußen vor der Tür steht schon eine Schlange Patienten. Ich bin kaum durchgekommen. Ich hab sie rein gelassen, bevor sie alle nass bis auf die Haut sind.«

Tatsächlich füllte sich die Luft mit leisen Stimme und Schuhsohlen klapperten auf dem Parkettboden.

Wendy und Janine tauschten überraschte Blicke.

»Als ich vor einer Stunde gekommen bin, war noch niemand da«, bemerkte die Ältere und nickte grüßend hinüber zu den Menschen, die den Weg in die Praxis schon so früh gefunden hatten.

»Kein Wunder. Ausreichend Schlaf ist ja auch gut für die Genesung«, hatte Janine einen weiteren guten Tipp auf Lager. »Das wissen auch unsere Patienten.«

»Du solltest einen Ratgeber veröffentlichen«, gab Wendy ironisch lächelnd zurück, während Danny seine Jacke an die Garderobe hängte und sich einen frischen Kittel aus dem Schrank daneben nahm. »Das wäre mit Sicherheit ein einträglicher Nebenerwerb.«

»Aber bitte nicht sofort. Mir reicht es schon, dass Tatjana ein Backbuch schreiben soll. Seitdem füttert sie mich ständig mit neuen Kreationen, die mit Sicherheit nicht kompatibel sind mit Ihren Ratschläge. Mal abgesehen davon, dass ich überhaupt keine Zeit mehr für meine eigentliche Arbeit hätte, wenn ich so viele Bücher lesen müsste.« Danny grinste verschmitzt und schlug den Kragen seines Kittels herunter. »Apropos Arbeit. Wo steckt eigentlich der alte König? Die Wiedersehensfreude mit seiner geliebten Königin wird bei ihm doch hoffentlich keine Amnesie ausgelöst haben?«

Janine warf einen Blick auf die Uhr.

»Kurz vor acht. Das ist wirklich seltsam. Normalerweise ist der Chef überpünktlich.« Sie hatte noch nicht ausgesprochen, als sich auch schon die Tür öffnete und Dr. Norden herein stürmte.

»Ach, sieh mal einer an. Wenn man vom Teufel spricht …«, scherzte Danny gut gelaunt. Doch angesichts von Daniels düsterer Miene verging ihm das Lachen sofort. »Was ist los?« Augenblicklich war seine Stimme ernst und professionell, eine Eigenschaft, die der Vater sehr an seinem ältesten Sohn schätzte.

»Deine Mutter wurde mit unspezifischen Symptomen in die Klinik eingeliefert.« Mit knappen Worten berichtete Dr. Norden von den grippeähnlichen Symptomen, den geschwollenen Lippen und den Bläschen im Mund. »So habe ich Fee lange nicht gesehen. Sie hat sogar geweint vor Schmerz und Schwäche.«

Eine steile Sorgenfalte erschien auf Dannys Stirn.

»Dann muss sie wirklich krank sein.« Er dachte kurz nach. »Ich würde dich ja wirklich gern zu ihr in die Klinik schicken. Aber du hast ja vermutlich selbst gesehen, was hier los ist.«

Daniel, der inzwischen die nasse Jacke ausgezogen und sich von Janine eine Tasse Kaffee hatte geben lassen, winkte ab.

»Im Augenblick kann ich eh nichts für Fee tun. Sie wird von Jennys Leuten auf den Kopf gestellt.«

»Gut. Dann bist du hier sowieso besser aufgehoben. Arbeit ist immer ein probates Mittel gegen Sorgen«, machte Danny einen hilflosen Versuch, seinen Vater zu trösten.

Als Wendy das hörte, hob sie den Kopf.

»Wunderbar. Noch ein guter Tipp für Janines Ratgeber«, bemerkte sie augenzwinkernd und stand auf, um die wartenden Patienten noch um Geduld zu bitten. »Langsam sollten wir sie aufschreiben, damit wir ja keinen vergessen.«

Diese Bemerkung brachte Daniel wenigstens kurz zum Lachen, und ein wenig beruhigt machte er sich daran, die Hilfesuchenden zu versorgen. Bei dieser Gelegenheit stellte er fest, dass sein Sohn recht hatte: Die gewohnten Strukturen gaben Halt und Sicherheit, und die Welt sah schon nicht mehr ganz so düster aus wie noch kurz zuvor.

*

Eine Weile vertrieb sich Ricarda die Zeit in Sebastians Wohnung. Leise summend wanderte sie von Zimmer zu Zimmer, blieb vor dem Bücherregal mit den Science-Fiction-Romanen stehen, zog einen heraus, blätterte darin und stellte ihn dann wieder ins Regal. Sie nahm gerahmte Fotografien seiner Familiemitglieder zur Hand, die sie damals persönlich kennengelernt hatte.

»Kinder, wie die Zeit vergeht. Mama Hühn hat auch schon graue Haare«, lächelte sie kopfschüttelnd. Ricarda achtete darauf, dass es wieder an seinem Platz stand. Auf keinen Fall sollte Sebastian denken, dass sie geschnüffelt hatte. »Und jetzt?« Als sie ihren Rundgang beendet hatte, sah sie sich ratlos um. An harte Arbeit gewöhnt, kam sie mit der neuen Freiheit nicht zurecht. Als ihr Blick auf die Badezimmertür fiel, beschloss sie, ein Schaumbad zu nehmen. Doch auch dieses Glück währte nicht lange. Bald darauf stand Ricarda schon fix und fertig angezogen vor dem Spiegel des großen Kleiderschranks. Trotzdem war es erst zehn Uhr.

»Hey, Ricky, was hältst du davon, wenn wir in die Praxis Dr. Norden fahren und uns mal ansehen, was Sebastian so den ganzen Tag treibt?«, fragte sie ihr Spiegelbild. »Hast du Lust?«

Die fröhliche Frau im Spiegel nickte, und so schlüpfte Ricarda in ihre regenbogenbunte Wetterjacke und machte sich auf den Weg.

Schon von Weitem entdeckte sie den Mann ihrer Träume. Sebastian kniete auf dem kaputten Dach des Einfamilienhauses und ruckelte an einer der gesprungenen Dachplatten, die sich zwischen anderen verkeilt hatte. Schon hatte die Krankenschwester beide Arme in die Luft geworfen und den Mund geöffnet, um ihren Freund auf sich aufmerksam zu machen, als ein gellender Schrei durch die regengeschwängerte Luft hallte.

»Baaaaaassstiiiiiii!«, schrie auch Ricarda aus Leibeskräften.

Doch es nützte nichts. Unvermittelt hatte sich die Dachplatte gelöst. Sebastian, der mit beiden Händen kräftig daran gezogen hatte, verlor den Halt und rutschte aus. Hilflos musste Ricarda mit ansehen, wie er über das Dach hinab und über die Kante schlitterte. Reflexartig versuchte er, sich festzuhalten, während in der Praxis die Arbeit weiterging, als wäre nichts geschehen.

»Herr Weidner bitte«, rief Wendy eben den nächsten Patienten auf.

Janine stand am Schrank und suchte Patientenkarten heraus. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie den Schatten, der blitzschnell am Fenster vorbei sauste.

»Was war denn das?« Ruckartig fuhr sie herum und eilte zum Fenster. Sie sah gerade noch, wie ein Körper auf dem Haufen Schutt aufschlug, den Straßenarbeiter im Garten der Praxis aufgehäuft hatten. »Ach, du meine Güte, der Dachdecker!« Ihr Herz raste, als sie ohne lange nachzudenken zur Tür lief.

Auch Ricarda war losgestürmt. Sie erreichte Sebastian gleichzeitig mit Janine. Ohne auf Dr. Nordens Assistentin zu achten, kletterte sie auf den Schutthaufen, der Sebastians Leben gerettet hatte. Das war nicht so einfach, denn immer wieder rutschte sie auf den vom Regen glitschigen Abfällen aus. Doch endlich kniete sie neben Sebastian nieder. Die Nässe, die durch ihre Jeans drang, ignorierte sie ebenso wie die Scherben, die sich in ihre Knie bohrten. Entsetzt starrte sie ihren Freund an. Er hatte die Augen geöffnet, den leeren Blick gen Himmel gerichtet. Im ersten Moment vergaß Ricarda ihre gesamte Erfahrung und warf sich seinen Oberkörper.

»Basti, sag doch was!«, bettelte sie den Bewusstlosen weinerlich an und umklammerte sein Gesicht mit beiden Händen.

Mit sanfter Gewalt gelang es Janine, die verzweifelte Frau zur Seite zu schieben. Als ehemalige Krankenschwester wusste sie genau, was zu tun war.

»Er ist nicht ansprechbar«, klärte sie Daniel Norden auf, der von Wendy über den Unfall informiert worden und herbei geeilt war. »Seine Atmung ist schwach.«

Endlich wurde auch Ricarda wieder vernünftig. Mit dem Handrücken wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht und beugte sich vor.

»Basti, kannst du mich hören?«, fragte sie dicht an seinem Ohr laut und deutlich.

»Keine Reaktion.« Janine sah ihren Chef fragend an.

»Der Wagen ist schon unterwegs«, konnte Dr. Norden den beiden Frauen mitteilen.

Dieser Tag hatte es in sich, und fast fühlte er sich ein wenig schuldig am Unfall des Dachdeckers.

Bevor er jedoch Gelegenheit hatte, die mitgebrachte Arzttasche zu öffnen, war bereits das entfernte Geräusch einer Sirene zu hören.

»Ein Glück, dass die Straßen heute wieder frei sind.« Janine hatte sich auf dem wackeligen Berg aufgerichtet, um bessere Sicht zu haben. »Sonst würde das nicht so schnell gehen.«

In diesem Moment bog der Rettungswagen in die Straße ein, in der die Praxis lag, und hielt am Straßenrand. Da die Gefahr einer Rückenverletzung bestand, brachten die Ersthelfer die richtige Ausstattung gleich mit.

»Bitte machen Sie Platz«, forderte der Notarzt Ricarda auf, die sich zwar gefangen hatte, aber immer noch wie Espenlaub zitterte. »Sonst kommen wir hier nicht hoch mit der Schaufeltrage und der Vakuummatratze.«

Folgsam rutschte Ricarda vom Schuttberg herunter und wartete geduldig darauf, dass die Kollegen ihre Arbeit beendeten.

Kurz bevor der Rettungsassistent die Türen zuschlagen konnte, konnte sie endlich wieder einen klaren Gedanken fassen.

»Kann ich mitfahren? Ich bin Krankenschwester im Londoner Bridge-Hospital und kann bei der Versorgung helfen. Normalerweise arbeite ich zwar auf der Gefäßchirurgie, aber das ist ja sicher kein Problem. Bitte, ich kann Sebastian in dieser Situation nicht allein lassen …« Weiter kam sie nicht.

In diesem Augenblick hatte der Sanitäter genug von ihrem Redeschwall.

»Sind Sie eine Verwandte?«, fragte er barsch.

Ricarda schüttelte die gebändigte Lockenpracht.

»Nein.«

»Seine Frau?«

»Nein, ich bin seine Freundin«, erklärte sie und schickte Dr. Norden einen hilfesuchenden Blick.

»Das stimmt«, verstand der den stummen Hilferuf richtig. »Es wäre schön, wenn sie mitfahren könnte.«

»Also gut«, gab sich der Ersthelfer einen Ruck. »Aber nur, wenn sie nicht pausenlos redet. Das hält ja der geduldigste Mensch nicht aus.«

Im Normalfall wäre Ricarda beleidigt gewesen.

»Na, so schlimm bin ich jetzt auch wieder nicht«, verzichtete sie Sebastian zuliebe aber auf eine Diskussion und kletterte in den Rettungswagen.

Sie nahm neben der Liege Platz. Bedacht darauf, den Zugang nicht zu berühren, den der Arzt inzwischen in die Vene auf seinem Handrücken gelegt hatte, griff nach seiner Hand und hielt sie fest. Sie war eiskalt und Ricardas Herz zog sich zusammen vor Angst.

*

»Das Fieber ist unverändert hoch«, stellte Jenny Behnisch fest. Eine scharfe Sorgenfalte teilte ihre Stirn, als sie auf ihre langjährige Freundin herabblickte, die wie ein Häuflein Elend im Bett lag und kaum mehr ansprechbar war. In ihrer Hand lag ein Zugang, durch den Ringerlösung in ihren Körper tropfte, um zu vermeiden, dass sie austrocknete. Denn trinken konnte Fee nicht mehr. »Was haben die Bluttests ergeben?«

Lernschwester Carina hatte es sich nicht nehmen lassen, sich um die sympathische Ärztin zu kümmern, mit der sie während ihrer Zeit auf der Kinderstation so gut zusammen gearbeitet hatte. Sie hielt ein Klemmbrett in der Hand und starrte auf die Zahlenkolonnen.

»Die Entzündungsparameter sind ein bisschen erhöht. Aber sonst ist alles unauffällig.«

»Ich verstehe das nicht«, seufzte Jenny und beugte sich über Fee. »Die einzigen Anhaltspunkt, die wir haben, sind diese Schleimhautmanifestationen in Form von Erosionen der Mundschleimhaut.«

»Diese blutige Kruste an der Lippe ist neu«, machte Mario Cornelius seine Chefin aufmerksam. Auf ihre Bitte hin war auch er an Fees Krankenlager geeilt. »Haben wir schon die Ergebnisse des Abstrichs?«

»Noch nicht«, musste Carina zu ihrem Bedauern einräumen.

Sie hatte eine Schwäche für den gutaussehenden Kinderarzt, die durchaus auf Gegenliebe stieß. Doch an diesem schlimmen Tag stand weder Carina noch Mario der Sinn nach einem Flirt.

Einen Moment lang stand Jenny schweigend da und betrachtete Fees leichenblasses Gesicht. Nur ihre Wangen zeigten eine ungesunde Röte und glühten vor Fieber. Mit geschlossenen Augen lag die Ärztin im Bett, ihr Atem war unregelmäßig, flach und stoßend.

»Ich weiß nicht … Es ist nicht meine Art, mich allein auf Gefühle zu stützen. Aber irgendwas stimmt hier nicht«, traf Jenny schließlich schweren Herzens eine Entscheidung. »Mir wäre wohler, wenn wir Felicitas auf die Intensivstation bringen. Wenn sich ihr Gesundheitszustand weiter so dramatisch verschlechtert, müssen wir sie beatmen.«

Diese Einschätzung teilte auch Mario Cornelius, und er übernahm es, alle nötigen Maßnahmen zu ergreifen, dass seine Schwester so schnell wie möglich verlegt werden konnte. Jenny hingegen stand eine andere, schwere Aufgabe bevor. Sie musste ihren Freund Daniel über den besorgniserregenden Zustand seiner Frau informieren. Das war umso schlimmer, als sie keine Ahnung hatte, mit welchen Mitteln sie die Gefahr für Fees Leben abwenden sollte.

*

Inzwischen hatte auch der Rettungswagen mit Sebastian Hühn die Notaufnahme erreicht. Ricarda lief neben der Liege her, die Dr. Weigand in Empfang nahm.

»Ist er wirklich vom Dach gefallen?«, erkundigte er sich bei dem Sanitäter, der bereit stand, um die erste Diagnose weiterzugeben.

»Na, wie ein Schreibtischtäter sieht er ja nicht gerade aus, oder?«, witzelte der junge Mann mit einem Blick auf die Handwerkerkleidung, die Sebastian trug.

Während sich Matthias Weigand Notizen machte, musste er lächeln.

»Stimmt«, räumte er mit einem schnellen Blick auf seinen immer noch ohnmächtigen Patienten ein. »Haben Sie schon eine erste Diagnose?«

»Das kann alles sein«, erwiderte der Ersthelfer. »Nackenwirbel, Lendenwirbel, Becken«, zählte er die Art der Verletzungen auf, die typisch waren bei einem Sturz aus mehreren Metern Höhe. »Ich persönlich tippe ja auf Becken- oder Wirbelfraktur.«

Dr. Weigand hatte aufmerksam zugehört und nickte.

»Wir müssen sofort röntgen und ein CT machen«, wandte er sich an Schwester Nicole, die neben ihm stand und auf Anweisungen wartete. »Sein Kreislauf ist instabil. Haben wir die Blutgruppe?«, fragte er den Kollegen, als Sebastian leise stöhnte.

Sofort gehörte ihm alle Aufmerksamkeit, und der Internist beugte sich über den Dachdecker.

»Herr Hühn, können Sie mich hören?«

»Ricky?«, krächzte Sebastian und öffnete die Augen. Er blinzelte eine paar Mal, ehe sein Blick über die Menschen irrte, die sich über ihn beugten. »Wo … wo bin ich? Wo ist Ricky?«

Als Ricarda ihren Namen hörte, wäre sie um ein Haar in Tränen ausgebrochen. Um die Arbeit der Ärzte nicht zu stören, hatte sie sich bisher dezent im Hintergrund gehalten. Doch jetzt gab es kein Halten mehr. Sie drängte sich an Dr. Weigand vorbei an die Liege und beugte sich über Sebastian.

»Ich bin hier, Basti«, raunte sie ihm mit zitternder Stimme zu. Eine Träne tropfte herab und zerplatzte auf seiner Hand, die sie zwischen die ihren genommen hatte. »Mach dir keine Sorgen. Ich bleibe bei dir, bis du wieder gesund bist.«

An dieser Stelle war Matthias Weigands Geduld erschöpft. Sanft aber bestimmt nahm er Ricarda an den Schultern und zog sie von der Liege weg.

»Tut mir leid, junge Frau. Das ist nicht möglich. Wir werden Ihren Mann jetzt röntgen und danach sehr wahrscheinlich sofort operieren.«

Einen Moment lang war Ricarda sprachlos. Dann holte sie tief Luft.

»Erstens ist er nicht mein Mann, sondern mein Freund«, erklärte sie unter Matthias‘ ungläubigem Blick. »Und zweitens haben wir uns erst gestern nach über zehn Jahren wiedergesehen. Ich habe extra Urlaub genommen und bin aus London hierher gekommen, um Zeit mit Sebastian zu verbringen. Deshalb …«

Ihre Worte gingen ins Leere. Kopfschüttelnd hatte sich Dr. Weigand abgewandt und nickte Schwester Nicole zu zum Zeichen, dass sie den Dachdecker auf schnellstem Weg in die Radiologie bringen sollten.

Wie vom Donner gerührt stand Ricarda da und sah dem kleinen Tross nach, als sie fühlte, wie sich eine Hand beschwichtigend auf ihren Arm legte.

»Aber… aber…«, stammelte sie.

»Kommen Sie. Ich bringe Sie in unseren Aufenthaltsraum. Da können Sie erst einmal Kaffee trinken und zur Ruhe kommen«, erklärte Schwester Lydia freundlich, aber bestimmt. Sie hatte die Szene beobachtet und spontan beschlossen, der verzweifelten jungen Frau beizustehen. »Ich darf Sie leider nicht über die Verletzungen Ihres Freundes informieren. Aber sobald ich weiß, wie es ihm geht, sage ich Ihnen Bescheid«, versprach sie, während sie Ricarda in einen der Aufenthaltsräume führte, die für Angehörige und Patienten gleichermaßen bereit standen. Dort gab es nicht nur Tee und Kaffee, sondern auch eine verlockende, tägliche frische Gebäckauswahl aus der Klinikküche. Doch im Augenblick galt Ricardas einziges Interesse ihrem Freund Sebastian, und ohne länger Widerstand zu leisten, sank sie auf einen Stuhl und fügte sich in ihr Schicksal.

*

Obwohl Dr. Daniel Norden nicht nur als Allgemeinmediziner, sondern auch als Chirurg jahrelange Erfahrung gesammelt hatte und ihm der Anblick schwerkranker Menschen nicht fremd war, war er bis ins Mark erschüttert, als er ans Bett seiner Frau trat.

»Mein Gott, Feelein … meine Liebste … das ist ja schrecklich.« Seine Stimme war heiser.

Zum Glück lag sie allein Bett auf der Intensivstation, sodass Daniel seine Gefühle nicht zurückhalten musste. Er schlug die Hände vors Gesicht und atmete ein paar Mal tief ein und aus. Dann ließ er die Arme langsam sinken.

Fees Anblick war nur schwer zu ertragen. Durch dünne, durchsichtige Plastikschläuche tropfte nicht nur Ringerlösung direkt in ihr Halsvene. Auch andere Medikamente wie Antibiotika und Schmerzmittel wurden auf diese Weise verabreicht, um eine schnellere Wirkung zu erzielen. Der Beatmungsschlauch verdeckte die Mundpartie fast vollkommen, und ihre Brust hob und senkte sich in regelmäßigen Abständen. Durch eine Klammer am Zeigefinger wurde automatisch der Sauerstoffgehalt im Blut kontrolliert. Auch Herzfrequenz und Blutdruckwerte wurden aufgezeichnet. Felicitas hatte die Augen geschlossen.

Daniel schluckte schwer. Er nahm die rechte Hand seiner Frau und beugte sich dicht hinunter an ihr Ohr.

»Wenn du mich hören kannst, dann drück bitte meine Hand, mein Engel«, raunte er ihr zu. Mit angehaltenem Atem wartete er auf eine Reaktion. Doch sie kam nicht. »Bitte, Fee, nur ein kleines Zeichen«, flehte er sie an und starrte wie gebannt auf ihr Gesicht.

Diesmal schien sie seine Stimme gehört zu haben. Daniel meinte, ein schwaches Lächeln zu erkennen, das wie der zarte Flügelschlag eines Schmetterlings über ihr Gesicht zuckte.

»Oh mein Gott, du ahnst nicht, was mir das bedeutet!«

Daniel war so begeistert, dass er die Intensivschwester nicht bemerkte, die auf leisen Sohlen ins Zimmer kam, um die Geräte zu kontrollieren. Sie hatte seine Worte gehört.

»Im Augenblick ist Ihre Frau nicht bei Bewusstsein«, erinnerte sie den Kollegen vorsichtshalber sanft. »Es ist gut, wenn Sie mit ihr sprechen. Aber machen Sie sich bitte keine Sorgen, wenn sie nicht reagiert.« Sie kontrollierte den Tropf, ehe sie sich über die Patientenkarte beugte und die aktuellen Werte in eine Tabelle eintrug.

Daniel rang um Fassung.

»Wie geht es ihr? Wissen Sie schon, was ihr fehlt?«

Die Schwester beendete ihre Arbeit, ehe sie sich aufrichtete und den Arzt mitfühlend ansah.

»Uns fehlen noch die Abstrich-Ergebnisse aus dem Labor«, wusste sie zu berichten. »Das, was wir haben, ist leider nicht sehr aussagekräftig. Die Entzündungsparameter sind leicht erhöht und der Allgemeinzustand Ihrer Frau sehr schlecht. Mehr haben wir leider nicht.« Ratlos zuckte sie mit den Schultern, als sie vom Piepen der Überwachungsgeräte zu einem Patienten ins Nebenzimmer gerufen wurde.

Wieder allein mit Fee, wandte sich Dr. Norden wieder seiner Frau zu.

»Bitte, Fee, streng dich an! Ich weiß, dass du mehr Kraft hast, als es im Augenblick scheint. Du darfst nicht aufgeben! Du musst kämpfen!«, bat er sie flehentlich.

Daniels Stimme zitterte, doch er schämte sich nicht dafür. Er streckte die Hand aus, um liebevoll über Fees heiße Stirn zu streicheln. In diesem Moment bemerkte er die Träne, die sich in ihrem Augenwinkel sammelte. Sie blieb lange in ihren vollen Wimpern hängen, bevor sie auf ihre Wange tropfte und langsam hinunter zum Kinn rollte. Von dort tropfte sie auf das weiße Klinikhemd und hinterließ einen dunklen Fleck. Dieser Anblick zerriss fast Daniels Herz.

»Bitte wein doch nicht, Feelein«, bat er sie heiser und trocknete ihre Wange behutsam mit einem weichen Tuch. »Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um dir zu helfen. Das verspreche ich dir.«

Die Tränen, die danach auf ihr weißes Hemd tropften und es dunkel färbten, stammten nicht von Fee. Es waren Daniels, und er schämte sich nicht dafür. Ein paar Minuten blieb er noch am Bett seiner Frau stehen, streichelte unablässig ihre Hand und sprach leise mit ihr, bis die Schwester ins Zimmer zurückkehrte.

»Ich werde bei Ihrer Frau jetzt Mundpflege machen. Sie wissen ja sicherlich, wie wichtig das mit einem Beatmungsschlauch ist.«

»Hygiene ist das A und O bei der Intensivpflege, um die Besiedelung mit unerwünschten Keimen so gering wie möglich zu halten und weitere Infektionen auszuschließen«, ließ Daniel erkennen, dass er durchaus im Bilde war. Mit einem letzten Blick auf Felicitas holte er tief Luft und lächelte der Schwester freundlich zu. »Ich werde Sie in Ruhe Ihre Arbeit machen lassen. Bitte informieren Sie mich, falls es Neuigkeiten gibt. Egal, welcher Art.«

»Natürlich.« Die Schwester nickte und riss die Verpackung eines Plastikstäbchens auf, an dem ein Stück Schaumstoff befestigt war. Mit einem Becher antiseptischer Lösung trat sie an Fees Bett.

»Nicht erschrecken, Frau Dr. Norden, ich muss Ihnen jetzt die Zähne putzen«, sprach sie mit Fee, als wäre sie wach und ansprechbar. »Das wird ein bisschen unangenehm, aber ich verspreche Ihnen, besonders vorsichtig zu sein.«

Einen Moment blieb Daniel noch stehen und sah der fürsorglichen Schwester bei ihrer Arbeit zu. Nach einer Weile riss er sich aber von ihrem Anblick los und machte sich auf den Weg zu Jenny. Vielleicht hatte sie inzwischen mehr Informationen darüber, was Fee fehlte. Er konnte es nur hoffen.

*

Nachdem Dr. Norden die Notaufnahme verlassen hatte, zwang er seine Gedanken mit aller Macht zurück zu seiner Arbeit. Nur so konnte er die quälende Ungewissheit ertragen. Gleich nach Fee galt seine große Sorge dem unglücklichen Dachdecker, und er machte einen Abstecher in die Notaufnahme, um dort Neuigkeiten zu erfahren.

»Ach, Daniel, du kommst mir gerade recht«, begrüßte ihn Dr. Weigand, der am Computer saß und die Bilder aus der Radiologie betrachtete. »Ich hab dir ja viel zugetraut. Aber dass du neuerdings selbst dafür sorgst, dass die Klinik an Patienten kommt, und extra Dachdecker bestellst, die von deinem Praxis- Dach fallen, geht doch ein bisschen zu weit«, scherzte er, um den geschätzten Kollegen wenigstens ein bisschen aufzuheitern. »Findest du nicht?«

Ihm zuliebe lächelte Daniel matt.

»Ich habe keine Kosten und Mühen gescheut.« Den aufmerksamen Blick auf den Bildschirm gerichtet, zog er sich einen Hocker heran. »Sind das die Aufnahmen von Herrn Hühn?«, erkundigte er sich und war augenblicklich hochkonzentriert. »Sieht nach einer Beckenringfraktur mit Ausstrahlung auf die Hüftpfanne aus.«

Matthias Weigand nickte düster.

»Mit der Hüftpfanne kannst du Puzzle spielen«, erklärte er trocken und deutete auf das Trümmerfeld, das sich auf dem Bildschirm aufgetan hatte. »Außerdem ist es möglich, dass der Ischiasnerv geschädigt ist. Wenn der gute Mann Pech hat, kann er gelähmt bleiben. Zumindest teilweise.« Ohne den Blick vom Monitor zu wenden, lehnte er sich seufzend zurück und verschränkte die Arme.

Dr. Norden wusste, dass diese Nachricht so oder so einer Katastrophe gleichkam. Trotzdem gab es gleich zwei Gründe, warum sie ihn Norden besonders erschütterte.

»Und das nur, weil ich Sebastians Freundin im Flugzeug kennengelernt habe. Die beiden haben sich seit zehn Jahren nicht gesehen.« Ungläubig schüttelte er den Kopf. »Ricarda hat mir seine Nummer gegeben. Und dann fällt er ausgerechnet von meinem Dach.«

Statt erschüttert zu sein, musste Dr. Weigand lachen.

»Komisch, warum nur habe ich das Gefühl, dass die Platte einen Sprung hat und ich heute ständig dieselbe Geschichte höre?«, fragte er belustigt.

Sofort erinnerte sich Daniel an Ricardas Mitteilungsbedürfnis und stimmte in das Lachen mit ein.

»Richtig. Ich hätte wissen können, dass du längst im Bilde bist. Apropos Bilder«, kehrte er aber zum eigentlichen Thema seines Besuchs zurück. »Hat Herr Hühn außer der Hüftfraktur irgendwelche inneren Verletzungen?«

Dr. Weigand beugte sich vor und suchte in den Unterlagen, die ihm seine Kollegen überlassen hatten, nach einer Antwort.

»Weder Ultraschall noch IV-Urogramm haben einen Hinweis darauf gegeben. Zum Glück!«, fügte er hinzu.

»Und wie geht es jetzt weiter?«, erkundigte sich Dr. Norden und stand auf.

Es wurde Zeit, Ricarda zu informieren, ehe er Jenny in ihrem Büro aufsuchte.

»Es stehen noch die Ergebnisse des dreidimensionalen CTs aus. Auf jeden Fall machen wir erst einmal eine Drahtextension, die die Bruchstücke bis zur richtigen Operation in Normallage bringt. Danach sehen wir weiter.« Auch Matthias Weigand war aufgestanden und begleitete seinen Kollegen zur Tür. »Ich hoffe übrigens, dass Fee schnell wieder auf den Beinen ist«, brachte er sein Mitgefühl zum Ausdruck. »Ein ungewohnter Anblick, sie so elend im Bett zu sehen. Vor allen Dingen, wenn man bedenkt, was für ein Energiebündel sie normalerweise ist.«

Dem gab es nichts hinzuzufügen und schweren Herzens machte sich Dr. Norden auf den Weg zu Ricarda. Doch der Aufenthaltsraum war leer, und Daniel hatte keine Nerven, sich auf die Suche nach der quirligen Krankenschwester zu machen.

*

Es war ein ungewohnter Anblick, Jenny Behnisch reglos am Schreibtisch vor dem Computer sitzen zu sehen. Normalerweise hetzte sie rastlos von einem Termin zum nächsten. Wenn sie zufällig einmal nicht im Haus unterwegs war oder eine Operation leitete, telefonierte sie oder saß zur Besprechung mit einigen Kollegen am Tisch. Deshalb machte sich ihre Assistentin Andrea Sander allmählich Sorgen und war froh, als Dr. Daniel Norden ins Vorzimmer kam, um sich nach der Chefin zu erkundigen.

»Gut, dass Sie hier sind. Ich habe seit mindestens einer Stunde nichts mehr von ihr gesehen oder gehört.«

»Dann werde ich mal nachsehen, ob unsere gute Jenny am Tisch eingeschlafen ist«, rang sich Daniel einen Scherz ab.

»Das glaube ich kaum bei den Unmengen an Kaffee, die sie bei mir bestellt«, gab Andrea Sander zurück und sah ihm wohlwollend nach.

Sie hatte von der rätselhaften Erkrankung seiner Frau erfahren und bangte und hoffte mit dem gesamten Klinikpersonal um Fees Gesundheit.

Als ihr langjähriger Freund und Kollege nach kurzem Klopfen eintrat, hob Jenny Behnisch nur kurz den Kopf.

»Ach, du bist es, Daniel«, begrüßte sie ihn beiläufig und vertiefte sich sofort wieder in den Artikel, den sie eben studierte. »Ich weiß ja, dass deine Frau etwas ganz Besonderes ist. Das hat sie schon oft unter Beweis gestellt. Dass sie sich aber auch eine ganz besondere Krankheit aussuchen muss …« Sie verstummte, den Blick immer noch fest auf den Bildschirm geheftet.

»Willst du damit sagen, dass ihr immer noch keine Ahnung habt, was ihr fehlt?«, fragte Daniel und rang sichtlich um Fassung. »Es muss doch irgendeinen Anhaltspunkt geben.«

Jenny seufzte und griff nach der Kaffeetasse, die neben ihr am Computer stand.

»Viel ist es nicht. Und das, was wir haben, ist äußerst unspezifisch. Das macht die Sache ja so schwierig.«

Zu nervös, um zu sitzen, ging Daniel um den Schreibtisch herum und sah seiner Freundin über die Schulter.

»Das will schon was heißen, wenn du sogar das Internet zu Rate ziehst«, bemerkte er mit einem Anflug von Ironie.

»Du kennst mich gut!« Jenny zwinkerte ihm zu und blätterte auf die nächste Seite. »Kannst du mir nochmal genau schildern, wie das alles angefangen hat?«, bat sie ihn und bedeutete ihm mit einem Nicken, sich einen Stuhl heranzuziehen. »Kaffee?«

Daniel haderte mit sich. Auch sein Kaffeekonsum war in letzter Zeit sprunghaft angestiegen.

»Vor lauter Kaffeepausen kann ich schon nicht mehr schlafen«, scherzte er gequält und kam Jennys Aufforderung nach und setzte sich.

Sie sah ihn mitfühlend an.

»Dann soll Andrea dir einen Tee bringen«, machte sie einen Vorschlag und hob schon den Hörer, ehe Daniel Gelegenheit hatte zu widersprechen. »Und du musst unbedingt Tatjanas Lavendelherzen versuchen. Oder möchtest du lieber die Zitronen-Häufchen mit Lemon-Curd? Die zergehen auf der Zunge. Ein Gedicht, ich sag es dir!« Selbst die sonst so nüchterne Klinikchefin geriet angesichts von Tatjanas Backkunst ins Schwärmen. Seit einiger Zeit erhielt Jenny das Gebäck für ihr Büro nicht mehr aus der Klinikküche, sondern wurde jeden Morgen von der Bäckerei Bärwald beliefert. »Wenn das so weitergeht, werde ich irgendwann doch noch kugelrund.« Sie warf einen skeptischen Blick auf ihre gertenschlanke Körpermitte. »So viel Stress kann ich gar nicht haben, dass mein Körper diese Kalorienzufuhr ungestraft wegsteckt.«

»Das fürchte ich allerdings auch«, seufzte Daniel und konnte dem Anblick der Lavendelherzen nicht widerstehen. »Wir müssen momentan fast jeden Abend neue Kreationen für Tatjanas Backbuch verkosten. Warum nur erfindet sie keine neue Diät?«

»Damit Fee auch weiterhin einen guten Grund hat, dich zum Sport zu schicken«, zwinkerte Jenny belustigt, ehe sie wieder ernst wurde und sich dem Bildschirm zuwandte. »Also, wie ging das los mit ihrer Krankheit?«

»Lass mich nachdenken!« Mit einem weiteren Keks in der Hand lehnte sich Dr. Norden zurück. Sein nachdenklicher Blick schweifte aus dem Fenster. »Vor ungefähr einer Woche klagte sie zum ersten Mal über Unwohlsein, Kopfschmerzen und Husten. Typische Anzeichen einer beginnenden Grippe. Ich riet ihr, zu Hause zu bleiben und sich auszuruhen. Aber du kennst ja Fee …«

»Ich kenne euch beide«, unterbrach Jenny ihn vielsagend lächelnd und danke Andrea, die ein Tablett mit Teekanne, Tasse und verschiedenen Zuckersorten brachte und sich diskret wieder zurückzog. »Aber ich darf nichts sagen. Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen.« Alle drei verband dieselbe Leidenschaft für den Beruf, und Jenny wusste nur zu gut, dass sie nicht in der Position war, Fee für ihren Eifer zu kritisieren. »Und dann? Wie ging es weiter?«

»Gestern Abend war sie sehr schweigsam und hat nicht viel gegessen.«

»Kein Wunder bei diesem Ausschlag im Mund. Da würde ich auch keinen Bissen hinunter bringen.«

»Und heute früh waren dann ihre Lippen geschwollen. Den weiteren Verlauf kennst du«, beendete Daniel seine Berichterstattung. Es war nicht viel, was er zu erzählen hatte.

»Erinnerst du dich an irgendetwas Ungewöhnliches? Ein neues Medikament, das sie eingenommen hat? Ich bin für jeden Hinweis dankbar …« Jenny Behnisch sah ihren langjährigen Freund hoffnungsvoll an.

Doch zu seinem großen Bedauern konnte Daniel nur den Kopf schütteln.

»Nein, nichts.«

»Gut. Das heißt: Nicht gut. Ich werde auf jeden Fall weiterforschen. Es MUSS einen Hinweis geben.«

»Dein Wort in Gottes Ohr«, seufzte Daniel. Er leerte seine Tasse und wollte schon aufstehen, als Jenny ihn zurückhielt.

»Darf ich dich in einer anderen Angelegenheit um deine Einschätzung bitten?«, fragte sie vorsichtig, und sofort sank Dr. Norden wieder in den Stuhl zurück.

»Wenn es nicht gerade darum geht, in welcher Farbe du dein Wohnzimmer streichen sollst …«, lächelte er.

Ganz positiver Mensch wollte er sich auch in dieser schwierigen Lage nicht unterkriegen lassen.

Jenny dankte es ihm mit einem belustigten Lachen.

»Keine Angst, für Tipps dieser Art sorgt Roman schon«, konnte sie Daniel beruhigen, während sie auf ihrem mit Unterlagen bedeckten Schreibtisch nach einer ganz bestimmten Akte suchte. »Ach, hier haben wir ja die Aufnahmen. Es geht um deinen Dachdeckermeister«, ließ sie durchklingen, dass sich die Geschichte des Unfalls bereits bis in die Chefetage herum gesprochen hatte. Sie schob die CD in den Computer und wartete, bis ein Bild auf dem Monitor erschien. »Die Indikation für eine Operation steht außer Frage. Bis jetzt sind die neurologischen Symptome noch dezent und wir können die Operation ohne Probleme morgen früh ansetzen. Aber ich frage mich, was passiert, wenn wir es nicht schaffen, sein Hüftgelenk zu rekonstruieren …« Ihr besorgter Blick ruhte auf dem Monitor.

»Die Hüfte kann einsteifen. Es ist auch möglich, dass Herr Hühn ein künstliches Hüftgelenk braucht«, machte Daniel keinen Hehl aus den möglicherweise schwerwiegenden Folgen der Verletzung.

Nachdenklich wiegte Jenny den Kopf.

»Ich sehe eher die Gefahr einer bleibenden Lähmung durch die Verletzung des Ischiasnervs«, erklärte sie sehr ernst. »Das würde bedeuten, dass der junge Mann ein Fall für den Rollstuhl wäre.«

Doch auch in diesem Fall wollte Dr. Norden keine voreiligen Schlüsse ziehen.

»Hast du schon die Ergebnisse der neurologischen Untersuchungen? Seinen Reflexstatus? Die Sensomotorik?«, fragte er kritisch.

»Das bekommen wir alles«, antwortete Jenny und warf einen Blick auf die Uhr. »In einer Stunde ist Visite. Hast du Zeit, dir den Patienten gemeinsam mit uns noch einmal genauer anzuschauen?«

Diese Bitte kam Daniel mehr als recht. Auf diese Weise konnte er noch Zeit bei Fee verbringen. Ihre wenn auch verhaltene Reaktion war ihm Beweis genug, dass sie seine Anwesenheit spürte. Sie tat ihr gut, und er wollte alles dafür tun, dass sie sich besser fühlte.

»Wenn du mich darum bittest, dann nehme ich mir die Zeit natürlich«, stimmte er Jennys Bitte zu.

Sie verabschiedete sich mit einem Lächeln von ihm.

»Das ist lieb von dir. Und wer weiß«, sie nickte ihm wohlwollend zu, »vielleicht weiß ich in einer Stunde schon mehr darüber, was Fee fehlen könnte.«

»Du gibst wohl nie auf«, stellte Daniel dankbar lächelnd fest. Er stand schon an der Tür, die Hand auf der Klinke.

»Wir haben ja schon vorhin festgestellt, dass wir aus demselben Holz geschnitzt sind«, erwiderte Jenny Behnisch vielsagend und nickte ihrem Freund aufmunternd zu.

Als Daniel gleich darauf den Weg Richtung Intensivstation einschlug, fühlte er sich seltsam getröstet. Das Wissen darum, dass überall Gleichgesinnte am Werk waren, machte ihm Mut und verlieh ihm wieder neuen Elan, den er so nötig brauchte, um auf jedem Gebiet die Leistungen vollbringen zu können, die er sich zum Wohle seiner Mitmenschen abverlangte.

*

Eine Weile hatte Ricarda Schmied geduldig in dem Aufenthaltsraum gewartet, in den ihn die Schwester geführt hatte.

»Einen ersten Eingriff hat Ihr Freund gut überstanden«, hatte Schwester Lydia ihr unter dem Siegel der Verschwiegenheit verraten. »Jetzt ist er zur Überwachung auf Station. Ich sage es Ihnen, sobald Sie zu ihm können«, versprach sie, ehe sie mit der leeren Thermoskanne verschwand, um frischen Kaffee aus der Klinikküche zu besorgen.

Danach hatte sich Ricarda wieder gesetzt. Doch schnell war ihre Geduld zu Ende gewesen, und sie hatte sich an der Tür postiert, um einen Plan zu schmieden. Ein Pfleger, der mit einem Wagen voll frischer Kittel vorbeikam, hatte sie auf eine Idee gebracht. Als er von einer Kollegin in ein Zimmer gerufen wurde und den Wagen unbeaufsichtigt zurückließ, witterte sie ihre Chance. Sie huschte hinüber, griff blitzschnell nach einem Schwesternkittel und machte sich gleich darauf auf die Suche nach Sebastian. Ihre Berufserfahrung half ihr dabei, sich zu orientieren und schon bald hatte sie gefunden, wonach sie suchte.

»Basti, da bist du ja!« Nur mit Mühe gelang es Ricarda, einen erleichterten Schrei zu unterdrücken, als sie zu ihm ins Zimmer und an sein Bett eilte.

Sebastian, der nach dem ersten Eingriff ans Bett gefesselt vor sich hin gedämmert hatte, riss erschrocken die Augen auf.

»Ricky?«, fragte er krächzend und drehte langsam den Kopf in ihre Richtung. »Wo kommst du denn her? Und was hast du da an?«

Mit einem routinierten Blick hatte Ricarda die Situation erfasst. Die Hüfte in einer Schale gelagert und durch Schläuchen mit Maschinen und Medikamenten-Tropfs verbunden war ihr Freund im Bett zur Reglosigkeit verdammt.

»Nicht so laut, mein Liebster. Ich bin inkognito hier. Erlaubt ist was anderes«, flüsterte sie und schlüpfte ohne viel Federlesen an Sebastians Seite. Sie schmiegte sich an ihn und streichelte behutsam über seine Wange. »Also, wegen mir hättest du kein solches Kunststück vollbringen müssen. Ich hätte mich damit zufrieden gegeben, dir bei der Arbeit zuzuschauen, bis du fertig bist. Dann hätten wir den Abend gemeinsam auf deiner Couch verbracht. Oder auch woanders.« Sie lachte leise und anzüglich. »Na ja, das wird ja in nächster Zeit jetzt nicht mehr funktionieren. Aber mach dir keine Sorgen. Ich steh dir bei, was immer sie mit dir anstellen. Wer weiß, vielleicht darf ich auch bei deiner Pflege helfen. Ich arbeite zwar normalerweise auf der Gefäßchirurgie, aber das sollte ja kein …«

Sebastians Stöhnen ließ Ricarda erschrocken innehalten.

»Oh, je, jetzt schnattere ich schon wieder wie eine dumme Gans. Dabei hast du bestimmt Schmerzen, nicht wahr?«, fragte sie zerknirscht.

Um sie zu beruhigen, schüttelte er den Kopf.

»Schmerzen hab ich überhaupt nicht. Ich bekomm ja auch jede Menge Medikamente«, versicherte er. »Da spür ich gar nichts mehr. Überhaupt werde ich wirklich gut versorgt. Ist `ne tolle Klinik. Vielleicht könntest du hier auch arbeiten«, fügte er hoffnungsvoll hinzu.

»Ich kann ja mal fragen«, erklärte sich Ricarda sofort bereit. Sie beugte sich über Sebastian, um seine unwiderstehlichen Lippen zu küssen, als es klopfte.

Die Tür öffnete sich so schnell, dass sie keine Gelegenheit hatte, aus dem Bett zu springen. So ertappte die Visite das junge Pärchen, und vor Scham glühten Ricardas Wangen in schönstem Rot.

»Was machen Sie denn schon wieder hier?«, fragte Dr. Weigand sichtlich genervt. »Hat Schwester Lydia Ihnen nicht gesagt, dass wir Sie informieren, wenn Sie Ihren Freund besuchen können?«

Jenny Behnisch, die ebenfalls mit von der Partie war, gab dem Kollegen ein Zeichen und übernahm selbst das Wort.

»Wir haben sehr viel Verständnis dafür, dass Patienten und Angehörige einen regen Kontakt brauchen. Aber im Augenblick gibt es gute Gründe, dass …«

»Dass ich hierbleibe«, unterbrach Ricarda sie mit süßer Stimme und strahlendem Lächeln. Sie hatte das Schild an Jennys Kittel entdeckt und sofort ihren Status erkannt. »Ich möchte mich offiziell bei Ihnen als Krankenschwester bewerben. Eigentlich arbeite ich ja an der Londoner Bridge-Klinik auf der Gefäßchirugie. Aber Sebastian und ich haben gerade beschlossen, dass ich zu ihm nach München komme. Gerade in dieser Situation braucht er mich dringend, und ich möchte mich um ihn und auch alle anderen Patienten kümmern. Natürlich nur, wenn Sie einverstanden sind.«

Sichtlich überrumpelt von diesem Wortschwall sah Jenny verdutzt von einem zum anderen.

»Die Patienten, die ich betreut habe, konnten immer besonders schnell entlassen werden«, versuchte Ricarda, ihre Qualitäten als Krankenschwester in einem besonders günstigen Licht darzustellen.

An dieser Stelle konnte sich Dr. Weigand ein Lachen nicht verkneifen.

»Wahrscheinlich sehnten sie sich nach der Ruhe zu Hause«, entfuhr es ihm.

»Matthias!«, tadelte Jenny Behnisch ihren Kollegen umgehend und wandte sich mit einem entschuldigenden Lächeln an Ricarda und Sebastian. »Nichts für ungut, liebe Frau …«

»Schmied.«

» … liebe Frau Schmied. Trotzdem muss ich Sie bitten, das Zimmer zu verlassen, damit wir einige Untersuchungen durchführen können.«

Ricarda schickte Sebastian einen bedauernden Blick, hatte aber ein Einsehen.

»Natürlich.«

»Über Ihre Bewerbung unterhalten wir uns zu gegebener Zeit«, versprach die Klinikchefin noch, als die junge Frau mit gesenktem Kopf an ihr vorbei aus dem Zimmer ging.

Angesichts dieser Neuigkeit huschte ein Lächeln über Ricardas Gesicht. Doch diesmal zog sie es vor zu schweigen und schickte Sebastian eine Kusshand, bevor sie leise die Tür hinter sich zuzog.

*

Um Jennys Mund zuckte ein Lächeln, als sie ans Bett des Dachdeckers trat.

»Wie fühlen Sie sich, Herr Hühn?«, fragte sie freundlich und berührte wie zufällig Sebastians Bein.

»Wenn ich die Operation hinter mir hätte, wäre mir wohler«, gestand er tapfer lächelnd. »Ansonsten geht es mir erstaunlich gut.«

»Spüren Sie etwas in dem Bein?«, erkundigte sich Dr. Norden, den Blick auf Jennys Hand gerichtet, die immer noch auf Sebastians Fuß lag.

Der verwirrte Blick des Dachdeckers verirrte sich ans Bettende.

»Na ja, ein bisschen vielleicht. Aber ich bekomm ja so viele Medikamente. Da ist doch sicher auch ein Schmerzmittel dabei, das die Empfindungen dämpft.«

Die Ärzte tauschten einen kritischen Blick.

»Leider sind die Medikamente nicht für Ihre Schmerzunempfindlichkeit verantwortlich«, war es schließlich Jenny Behnisch selbst, die ihm die unerfreuliche Nachricht überbrachte. Sie hielt nichts davon, ihre Patienten im Unklaren zu lassen. »Durch Ihren Sturz wurden einige wichtige Nerven in Mitleidenschaft gezogen. Sie liegen in scharfkantigen Trümmern, und wir können nicht garantieren, dass wir das wieder hinkriegen.« Jenny liebte ihren Beruf und die Herausforderungen, die er mit sich brachte. Doch solche Botschaften zu überbringen, fiel ihr selbst mit jahrelanger Erfahrung nicht leicht.

Sebastians entsetzte Miene machte ihr das Herz schwer. Trotzdem hätte sie ihm keine anderen Worte als die Wahrheit sagen können.

»Was soll das heißen?«, fragte der Dachdecker mit rauer Stimme.

»Das heißt, dass die Lähmungserscheinungen immer schlimmer werden, je länger wir mit einer Operation warten«, erklärte Frau Dr. Behnisch so verständlich wie möglich. »Auch ein Eingriff kann keine Wunder vollbringen und birgt ein großes Risiko. Aber wenn Sie der Operation zustimmen, können wir den Prozess wenigstens verlangsamen und …«

»Moment mal!« Sebastians Stimme war scharf, als er der Klinikchefin das Wort abschnitt. »Das klingt ja ganz danach, als hätten Sie schon einen Rollstuhl für mich bereit gestellt.«

Nur mit Mühe konnte Jenny ein Seufzen unterdrücken. Sie war Sebastian nicht böse wegen des beißenden Spotts, der in seiner Lage nur verständlich war.

»Nein, das haben wir nicht. Und glauben Sie mir: Am liebsten würde ich Ihnen versprechen, dass alles gut wird«, gestand sie bekümmert. »Leider kann ich das nicht. Ein Risiko bleibt.«

Sebastian verschränkte die Arme vor dem Oberkörper und starrte blicklos ins Leere. Seine dunklen Locken hingen ihm wirr in die Stirn. Doch er kümmerte sich nicht darum.

»Womit soll ich denn in Zukunft mein Geld verdienen? Ich bin Dachdeckermeister. Und was soll aus mir und Ricarda werden? Sie wird ihr Leben kaum mit einem Krüppel verbringen wollen.« Die Bitterkeit in seiner Stimme war nicht zu überhören.

Dennoch fühlte sich Daniel Norden bemüßigt, Einspruch zu erheben.

»Ich verstehe Ihre Verzweiflung. Trotzdem möchte ich aus Respekt gegenüber Menschen mit einer Beeinträchtigung dieses Wort nicht in diesen Wänden hören«, erklärte er freundlich aber bestimmt.

Nur mit Mühe gelang es Sebastian, ein Stöhnen zu unterdrücken.

»Wie Sie wollen.« Sein Blick suchte und fand die Klinikchefin. »Aber eines müssen Sie mir versprechen. Ricarda darf unter keinen Umständen erfahren, wie es um mich steht.«

Dieses Versprechen konnte Jenny Behnisch mit Hinblick auf die ärztliche Schweigepflicht leicht geben.

»Die Entscheidung liegt ganz allein bei Ihnen«, erklärte sie freundlich. »Von uns wird Frau Schmied selbstverständlich kein Wort erfahren«, erklärte sie. »Und jetzt muss ich bitte von Ihnen wissen, ob Sie der Operation zustimmen.«

Der Dachdecker zögerte einen Augenblick. Dann gab er sich einen Ruck und setzte seine Unterschrift unter das Dokument, das ihm eine Schwester hinhielt.

Jenny sah ihm dabei zu. Lieber als das Versprechen zu schweigen hätte sie ihm ein anderes Versprechen gegeben. Da das aber nicht in ihrer Macht lag, blieb ihr nichts anderes übrig als sich zu verabschieden und sich auf den schwierigen Eingriff am nächsten Morgen vorzubereiten. Darüber hinaus war sie bei ihren Recherchen im Internet tatsächlich auf eine heiße Spur gestoßen, die sie unbedingt weiter verfolgen wollte. Ihrem Freund und Kollegen Daniel Norden sagte sie nichts davon. Noch war die Spur zu vage, als dass sie Hoffnungen schüren wollte.

*

»Hast du eigentlich keine Hausaufgaben auf?«, fragte Janni Norden an diesem Nachmittag scheinheilig und strich wie eine Katze hinter der Couch auf und ab, auf der Dési es sich bequem gemacht hatte.

Schnell hatte sich die Familie an Felix‘ provisorische Konstruktion gewöhnt. Glücklicherweise war es trotz des immer wiederkehrenden Regens warm draußen, dass es nicht weiter auffiel, dass der Fensterrahmen statt von einer Scheibe nur von einer dicken Plastikfolie bedeckt war.

»Schon fertig«, antwortete sie beiläufig und steckte ein paar Nüsse in den Mund, die auf dem Couchtisch in einer Schale neben einem Glas Apfelschorle standen.

Zu Jans Leidwesen sah alles danach aus, als ob sich seine Zwillingsschwester für einen längeren Aufenthalt vor dem Fernseher gerüstet hatte.

»Wolltest du nicht was mit Nina unternehmen?«, stellte er eine weitere Frage in der Hoffnung, Dési vom Fernseher wegzulocken.

Vergebens.

»Nö, das Hallenbad ist wegen Sturmschäden geschlossen.« Konzentriert starrte die Schülerin auf den Fernseher. Ein Lifestyle-Magazin für Jugendliche flimmerte über die Mattscheibe, und Janni hörte kurz zu. Im Augenbick drehte sich das Gespräch der beiden Moderatoren um die Haltbarkeit günstiger Möbel. Im Anschluss sollte ein entsprechender Test ausgestrahlt werden.

»Warum schaust du dir diesen Blödsinn überhaupt an? Dein ganzes Zimmer steht voll mit Möbeln, und ich glaube nicht, dass du in nächster Zeit ausziehst«, erklärte er nach einer Weile ungeduldig.

Allmählich war Dési genervt. Sie verdrehte die Augen und griff nach der Fernbedienung, um lauter zu stellen.

»Wenn’s dich nicht interessiert, kannst du ja rausgehen. Ich schau mir das an, weil ich ein bisschen Ablenkung brauch«, fauchte sie wütend. »Immerhin ist es nicht so lustig, dass Mami in der Klinik liegt. Nachdem ich aber sowieso nichts für sie tun kann und auch nicht zu ihr darf, will ich mich einfach ein bisschen ablenken. Ist das so schwer zu kapieren?«

Mit diesem Argument lieferte sie Janni eine Steilvorlage.

»Ach, dann hab ich ja wohl auch ein Recht auf Ablenkung.«

Die Angst um ihre geliebte Mami ließ auch die Nerven der Kinder blank liegen. Die Stimmung im Hause Norden war angespannt, und jedes unbedachte Wort konnte eine Katastrophe auslösen.

»Bitte, du kannst dich gern hinsetzen und mitschauen.« Bereitwillig rutschte Dési ein Stück zur Seite, damit ihr Bruder Platz hatte.

Aber das war nicht das, was Janni wollte.

»Wenn du Ablenkung willst, können wir doch auch was anderes anschauen, oder?«, versuchte er sein Glück. »Im Privatfernsehen läuft so eine coole Dokumentation über einen neuen Skaterpark. Können wir umschalten?«

»Oh nein, auf dein blödes Longboard hab ich echt überhaupt keine Lust«, stöhnte Dési und schüttelte demonstrativ den Kopf. »Wenn du neue Hindernisse brauchst, musst du nur rausgehen. Da liegt jede Menge Baumstämme rum, über die du springen kannst«, machte sie einen Vorschlag, der auf wenig Gegenliebe stieß.

»Was heißt hier blödes Longboard? Immer noch besser als dein spießiges Tanzen«, konterte der junge Mann postwendend.

Damit erwischte er Dési eiskalt. Sie wollte alles sein, nur nicht spießig.

»Spießig? Offenbar ist noch nicht zu dir vorgedrungen, dass Tanzen gut für die Konzentration ist, alle Muskelpartien trainiert und durch die verschiedenen Musikstile auch noch die Allgemeinbildung gefördert wird«, echauffierte sie sich erbost.

Gerade wollte sie zu weiteren Argumenten ausholen, als Lenni ins Wohnzimmer polterte. Die Haushälterin der Familie Norden hatte in der Küche das Abendessen vorbereitet, als sie den geschwisterlichen Streit hörte. Zuerst hatte sie beschlossen, die beiden das Problem allein lösen zu lassen. Durch die Angst um ihre Mutter waren die beiden aber alles andere als vernünftig, und Lenni sah schnell ein, dass an eine einvernehmliche Einigung nicht zu denken war.

»Ach, Kinder, habt ihr was dagegen, wenn ich ein bisschen fernsehe? Ihr schaut doch sowieso nicht. Dann kann ich doch sicher meine geliebte Sprechstunde anschauen?«, nutzte sie die Gunst der Stunde.

Ohne eine Antwort abzuwarten, griff sie nach der Fernbedienung und ließ sich in den gemütlichen Fernsehsessel fallen, der neben der Couch in einer Ecke stand.

Weder Janni noch Dési wagten es, ihrer geliebten Lenni diesen Wunsch abzuschlagen. Während sich die Haushälterin zurücklehnte, schickte Dési ihrem Zwillingsbruder einen funkelnden Blick. Darin lag ein gewisser Triumph.

»Gute Idee. Die Sprechstunde schaue ich mir eigentlich auch ganz gern an. Da werden manchmal ziemlich spannende Fälle behandelt«, erklärte sie mit so demonstrativ freundlicher Stimme, dass Janni ihr hinter Lennis Rücken die Zunge heraus streckte.

»Finde ich auch«, beschloss er dann, sich nicht ins Bockshorn jagen zu lassen, und plumpste auf die Couch neben Dési. Er griff in die Schale mit den Nüssen und nahm eine große Handvoll heraus. Nebenbei leerte er das Glas Apfelschorle in einem Zug. Ehe seine Schwester aber protestieren konnte, wurde sie von Lennis überraschtem Ruf abgelenkt.

»Seht euch das an! Der Mann sieht genauso aus wie eure Mutter«, erklärte die Haushälterin aufgeregt und drückte hektisch auf der Fernbedienung herum, um den Ton lauter zu stellen.

Schlagartig fuhren die Köpfe der Zwillinge herum. Einen Moment lang herrschte Schweigen im Zimmer, und nur die Kommentare des Sprechers waren zu hören.

»Also ich finde, dass Mami schon noch ein bisschen hübscher ist«, bemerkte Janni dann ironisch, und wohl oder übel musste Dési grinsen.

»Natürlich sieht sie ihm nicht ähnlich«, korrigierte sich Lenni schnell und rutschte aufgeregt in ihrem Sessel hin und her. »Aber da, seht doch! Er hat auch diese dicken Lippen. Seid mal still, damit ich hören kann, welche Krankheit er hat.«

»… leidet am seltenen Stevens-Johnson-Syndrom. Die extrem seltene Erkrankung beginnt mit schweren Störungen des Allgemeinbefindens, Fieber und Grippesymptomen«, berichtete der Arzt auf dem Bildschirm über die Erkrankung des Mannes. »Die Schleimhäute sind massiv beteiligt und es bilden sich schmerzhafte Blasen im Mund- und Rachenraum …«

»Genau wie bei eurer Mutter«, erklärte Lenni aufgeregt.

»Pssst!«, ließ die Ermahnung nicht lange auf sich warten. Diesmal kam sie von den Zwillingen, die wie gebannt auf den Bildschirm starrten und die Worte des Arztes verschlangen.

»Da die Patienten zudem unter massiven Hautausschlägen leiden, ist eine Diagnose meist nicht schwierig«, schloss der Arzt seine Ausführungen, ehe er sich direkt an den Patienten wandte und ihm eine Frage stellte. Doch Jan und Dési hatten genug gehört.

»Mami hat keine Ausschläge«, winkte Janni ab und sah Dési verwundert nach.

Sie war von der Couch aufgesprungen und im Begriff, das Zimmer zu verlassen.

»Es gibt immer Ausnahmen! Vielleicht kommen die Flecken ja noch. Los, wir müssen Papi anrufen und ihm den Namen dieser Krankheit sagen. Wenn die Ärzte einen Anhaltspunkt haben, finden sie bestimmt schneller raus, was Mami fehlt.«

»Deine Schwester hat recht«, stellte Lenni fest. Sie schaltete den Fernseher aus und stand ebenfalls auf, um Dési zu folgen.

Auch Janni erhob sich und wollte schon das Wohnzimmer verlassen, als sein Blick auf die Fernbedienung fiel. Schnell steckte er sie in die Hosentasche.

»Vorsorglich«, murmelte er, ehe er schnell Désis aufgeregter Stimme folgte, die bereits mit Daniel telefonierte und ihm von der bemerkenswerten Entdeckung erzählte.

*

Als die Ärzte zu Sebastian Hühn ins Zimmer gekommen waren, hatte Ricarda die Gunst der Stunde genutzt und sich einen Kaffee in der Caféteria der Klinik gekauft. Essen konnte sie nichts. Aber das heiße Getränk weckte ihre Lebensgeister, sodass sie eine halbe Stunde später sichtlich gestärkt zu ihrem Freund zurückkehrte.

»Hey, da bin ich wieder«, begrüßte sie ihn munter und wollte wieder zu ihm ins Bett schlüpfen.

Zu ihrem großen Erstaunen starrte Sebastian demonstrativ aus dem Fenster. Er würdigte sie keines Blickes. Nicht das kleinste Lächeln spielte um seine schön geschwungenen Lippen, die so fantastisch küssen konnten.

»Nicht jetzt!«, wehrte er ab, als sie trotzdem Anstalten machte, sich zu ihm zu kuscheln.

Erschrocken zuckte Ricarda zurück.

»Was ist passiert?« Die Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben.

»Ich werde morgen früh operiert«, erklärte er mit Grabesstimme.

»Aber das wissen wir doch schon.« Erleichtert sank Ricarda auf die Bettkante und griff nach Sebastians Hand. »Hey, falls du Angst vor der Narkose haben solltest … das ist wirklich nicht schlimm. Ich weiß noch gut, wie es mir gegangen ist. Ich bin fast gestorben, als sie bei mir letztes Jahr eine Bauchspiegelung machen mussten. Dafür hab ich auch eine Narkose gebraucht. Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich gezittert hab. Aber dann war auf einmal alles ganz …«

In diesem Moment hielt Sebastian es nicht mehr aus.

»Kannst du bitte endlich mal still sein!«, fuhr er seine Freundin so schroff an, dass ihr augenblicklich das Wort im Hals stecken blieb.

Ricarda war so erschrocken, dass sie von der Bettkante rutschte und mit hängenden Armen vor Sebastians Bett stehen blieb. Wie sie so vor ihm stand, wie ein tieftrauriges kleines Mädchen, tat ihm seine heftige Reaktion schon wieder leid. Denn eigentlich war ihr munteres Plaudern, ihre offensichtliche Lebendigkeit ein Teil dessen, was ihn so sehr an ihr faszinierte. »Es tut mir leid, Ricky«, rang er sich zu einer Entschuldigung durch. Bevor sie sich aber freuen konnte, fuhr er schweren Herzens fort. »Ich habe keine Angst vor der Narkose. Ganz im Gegenteil. Ich habe Angst davor, wieder aufzuwachen und festzustellen, dass ich gelähmt bin.« Jetzt war die Wahrheit heraus, und am liebsten hätte er geweint. Er wagte es nicht, sie anzusehen. Statt dessen starrte er blicklos auf seine Hände, die auf der Bettdecke lagen.

Ricarda biss sich auf die Unterlippe.

»Du hast mir nicht alles gesagt, nicht wahr?«, fragte sie fast schüchtern.

Sebastian räusperte sich umständlich.

»Ich habe es vorhin erst erfahren. Frau Dr. Behnisch meint, dass ich vielleicht gelähmt bleibe.«

»Du hast nichts gespürt, keine Schmerzen … Da dachte ich gleich an so was.« Wie zur Bestätigung nickte die Krankenschwester. »Aber ich wollte dir keine Angst machen.«

Zu ihrer großen Überraschung fuhr Sebastian herum und funkelte sie wütend an.

»Ach, du also auch? Wissen eigentlich alle um mich herum Bescheid, nur ich bin der ahnungslose Volltrottel?«, fragte er bitter. »Dann sag mir nur noch, dass es dir egal ist, dass du mich im Rollstuhl durch die Gegend schieben musst.«

Ricarda zögerte kurz. Schließlich fasste sie sich ein Herz und trat wieder dicht an Sebastians Bett. Sie griff nach seiner Hand und nahm sie zwischen die ihren.

»Aber ich liebe dich doch, Basti«, versicherte sie leise. »Ich bin so froh, dass ich dich wiedergefunden habe. Alles andere ist egal. Das Wichtigste ist doch, dass du lebst.«

Ihre Worten rührten ihn fast zu Tränen. Und doch konnte er nicht über seinen Schatten springen. Der Gedanke daran, vielleicht für den Rest seines Lebens an einen Rollstuhl gefesselt zu sein, war mehr, als er ertragen konnte. Sicher, als Geschäftsführer konnte er den Betrieb auch vom Schreibtisch aus leiten. Aber was war mit seinem Hobby, dem Geocaching? Was mit all den anderen Dingen, die das Leben seiner Ansicht nach erst lebenswert machten?

»Ich liebe dich auch«, erwiderte Sebastian heiser. »Aber wenn ich behindert bleibe, will ich dich nicht an mich binden. Was hätten wir davon? Wir könnten nichts mehr zusammen tun. Noch nicht mal mehr … Liebe machen.« Er presste die Lippen aufeinander und wagte es nicht, ihr ins Gesicht zu sehen. »Du bist noch so jung und hast was anderes verdient. Einen ganzen Mann! Deshalb will ich, dass du jetzt gehst.«

Ricarda hatte genug Berufserfahrung, um um die Verzweiflung Schwerverletzter zu wissen. Und sie tat das, was ihrer Erfahrung nach das einzig Richtige war.

»Vielleicht bin ich jung. Aber ich bin alt genug um zu wissen, was mir an einer Beziehung wichtig ist. Mal abgesehen davon, dass du ja noch gar nicht weißt, wie sehr du eingeschränkt sein wirst. Es gibt Rollstuhlfahrer, die sehr wohl noch in der Lage sind, eine Frau glücklich zu machen. Wie dem auch sei, lasse ich dich so oder so nicht im Stich. Weil du mir als Mensch wichtig bist. Deshalb bleib ich bei dir. So nah, dass du mich spüren kannst.« Während sie sprach, machte sie Anstalten, wieder ins Bett zu klettern.

Aber das war mehr, als Sebastian im Augenblick ertragen konnte.

»Hau ab!«, schrie er aus Leibeskräften. »Warum kapierst du nicht, dass du mich einfach in Ruhe lassen sollst?« Vor Wut vergaß er sogar, dass er verletzt war und wendete sich abrupt ab. Dabei verdrehte er das Bein, sodass er vor Schmerzen aufschrie.

Ricarda wusste sofort, dass etwas Schreckliches passiert war.

»Basti! Um Gottes willen!« Sie zögerte nur den Bruchteil einer Sekunde. Dann rannte sie los, um Hilfe zu holen.

*

Nach dem Besuch bei dem Dachdecker hatte sich Jenny Behnisch unter einem fadenscheinigen Vorwand wieder in ihr Büro zurückgezogen. Aus gutem Grund übte der Computer an diesem Tag eine fast magische Anziehungskraft auf sie aus.

»Ach, da sind Sie ja«, begrüßte Andrea Sander ihre Chefin, als sie grußlos durch das Vorzimmer in ihr Büro stürmen wollte.

Jenny wusste, was dieser Tonfall bedeutete. Sie kehrte an den Schreibtisch ihrer Assistentin zurück und machte keinen Hehl aus ihrem Missfallen.

»Was gibt es? Welche neue Katastrophe haben Sie denn für mich?« Sie wusste, dass Andrea alles von ihr fernhielt, was möglich war.

Unwillkürlich musste Andrea Sander schmunzeln.

»Das kommt darauf an. Wenn ein Kinobesuch mit Ihrem Lebensgefährten einer Katastrophe gleichkommt …« Das Ende des Satzes schwebte im Raum, und Jenny fiel siedend heiß das Versprechen ein, das sie ihrem Lebensgefährten, dem Architekten Roman Kürschner, am Morgen gegeben hatte. Schon seit Wochen bat er sie um ein paar ungestörte Stunden, doch immer war in letzter Minute etwas dazwischen gekommen. Zuletzt hatte der Orkan dafür gesorgt, dass nur der Gedanke an einen freien Abend wie ein Traum erschien. Doch Roman hatte nicht aufgegeben und seine Lebensgefährtin erneut um einen romantischen Abend zu zweit gebeten.

»War das wirklich heute?«, fragte Jenny ihre Assistentin fast verzweifelt und dachte an die Arbeit, die auf sie wartete.

»Roman hat Karten für die 20-Uhr-Vorstellug reserviert«, nickte Andrea Sander zu Jennys Leidwesen. »Ich soll Sie daran erinnern, dass er gegen sieben Uhr hier ist, damit Sie vorher zum Essen gehen können.«

Sofort hob Jenny die rechte Hand und sah auf die schlichte, aber kostbare Weißgolduhr, ein Geschenk von Roman. Von Anfang an hatte er unter ihrer vielen Arbeit leiden müssen und konnte inzwischen ein Lied von der Zuverlässigkeit einer Klinikchefin singen. Daran hatte auch die schöne Uhr nichts ändern können.

»Aber es ist ja schon drei Uhr. Wie soll ich das denn hinkriegen?«

»Effektiv, wie Sie immer arbeiten, habe ich keinerlei Bedenken, dass Sie das mit links schaffen«, machte Andrea ihrer Chefin Mut. Gleichwohl wusste sie, dass jederzeit etwas passieren konnte, das auch die beste Zeitplanung durcheinander bringen konnte.

»Ihr Wort in Gottes Ohr«, seufzte Jenny und wandte sich ab, um sich in ihrem Büro an den Schreibtisch zu setzen.

»Ich bringe Ihnen gleich frischen Kaffee und ein bisschen Obst. Es würde kein gutes Licht auf die Klinik werfen, wenn ausgerechnet die Chefin an Skorbut erkrankt«, rief Andrea ihr nach.

Jenny Behnisch hatte die Bürotür offen stehen lassen und lachte.

»Ohne Sie wäre ich bestimmt schon längst verhungert und verdurstet.«

»Und hätten Ihren Lebensgefährten das letzte Mal vor einem Monat gesehen«, erinnerte Andrea ihre Chefin, während sie sich an der Kaffeemaschine zu schaffen machte.

»Warum nur habe ich mir keinen Arzt gesucht, so wie Daniel und Fee es gemacht haben?«, fragte sich die Klinikchefin halblaut und nicht ganz ernst. »Es macht vieles einfacher, wenn beide in derselben Branche arbeiten.« Sie rief die Seite im Internet auf, mit der sie sich vor der Visite beschäftigt hatte.

»Weil einfacher nicht unbedingt besser ist«, lächelte Andrea vielsagend und servierte schon mal frische Erdbeeren und Trauben.

Nebenan blubberte die Kaffeemaschine, und gleich darauf zog ein aromatischer Duft durch die Zimmer.

Davon bekam Jenny Behnisch schon gar nichts mehr mit. Ihre ganze Aufmerksamkeit gehörte wieder dem Artikel, auf den sie vorhin durch Zufall gestoßen war.

»… entwickeln die Patienten innerhalb weniger Tage Unwohlsein, Kopfschmerzen, Fieber und Husten«, las sie halblaut vor. Ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden, griff sie nach der Tasse und trank einen Schluck. »Das deckt sich ja schon mal mit Fees Symptomen … anschließend treten meist im Gesicht, am Hals und Oberkörper massive Hautausschläge auf …« An dieser Stelle schüttelte Jenny den Kopf. »Das wiederum trifft nicht auf sie zu. Bis auf die Blasen auf der Schleimhaut … Moment mal.« Jennys Augen flogen weiter über den Text. »In bis zu 90 Prozent der Fälle treten gleichzeitig mit den Hautausschlägen schmerzhafte orale Verkrustungen auf … Das ist es!« Vor Aufregung über diese Entdeckung begann ihr Herz, schneller zu schlagen. »Die Krankheitsbilder treten bei einem bis fünf von einer Million Menschen auf. Die Schwere des Krankheitsbildes ist bei Patienten mit Immunschwächen höher …«, las Jenny atemlos weiter. Mit der Kaffeetasse in der Hand hielt sie inne und lehnte sich im Stuhl zurück. Unentwegt starrte sie auf den Monitor. »Das würde auch erklären, warum bei Fee der typische Hautausschlag fehlt.« An dieser Stelle hatte sie zumindest vorerst genug gelesen. Sie stellte die Kaffeetasse zur Seite und wollte sich eben über den Schreibtisch zu ihrem Telefon beugen, als Stimmen aus dem Vorzimmer zu ihr drangen.

»Hallo Frau Sander, sitzt die Chefin immer noch am Computer?«, erkundigte sich Daniel Norden.

Andrea hatte nur Gelegenheit zu nicken, da stürmte er auch schon an ihr vorbei ins Büro.

»Jenny, es gibt einen Hinweis darauf, was Fee fehlen könnte. Hast du schon mal …«

»Stevens-Johnson-Syndrom.« Lächelnd saß die Klinikchefin am Schreibtisch und weidete sich am überraschten Gesichtsausdruck ihres langjährigen Freundes. »Ich habe gerade etwas darüber gelesen und wollte eben veranlassen, dass Fee auf diese Krankheit untersucht wird.« Sie hielt inne und sah Daniel fragend an. »Aber ehrlich gesagt finde ich es unfair, dass du mir mein Erfolgserlebnis nimmst«, erlaubte sie sich einen kurzen Scherz. »Warum bist du mir so oft um eine Nasenlänge voraus?«

»Diesmal habe ich es nicht meinem Talent, sondern dem Zufall zu verdanken«, ging Dr. Norden augenzwinkernd auf ihren scherzhaften Tonfall ein, als das Telefon auf Andrea Sanders Schreibtisch klingelte.

Unwillkürlich horchten sowohl die Chefin als auch ihr Besucher auf.

»Ja, ist in Ordnung. Ich werde Frau Dr. Behnisch sofort informieren.« Damit war das Gespräch auch schon beendet.

»Was gibt es denn, Andrea?« Jenny war aufgestanden und ging an die Tür, die Vorzimmer und Büro voneinander trennte.

»Der Beckenbruch«, seufzte Andrea Sander bedauernd. »Er hat sich verdreht und jetzt ist das Bein völlig taub.«

»Das heißt, dass er sofort in den OP muss.«

»Woher wissen Sie das?«, erkundigte sich Andrea Sander überrascht.

Es war Daniel, der die Antwort übernahm.

»Wir sollten uns besser daran gewöhnen, dass Jenny Fähigkeiten hat, von denen sie uns bisher nichts erzählt hat«, erklärte er augenzwinkernd, ehe er sich an seine Freundin wandte. »Du bist mir doch nicht böse, wenn ich …«

»Kümmere du dich um Fee und darum, dass unser Verdacht schnellstmöglich bestätigt wird«, wusste Jenny Behnisch auch diesmal, was er sagen wollte. »Wenn sie wirklich dieses Syndrom hat, können wir noch lange keine Entwarnung geben. Damit ist nicht zu spaßen.«

Daniel, der nach dem Telefonat mit seiner Tochter sofort zu Jenny geeilt war, erschrak. Das hatte er nicht gewusst.

»Wie meinst du das?«, fragte er atemlos.

Die Klinikchefin haderte kurz mit sich. Doch es war nicht ihre Art, jemandem etwas zu verschweigen.

»Falls wir es wirklich mit diesem Syndrom zu tun haben, besteht ein hohes Risiko für Infektionen, Multiorganversagen und Tod.«

»Welche Therapie-Möglichkeiten stehen zur Verfügung?«

»Es gibt zwei Standards, zwischen denen wir uns entscheiden müssen. Entweder behandelnd wir mit Kortison oder mit Blutplasma. Dummerweise gibt es keinen goldenen Weg.« Es war ihr anzusehen, dass sie ihrem Freund lieber eine andere Nachricht überbracht hätte.

Doch Daniel wollte sich in diesem Augenblick nicht mehr Sorgen machen als unbedingt nötig.

»Wir müssen herausfinden, was ihr fehlt«, beschloss er. »Dann sehen wir weiter. Bis später!«

Er hob die Hand zum Gruß, ehe er auf dem schnellsten Weg zu den Kollegen eilte, um alles für eine schnelle Diagnosestellung in die Wege zu leiten. Und auch Jenny war schon wieder unterwegs. Die ungewöhnliche Ruhephase am Schreibtisch war vorbei, und alles ging wieder seinen gewohnten Gang.

*

Mit Panik im Blick hatte Ricarda Schmied mit ansehen müssen, wie ihr Freund von zwei Schwestern eilig aus dem Zimmer gebracht wurde.

»Jetzt bleibt Ihnen wirklich nichts anderes übrig als zu warten«, hatte Schwester Lydia noch gesagt, ehe sie mit der Kollegin verschwunden war.

Sie wusste nicht, wie lange sie noch im Zimmer geblieben war und auf den leeren Fleck gestarrt hatte, auf dem vor kurzem noch Sebastians Bett gestanden hatte. Doch schließlich hielt sie die Leere um und in sich nicht mehr aus und machte sich mit hängenden Schultern auf den Weg in die Caféteria. Dort angekommen besorgte sie sich eine Cola und ließ sich auf einen Stuhl an einem der zahlreichen freien Tische fallen.

Um diese Uhrzeit war der gemütliche Raum nur spärlich besucht. Hier und da saßen zwei Ärzte oder Schwestern zusammen, und ein paar Besucher bevölkerten zwei Tische. Ansonsten war es ruhig. Deprimiert nippte Ricarda an ihrem Erfrischungsgetränk. Nie zuvor in ihrem Leben hatte sie sich so von aller Welt verlassen und verloren gefühlt.

»Alles ist ganz anders gelaufen, als ich es mir vor ein paar Tagen noch ausgemalt hab«, murmelte sie und merkte, wie sich der Knoten in ihrem Hals auflöste und den Weg frei machte für eine Flut von Tränen. »Es hat doch alles so gut angefangen. Und jetzt hab ich alles kaputt gemacht«, schluchzte sie verzweifelt auf.

»Was haben Sie kaputt gemacht?«

In ihr Schluchzen hinein hörte Ricarda eine tröstliche, angenehme Stimme. Sie spürte, wie sich eine Hand auf ihre Schulter legte, und blickte auf. Ihr Blick war verschwommen. Trotzdem erkannte sie Dr. Daniel Norden sofort.

»Ist hier noch frei? Darf ich mich zu Ihnen setzen?«, fragte er. Er war so lange bei seiner Frau geblieben, bis die Kollegen sie zu den Untersuchungen abgeholt hatten, die für die neue Diagnosestellung nötig geworden waren. Die Wartezeit, bis die ersten Ergebnisse da waren, wollte Daniel nicht in quälender Ungewissheit alleine, verbringen und hatte daher beschlossen, in die Caféteria zu gehen. Dort hatte er Ricarda entdeckt und keinen Moment gezögert.

»Sie wollen sich zu mir setzen?«, fragte sie ungläubig und putzte sich die Nase mit dem Taschentuch, das er ihr gereicht hatte. »Und das, obwohl ich mit meinem Gerede allen auf die Nerven gehe?«

»Ich für meinen Teil finde Ihre Art herzerfrischend«, erklärte Daniel und setzte sich auf den freien Stuhl an ihrem Tisch. »Und ich bin sicher, dass es Sebastian ebenso geht.«

»Das glauben Sie!«, platzte Ricarda traurig heraus, und schon schwammen ihre Augen wieder in Tränen. »Dabei hat er erst vor ein paar Stunden zu mir gesagt, dass er nichts mehr von mir wissen will. Und ich bin schuld an allem.«

»Aber wie kommen Sie denn auf diese Idee?«, fragte Daniel ungläubig. »Warum sollten Sie schuld an seinem Unfall sein?«

»Nicht an dem Unfall. Aber daran, dass er das Bein verdreht hat«, gestand sie schluchzend. »Ich wollte ihn trösten und ihm sagen, dass ich ihn trotzdem liebe, auch wenn er im Rollstuhl landen sollte. Das macht mir doch nichts aus. Hauptsache ist doch, dass er am Leben ist. Aber er wollte mir einfach nicht glauben und hat sich weggedreht. Dabei ist es passiert.« Wieder purzelten die Worte aus ihrem Mund, ohne dass sie etwas daran ändern konnte.

Insgeheim musste Daniel lächeln.

»Aber Sie lieben ihn. Das ist doch die Hauptsache, nicht wahr?«, fragte er, als er aus den Augenwinkeln eine Schwester sah, die geradewegs auf den Tisch zukam.

In der Annahme, sie könnte Neuigkeiten von Fee bringen, schlug sein Herz schneller. Doch es war Schwester Lydia, die auf der Suche nach Ricarda war.

»Diesmal haben Sie sich ja an die Anweisungen gehalten«, stellte sie zufrieden fest, als sie an den Tisch trat. Das Lächeln auf ihren Lippen war freundlich.

Ricarda trocknete die Tränen und sah sie mit großen Augen an.

»Haben Sie Neuigkeiten von Sebastian?«, fragte sie sichtlich nervös.

Lydia nickte.

»Die Chefin schickt mich. Ich soll Sie fragen, ob Sie zu Herrn Hühn wollen.«

»Darf ich denn?« Ricarda konnte ihr Glück nicht fassen, und die Schwester schmunzelte.

»Offenbar haben Sie ganz schön Eindruck geschunden bei Frau Dr. Behnisch«, verriet sie augenzwinkernd. »Sonst würde sie das nie und nimmer erlauben.« Sie wandte sich an Daniel Norden. »Erlauben Sie, dass ich Ihnen Ihre charmante Unterhalterin entführe?«

»Ungern, aber es muss wohl sein.«

Ricarda war schon aufgestanden. Einer spontanen Eingebung folgend drehte sie sich noch einmal zu Dr. Norden um und umarmte ihn so fest, dass er kaum mehr Luft bekam.

»Danke. Danke für alles!«, raunte sie ihm ins Ohr. »Ich hab gehört, dass Ihre Frau schwer krank ist.« Zu seiner Erleichterung löste sie die Arme um ihren Hals und er holte tief Luft.

»Das stimmt. Bisher wussten wir nicht, was ihr fehlt. Aber jetzt haben wir Hoffnung, ihr endlich helfen zu können«, erwiderte er und stand ebenfalls auf. Vielleicht gab es ja schon erste Ergebnisse.

»Meine Gedanken sind bei Ihnen«, versprach Ricarda innig. Doch davon wollte Dr. Norden nichts wissen.

»Ihre Gedanken gehören jetzt erst einmal ganz allein Ihrem Freund. Er braucht Sie im Augenblick am nötigsten. Auch wenn er es vielleicht nicht zugeben will.«

Seine Wort trafen die junge Krankenschwester direkt ins Herz, und sie nickte zutiefst gerührt. Dann wurde es Zeit, der sichtlich ungeduldigen Schwester auf die Station zu folgen.

*

»Wie sagt man so schön? Das war auf den letzten Drücker«, erklärte Dr. Jenny Behnisch sichtlich zufrieden, als sie den Operationssaal in Begleitung der Kollegen verließ.

Schwester Elena konnte noch nicht glauben, welches Wunder sie gerade miterlebt hatte.

»Unser Dachdecker wird wirklich wieder laufen können«, schwärmte sie ergriffen.

»Die Rehabilitation wird schon noch eine Weile in Anspruch nehmen, und er wird fleißig üben müssen«, gab Jenny zu bedenken. Sie nahm die Gesichtsmaske, die noch an einem Ohr gebaumelt hatte, ab und warf sie in einen Abfalleimer auf dem Flur. »Aber dann wird er ohne Einschränkung leben können.«

»Ich wage nur zu bezweifeln, dass er je wieder auf Dächer klettern kann«, gab Dr. Weigand zu bedenken. »Gibt’s bei Dachdeckern sowas wie einen Innendienst?«

»Meines Wissens wird Herr Hühn sowieso die Geschäftsleitung übernehmen und nicht mehr selbst in luftigen Höhen herumturnen müssen«, berichtete Jenny Behnisch das, was Ricarda erzählt hatte. »Aber wie auch immer hat sich unser Einsatz gelohnt. Ich danke Ihnen für die gute Arbeit!« In der Ferne hatte sie Schwester Lydia entdeckt, die in Begleitung von Ricarda des Weges kam.

Mit einem zuversichtlichen Lächeln auf den Lippen erwartete sie die beiden vor dem Wachraum, in den Sebastian inzwischen gebracht worden war. Als Ricarda die Klinikchefin erkannte, verfiel sie in Laufschritt.

»Wie geht es Basti?«, rief sie über den Klinikflur und errötete, als Jenny mahnend den Zeigefinger auf die Lippen legte.

»Bitte entschuldigen Sie. Natürlich weiß ich, wie man sich in einer Klinik zu benehmen hat. Aber ich bin so aufgeregt.« Bevor sie wieder in den üblichen Redefluss verfallen konnte, hielt sie inne und sah Jenny erwartungsvoll an.

Die honorierte die offensichtlichen Bemühungen mit einem freundlichen Lächeln.

»Der Eingriff ist ohne Komplikationen verlaufen und Herrn Hühns Prognose sehr gut.«

»Ist das wahr?« Vor Freude hopste Ricarda wie ein kleines Mädchen auf der Stelle auf und ab.

»Das ist es. Und ich habe noch eine Botschaft für sie: Vor der Narkose bat er, Ihnen auszurichten, dass ihm seine Worte leid tun. Und dass er sich freut, wenn sie bei ihm sind, wenn er aufwacht.«

»Oh!« Mehr konnte Ricarda nicht sagen. Und das lag nicht nur an dem Kloß, der wieder in ihrem Hals saß.

Auch Jenny Behnisch hatte nichts mehr zu sagen. In den letzten Tagen hatte es genug Neuigkeiten gegeben. Während sie Ricarda dabei zusah, wie sie in einen grünen Kittel schlüpfte, um ihren Basti zu besuchen, wanderten ihre Gedanken unwillkürlich zu ihrem Lebensgefährten. Wenn sie die Verabredung mit Roman einhalten wollte, sollte auch sie sich langsam auf den Weg machen.

»Für heute ist Feierabend für mich«, verabschiedete sie sich von Ricarda und machte sich auf den Weg in ihr Büro, als ihr noch etwas einfiel. Sie drehte sich noch einmal um. »Ach, Frau Schmied, könnten Sie bitte morgen um neun im Personalbüro sein? Auf dieser Station haben wir immer Bedarf an engagierten, erfahrenen und zuverlässigen Krankenschwestern.«

Ricardas Strahlen war Antwort genug, und Jenny Behnisch wandte sich endgültig ab. Doch sie setzte ihren guten Vorsatz nicht in die Tat um. Bevor sie ruhigen Gewissens ins Kino gehen konnte, musste sie unbedingt wissen, wie es um ihre Freundin Felicictas Norden stand. Mit weit ausgreifenden Schritten lief sie an dem Flur vorbei, der zu ihrem Büro führte, und eilte weiter Richtung Intensivstation.

Dr. Norden Staffel 4 – Arztroman

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