Читать книгу Dr. Norden Staffel 4 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 9
ОглавлениеWo bin ich?« Felicitas Norden lag im Bett der Intensivstation und blinzelte in das helle Licht des noch jungen Morgens. Es dauerte einen Moment, bis sich der Nebelschleier lichtete und sie klar sehen konnte. »Was ist passiert?« Ihr fragender Blick ruhte auf dem Infusionsschlauch, der in der Kanüle endete, die in der Vene an ihrem Handrücken steckte.
In Gedanken versunken hatte Dr. Daniel Norden am Bett seiner Frau gesessen. Als er ihre heisere Stimme hörte, zuckte er zusammen. Fast sofort schossen ihm Tränen in die Augen. Es waren Tränen unermesslicher Erleichterung, unaussprechlichen Glücks. Er sprang vom Stuhl auf und beugte sich über seine Frau.
»Feelein, mein Engel, endlich!«, raunte er ihr zu und küsste sanft ihre Wange.
»Wie … wie meinst du das?« Ihr verwirrter Blick streifte sein Gesicht. Dabei bemerkte sie die Ernährungssonde, die in ihre Nase führte. »Warum das?«
Mühsam versuchte Daniel, sich zu beherrschen. Von Fees Einlieferung in die Klinik vor ein paar Tagen bis zur Diagnosestellung waren viele kostbare Stunden vergangen. Nur durch Zufall hatte sich herausgestellt, dass die Ärztin an einer seltenen lebensbedrohlichen Krankheit mit Namen Steven-Jacobs-Syndrom litt, für die nur zwei Behandlungsformen in Betracht kamen. Daniel hatte sich entscheiden müssen und seitdem bange Stunden am Bett seiner todkranken Frau verbracht. Ihr Erwachen war der Beweis, dass er die richtige Therapie gewählt hatte. Trotzdem rann eine einzelne Träne über seine Wange und tropfte von seinem Kinn auf die Bettdecke.
»Du warst drei Tage lang bewusstlos.« Um sie nicht zu beunruhigen, fuhr er sich schnell mit dem Ärmel über die Augen. »Zwischendurch war es so schlimm, dass du beatmet werden musstest. Der Tubus konnte erst gestern Abend wieder entfernt werden. Deshalb ist deine Stimme so rau.«
Verwunderung machte sich auf Fees Gesicht breit.
»Warum?«, wiederholte sie ihre Frage mit Blick auf die Nahrungssonde.
Die vielen Blasen auf ihrer Mundschleimhaut schmerzten und machten ihr das Sprechen zusätzlich schwer. Doch noch war ihr Geist nicht so klar, dass sie einen Zusammenhang feststellen konnte.
»Du leidest an einer sehr seltenen Krankheit. Sie ist für die Blasen auf deiner Mundschleimhaut verantwortlich. Dabei hast du noch Glück im Unglück gehabt. Bei anderen Kranken breiten sich diese Blasen auf dem ganzen Körper aus.« In Gedanken schickte Daniel einen Dank gen Himmel. Die Bilder, die er im Internet gesehen hatte, hatten ihn frösteln lassen, und schnell konzentrierte er sich wieder auf seine Frau. »Bis diese Blessuren halbwegs verheilt sind, kannst du weder essen noch trinken.« Daniel griff nach ihrer Hand und drückte sie fest. »Aber jetzt wird alles gut«, versprach er feierlich. Seine Stimme war warm und voller Überzeugung, sodass Felicitas mit dieser Erklärung zufrieden war. Sie war ohnehin so erschöpft, dass ihre Augenlider schon wieder flatterten. Ein unsichtbares Gewicht zerrte an ihrem Bewusstsein und wollte sie wieder mit sich in die Tiefe nehmen.
»Ich bin so müde«, murmelte sie, und Daniel lächelte.
»Dann schlaf dich gesund, mein Liebling. Ich fahre inzwischen in die Praxis, um zu sehen, ob Danny Arbeit für mich hat. In der Mittagspause bin ich wieder bei dir.«
Fee hatte die Augen schon wieder geschlossen. Einen Moment lang dachte Daniel, dass sie seine Worte schon nicht mehr gehört hatte. Das Lächeln, das über ihre gesprungenen Lippen huschte, und ihr vages Nicken belehrten ihn aber eines Besseren, und beschwingt verließ er schließlich die Klinik, um seine Worte in die Tat umzusetzen.
»Hier, probier mal das hier!« Die Bäckerin Hilde Bärwald stand in der Backstube, die im hinteren Teil des Gebäudes lag, und hielt ihrem Lehrling Tatjana Bohde ein Rosinenbrötchen hin.
Danny Nordens sehbehinderte Freundin tat, wie ihr geheißen, und nahm ihrer Chefin das Gebäck aus der Hand. Schon beim ersten Bissen seufzte sie zufrieden. Sie schloss genießerisch die Augen und lächelte glücklich. Außen goldbraun und knusprig, war das Brötchen innen saftig und nicht zu süß, mit genügend Rosinen im saftigen Hefeteig, die das Gebäck erst perfekt machten.
»Ist das nicht verrückt? Schon diese kleine Vollkommenheit lässt mich glauben, dass alles wieder gut wird«, schwärmte Tatjana versonnen, während sie das Brötchen unter die Nase hielt und den süß-säuerlichen Duft tief einatmete.
Hilde Bärwald lächelte zufrieden.
»Mal abgesehen davon, dass man niemals die Hoffnung verlieren darf, freut es mich, dass du mit meiner Arbeit zufrieden bist«, bemerkte sie schelmisch und zwinkerte Tatjana zu. Sie wusste, wie sehr die junge Frau mit Dannys Mutter Fee litt und wie sehr sie sich um ihre selbstgewählte Ersatzmama sorgte.
»Mehr als das!«, sagte Tatjana in ihre Gedanken hinein. Obwohl sie nach einer Operation wieder einen Teil ihres Sehvermögens zurück erhalten hatte, reichte ihr Augenlicht nicht aus, um Feinheiten im Gesicht eines anderen Menschen zu erkennen. Doch die jahrlange Blindheit hatten ihre anderen Sinne auf erstaunliche, fast magische Art und Weise geschärft, sodass sie das Zwinkern am Tonfall ihrer Chefin erkannt hatte. »Ihr Gebäck ist einzigartig. Ich hab ja auch schon allerhand ausprobiert. Aber so wie Sie krieg ich das nicht hin. Manchmal habe ich Zweifel, ob ich das jemals lernen werde.«
»Keine Angst. Das ist keine Hexerei!«, versprach Hilde Bärwald. »Obwohl ich zugeben muss, dass ich mein Geheimnis bisher niemandem verraten habe.«
»Sie können mir vertrauen«, versprach Tatjana feierlich, sich der Ehre wohlbewusst, die ihr zuteil wurde.
»Das weiß ich.« Der zufriedene Blick der Bäckerin ruhte auf ihrer Auszubildenden.
Als Studentin hatte Tatjana schon bei ihr gearbeitet, um sich neben dem Studium etwas dazuzuverdienen. Dabei hatte Tatjana ihre Leidenschaft für diesen Beruf entdeckt. Nach erfolgreichem Abschluss hatte sie deshalb Frau Bärwalds Angebot angenommen und eine Ausbildung begonnen. Danach sollte sie das Geschäft mit dem angeschlossenen kleinen Café übernehmen.
»Eigentlich ist es ganz einfach«, beantwortete Hilde Tatjanas Frage ehrlich und wandte sich dem Ofen zu, in dem ein weiteres Blech perfekter Rosinenbrötchen darauf wartete, herausgeholt zu werden. Ein köstlicher Duft durchflutete die Backstube, als sie die Ofentür öffnete und mit den behandschuhten Händen beherzt hineingriff. »In diesen Zeiten haben die Menschen lediglich vergessen, dass es manche Dinge gibt, die sich nicht automatisieren lassen. Die Zubereitung eines guten Teigs gehört zweifelsfrei dazu.«
»Verraten Sie mir Ihr Geheimnis?«, fragte Tatjana, froh, wenigstens für eine Weile von ihren drängenden Sorgen abgelenkt zu sein.
Während Hilde Bärwald die Rosinenbrötchen zum Auskühlen auf einem Gitter verteilte, lächelte sie verschmitzt.
»Es geht darum, den Hefeteig mit der Hand kneten. Nur so fühlt man den Augenblick, in dem er zum Leben erwacht, wann er bereit ist, aufzugehen und zu wachsen.« Lässig zuckte sie mit den Schultern. »Das ist eigentlich schon das ganze Geheimnis. Fast langweilig einfach, findest du nicht?«
Mit wachsendem Erstaunen hatte Tatjana dieser Erklärung gelauscht.
»Das ist wirklich alles?«, fragte sie ungläubig. »Und ich dachte, Sie benutzen so selten moderne elektrische Geräte, weil Sie Angst davor haben.«
Einen Moment lang stand Hildes Mund offen vor Staunen. Dann brach sie in herzhaftes Lachen aus.
»Ich mag zwar alt sein, aber ängstlich bin ich deshalb noch lange nicht. Sonst hätte ich es damals nicht gewagt, das Geschäft nach dem Tod meines Mannes zu übernehmen und …«, setzte sie zu einer wortreichen Erklärung an, als das Telefon in der Backstube klingelte.
Es handelte sich um einen dieser altmodischen Apparate, die an der Wand hingen. Frau Bärwald blickte zuerst ratlos auf ihre teigverkrusteten Hände und dann hinüber zum Telefon Apparat.
»Ich geh schon.« Wie so oft erahnte Tatjana das Problem mehr, als dass sie es sehen konnte, und versetzte ihre Umwelt mit dieser Sensibilität ein weiteres Mal in grenzenloses Erstaunen.
»Woher weißt du …?«, wollte die Bäckerin fragen, als sich Tatjana auch schon meldete.
»Bäckerei Bärwald, Sie sprechen mit Tatjana, was kann ich für Sie tun?«, hallte ihre stets freundliche Stimme durch die Backstube.
»Jana, gut, dass du dran bist. Ich bin’s!« Es war ihr Freund Danny. Und er war unverkennbar aufgeregt.
Vor Schreck setzte Tatjanas Herzschlag einen Moment lang aus. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass schon etwas Besonderes passieren musste, damit sich ihr Freund derart aus der Ruhe bringen ließ. Natürlich galt ihr erster Gedanke Felicitas.
»Stimmt was nicht mit Fee?«, fragte sie atemlos. »Ist ihr was passiert?«
Zu ihrer großen Erleichterung lachte Danny.
»Na, das nenne ich mal eine freundliche Begrüßung. Aber gut, ich will mal nicht so sein und großzügig über dieses Manko hinwegsehen. Mum ist vorhin aufgewacht«, teilte er die umwerfenden Neuigkeiten bereitwillig mit seiner Freundin.
Von ihrem Arbeitsplatz aus konnte Hilde Bärwald sehen, wie Tatjanas Miene wie ein Geburtstagskuchen erstrahlte.
»O Mann, Danny, warum hast du das nicht gleich gesagt?«, tadelte sie ihren Freund.
»Aber das hab ich doch!«, verteidigte sich der junge Arzt gut gelaunt.
Fees plötzlicher Zusammenbruch und ihre mysteriöse Erkrankung hatten die ganze Familie in tiefe Agonie gestürzt. Schlagartig war alles Lachen, jede Fröhlichkeit aus dem Hause Norden gewichen. Wie ein dunkles Tuch hatte sich die Angst auf die Gemüter aller Familienmitglieder gelegt. Die Nachricht, dass sich Felicitas‘ Zustand endlich besserte, erhellte den düsteren Himmel wie ein Leuchtfeuer. »Bevor Dad in die Praxis gekommen ist, war er in der Klinik«, fuhr Danny schnell fort. »Mum ist kurz aufgewacht und hat ein paar Worte mit ihm gesprochen. Ganz offensichtlich ist sie auf dem Weg der Besserung.«
»O Danny, das ist die schönste Nachricht, die ich seit langem bekommen habe.« Plötzlich wurden Tatjanas Knie weich. Sie lehnte sich gegen die Wand und drückte die heiße Wange gegen die kühle Kachel. »Ich fahre in die Klinik, sobald mir Frau Bärwald erklärt hat, wie ich einen Hefeteig zum Leben erwecke.«
»Klingt eher nach einer Lehrstunde in Hexerei denn nach einer Bäckerlehre«, machte Danny keinen Hehl aus seiner Belustigung. »Früher wärst du für so eine Bemerkung ohne viel Federlesen, auf dem Scheiterhaufen gelandet.«
»Tja, glücklicherweise passiert das heute nur den Rosinenbrötchen«, fand Tatjana zu ihrer alten Schlagfertigkeit zurück und legte nach kurzem Abschied auf.
Als sie an ihren Arbeitsplatz zurückkehrte, war sie wie ausgewechselt.
»Endlich erkenne ich dich wieder!«, nickte Hilde Bärwald zufrieden und warf eine Handvoll Teig so schwungvoll vor Tatjana auf die Arbeitsplatte, dass es klatschte. Eine Mehlwolke wirbelte auf und bedeckte nicht nur Tatjana mit einer feinen Staubschicht.
»Macht es einen Unterschied für meine Arbeit, ob ich fröhlich und gut gelaunt bin oder mich wie ein ausgewrungener Waschlappen fühle?«, fragte sie frech. Sie schüttelte sich wie ein Hund und griff nach dem Teigstück, um es kräftig zu kneten.
Frau Bärwald lachte.
»Das will ich wohl meinen«, gab sie zurück. »Dann fang mal an zu kneten.«
»Eine meiner leichtesten Übungen.« Beherzt griff Tatjana zu und walkte die Teigkugel mit aller Kraft.
Frau Bärwald stand neben ihr und beobachtete sie schweigend. Als die junge Frau innehielt, spürte sie instinktiv, dass sich ihre Lehrerin nur mit Mühe ein Lachen verkneifen konnte.
»Du musst noch lange, lange üben. Setz dich nicht so unter Druck. Das wird schon«, versprach sie, ehe sie sich in ihre Arbeit vertiefte und Tatjana in die hohe Kunst des richtigen Teigknetens einwies.
*
Wie jeden Vormittag saß Janine Merck auch an diesem Tag an ihrem Schreibtisch in der Praxis Dr. Norden und sortierte die Post.
»Sturmschäden höher als erwartet!«, las sie die Schlagzeile vor, die das Titelblatt der Tageszeitung zierte. Das Foto einer zerstörten Häuserzeile untermalte die Worte wirkungsvoll. »Das wundert mich nicht, so schlimm, wie es überall ausgesehen hat.« Zu gut erinnerte sie sich an die Bilder von umgestürzten Bäumen und abgedeckten Hausdächern. Auch die Praxis war nicht ungeschoren davon gekommen, und ein Dachdecker hatte helfen müssen, um die geborstenen Dachpfannen auszutauschen und das Dach wieder abzudichten.
Janines Kollegin Wendy, die das Glas mit den zuckerfreien Bonbons aufgefüllt hatte, zerknüllte die leere Plastikpackung und warf sie in den Müll.
»Es kommen immer noch Leute in die Praxis, die bei dem Sturm verletzt wurden, ihre Häuser oder Wohnungen aber nicht verlassen konnten, um sich behandeln zu lassen«, erinnerte sie sich an die Anrufe des vergangenen Tages. »Eine davon ist übrigens unsere liebe Frau Unterholzner …« Weiter kam sie nicht, denn in diesem Augenblick öffnete sich die Praxistür.
Schnell faltete Janine die Zeitung zusammen und legte sie auf den Stapel zu den anderen Zeitschriften.
»Wenn man vom Teufel spricht«, raunte sie Wendy noch zu. Dann setzte sie ein freundliches Lächeln auf, um die berüchtigte Patientin zu begrüßen. »Da sind Sie ja schon, Frau Unterholzner!«
»Wo sollte ich denn sonst sein?«, knurrte Else übellaunig und humpelte zum Tresen. Dabei verzog sie demonstrativ das sorgfältig geschminkte Gesicht. »Mit diesem Klumpfuß kann ich ja schlecht über einen Laufsteg flanieren.«
Janine schickte ihrer Kollegin einen schnellen Blick, der Bände sprach. Gleichzeitig stand sie auf.
»Keine Angst. Einer unserer Ärzte wird sich Ihren Fuß so schnell wie möglich ansehen. Mit Sicherheit sind Sie bald wieder einsatzfähig.« Aus einer von Elses stolzen Erzählungen wusste die ehemalige Krankenschwester von der späten Modelkarriere der Seniorin.
Sie posierte für Kataloge und Modemagazine und lief hin und wieder bei speziellen Modeschauen für ältere, modebewusste Herrschaften. Leider schien ihr der Erfolg zu Kopf gestiegen zu sein, und sie hatte den beiden Assistentinnen mit ihren speziellen Wünschen und ihrer unfreundlichen, überheblichen Art das Leben schon das eine oder andere Mal schwer gemacht.
Im Augenblick war Elses Miene allerdings so verkniffen, dass sie weit entfernt von der gut aussehenden Mittsechzigerin war, die ihre Bewunderer aus den Heften und Katalogen anlächelte.
»Ihr Wort in Gottes Ohr. Nächsten Monat hab ich einen großen Auftrag. Den kann ich unmöglich absagen«, schimpfte sie schlecht gelaunt weiter, während Janine ihr den Arm reichte und sie auf dem Weg ins Wartezimmer stützte. »Die Silver Ager sind eine nicht zu unterschätzende Wirtschaftsmacht. Anders als die Generationen vor ihnen stehen sie noch mitten im Leben und interessieren sich …« Mitten im Satz hielt sie inne und schnappte hörbar nach Luft.
Seite an Seite mit Janine stand Else Unterholzner an der Tür zum Wartezimmer und starrte ungläubig auf die Patientin, die es sich dort bereits neben anderen bequem gemacht hatte und darauf wartete, aufgerufen zu werden. Dietlinde May war in ein Magazin vertieft gewesen, das sie aber schlagartig sinken ließ, als sie die wohlbekannte Stimme vernahm. Und auch die anderen Wartenden hoben neugierig die Köpfe.
Janine ahnte nicht, warum Else stehen geblieben war. Sie sah sie auffordernd an.
»Bitte nehmen Sie Platz. Es dauert auch nicht lange.«
»Kommt überhaupt nicht in Frage!« Schrill klang Frau Unterholzners Stimme über den Flur. Sie sah aus, als wollte sie Dietlinde May mit Blicken erdolchen. »Solange die da sitzt, setze ich keinen Fuß in dieses Zimmer.«
»Aber Frau Unterholzner …« Weiter kam Janine nicht.
»Na, momentan hab ich ja wirklich eine Glückssträhne!«, schnaufte Dietlinde May in diesem Augenblick. »Zuerst diese unerträglichen Schmerzen, dazu die Sturmschäden und dann das hier.« Ihre Augen schossen wütende Pfeile in Elses Richtung.
Verwundert blickte Janine von einer zur anderen.
»Sie kennen sich?« Diese Tatsache überraschte sie dann doch.
»Soll das ein Witz sein?« Else sah aus wie ein trotziges Kind, als sie sich zu der Assistentin umdrehte. »Schmeißen Sie diese Schnepfe sofort raus! Ich bin Privatpatientin. Ich habe einen Anspruch auf ein separates Wartezimmer!«, verlangte sie so energisch, dass es selbst der erfahrenen Janine kurz die Sprache verschlug.
Sie atmete tief durch.
»Tut mir leid, aber in dieser Praxis machen wir keine Unterschiede«, erklärte sie dann so beherrscht wie möglich. »Jeder Patient bekommt bei uns die gleiche, erstklassige Behandlung. Woher kennen Sie sich überhaupt?«, fragte sie, um von diesem heiklen Thema abzulenken.
Doch das schien genau die falsche Frage gewesen zu sein.
»Wir sind Nachbarinnen«, erwiderte Else Unterholzner mit düsterem Blick auf ihre Kontrahentin. »Dieses Walross da drüben ist eine Schande für die ganze Straße. Asozial! Ein anderes Adjektiv fällt mir dazu nicht ein.« Um ihre harten Worte noch zu unterstreichen, verschränkte sie demonstrativ die Arme vor dem Oberkörper und warf den braun gefärbten Pagenkopf in den Nacken.
Aber auch Dietlinde war nicht auf den Mund gefallen.
»Und das da drüben ist die größte Intrigantin und Unruhestifterin der ganzen Stadt. Und geizig ist sie auch noch. Können Sie sich vorstellen, dass ich diese eitle Gans seit über dreißig Jahren ertragen muss?«, wandte sie sich an den Nachbarn zu ihrer Linken.
Der setzte eine mitleidige Miene auf und suchte nach einem passenden Kommentar, als Danny Norden in der Tür zum Wartezimmer auftauchte. Das Gezeter war in der ganzen Praxis zu hören, und er versuchte, den Grund dafür herauszufinden.
»Ich muss doch sehr bitten, meine Damen!« Als er die beiden Streithennen musterte, konnte er sich nur mit Mühe ein Grinsen verkneifen.
Doch weder Else noch Dietlinde wollten sich dreinreden lassen.
»Es tut mir ja leid, wenn ich das sagen muss, aber was wissen Sie schon vom Leben?«, ließ sich Else Unterholzner zu einem abfälligen Kommentar herab. »Wenn Sie wenigstens inzwischen promoviert hätten, wären Sie ja durchaus glaubwürdig. Aber so …« Das Ende des Satzes schwebte in der Luft, und Danny biss sich auf die Lippe.
Obwohl die meisten Patienten mehr Wert auf eine gute Behandlung denn auf einen Titel legten, war seine noch ausstehende Doktorarbeit ein immer wiederkehrendes Thema. Mehrfach hatte er sich fest vorgenommen, die Promotion demnächst in Angriff zu nehmen, sie dann aber doch immer wieder verschoben.
»Tut mir leid«, gestand er zähneknirschend.
Die Versuchung war groß, sich zu rechtfertigen, doch es gelang ihm gerade noch, ihr nicht nachzugeben. Das lag nicht zuletzt an Else Unterholzner selbst.
»Wie dem auch sei!«, winkte sie scheinbar großmütig ab und konzentrierte sich wieder auf ihre Erzfeindin Dietlinde. »Wenn Sie mich nicht sofort in ein anderes Zimmer bringen, dann zeige ich dieses Satansweib an. Nötigung, Körperverletzung, Verstoß gegen die Menschenrechte … irgendwas fällt mir schon ein.«
Unwillig verdrehte Ditte, wie sie von ihren Freunden genannt wurde, die Augen.
»Bitte tun Sie ihr den Gefallen. Eine Minute zu viel mit der Madame in einem Zimmer kann lebensgefährlich sein.«
»Meine Damen«, versuchte Danny noch einmal sein Glück. »Es geht doch nur um eine kurze Wartezeit.« Doch auch seine samtweiche Stimme blieb wirkungslos.
»Nur über meine Leiche!«, fauchte Else, und schließlich gab sich Danny seufzend geschlagen.
»Bitte bringen Sie Frau Unterholzner in Behandlungszimmer 2. Wenn ich mit Frau May fertig bin, komme ich zu ihr«, teilte er Janine seinen Entschluss mit.
»Na bitte, es geht doch!«, triumphierte Else.
Sie warf den sorgfältig frisierten Pagenkopf in den Nacken und verzog die in zartem Pastell geschminkten Lippen zu einem süßlichen Lächeln.
Diesen offensichtlichen Sieg ihrer Kontrahentin konnte Dietlinde natürlich nicht auf sich sitzen lassen.
»Vielen Dank für Ihre Entscheidung, Herr Doktor. Damit retten Sie mein Leben.«
Doch Else Unterholzner war es gewohnt, das letzte Wort zu haben.
»Er ist kein Doktor. Hast du das schon wieder vergessen, du dumme Gans?«, zischte sie und rauschte mit großer Geste aus dem Wartezimmer.
Vergnügte Blicke folgten ihr. Zumindest die anderen Patienten waren an diesem Vormittag voll auf ihre Kosten gekommen und konnten ihren Lieben zu Hause Außergewöhnliches berichten.
*
Tatjana Bohde hatte ihr Versprechen wahr gemacht und sich in der Pause auf den Weg in die Klinik gemacht. Fee war wach und freute sich sichtlich über den Besuch. Doch sie hatte noch nicht genug Kraft für ein langes Gespräch, sodass Tatjana munter vor sich hin plauderte und schließlich bei ihrer Leidenschaft landete.
»Das Geheimnis eines perfekt aufgegangenen Teiges liegt darin, Butter und Zucker so lange wie möglich zu schlagen, sodass eine Menge Luft eingearbeitet wird.« Zu ihrem großen Bedauern konnte Tatjana der Mutter ihres Freundes keines ihrer ersten, perfekt gelungenen süßen Teilchen mitbringen.
Die Blasen in Fees Mund schmerzten allein beim Gedanken daran, etwas zu essen. Als Ersatz hatte Tatjana daher einen riesigen Strauß bunter Sommerblumen besorgt, den sie liebevoll in einer Vase arrangierte, während sie von ihren Abenteuern in der Backstube berichtete. »Hilde – ich meine Frau Bärwald – lässt die Küchenmaschine bei dieser Sorte von Teig meistens allein arbeiten und kümmert sich um andere Sachen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was für gute Tipps sie auf Lager hat. Zum Beispiel wickelt sie nasse Tücher um die Kuchenformen, damit der Teig darin besser aufgeht.« Sie hielt in ihrer Arbeit inne, und ihr versonnener Blick wanderte durchs Fenster hinaus in den schönen Garten. Doch sie sah die dicht belaubten, prächtigen Bäume des Parks nicht. All ihre Gedanken waren in der Bäckerei. »Oder wusstest du zum Beispiel, dass man Haselnüsse mit Wasser bespritzen muss, bevor man sie in der Pfanne röstet. Dann platzt die Schale auf und man kann sie ganz leicht schälen.«
Schweigend hatte Felicitas den begeisterten Erzählungen ihrer Schwiegertochter in spe gelauscht. Tatjanas Euphorie war ansteckend, und ein feines Lächeln spielte um Fees Lippen.
»Das klingt toll«, krächzte sie, als die junge Bäckerin eine Sprechpause machte.
Noch immer fiel ihr das Sprechen schwer. Doch sie wäre nicht Arztfrau, Mutter von fünf Kindern und selbst Ärztin und demnächst Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie gewesen, wenn sie sich auch nur den leisesten Anflug von Selbstmitleid erlaubt hätte.
»Ich glaube, mit der Bäckerei hast du die richtige Entscheidung getroffen.« Sie streckte die Hand aus und streichelte über Tatjanas Hand, die auf der Bettdecke lag.
Die junge Frau erwiderte die Zärtlichkeit, ein inniges Lächeln auf den Lippen und in den Augen.
»Das glaube ich auch, Fee. Weißt du, es fängt ja schon beim Geruch an. Ich kann nicht genug bekommen von dem Duft in der Bäckerei. Das Gebäck, die Brote, der Kaffee … der Gedanke daran, dass das alles einmal mir gehören wird, ist fantastisch. Ich muss mir nur noch Gedanken über die Finanzierung machen. Mein Vater hat immer noch nicht geantwortet.«
Fee bemerkte, dass das Strahlen auf Tatjanas Gesicht allmählich erlosch. Doch das lag nicht etwa daran, dass sie sich Sorgen um ihren Vater machte, der in Marokko als Ingenieur arbeitete, während seine Tochter schon vor Jahren nach Deutschland zurückgekehrt war. Der Kontakt war seither spärlich. Manchmal hörten sie wochenlang nichts voneinander. Anfangs hatte Tatjana darunter gelitten. Doch seit sie mit Danny Norden zusammen war und seine Familie gleich mit adoptiert hatte, fehlte ihr nichts mehr zu ihrem Glück.
»Aber glaub mir: all das hätte mir keinen Spaß mehr gemacht, wenn dir was passiert wäre«, gestand sie, und ihre Stimme klang plötzlich wie die eines kleinen Mädchens, das sich verirrt hatte. »Ich meine, ich habe es ja schon immer irgendwie geahnt … aber in den letzten Tagen habe ich es besonders gespürt.« Tatjana drückte Fees Hand in einer spontanen Geste an ihre Wange. »Du bist mir wie eine Mutter geworden. Ohne euch und eure Unterstützung, aber auch eure Kritik hätte ich das alles nicht geschafft. Das Studium, die Lehre, das Geschäft, das ich übernehmen soll … Allein diesen Entschluss zu treffen, hätte ich niemals gewagt. Das wäre viel zu groß für mich gewesen.«
Felicitas wusste, wie außergewöhnlich solche Worte für die tapfere junge Frau waren, die so hart gegen sich selbst war. Doch sie hatte schon immer tiefer geblickt, hatte gewusst, dass Tatjanas burschikose Art reiner Selbstschutz war, um das Mitleid ihrer Umwelt abzuwehren. Sie brauchte kein Mitleid. Das, was sie brauchte, war die Zuversicht und das Vertrauen der Menschen, die sie liebte.
»Du hättest das alles auch ohne uns geschafft«, versicherte Fee zutiefst gerührt. »Aber mit Unterstützung ist es natürlich ein bisschen leichter. Das erfahre ich gerade am eigenen Leib.« Versonnen streichelte Fee die raue Hand der jungen Bäckerin. »Deshalb habe ich dir auch zu danken. Deine Liebe und Zuversicht machen mir Mut, diese tückische Krankheit zu besiegen.«
»Das musst du auch!« Tatjanas Stimme war vehement, fast streng. »Und wenn du wieder gesund bist, backe ich dir eine Willkommens-Torte. Du wirst Augen machen!«
»Das glaube ich dir auf’s Wort«, versicherte Fee und meinte es auch so.
Trotzdem gelang es ihr nicht, ein Gähnen zu unterdrücken. Die Erschöpfung steckte ihr in den Gliedern. Eine Ruhepause war ihr trotzdem nicht vergönnt. In dem Moment, als ihr die Augen zufallen wollten, kam Lernschwester Carina mit einem Auftrag ins Zimmer.
»Sie sind ja noch wach, Frau Dr. Norden!«, stellte sie zufrieden fest. »Das trifft sich gut. Ich soll Sie darauf vorbereiten, dass die Physiotherapeutin gleich zu Ihnen kommt. Es wird Zeit, Ihren Kreislauf wieder in Schwung zu bringen.«
Mit einem gequälten Seufzen drückte sich Fee fest in die Kissen.
»Ich bin so müde!« Doch wenn sie gehofft hatte, ihrem Schicksal damit zu entgehen, so hatte sie sich getäuscht.
»Sie werden sehen: Nach der Therapie schläft es sich gleich doppelt so gut«, versprach Schwester Carina fast feierlich. »In fünf Minuten ist es so weit.« Sie winkte und wirbelte so schnell aus dem Zimmer, wie sie gekommen war.
»Du Arme!« Tatjana beugte sich über Fee und hauchte ihr einen mitfühlenden Kuss auf die Wange. »Aber wie heißt es so schön? Wer rastet, der rostet. Je eher du anfängst zu üben, desto schneller kommst du wieder auf die Beine. Und dann besuche ich zu dich zu Hause und wir beide schmieden bei einem schönen Stück Torte Pläne, wie wir das Café einrichten wollen, wenn es erst mir gehört. Ich hab da so ein paar Ideen und brauche unbedingt deine Meinung dazu.«
Einen kurzen Moment wartete Tatjana auf eine Antwort. Doch das einzige, was sie hörte, waren die regelmäßigen Atemzüge der Ärztin. Allen Ankündigungen zum Trotz war Fee Norden eingeschlafen und würde sich erst wieder wecken lassen, wenn es unbedingt nötig war.
*
Nachdem Danny Norden seine Untersuchung bei Else Unterholzner beendet hatte, schüttelte er bedauernd den Kopf.
»Tut mir leid, Frau Unterholzner. Ich muss Sie zur weiteren Untersuchung in die Klinik schicken.«
»In die Klinik?«, entfuhr es Else. Sie lag auf der Untersuchungsliege und starrte den jungen Arzt an.
Ihrer Miene war anzusehen, wie entsetzt sie über dieses Vorhaben war. »Muss das sein?«
Die Latexhandschuhe schnalzten leise, als Danny sie von den Händen zog. Mit einem gezielten Wurf landeten sie im Abfall.
»Es hat den Anschein, als hätten wir es mit einem komplexen Meniskusriss zu tun. Durch ein MRT kann dieser Verdacht bestätigt, vielleicht aber auch ausgeräumt werden.« Wie sein Vater setzte auch der junge Arzt auf umfassende Aufklärung seiner Patienten. »Aber selbst wenn eine Operation nötig werden sollte, müssen Sie sich keine Sorgen machen. Dieser Eingriff ist heutzutage ein Klacks. Kein Grund zur Aufregung.« Er half Else Unterholzner von der Behandlungsliege und begleitete sie hinüber an seinen Schreibtisch. »Am besten, wir vereinbaren gleich einen Termin in der Orthopädie. Heute ist Freitag. Sie könnten Montag früh in die Klinik gehen.« Er war schon im Begriff, den Telefonhörer zu heben, als Else einen leisen Schrei ausstieß. Verdutzt blickte er auf. »Stimmt was nicht?«
»Ich …ich kann nicht in die Klinik«, stammelte sie und rang ganz offensichtlich um Fassung. »Der Auftrag nächsten Monat … den kann ich unmöglich absagen.« Händeringend suchte sie nach einem Ausweg. »Es muss doch noch eine andere Möglichkeit geben. Meniskus wird doch heutzutage gar nicht mehr operiert«, stellte sie Dannys Kompetenz ohne Umschweife ein weiteres Mal in Frage.
Der junge Arzt lehnte sich zurück und betrachtete seine Patientin aufmerksam. Die nackte Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben und stimmte ihn versöhnlich.
»Bei einer Meniskusverletzung der inneren Zone – und die ist bei einem komplexen Meniskusriss auch betroffen – gibt es keine guten Chancen auf eine Heilung des Schadens«, erklärte er vollkommen ruhig. »Und Sie wollen doch zurück auf den Laufsteg.« Nicht ohne Grund appellierte er an ihre Eitelkeit, und für einen kurzen Moment schien es, als wollte Dannys List aufgehen.
»Sie meinen, dass ich ohne Operation nicht mehr richtig laufen kann? Das wäre eine Katastrophe. Wenn ich nur an die Modenschauen denke …«
»Ich will auf keinen Fall den Teufel an die Wand malen«, erklärte Danny. Ihre Bemerkung wegen seiner ausstehenden Doktorarbeit hatte sich wie ein Feuermahl in sein Gedächtnis eingebrannt, und er wusste, dass er behutsam vorgehen musste. »Falls sich meine Befürchtung jedoch bestätigt, kann ich für nichts garantieren.«
Trotz ihrer Schmerzen saß Else mit elegant übereinander geschlagenen Beinen auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch und dachte nach. Plötzlich glättete sich ihre Miene, und ein fast zufriedener Ausdruck machte sich auf ihrem Gesicht breit.
»Also gut, ich gehe in die Klinik«, beschloss sie und drückte sich vorsichtig vom Stuhl hoch. »Die Ärzte dort sind ja wohl hoffentlich alle promoviert und werden Ihre Diagnose mit Sicherheit widerlegen.« In diesem Moment waren alle Angst und Unsicherheit aus ihren Augen verschwunden, und die elegante Dame wirkte kämpferisch wie eh und je.
Nur mit Mühe konnte Danny Norden ein Seufzen unterdrücken. Es gab Menschen, denen konnte nicht geholfen werden. Auch er stand auf und begleitete sie zur Tür.
»Wie Sie meinen.« Er wusste, dass jedes Argumentieren vergeblich sein würde.
Diese Patientin würde erst an seine Kompetenz glauben, wenn die Kollegen seine Diagnose bestätigten. Als er ihr nachsah, wie sie mit zusammengebissenen Zähnen den Flur hinunter ging, um im Wartezimmer auf das Taxi zu warten, das sie zuerst nach Hause und dann in die Klinik bringen würde, wünschte er sich einen heißen kurzen Augenblick lang, dass sie wirklich krank war. Gleichzeitig schämte er sich dieses Gedankens und nahm sich vor, die Promotion endlich anzupacken. Else Unterholzners Misstrauen war der Tropfen gewesen, der das Fass endgültig zum Überlaufen gebracht hatte.
*
»Ich liebe meine Arbeit ja wirklich. Aber bei den beiden bin ich froh, dass wir sie erst mal los sind«, stöhnte Janine auf, nachdem sich die Praxistür zuerst hinter Dietlinde May – Dr. Norden senior hatte sich um die rüstige Rentnerin gekümmert – und schließlich auch hinter Else Unterholzner geschlossen hatte. »Was haben wir eigentlich verbrochen, dass wir mit solchen Patienten gestraft werden?«, fragte sie und griff nach der Tasse Kaffee, die auf ihrem Schreibtisch stand.
»Ach, komm schon. Sei nicht so hart. Wer weiß, was die beiden erlebt haben, dass sie so verbittert sind«, gab Wendy in so auffallend mildem Tonfall zurück, dass Janine hellhörig wurde. »Außerdem sind ja glücklicherweise nicht alle Patienten so.«
»Wie meinst du das?« Mit der Kaffeetasse in der Hand versetzte Janine ihrem Stuhl einen Schubs, sodass er sich mit Schwung zu Wendy herumdrehte.
Die saß an ihrem Schreibtisch und lächelte fast verträumt auf eine Pralinenschachtel hinab. Eine einzelne gelbe Rose war darauf befestigt. Der forschende Blick ihrer Kollegin ließ sie wieder Haltung annehmen. Entschieden hob sie die Schachtel hoch und hielt sie Janine hin.
»Genau so, wie ich es gesagt habe. Das ist übrigens von Herrn Holtz. Mit den besten Grüßen.«
»Die sind doch bestimmt für dich«, mutmaßte Janine und registrierte amüsiert die brennende Röte, die Wendy in die Wangen stieg.
»Warum sollte er mir allein Pralinen schenken?« Gleichzeitig beugte sich Wendy tief über die Akten, die vor ihr auf dem Schreibtisch lagen.
»Vielleicht weil du ihm gefällst.«
»Unsinn. Der gute Mann ist acht Jahre jünger als ich.«
»Aha, das hast du also schon rausgefunden?« Mit jeder Minute wuchs Janines Belustigung. »Aber ist er nicht verheiratet? Er trägt doch einen Ehering …« Zu ihrem Leidwesen konnte sie die Unterhaltung nicht fortsetzen, da sich in diesem Augenblick die beiden Chefs wie auf ein unsichtbares Zeichen hin zu ihnen gesellten. Der letzte Patient vor der Mittagspause hatte die Praxis verlassen, und es blieb Zeit für ein kurzes Gespräch zwischen Tür und Angel.
»Ah, gut, du hast Frau Unterholzners Besuch also überlebt«, bemerkte Daniel schmunzelnd in Richtung seines Sohnes.
»Mit knapper Not«, grinste Danny. »Wie war es mit Frau May?«
»Ich kann mich nicht beklagen. Zu mir ist sie eigentlich immer sehr nett. Ich wusste gar nicht, dass sie die Krallen derart ausfahren kann.«
»Vielleicht ist sie nur in Kombination mit der schönen Else so eine Giftspritze«, mutmaßte Danny und griff in das Glas mit den zuckerfreien Fruchtbonbons. Nachdenklich wickelte er eines aus und steckte es in den Mund. »Was fehlt Frau May eigentlich?«
»Sie leidet an einem Hallux val …«
»…gus … einem Überbein«, fiel Danny seinem Vater ins Wort.
Daniel lächelte zufrieden. »Bei dieser Verformung wandert der erste Mittelfußknochen nach außen und verbreitert den Fuß. Dies geschieht meist wegen zu enger, zu hoher Schuhe und ist daher vor allen Dingen ein Frauenproblem«, zitierte er wie aus dem Lehrbuch.
»Sieh mal einer an. Mein Sohn ist ein wandelndes Medizin-Lexikon. Besser hätte ich es auch nicht beschreiben können«, schmunzelte Dr. Norden zufrieden. »Frau May leidet schon seit einer ganzen Weile unter dieser Deformation. Bevor die Schmerzen unerträglich werden, habe ich ihr zu einer Operation geraten. Sie macht sich gleich am Montagmorgen auf den Weg in die Klinik.«
Vor Schreck schnappte Danny nach Luft. Dabei verschluckte er das Bonbon und begann furchtbar zu husten. Daniel klopfte ihm den Rücken, und Janine sprang auf und stürzte in die Küche, um ihm ein Glas Wasser zu holen. Er dankte ihr krächzend, während ihm Tränen übers Gesicht liefen.
»Ach, du liebe Zeit!«, stöhnte er, nachdem er sich endlich erholt hatte. »Dann können wir nur für Jenny und Konsorten hoffen, dass die beiden sich dort nicht über den Weg laufen.«
»Frau Unterholzner muss auch operiert werden?« Angesichts dieser Neuigkeit runzelte auch Daniel Norden die Stirn. »Bleibt zu hoffen, dass sie auf verschiedenen Stationen behandelt werden.«
Bedauernd schüttelte Danny den Kopf.
»Wenn meine Diagnose stimmt, dann leidet die schöne Else unter einem komplexen Meniskusriss, also einem Fall für die Orthopädie. Und ich kann nur hoffen, dass die Kollegen derselben Meinung sind.« Er sah sein Glas nachdenklich an, ehe er es in einem einzigen, großen Zug leerte.
Es war Wendy, die Daniels fragenden Blick bemerkte.
»Wegen Dannys fehlender Promotion zweifelt Frau Unterholzner an seiner Kompetenz«, klärte sie ihren Senior-Chef auf.
Die Falten auf Dr. Nordens Stirn wurden noch tiefer.
»Dieses Problem ist ja leider nichts Neues. Allerdings werden wir es auch nicht hier und heute lösen«, seufzte er und sah auf die Uhr. »Ich habe deiner Mutter versprochen, in der Mittagspause wieder vorbei zu kommen. Wenn ich mich nicht langsam beeile, kann ich auch gleich noch Kaffee fürs Nachmittagskränzchen mitbringen.«
»Oh, wenn Sie in die Klinik fahren, könnten Sie gleich diese Briefe mitnehmen«, bat Janine und griff nach den Kuverts, die zwischen Zettelbox und Stifthalter auf ihrem Schreibtisch lehnten und auf den Versand warteten. »Sie sind für die Buchhaltung der Klinik. Dann spar ich mir den Weg zum Briefkasten.« Sie legte den Kopf ein bisschen schief und blinzelte Daniel süß lächelnd an. »Dafür bekommen Sie auch eine Praline von mir.« Sie öffnete Wendys Schachtel und hielt sie Dr. Norden demonstrativ unter die Nase.
Der konnte dem verführerischen Duft nicht widerstehen und steckte eine davon in den Mund.
»Welcher Mann versucht eigentlich schon wieder, Sie am Arbeitsplatz zu verführen?«, fragte er, und Janine lachte belustigt auf.
»Das sollten Sie lieber mal Wendy fragen.«
»Ich hab schon mal gesagt …«, setzte die mit rot glühenden Wangen zu einer Verteidigungsrede an, als Danny plötzlich die Faust mit einem leisen Ruf in die Luft reckte.
»Ich hab’s!«
Alle Anwesenden zuckten erschrocken zusammen und starrten den Juniorchef fragend an.
Daniel Norden erholte sich zuerst von seinem Schreck.
»Was hast du?«, fragte er neugierig.
Mit glänzenden Augen drehte sich Danny zu ihm um.
»Das Thema für meine Promotion«, verkündete er so stolz, als hätte er soeben das Ei des Kolumbus gefunden. »Ich werde über das Stevens-Johnson-Syndrom schreiben. Angesichts der wenigen Forschungsergebnisse wird es höchste Zeit, dass sich mal jemand intensiver damit beschäftigt. Und möglicherweise Menschenleben rettet.«
»Wenn du das vorhast, solltest du damit anfangen, deine Kollegen nicht zu Tode zu erschrecken!«, erinnerte Wendy ihren jungen Chef mit leisem Tadel an ihr immer noch aufgeregt klopfendes Herz.
Daniel hingegen klopfte seinem Sohn anerkennend auf die Schulter.
»Das ist eine ausgezeichnete Idee! Deine Mutter wird stolz auf dich sein.« Dann wurde es wirklich Zeit für ihn. Mit einem Nicken verabschiedete er sich von seinen Mitarbeitern und machte sich endgültig auf den Weg in die Klinik, bevor die Patienten der Nachmittagssprechstunde nach ihm verlangten.
*
»Ach, Danny, bist du in Eile?«, fragte Wendy, nachdem sich Dr. Norden auf den Weg in die Klinik gemacht hatte.
Danny, der eben in sein Sprechzimmer zurückkehren wollte, kam noch einmal an den Tresen zurück.
»Nein, eigentlich nicht. Tatjana hat heute Mittag eh keine Zeit für mich. Sie muss irgendein Rezept ausprobieren, für das sie absolute Ruhe braucht.«
»Das trifft sich hervorragend«, stellte Wendy zufrieden fest und nahm den Hörer in die Hand. »Vor einer halben Stunde hat eine gewisse Frau Körber angerufen und um einen kurzfristigen Termin gebeten. Ich wollte ihr nichts versprechen, bevor ich mich nicht mit dir abgestimmt habe.«
»Zuviel der Ehre!«, grinste Danny gut gelaunt. »Wann kann sie hier sein?«
»Sie hat gesagt, dass sie in zehn Minuten hier sein kann«, erklärte die langjährige Assistentin noch, als sich Marion Körber am anderen Ende der Leitung meldete.
Tatsächlich hatte sich Danny kaum in die schwierige Akte eines Patienten vertieft, als es schon klopfte und Wendy eine fremde Frau hereinbrachte.
»Bitte nehmen Sie Platz, Frau Körber«, bat er sie, nachdem sich die Tür geschlossen und er sie freundlich begrüßt hatte.
Marion Körber kam seiner Aufforderung nach. Dabei musterte sie ihn neugierig.
»Sind Sie Daniel Norden?«, fragte sie, und Danny meinte, einen Hauch von Enttäuschung in ihrem Gesicht zu bemerken.
»Ich bin Daniel Norden junior. Mein Vater Dr. Daniel Norden senior leitet die Praxis«, erklärte er bereitwillig und hoffte darauf, dass die Patientin nicht seinen fehlenden Doktortitel bemängeln würde.
»Ach, so ist das!« Ein erleichtertes Lächeln huschte über Marions Gesicht, und sie entspannte sich ganz offensichtlich. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«
Inzwischen war Danny auf den Stuhl hinter seinem Schreibtisch zurückgekehrt und musterte die aparte Dame aufmerksam. Diese Art der Gesprächseröffnung war reichlich ungewöhnlich.
»Was kann ich für Sie tun, Frau Körber?«
»Ich habe einen Knoten in der Brust entdeckt«, erwiderte Marion ohne Umschweife.
Danny runzelte die Stirn und griff zu Block und Stift, um sich Notizen zu machen. Dabei versuchte er, nicht zu besorgt zu wirken.
»Wann genau war das?«
»Vor ein paar Tagen beim Duschen.«
»Darf ich mir das einmal ansehen?«, fragte er und bat die Patientin hinüber ins Behandlungszimmer.
Nachdem Marion Körber den Oberkörper frei gemacht hatte, tastete er die Brust ab. Eine Ultraschalluntersuchung sollte weiteren Aufschluss geben. Das Ergebnis war nicht dazu angetan, Danny Nordens Sorgen zu zerstreuen. Er bat Marion, sich wieder anzuziehen und ihm dann wieder ins Sprechzimmer an den Schreibtisch zu folgen.
»Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass der Knoten was Schlimmes ist«, bemerkte sie leichthin. »Er ist so klein und tut gar nicht weh.«
Schweren Herzens setzte sich Danny wieder an den Schreibtisch.
»Haben Sie Kinder, Frau Körber?«, erkundigte er sich.
Marion Körber antwortete nicht sofort. Statt dessen musterte sie Danny so eingehend, dass ihm ihr Blick fast unheimlich wurde.
»Frau Körber?«, wiederholte er.
Sie zuckte zusammen, als hätte er sie aus tiefem Schlaf geweckt.
»Ja, ich habe eine Tochter. Klara ist siebzehn.« Als sie an ihr einziges Kind dachte, lächelte Marion Körber innig, und der seltsame Eindruck verflüchtigte sich wieder, wie Danny erleichtert feststellte.
»Haben Sie sie damals gestillt?«, setzte er seine Befragung freundlich fort.
»Ich hab’s versucht. Aber Klara war so klein, als sie geboren wurde. Wann immer ich sie angelegt habe, ist sie eingeschlafen. Deshalb habe ich immer mit der Flasche zugefüttert und nach ein paar Wochen ganz abgestillt. Das hat sich ganz gut getroffen, weil ich sowieso wieder arbeiten gehen wollte und die Kleine bei einer Tagesmutter gelassen habe«, berichtete Marion bereitwillig.
»Was arbeiten Sie denn?«, fragte Danny, obwohl diese Information für die Diagnosestellung nicht von Bedeutung war. Dies war allerdings eines der Dinge, die er von seinem Vater gelernt hatte. Nicht nur die Krankheit zählte, sondern der ganze Mensch. Dementsprechend ausführlich unterhielt er sich stets mit seinen neuen Patienten.
Marion freute sich sichtlich über dieses augenscheinliche Interesse an ihrer Person.
»Ich arbeite für eine Pharmafirma und bin viel unterwegs auf Tagungen, Ärztekongressen und solchen Veranstaltungen.« Sie machte eine kunstvolle Pause und musterte Danny wieder auf diese eigentümliche Art und Weise. »Bei einer dieser Gelegenheiten habe ich übrigens auch Ihren Vater kennengelernt.«
In diesem Moment verstand Danny die fragenden Blicke. Trotzdem war er überrascht. Hin und wieder besuchte Daniel Norden Senior Ärztekongresse und berichtete auf unterhaltsame Art und Weise von den Begebenheiten und Bekanntschaften, die er dort machte. Von einer Marion Körber hatte Danny jedoch noch nichts gehört.
»Sie kennen sich?«, fragte er irritiert nach.
Marion lachte.
»Keine Sorge, das ist lange her.« Diese Bemerkung war nicht dazu angetan, Dannys Verwirrung zu lindern.
Er hatte sämtliche Untersuchungen, die zu diesem frühen Zeitpunkt möglich waren, abgeschlossen und erhob sich, um Frau Körber zur Tür zu bringen.
»Ich werde die Blutproben so schnell wie möglich zur Analyse in die Klinik geben und mir die Ultraschallaufnahmen noch einmal vornehmen«, versprach er. »Außerdem werde ich meinen Vater hinzuziehen. Ich informiere Sie, sobald wir mehr Klarheit haben.«
Sie waren an der Tür angelangt, und Marion reichte Danny die Hand. Dabei sah sie ihm fest in die Augen.
»Sie sind Ihrem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten und scheinen auch sonst einige seiner Talente geerbt zu haben«, sagte sie zum Abschied.
Danny hatte keine Ahnung, was er darauf sagen sollte.
»Vielen Dank. Ich melde mich«, versprach er und schloss gleich darauf die Tür hinter der seltsamen Patientin. Sobald sein Vater aus der Klinik zurück war, würde er ihn nach Marion Körber fragen. Bis es so weit war, konnte sich der junge Arzt wieder in die schwierige Patientenakte vertiefen. Das war nicht so einfach. Frau Körber hatte einen bleibenden Eindruck hinterlassen, und Danny fragte sich, was sie mit seinem Vater verband.
*
Am Nachmittag war überraschend viel Betrieb in der Praxis, sodass Danny erst gegen Abend dazu kam, seinen Vater zu der seltsamen Patientin zu befragen.
»Übrigens war heute eine alte Bekannte von dir hier zur Untersuchung«, bemerkte er wie nebenbei, als sie Seite an Seite am Tresen standen, jeder eine frische Tasse Kaffee vor sich, die Janine – aufmerksam wie immer – in dieser unverhofften Ruhepause sofort serviert hatte.
»Ach, Sie kennen Frau Körber?«, fragte Janine interessiert nach.
Auch ihr war die Patientin aufgefallen, die sich mit auffallend großem Interesse in der Praxis umgesehen und sich nach Dr. Norden erkundigt hatte. Viel Auskunft hatte sie natürlich nicht bekommen. Janine hatte sich auf das Nötigste beschränkt. »Das erklärt natürlich, warum sie so viel wissen wollte.«
Daniel nippte an seinem Kaffee und griff in die Tüte mit der Aufschrift ›Café Bärwald‹. Er zog ein mit Zucker bestreutes Quarkbällchen hervor und biss genüsslich hinein.
»Könnt ihr mir bitte verraten, um wen es sich handelt? Dann kann ich vielleicht auch was dazu sagen«, nuschelte er und leckte sich den Zucker von den Fingerspitzen.
»Sagt dir der Name Marion Körber was?«, fragte Danny und beobachtete seinen Vater ganz genau.
»Marion Körber …Marion Körber«, wiederholte Daniel sinnend und ohne das geringste Anzeichen von Nervosität, wie Danny mit Genugtuung feststellte. »Ach, jetzt erinnere ich mich. Ich hab sie vor Jahren mal auf einem Ärztekongress kennengelernt. Dass sie sich noch an mich erinnert …« Er schüttelte den Kopf und griff erneut in die Tüte mit den Quarkbällchen.
»Offenbar hast du einen bleibenden Eindruck hinterlassen«, konnte sich Danny eine süffisante Bemerkung nicht verkneifen.
»Ich kann mich jedenfalls nicht an sie erinnern.«
»Aber ich mich«, mischte sich Wendy plötzlich in das Gespräch ein. Sie saß an ihrem Schreibtisch und war augenscheinlich in eine Recherche am Computer vertieft gewesen. Dabei hatte sie angestrengt darüber nachgedacht, wo sie den Namen Marion Körber schon einmal gehört hatte.
»Sie hat eine Zeit lang fast täglich hier in der Praxis angerufen und nach Ihnen verlangt«, erinnerte sie sich schlagartig an die unheimliche Anruferin.
Daniel runzelte die Stirn.
»Wirklich? Ich kann mich nicht daran erinnern, nach dem Kongress je wieder Kontakt mit ihr gehabt zu haben.«
»Kein Wunder, das Ganze ist ja auch schon mindestens fünfzehn Jahre her«, winkte Wendy ab. »Und irgendwann haben sich die Anrufe auch gegeben.«
»Warum ist sie denn heute in die Praxis gekommen?«, stellte Daniel Norden die einzige Frage, die in diesem Zusammenhang für ihn von Bedeutung war.
»Sie hat einen Knoten in der Brust.«
Daniel leerte die Tasse in einem letzten großen Zug und stellte sie auf dem Tresen ab. Eine besorgte Falte stand auf seiner Stirn. Auch wenn er sich nicht an diese Frau erinnern konnte, beunruhigte ihn diese Tatsache, wünschte er doch niemandem eine so gravierende Krankheit.
»Eine Zyste?«, hakte er bei seinem Sohn nach. »Oder handelt es sich um solides Gewebe?«
»Wenn du Zeit hast, kannst du ja gleich einen Blick auf die Ultraschallaufnahmen werfen. Meiner Meinung nach sieht es aber nicht gut aus. Ich glaube, ich muss sie in die Klinik schicken.« Danny seufzte bekümmert. »Wenn es so ist … würdest du ihr das dann sagen?«, wollte er seinem Vater Gelegenheit geben, Kontakt mit der ehemaligen Bekannten aufzunehmen.
Doch davon wollte Daniel Norden nichts wissen.
»Wieso ich? Sie ist deine Patientin«, sprach er seinem Sohn sein Vertrauen aus.
»Ich dachte nur, du könntest es ihr besser beibringen. Schließlich kennt ihr euch von früher.«
»Wie oft muss ich eigentlich noch sagen, dass ich diese Frau nicht kenne?«, fragte Daniel Norden. Allmählich wurde er ein wenig ungeduldig. »Sag doch ehrlich, wenn du dich nicht traust«, sagte er seinem Sohn auf den Kopf zu.
»Natürlich traue ich mich.« Selbstbewusst warf Danny Norden den Kopf in den Nacken. »Das kann ich auch ohne Doktortitel.« Noch immer brannte die erlittene Schmach wie Feuer in seiner Seele, und sowohl Wendy und Janine als auch Daniel lächelten verständnisvoll.
»Das wissen wir doch!«, versicherte Janine innig und hielt ihm den Telefonhörer hin, damit er sein Versprechen gleich in die Tat umsetzen und Marion Körber über die notwendigen Schritte informieren konnte.
*
Am Anfang ihrer Beziehung hatten Danny und Tatjana viel Zeit in Tatjanas Studentenbude verbracht. Seit der junge Arzt aber in sein erstes eigenes Reich gezogen war, war die geschmackvoll eingerichtete Drei-Zimmer-Wohnung zum Hauptdomizil des jungen Paares geworden. Aufgeben wollte Tatjana ihr kleines Apartment trotzdem nicht, garantierte es ihr doch ein Mindestmaß an Unabhängigkeit, falls die Beziehung zu Danny schief gehen sollte oder sie einfach ihre Ruhe haben wollte. Manchmal, wie an diesem Abend, machte sie sich auch einen Spaß daraus, ihn zum Essen einzuladen und ihn zu bekochen wie am Anfang ihrer Beziehung. Umso mehr wunderte sie sich daher über den Vorschlag, den er ihr, beeinflusst von den Ereignissen dieses Tages, an diesem Abend beim Abendessen unterbreitete.
»Sag mal, was hältst du davon, wenn du das Apartment aufgibst und ganz zu mir ziehst?«, fragte er und ließ den Rotwein im Glas kreisen. Dabei hielt er den Blick gesenkt, als wagte er es nicht, Tatjana in die Augen zu sehen.
Die hatte eben kunstvoll Spaghetti im Teller aufgedreht. Nun sie ließ die Gabel sinken und sah ihn verdutzt an.
»Ich dachte, wir sind uns einig darüber, dass ich das nicht tun werde.«
»Es ist schon eine Weile her, dass wir darüber gesprochen haben. Die Zeiten ändern sich …«, gab er zu bedenken und trank einen Schluck Wein.
»Und was sollte sich zwischen uns geändert haben, das diesen Schritt nötig macht?«, erkundigte sich Tatjana misstrauisch und schob die Gabel in den Mund. Während sie kaute, ließ sie ihren Freund nicht aus den Augen. Obwohl sie ihn nicht richtig sehen konnte, ahnte sie, dass etwas im Busch war. Etwas, womit er nicht recht herausrücken wollte. »Oder ist mir irgendwas entgangen? Hast du mir womöglich einen Heiratsantrag gemacht und dich per Ehevertrag zur Zahlung einer monatlichen Apanage von 10.000 Euro im Falle einer Scheidung verpflichtet, falls das zwischen uns schief geht?«, fragte sie scherzhaft und wischte sich die vollen, mit Tomatensauce beklecksten Lippen mit der Serviette ab.
Dankbar fing Danny den Ball auf, den sie ihm mit dieser Bemerkung unbewusst zugespielt hatte.
»10.000 sind wahrscheinlich nicht drin. Aber wenn ich meinen Doktor in der Tasche habe, verdiene ich mehr. Wir könnten uns auf … sagen wir mal … ein Zehntel davon einigen«, ging er auf Tatjanas scherzhaften Tonfall ein und grinste sie an.
»Dann besteht ja keine Eile«, winkte die beruhigt ab und griff nach ihrem Weinglas. »Zuerst muss ich mal meine Ausbildung fertig machen. Und dann bist du mit deiner Promotion dran. Oder hast du schon vergessen, was wir besprochen haben?«, erinnerte sie ihn an die Vereinbarung, die sie getroffen hatten.
Um ihre Beziehung nicht zu sehr zu belasten, sollte immer einer für den anderen Zeit haben.
»Natürlich nicht«, widersprach Danny heftiger als nötig und legte das Besteck ihn den halbvollen Teller. Vor Aufregung war ihm der Appetit vergangen. Das Gespräch mit Tatjana entpuppte sich als genauso schwierig, wie er sich das vorgestellt hatte und er musste sich räuspern, bevor er weitersprechen konnte.
»Deshalb dachte ich ja, dass es eine gute Idee ist, wenn du zu mir ziehst. Dann könntest du deine Lehre fertig machen und ich gleichzeitig promovieren. Du müsstest dich nicht mehr um die Bude hier kümmern, nicht mehr aufräumen und putzen. Mal abgesehen von der Fahrerei. Wir wären jeden Abend zusammen, könnten gemeinsam lernen, uns abfragen, gegenseitig bei der Hausarbeit entla …« Weiter kam er nicht.
In diesem Augenblick stellte Tatjana das Weinglas so hart auf den Tisch, dass es klirrte.
»Ich glaub, ich hör nicht recht«, fauchte sie. Ihr schmaler Körper bebte vor unterdrücktem Zorn. »Wann hast du dir das denn ausgedacht, Daniel Norden junior?«
Im diesem Moment begriff der junge Mann, dass er dieses Gespräch völlig falsch angefangen hatte. Doch diese Erkenntnis wurde überlagert von dem Ärger, der auch in ihm zu brodeln begann.
»Hast du schon mal darüber nachgedacht, dass ich irgendwann mal meine Zukunft planen muss?«, schnappte er ärgerlich zurück. Schlagartig sah er wieder die Szene des vergangenen Tages vor sich, fühlte die brennende Scham in sich, als Else Unterholzner ihn vor allen anderen bloß gestellt hatte. Dabei konnte er ihr noch nicht einmal die Schuld in die Schuhe schieben. Schließlich hatte sie recht mit dem, was sie gesagt hatte. Doch davon wusste Tatjana nichts und er war in diesem Moment so wütend, dass er auch nicht daran dachte, es zu tun. »Was ist denn bitteschön ein Arzt ohne Doktortitel? Es wird höchste Zeit, dass ich dieses leidige Thema endlich vom Tisch bekomme«, verteidigte er sich vehement. War es denn zu viel verlangt, dass sie ihn unterstützte?
Um sich zu beruhigen, atmete Tatjana tief ein und aus. Sie hatte den Stuhl zurückgeschoben und die Arme vor dem Oberkörper verschränkt. Ihre sonst so großen, bestechend blauen Augen waren nur noch schmale Schlitze. So erkannte sie Danny kaum mehr. Aber das war auch nicht nötig. Sie wusste genau, welches Gesicht er machte.
»Eigentlich dachte ich ja, dass wir eine gleichwertige Partnerschaft führen, in der wir alle Beschlüsse gemeinsam fassen.« Ihre Stimme war völlig verändert, kühl und reserviert. »Aber offenbar habe ich mich getäuscht. Natürlich kannst du deine Promotion schreiben, wann immer du es für nötig hältst. Dann werde ich aber auch das tun, was ich richtig finde, ohne mich groß mit dir abzustimmen.«
Es war ihr Tonfall, der Danny beunruhigte.
»Tatjana, bitte, das war eine spontane Idee heute«, erklärte er und beugte sich ein Stück über den Tisch. »Sie ist im Gespräch mit meinem Vater entstanden …«
Doch das waren wieder die falschen Worte. Sie verletzten Tatjana nur noch mehr.
»Weißt du, dass ich manchmal den Verdacht habe, dass du mit jedem mehr sprichst als mit mir?«, klagte sie bitter und schob den Stuhl zurück. Sie stand auf und zog ihm den Teller so forsch unter dem Gesicht fort, dass Danny erschrocken zurückzuckte. »Wenn du mich jetzt bitte entschuldigst«, sagte sie noch, bevor sie sich umdrehte und einen großen Schritt in Richtung Küchenzeile machte. Mehr war nicht nötig, um die Teller in die Spüle zu stellen. »Ich habe übernächste Woche Berufsschule und schreibe ein paar wichtige Arbeiten. Dafür muss ich noch eine Menge lernen.«
Es dauerte einen Moment, bis Danny die Bedeutung ihrer Worte erfasste.
»Ist das etwa ein Rausschmiss?« Obwohl er Tatjanas Ärger tief drinnen verstand, schnappte er empört nach Luft. Das hatte sich noch niemand erlaubt!
Tatjana drehte sich zu ihm um und lächelte kühl. Wenn sie sich ärgerte, versteckte sie es perfekt vor ihm.
»Sei nicht albern! Ich habe lediglich gesagt, dass ich noch lernen muss. Das wirst du doch verstehen.« Und ehe er eine Antwort fand, fügte sie hinzu: »Genauso wie ich verstehe, dass du deine Promotion schreiben musst. Deine Eltern sind bestimmt stolz auf dich.« Damit schlängelte sie sich am Tisch vorbei und ging durch das kleine Wohnzimmer hinüber zum Schlafzimmer. Als die Tür ins Schloss fiel, zuckte Danny zusammen. Wutentbrannt sprang er auf und schleuderte die Papierserviette auf den Tisch. Dann rauschte er aus der Wohnung, zutiefst gekränkt in seiner Eitelkeit und verletzt in seiner männlichen Ehre, während Tatjana auf ihrem Bett saß und vor Zorn schnaubte wie ihr Freund.
*
»Wo hast du denn Tatjana heute gelassen?«, erkundigte sich Lenni, als sie Danny am nächsten Morgen die Tür öffnete.
Er wirkte unausgeschlafen und war unrasiert. Und auch die Tüte der Bäckerei, die er ihr in die Hand drückte, sah anders aus als sonst.
»Sie muss für Prüfungen lernen«, antwortete Danny laut und deutlich, damit es auch die anderen Familienmitglieder hörten, die schon im Esszimmer auf ihn warteten. Wenigstens musste er nicht lügen und setzte sich an den großen Tisch. Mit großem Hallo wurde er von seinen Geschwistern begrüßt. Falls ihnen sein schlechtes Aussehen auffiel, ließen sie sich nichts anmerken.
»Dad hat erzählt, dass du endlich deine Doktorarbeit schreiben willst«, sagte Anneka freudig.
»Eure Mutter ist fast geplatzt vor Stolz, als sie das gestern gehört hat«, wusste Daniel zu berichten und musste lächeln, wenn er an Fees Miene dachte, die sie gemacht hatte. »Vor allen Dingen, dass du dich einem so heiklen Thema widmen willst, macht sie sehr glücklich. Wer weiß, vielleicht wird die Fachwelt wirklich auf deine Arbeit aufmerksam und intensiviert die Forschung auf diesem Gebiet.«
»Hört, hört, unser Danny, der Lebensretter!«, scherzte Felix frech und bückte sich, um der Papierkugel auszuweichen, die Danny spontan in seine Richtung schleuderte.
»Hey, du kannst dich doch nicht an Désis Tischdeko vergreifen!«, schalt er seinen Bruder in der Hoffnung, Danny würde endlich auf einen seiner Scherze eingehen.
»Wir haben die Kugeln im Kunstunterricht aus Pappmaché gemacht«, reklamierte Dési auch postwendend. »Das war ganz schön viel Arbeit.«
»Dafür halten sie auch ziemlich viel aus!«, tröstete Felix sie.
Er war aufgestanden und hatte den bunt lackierten kleinen Ball aufgehoben, um ihn zu den anderen zurück auf den von Lenni fürstlich gedeckten Frühstückstisch zu legen.
Seit es Fee besser ging, war die Stimmung schlagartig besser geworden. Auch der Appetit war zurückgekehrt und hungrig griffen Daniel und die Kinder zu.
»Die Brötchen schmecken heute aber nicht so gut wie sonst«, monierte Janni Norden wenig später und betrachtete missmutig die mit Honig bestrichene Hälfte in seiner Hand. »Gar nicht so knusprig. Ist Frau Bärwald krank?«
»Ich war nicht bei Frau Bärwald«, nuschelte Danny und beugte sich tief über seinen Teller. »Heute war wahnsinnig viel Verkehr. Deshalb bin ich bei einer anderen Bäckerei vorbei gefahren.«
»Das war definitiv ein Fehler«, kam auch Daniel um eine Kritik nicht umhin. »Tatjanas und Hildes Brötchen sind wirklich ganz anders.«
»Kein Wunder. Sie sind ja auch frisch und handgemacht und nicht tiefgefrorene Rohlinge wie bei den meisten anderen Bäckereien inzwischen!«, erklärte Anneka innig.
Wenn sie an Tatjana dachte, leuchtete ihr Gesicht auf. Die Freundin ihres Bruders war wie eine ältere Schwester für sie, auf die sie stolz war wie auf ein richtiges Familienmitglied.
»Jaja, schon gut.« Mit verbissener Miene saß Danny am Tisch und lauschte den Lobeshymnen.
Am liebsten hätte er sich die Ohren zugehalten und war froh, als sein Vater die Kaffeetasse leerte und aufstand.
»So, ich fahre jetzt mit Janni und Dési in die Klinik zu Fee. Felix, du kannst später zusammen mit Anneka kommen. Zu viel Besuch auf einmal strengt Fee bestimmt zu sehr an.«
»Aye, Aye, Captain!« Felix sprang vom Stuhl auf, um strammzustehen, und schlug die Handkante an die Stirn.
Alle brachen in heiteres Gelächter aus. Alle bis auf Danny. Der stand schweigend auf und half Lenni beim Tisch abräumen. Schwer beladen mit einem Tablett verschwand er wortlos in Richtung Küche.
»Hui, welche Laus ist denn unserem jungen Herrn Doktor in spe über die Leber gelaufen?«, erkundigte sich Felix und stapelte die restlichen benutzten Teller aufeinander.
»Eine Promotion zu schreiben, ist kein Zuckerschlecken«, erinnerte sich Daniel an die harten Zeiten, die er selbst durchgemacht hatte. Nun, da seine Kinder diese Erfahrungen wiederholten, fühlte er sich manchmal selbst wieder wie der junge Arzt, der er damals gewesen war. Wenn er seine Kinder betrachtete, hatte er hin und wieder sogar das Gefühl, sein Leben noch einmal leben zu dürfen.
»Aber er hat doch noch nicht mal damit angefangen«, gab Anneka zu recht zu bedenken.
Doch Daniel hatte keine Zeit mehr, um sich mit der schlechten Laune seines ältesten Sohnes zu beschäftigen. Er hatte Sehnsucht nach seiner Frau und drängte darauf, endlich in die Klinik zu fahren.
»Wer weiß? Vielleicht hat er auch einfach nur schlecht geschlafen«, erklärte er und nickte Janni und Dési zu. »Das soll hin und wieder vorkommen.« Mit einem Winken verabschiedete er sich von seiner Familie, um schon bald wieder bei seiner Fee zu sein, die er schmerzlicher vermisste, als seine Kinder ahnten.
*
Umso größer war Dr. Nordens Entsetzen, als er das Bett seiner Frau auf der Intensivstation leer vorfand. Vor Schreck setzte sein Herzschlag einen Moment aus.
»Wo ist meine Frau?«, fragte er die Lernschwester, die eben mit in Plastik verpackten Gerätschaften ins Zimmer kam.
Ein Blick genügte, und Carina erkannte die Not in den Augen des Arztes.
»Keine Angst. Frau Dr. Norden wurde vorhin auf eine normale Station verlegt«, erklärte sie schnell, um Daniel zu beruhigen.
Abgesehen davon, dass er an der ganzen Klinik bekannt und beliebt war, war er der Schwager ihres heimlichen Schwarms, des Chefs der Kinderstation Dr. Mario Cornelius. Es schadete auf keinen Fall, sich mit seiner Familie gut zu stellen. »Heute Morgen ging es ihr so gut, dass Dr. Löwensprung diese Entscheidung treffen konnte.«
Während Janni und Dési verhalten losjubelten – ein weiterer schwerkranker Patient wurde hinter einem Paravent intensiv versorgt – dauerte es einen Moment, bis diese frohe Nachricht in Daniels Bewusstsein ankam.
»Gott sei Dank!«, seufzte er dann auf und machte sich gemeinsam mit den Zwillingen auf den Weg. Nur ein paar Minuten später klopfte er an ihre Tür. Fees Stimme war erstaunlich munter, als sie ihn hereinbat.
»Dan! Dési! Janni!« Felicitas Norden saß halb aufrecht im Bett und freute sich ganz offensichtlich wie eine Schneekönigin, ihre Familie zu sehen. »Das ist ja eine schöne Überraschung!«
»Das kann man wohl sagen«, seufzte Daniel, nachdem er sie zärtlich umarmt hatte, bedacht darauf, ihr nicht weh zu tun. »Du hast uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt.« Er musterte seine Frau mit einem prüfenden Blick. Es grenzte an ein Wunder, wie schnell sie sich erholte. Wäre die Magensonde nicht gewesen, hätte ihr niemand angesehen, dass sie noch vor ein paar Tagen mit dem Tod gerungen hatte. »Du siehst ja schon wieder aus wie das blühende Leben.«
»Der Schlauch ist ein bisschen komisch.« Janni teilte diese Meinung nicht. Mit schiefem Blick musterte er seine Mutter. »Tut das weh?«
Lächelnd schüttelte Felicitas den Kopf.
»Nein, aber lästig ist es schon. Ich bin froh, wenn ich dieses Ding endlich los bin.«
»Was genau ist denn da drin?« Auch Dési interessierte sich für diese besondere Form der Ernährung.
»Alles, was der Mensch so braucht. Nährstoffe, Mineralien, Vitamine, Fette. In genau der richtigen Zusammensetzung mit dem richtigen Kaloriengehalt«, erläuterte Fee und warf einen Blick hinauf zu dem Beutel mit der cremefarbenen Flüssigkeit, die durch den Schlauch den Weg in ihren Magen fand.
»Eigentlich ganz praktisch«, dachte Janni laut nach. »Das wär was für meine Lehrerin. Die jammert immer, dass sie zu dick ist. Ständig muss sie überlegen, was und wie viel sie essen darf. Mit dieser Sondennahrung müsste sie gar nicht mehr nachdenken. Beutel anschließen und gut. Das wäre eine supereinfache Diät.«
Während Daniel nur den Kopf schütteln konnte über diese kreative Idee seines Jüngsten lachte Fee belustigt auf.
»Wahrscheinlich könntest du mit dieser Idee sogar reich werden«, stellte sie amüsiert fest.
Unterdessen konnte Dr. Norden den Blick nicht von seiner Frau lösen. Fast fühlte er sich wie ein frisch verliebter Teenager bei seinem ersten Rendezvous. Trotz der Krusten auf den Lippen schien ihm Fee schön wie am ersten Tag ihrer Liebe. Natürlich hatte er sie immer geliebt, würde sie immer lieben. Aber die Angst um sie hatte die Schmetterlinge in seinem Bauch zu neuem Leben erweckt. Er zog sich einen Stuhl heran und sah ihr dabei zu, wie sie sich mit den Kindern unterhielt. Interessiert erkundigte sie sich nach allen Einzelheiten und lauschte gespannt den Berichten über die vergangenen Tage. Irgendwann bemerkte sie, dass ihr Mann sie unentwegt beobachtete, und wurde rot wie ein junges Mädchen.
»Dan, wenn du mich so ansiehst, werde ich ganz verlegen«, erklärte sie, als die Zwillinge hinausgelaufen waren, um sich im Besucherzimmer mit frischem Gebäck aus der Klinikküche zu versorgen.
»Warum soll es dir anders gehen als mir?«, raunte er ihr zu und nutzte die Gelegenheit, um sich auf die Bettkante zu setzen. Er nahm ihre Hand zwischen seine Hände und drückte einen innigen Kuss darauf. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich dich vermisse«, gestand er dann leise. »Nicht auszudenken, wenn dir was passiert wäre …« Er stockte, und Fee schluckte gerührt.
Doch es waren nicht seine Worte, die ihr den Atem raubten. Vielmehr war es der Ausdruck in seinem Gesicht, der von seiner unermesslichen Liebe sprach.
»O Dan, es tut mir so leid, dass ich dir solchen Kummer gemacht habe.«
Diese Aussage war wieder einmal typisch für Fee, und Daniel lachte leise.
»Das muss dir doch nicht leid tun, mein Engel. Schließlich hast du es ja nicht mit Absicht gemacht. Oder etwa doch?«, fragte er augenzwinkernd.
Fee konnte nicht anders. Sie legte den Kopf schief und blitzte ihn vergnügt an.
»Weißt du, um diesen Ausdruck in deinen Augen zu sehen, ist mir eigentlich jedes Mittel recht.«
Für diese schelmische Bemerkung hätte Daniel ihr im Normalfall einen innigen Kuss geraubt. Die Magensonde und die Krankheit hinderten ihn daran, sodass er sich wohl oder übel damit begnügen musste, Drohungen auszusprechen.
»Na warte, wenn du erst wieder gesund bist.« Drohend wackelte er mit dem Zeigefinger vor ihrer Nase hin und her. »Dann schone ich dich nicht mehr.«
»Ich kann’s kaum erwarten«, erwiderte Felicitas weich. »Das ist übrigens auch der Grund, warum ich so fleißig übe. Heute bin ich schon ziemlich weit über den Flur gelaufen. Ich komme zwar noch relativ schnell außer Atem. Dafür wird es jeden Tag besser.«
»Und was ist mit den Blasen im Mund?« Besorgt betrachtete Daniel die Krusten auf ihren Lippen.
»Die verheilen, wenn auch langsamer, als ich gehofft hatte. Trotzdem werde ich morgen darum bitten, dass diese Sonde hier gezogen wird. Wenn ich die Zähne zusammen beiße und mich von Suppe und Haferbrei ernähre, wird es schon gehen.«
Voller Bewunderung sah Daniel Norden seine Frau an.
»Wenn ich dich nicht schon längst liebte, würde ich mich in diesem Moment unsterblich in dich verlieben«, erklärte er heiser. »Woher nimmst du nur diese Kraft?«
Er hatte noch nicht ausgesprochen, als Fee leise lachte.
»Das fragst ausgerechnet du, der du doch der Grund dafür bist?«
Zum Glück kehrten in diesem Augenblick die Zwillinge lachend und schwatzend ins Zimmer zurück und lenkten das Liebespaar ab. Andernfalls hätte Daniel für nichts mehr garantieren können und seine Frau trotz ihrer Krankheit stürmisch geküsst.
*
Während Dr. Daniel Norden ganz privat in der Klinik war, saß die Klinikchefin Dr. Jenny Behnisch auch an diesem Samstag über ihren Schreibtisch gebeugt und studierte eingehend die Aufnahmen, die ihr Dr. Weigand gemeinsam mit einer neuen Patientin vorbei gebracht hatte. Anders als in großen städtischen Kliniken wurden an der Behnisch-Klinik in dringenden Fällen auch an Wochenenden diagnostische Maßnahmen durchgeführt und Behandlungen eingeleitet. So ein dringender Fall war die Behandlung von Marion Körber, die der Klinikchefin mit besorgter Miene gegenüber saß.
»Auf der Röntgenaufnahme ist uns ein verdächtiger Schatten aufgefallen. Und auch die Blutuntersuchung gibt Anlass zur Sorge«, redete Jenny nicht lange um den heißen Brei herum. Wenn möglich, sank Marion Körber noch ein wenig mehr auf dem Stuhl zusammen.
»Was heißt das im Klartext?«, fragte sie mit rauer Stimme. Vor Aufregung war ihr Mund trocken, und sie trank einen Schluck von dem Wasser, das Jenny ihr nach der Begrüßung angeboten hatte.
»Dass wir so schnell wie möglich operieren sollten, um herauszufinden, mit welchem Feind wir es tatsächlich zu tun haben.« Jenny Behnisch lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und maß ihre Patientin mitfühlend.
»Allmählich mache ich mir jetzt wirklich Sorgen«, gestand Marion Körber.
»Verständlich. Sie sollten sich allerdings nicht verrückt machen, bis wir endgültige Gewissheit haben«, versuchte Jenny, das Unmögliche möglich zu machen, wohlwissend, dass es in solchen Situationen keinen Trost geben konnte.
Marion verschränkte ihre zitternden Finger ineinander und starrte die Klinikchefin aus weit aufgerissenen Augen an. Sie wirkte wie ein verängstigtes Kaninchen beim Anblick eines Fuchses.
»Was haben Sie als nächstes vor?«
Jenny lächelte sanft.
»Am liebsten würde ich Sie gleich morgen früh auf den OP-Plan setzen. Mittels eines sogenannten Schnellschnittes während der Operation würde ein Pathologe die Art des Tumors ermitteln, und wir könnten das bösartige Gewebe gegebenenfalls sofort entfernen.«
»Morgen früh? Aber ich habe eine minderjährige Tochter«, entfuhr es Marion Körber. »Die kann ich doch nicht einfach so allein lassen.«
Jenny Behnisch wusste gar nicht mehr, wie oft sie solche Gespräche schon geführt hatte. Sie wusste nur, dass sie sie immer noch nicht mochte und niemals Routine in solchen Dingen haben würde.
»Ich verstehe ja, dass Sie jetzt durcheinander sind. Das alles kommt ein bisschen plötzlich«, redete sie mit Engelszungen auf ihre Patientin ein. »Falls wir es aber wirklich mit einem bösartigen Tumor zu tun haben, sollten wir so schnell wie möglich handeln. Alles andere wäre fataler Leichtsinn.«
»Ich weiß.« Sichtlich nervös zupfte Marion mit den Zähnen an der Unterlippe. »Das heißt, ich weiß es nicht … Ich muss nachdenken.«
Jenny stützte sich auf die Ellbogen und lehnte sich ein Stück vor. Sie ließ ihre Patientin nicht aus den Augen, als sie sagte:
»Aber bitte nicht zu lange.«
Marion Körber hörte sie offenbar gar nicht. Ihre Augen schwammen in Tränen.
»Meine Tochter … Ich kann sie nicht auch noch im Stich lassen. Ihr Vater ist vor ein paar Jahren gestorben … Wir sind erst vor kurzem in die Stadt gezogen. Klara hat niemanden hier.«
Nur mit Mühe gelang es der Klinikchefin, ein Seufzen zu unterdrücken.
»Frau Körber, ich rate Ihnen dringend davon ab, den Eingriff zu lange hinaus zu zögern. Es können sich Metastasen bilden. Mit jedem Tag, den sie ungenutzt verstreichen lassen, gehen Sie ein unnötiges Risiko ein. Lassen Sie sich operieren. Auch im Interesse Ihrer Tochter.«
Marion Körber sagte nichts mehr. In sich zusammengesunken saß sie auf dem Stuhl und dachte nach. Und auch Jenny hatte jedes Argument in den Ring geworfen, das ihr eingefallen war. Lähmendes Schweigen machte sich im Büro der Klinikchefin breit. Nur gedämpft drangen die Geräusche des Klinikbetriebs durch die Bürotür. Gummisohlen quietschten leise, hier und da war ein Lachen zu hören, Geschirr klapperte.
»Wie gesagt, ich muss darüber nachdenken.« Auf einmal kam Leben in Marion Körber, und sie erhob sich mit plötzlicher Entschlossenheit aus dem Stuhl. »Vielen Dank für Ihre Mühe.« Ehe Jenny Gelegenheit hatte, ein weiteres Wort zu sagen, ging Marion entschlossenen Schrittes zur Tür und verließ grußlos das Zimmer.
Einen Moment lang war die Klinikchefin versucht, ihrer Patientin zu folgen. Doch die nächsten Besucher warteten schon darauf, von Jennys Assistentin Andrea Sander eingelassen zu werden.
*
»Chefin, wir brauchen dringend mehr Schwestern. Sonst können wir den Ansturm der Patienten nicht mehr bewältigen«, erklärte Schwester Elena. Zusammen mit dem Arzt Dr. Matthias Weigand stand sie bei Jenny Behnisch im Büro. Eine sorgenvolle Falte teilte ihre hübsche Stirn.
Auch Matthias hatte ein Problem.
»Haben wir nicht zufällig noch ein paar leer stehende Zimmer? Inzwischen müssen wir sogar die Privatpatienten zusammenlegen.«
Mit betretener Miene saß die Klinikchefin an ihrem Schreibtisch und musterte ihre Mitarbeiter schweigend. Seit der Orkan übers Land gerauscht war und seine Spur der Verwüstung gezogen hatte, herrschte Ausnahmezustand an der Behnisch-Klinik.
»Ich habe Andrea schon Bescheid gesagt. Sie tut nichts anderes, als hinter unseren Aushilfekräften her zu telefonieren. Aber so einfach ist es leider nicht, spontan Leute zu bekommen. Ich tue, was ich kann.« Seufzend wandte sie sich an Mathias Weigand. »Und was die Zimmer betrifft … locken Sie die Privatpatienten mit den Rückerstattungen, die sie von den Krankenkassen erwarten können, wenn sie auf ein Einzelzimmer verzichten. Eine andere Lösung fällt mir im Augenblick nicht ein.«
Dr. Weigands Miene erhellte sich.
»Das ist eine ausgezeichnete Idee.« Zufrieden mit dieser Lösung verabschiedete er sich von Jenny.
Schwester Elena folgte ihm. Es gab genug zu tun, und sie vertraute darauf, dass die Chefin auch für ihr Problem wie immer eine Lösung fand. Während sie neben dem Arzt den Gang hinunter ging, klappte sie die Mappe auf, die sie bei sich trug.
»Heute haben wir zwei Neuzugänge auf der Orthopädie«, teilte sie ihrem Kollegen mit. »Ein Verdacht auf einen komplexen Meniskusriss und einen akuten Hallux Valgus. Der Hallux ist schon auf dem Zimmer. Denkst du, ich kann den Meniskus dazulegen? Der ist privat.«
»Einen Versuch ist es zumindest wert. Du hast ja gehört, welche Losung die Chefin ausgegeben hat. Wir sehen uns.« Sie waren an einer Ecke angekommen, an der sich der Flur teilte. Matthias musste den linken Weg wählen, während Schwester Elena nach rechts abbog.
»Also gut«, murmelte sie vor sich hin und klappte die Mappe wieder zu. Sie war noch nicht weit gekommen, als sie aufgebrachte Stimmen hörte, die mit jedem ihrer Schritte lauter wurden.
»Wozu bezahle ich meine private Versicherung? Glauben Sie, ich werfe mein Geld freiwillig zum Fenster raus?«, zeterte niemand anderer als Else Unterholzner lautstark, als Schwester Elena um die Ecke bog.
»Und wenn Sie ausnahmsweise die Zähne zusammen beißen und vielleicht doch zusammen mit Frau …«, redete eine Schwester mit Engelszungen auf die Dame ein, die aussah, als wäre sie direkt einem Modemagazin entsprungen.
»Niemals!«, schnitt Else ihr fauchend das Wort ab.
Inzwischen hatte Schwester Elena Gelegenheit gehabt, die attraktive Seniorin eingehend zu mustern.
Zu einem schicken roséfarbenen Kostüm mit Minirock trug sie eine gemusterte Bluse. Ihre Schmerzen im Knie hatten sie nicht davon abgehalten, gefährlich hohe Pumps anzuziehen. Dem perfekt geschminkten Gesicht war das Alter nicht anzusehen. Schwester Elena hätte es nicht geglaubt, wenn sie es nicht zuvor in den Unterlagen gelesen hätte. Sie machte einen Bogen um die Koffer und Taschen, die Else um sich versammelt hatte, und trat auf die beiden Frauen zu, um ihre junge Kollegin zu unterstützen.
»Guten Tag, Frau Unterholzner«, begrüßte sie die Patientin freundlich. »Natürlich ist ein Einzelzimmer angenehmer. Andererseits könnte ich Ihrer Krankenversicherung melden, dass wir Sie in einem Zweibettzimmer unterbringen. Dann bekommen Sie ein Erstattung«, griff sie ohne Zögern zu dem Argument, das die Chefin vorgeschlagen hatte.
Tatsächlich schien sie damit Erfolg zu haben. Else, die den Mund schon zu einem Widerspruch geöffnet hatte, schloss ihn wieder. Ihr forschender Blick ruhte auf Schwester Elena, während sie nachdenklich eine Strähne des braun gefärbten, feinen Haars zwischen zwei Fingern zwirbelte.
»Sie meinen, ich bekomme Geld zurück?«, fragte sie nach einer kurzen Pause.
Elena und ihre Kollegin nickten gleichzeitig, und Else Unterholzner lächelte maliziös.
»Also gut. Dann will ich mal nicht so sein. Schließlich will ich Ihnen nicht unnötig Schwierigkeiten machen«, zeigte sie sich erstaunlich kooperativ und warf einen Blick auf das Gepäck zu ihren Füßen. »Bitte veranlassen Sie, dass meine Koffer aufs Zimmer gebracht werden.«
Nur mit Mühe konnte sich Elena ein tiefes Seufzen verkneifen.
»Sagst du bitte unserem Hausmeister Herrn Brehm Bescheid?«, wandte sie sich an die junge Kollegin, die keine Sekunde zögerte und sich sofort erleichtert auf den Weg machte.
Einen Moment lang sah Schwester Elena ihr bedauernd nach. Dann drehte sie sich wieder zu Else Unterholzner um und brachte sie zu ihrem Zimmer.
»Da wären wir! Von hier aus haben Sie den schönsten Blick in unseren Park. Sehen Sie nur!«, versuchte sie, Else das Zimmer schmackhaft zu machen, und ging direkt zum Fenster, um die Stores schwungvoll zurückzuziehen. Als sie sich aber nach der Patientin umdrehte, sah sie, dass sie ihr nicht gefolgt war. Wie angewurzelt stand Else im Türrahmen und starrte hasserfüllt auf die Patientin, die im Bett neben der Tür lag und wütend zurückfunkelte.
»Was willst du denn schon wieder hier?«, Dietlinde schnappte empört nach Luft und wandte sich sofort an Elena. »Nichts für ungut, Schwester. Ich weiß, dass Sie Platzmangel haben. Ich bin auch wirklich nicht dagegen, das Zimmer zu teilen. Aber diesen eingebildeten Pfau hier bringen Sie bitte woanders unter.«
Bisher hatte Ditte einen durchaus sympathischen Eindruck auf Elena gemacht. Deshalb wunderte sie sich sehr über den schnippischen Tonfall der Seniorin.
»Es tut mir sehr leid, Frau May. Aber es geht wirklich nicht anders«, erklärte sie geduldig. »Es ist nur für ein paar Tage.«
Unterdessen hatte Else Gelegenheit gehabt, sich von ihrem Schrecken zu erholen.
»Dafür, dass ich Ihnen den Gefallen tue und mit dieser Asozialen in einem Zimmer bleibe, verlange ich eine besondere Behandlung.« Um ihre Forderung zu unterstreichen, warf die den braunen Pagenkopf demonstrativ in den Nacken.
Dietlinde schnaubte.
»Das werden Sie nicht tun, Schwester!«, verlangte sie beleidigt. »Dafür, dass ich dieses Stinktier ertrage, soll sie auch noch eine Belohnung bekommen?«
In diesem Augenblick war die Geduld der gutmütigen Schwester zu Ende.
»Bitte, meine Damen! Ich bin sicher, Sie werden sich schon zusammenraufen. Ich muss mich jetzt um unsere anderen Patienten kümmern. Wenn Sie etwas benötigen, brauchen Sie nur zu klingeln.« Elena deutete auf die Tastatur, die neben jedem Bett befestigt war, und verließ freundlich lächelnd das Zimmer. Als die Tür hinter ihr zugefallen war, entfuhr ihr ein Stoßseufzer der Erleichterung. Gedämpft hörte sie, wie das Gezeter drinnen weiterging. Doch sie gab vor, nichts zu bemerken, und machte sich auf den Weg zu einem Patienten, der ihre Hilfe wirklich brauchte.
*
»Soso, einen Gefallen tust du der Schwester!« Mit zusammengekniffenen Augen saß Ditte im Bett und musterte ihre Kontrahentin. »Gib doch zu, dass du dir den Einzelzimmerzuschlag von deiner Versicherung wieder zurück holst. Ich kenn dich doch. Du schlägst aus allem und jedem Kapital.« Eine aufgeklappte Zeitschrift lag vor ihr auf der Decke. Doch zum Lesen würde sie jetzt keine Ruhe mehr haben. Das war ihr klar. »Aber ich warne dich!« Drohend hob sie den Zeigefinger. »Ein falsches Wort, und ich roll dich heute Nacht in die Pathologie und steck dich da in ein Kühlfach.«
Zu ihrem großen Ärger warf Else den Kopf in den Nacken und brach in schallendes Gelächter aus.
»Es gibt ja wenig Grund, dich zu bewundern, Dittelein«, erklärte sie schließlich und wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel. »Aber deine blühende Fantasie hat mich schon immer fasziniert.« Einen Moment lang ruhte ihr Blick auf Dietlinde. »Schade, dass du nicht mehr bist als eine aufgeblasene Wichtigtuerin. Andernfalls hättest du es weit bringen können«, winkte sie dann ab und wendete sich ihrer Tasche zu, die sie auf dem Bett abgestellt hatte. Ein Strauß Blumen ragte daraus hervor. Sie nahm ihn heraus und befreite ihn vom Papier. Auf der Suche nach einer Vase drehte sie sich um. Unwillkürlich stöhnte sie auf vor Schmerzen. Sie ließ die Blumen fallen und sank aufs Bett. Mit beiden Händen umklammerte sie das verletzte Gelenk. Tränen standen ihr in den Augen.
»Der liebe Gott ist ein gerechter Mann«, unkte Ditte unbeeindruckt. »Er straft jede kleine Sünde sofort. Sag bloß, das hast du noch nicht gewusst?«
Else verzog das Gesicht, als wollte sie ihre ganze Wut in die Welt hinaus schreien.
»O nein!«, kam ihre Nachbarin ihr jedoch zuvor. »Reg dich nicht auf! Reg dich bitte nicht auf!« Sie schwang die Beine aus dem Bett und stand schnell auf. Ohne Schuhe konnte sie schmerzfrei gehen und kam auf Else zu. »Wenn du dich aufregst, bist du noch hässlicher als sonst. Dieses zerfurchte Gesicht, völlig zerfressen vom Geiz.« Sie streckte die Hände aus, und erschrocken zuckte Else zusammen.
Doch Ditte bückte sich nach den Blumen, hob sie behutsam hoch und brachte sie ins Bad.
»Du bist doch nur neidisch, weil du es dein Lebtag zu nichts gebracht hast«, rief Else ihr nach. Antwort bekam sie nicht. Statt dessen rauschte das Wasser, und gleich darauf kehrte Dietlinde mit einer Vase zurück, in der sie den Strauß kunstvoll arrangiert hatte. Sie lächelte engelsgleich, als sie sie auf Elses Nachtkästchen abstellte.
»Immerhin haben mich die Männer geliebt. Das hast du nicht geschafft.«
»Dafür hast du dir die Gesundheit mit den hohen Schuhen ruiniert. Das zum Thema: Der liebe Gott straft jede kleine Sünde sofort.«
Doch davon wollte Dietlinde nichts wissen.
»So ein Quatsch. Bei mir ist dieser Hallux erblich bedingt. Meine Mutter und meine Tante hatten auch einen, und die haben ihr Lebtag keine hohen Schuhe getragen«, verteidigte sie sich, während sie es sich wieder im Bett bequem machte. »Aber was ist eigentlich mit deinem Meniskus? Ich hab gehört, dass du operiert werden musst.« Ihre Augen wurden schmal, und sie setzte eine besorgte Miene auf. »Wusstest du eigentlich, dass das Knie nach so einer Operation steif bleiben kann?« Mit Genugtuung beobachtete sie, wie ihre Nachbarin blass wurde.
»Das ist nicht wahr«, stammelte Else sichtlich entsetzt. »Mal abgesehen davon, dass ich keine Meniskusverletzung habe. Dieser Danny Norden ist ja noch nicht mal Doktor. Deshalb bin ich ja hier. Heute Nachmittag werden mich kompetente Ärzte untersuchen und diese Diagnose wiederlegen. Spätestens morgen bin ich wieder raus hier.«
Dietlinde dachte noch über eine Antwort nach, als es klopfte. Gleich darauf schob sich Hausmeister Brehm ins Zimmer, der unter der Last der Koffer stöhnte.
»Sind Sie Frau Unterholzner?«, wandte er sich an Ditte und wischte sich mit einem großen Taschentuch den Schweiß von der Stirn.
»Die Dame da drüben!« Sie deutete auf Else, die sich vorsichtig erhoben hatte. »Aber leider haben Sie sich die ganze Mühe umsonst gemacht. Frau Unterholzner bleibt nur bis morgen früh.«
Einen Moment lang herrschte verdutztes Schweigen.
»Blöde Kuh!«, zischte Else dann in Dittes Richtung, ehe sie Herrn Brehm mit einem fürstlichen Trinkgeld entlohnte.
*
»Hast du deine Proben fürs Labor schon fertig gemacht?«, fragte Janine Merck ihre Freundin und Kollegin Wendy am späten Vormittag. »Dann rufe ich den Klinik-Kurier an.«
»Alles fertig!«, bestätigte Wendy, ohne aufzublicken.
Sie saß am Schreibtisch und legte neue Patientenkarten an.
Zum ersten Mal seit Tagen war es etwas ruhiger geworden in der Praxis Dr. Norden. Nur zwei Patienten saßen im Wartezimmer, zwei weitere befanden sich bei den Ärzten in Behandlung. »Hoffentlich dauert es beim Senior-Chef nicht mehr so lange«, murmelte sie vor sich hin.
Janine sah sie fragend an.
»Gibt’s was Neues?«
»Frau Dr. Behnisch bittet um dringenden Rückruf. Es geht offenbar um diese seltsame Patientin vom Freitag. Du weißt schon, diese Marion Körber«, erläuterte Wendy bereitwillig.
»Ach, die unheimliche Anruferin, an die sich der Chef nicht mehr erinnern kann«, wusste Janine sofort, von wem die Rede war.
»Sieht so aus, als könnte sie sich nicht zu einer Operation durchringen, und der Chef soll mit ihr reden«, erklärte Wendy und beugte sich wieder über ihre Arbeit.
»Da bin ich zuversichtlich«, lächelte Janine belustigt. »Die Frau, die seinem Charme widerstehen kann, muss erst noch geborgen werden.«
Mit diesen Worten konzentrierte sich auch Janine wieder auf das, was sie zu tun hatte.
Die beiden Assistentinnen genossen die wohltuende Ruhe und waren so vertieft, dass sie den Mann nicht bemerkten, der leise an den Tresen trat.
»Einen wunderschönen guten Morgen, meine Damen!«, grüßte Johannes Holtz freundlich.
Sowohl Janine als auch Wendy fuhren erschrocken zusammen und sahen hoch. Sie blickten direkt in einen beeindruckenden Blumenstrauß und konnten erst nach einem Moment den Herrn dahinter ausmachen.
»Aber Herr Holtz …«, begann Wendy, als Johannes sie sofort unterbrach. »Hier, bitteschön, der ist für Sie!« Er lächelte freundlich, als er den Strauß über den Tresen reichte.
Sich der neugierigen Blicke ihrer Kollegin wohl bewusst, stand Wendy auf.
»Das ist ja wirklich sehr freundlich.« Ihre Stimme war heiser vor Verlegenheit, und sie war nur froh, dass keine Patienten Zeugen dieser peinlichen Szene wurden. »Leider kann ich dieses Geschenk nicht annehmen.«
Das Lächeln auf Johannes Holtz‘ Gesicht verblasste. Er machte keine Anstalten, seine Enttäuschung zu verbergen.
»Aber warum denn nicht? Gefallen Sie Ihnen nicht?« Ratlos sah er auf den traumhaft schönen Strauß.
»Doch, doch, die Blumen sind wunderschön.« Händeringend suchte Wendy nach einer Ausrede und beschloss dann, die Wahrheit zu sagen. »Aber ehrlich gesagt weiß ich nicht, was Sie damit bezwecken. Sie sind ein verheirateter Mann. Was sagt Ihre Frau dazu, dass Sie mir Blumen und Pralinen schenken?«
Einen Augenblick lang war Johannes völlig perplex, und Wendy rechnete schon mit dem Schlimmsten. Dann warf er den Kopf in den Nacken und lachte laut auf.
»Ach, so ist das … Sie denken, ich mache Ihnen den Hof. Wie dumm von mir.«
Irritiert sah Wendy hinüber zu ihrer Freundin, die vor unterdrücktem Lachen schier platzen wollte. Dann wandte sie sich wieder dem rätselhaften Besucher zu.
»Entschuldigen Sie, aber ich verstehe das hier nicht.«
Inzwischen hatte sich Johannes wieder gefasst. Immer noch lächelnd setzte er eine schuldbewusste Miene auf.
»Kein Wunder. Das war mein Fehler. Ich habe mich wirklich dumm angestellt. Offenbar haben Sie die Karte nicht gelesen, die den Pralinen beigelegt war.«
»Welche Karte?«
Nun war es an Johannes Holtz, verlegen zu sein. Er zupfte einen Umschlag aus den Blumen und reichte sie Wendy über den Tresen. Dabei räusperte er sich umständlich.
Dr. Nordens langjähriger Assistentin war in ihrer Laufbahn schon allerhand untergekommen. Doch so etwas hatte selbst sie noch nicht erlebt. Atemlos las sie die wenigen Zeilen in einer altmodischen, charaktervollen Herrenschrift.
»Ihr Vater bittet um die Kontaktdaten von Frau Unterholzner?«, fragte sie und steckte die Karte zurück in den Umschlag. »Deshalb macht er uns solche Geschenke?«
Johannes senkte den Kopf.
»Ich weiß selbst, wie albern das klingt«, gestand er zerknirscht. »Mein Vater kennt Frau Unterholzner von diversen Magazinen. Ich weiß auch nicht mehr genau, wie wir darauf gekommen sind, aber ich habe ihm erzählt, dass ich mich neulich im Wartezimmer mit Frau Unterholzner unterhalten habe.« Entschuldigend zuckte er mit den Schultern. »Tja, und seither fleht er mich an, dass ich doch wenigstens die Telefonnummer besorgen könnte. Natürlich habe ich mich beharrlich geweigert.«
»Bis Ihr Vater auf die Idee verfallen ist, uns mit Schokolade zu bestechen«, vollendete Janine breit lächelnd die Geschichte.
»Genau so ist es.« Johannes nickte ergeben und sah sie flehentlich an. »Bitte lassen Sie mich nicht im Stich. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie anstrengend ein liebeskranker Senior ist.«
»Oh, doch, das kann ich durchaus«, versicherte Wendy in Erinnerung an die diversen Herren fortgeschrittenen Alters, die ihr bereits den Hof gemacht hatten. »Aber leider können wir Ihnen nicht weiterhelfen. Das verstößt gegen sämtliche Regeln und Vorschriften. Und Sie wollen doch nicht, dass wir unseren Job verlieren.« Auch Wendy beherrschte die ganze Palette weiblicher Ausdrucksformen. Sie legte den Kopf schief und lächelte unwiderstehlich. »Das verstehen sie doch sicher, oder?«
»Natürlich verstehe ich das.« Johannes Holtz seufzte bekümmert. »Trotzdem … Können Sie mir nicht wenigstens einen kleinen Hinweis geben, wo mein Vater sie finden kann? Es muss ja nicht gleich die ganze Adresse sein.« Wie er so dastand, genauso gutaussehend wie verzweifelt, mit hängenden Schultern und nach unten gezogenen Mundwinkeln, rührte er an Janines allzu weiches Herz.
Sie sah kurz hinüber zu Wendy, die vehement den Kopf schüttelte, und fasste einen eigenmächtigen Entschluss.
»Ich muss jetzt unbedingt in der Behnisch-Klinik anrufen und den Boten bestellen«, erklärte sie mit Nachdruck und sah demonstrativ in Johannes Holtz‘ Richtung.
Der war clever genug um diesen Wink mit dem Zaunpfahl zu verstehen. Zum Zeichen, dass ihre Botschaft angekommen war, zwinkerte er ihr zu.
»Dann will ich Sie nicht länger belästigen«, erklärte er und verabschiedete sich, nicht ohne Janine mit einem strahlenden Lächeln den Blumenstrauß in die Hand zu drücken. Keine Minute später war er aus der Praxis verschwunden.
Darauf hatte Wendy nur gewartet.
»Bist du von allen guten Geistern verlassen?«, fauchte sie sichtlich empört.
Doch Janine winkte nur ungerührt ab.
»Ich weiß gar nicht, warum du dich aufregst. Erstens hab ich gar nichts gesagt. Und zweitens habe ich nur im Interesse meiner ehemaligen Kollegen an der Klinik gehandelt.«
»Wie meinst du das?«, hakte Wendy verwundert nach.
»Ein Verehrer kann Frau Unterholzner nur gut tun«, lächelte Janine verschmitzt. »Wer weiß, vielleicht ist sie dann auch ein bisschen netter zu den Schwestern.« Mehr gab es dazu nicht zu sagen und sie streckte die Hand nach dem Hörer aus, um ihre Ankündigung endlich in die Tat umzusetzen.
*
In Gedanken versunken stand Tatjana Bohde in der Backstube und starrte blicklos vor sich hin. Vor ihr lag ein Klumpen Teig auf dem Arbeitsbrett. Seine Oberfläche war schon rissig und eingetrocknet. Doch das bemerkte Frau Bärwald nicht, als sie aus dem Verkaufsraum nach hinten kam.
»Was riecht denn hier so komisch?«, fragte sie irritiert und sah sich um.
Ihre alarmierte Stimme riss Tatjana aus ihren Tagträumen.
»Keine Ahnung!«, gab sie spontan zurück und hob schnuppernd die Nase. Der brenzlige Geruch erinnerte sie schlagartig daran, was passiert war.
»Hast du etwa die Brezen im Ofen vergessen?«, hatte Hilde Bärwald denselben Gedanken.
»Ach, du Schande!« Mehr sagte Tatjana nicht, sondern eilte in Richtung der Öfen, die an einer Wand aufgereiht wie Soldaten in Reih und Glied standen. Schnell schlüpfte sie in die Backhandschuhe. Als sie die Tür öffnete, schlug ihr dunkler Qualm entgegen und vernebelte die ganze Backstube. Instinktiv presste Tatjana ein Geschirrtuch vors Gesicht und zog das Blech mit den zu schwarzem Stein verbrannten Gebäckstücken aus dem Ofen. Tränen schossen ihr in die Augen.
»Schnell, das Fenster!«, keuchte auch Frau Bärwald. Durch die beißenden Nebelschwaden hindurch tastete sie sich vor zum Fenster und riss es mit beiden Händen auf. Frische Luft strömte in die Backstube. Trotzdem dauerte es einige Minuten, bis die beiden Frauen wieder halbwegs etwas sehen konnten.
»Es tut mir leid«, jammerte Tatjana mit Blick auf die Bescherung. »Es tut mir so leid.«
»Mag schon sein. Aber das nützt uns jetzt nichts«, gab Hilde Bärwald zurück und machte keinen Hehl aus ihrem Ärger. »Der Kunde kommt in einer halben Stunde, um seine bestellten Brezen zu holen. Er braucht sie für eine Firmenveranstaltung.«
»Ich schieb gleich Neue in den Ofen«, versprach Tatjana zerknirscht, doch Frau Bärwald schüttelte den Kopf. Sie stemmte die Hände in die kräftigen Hüften und starrte ihren Lehrling ärgerlich an.
»Beim Rührkuchen-Teig heute Morgen hast du das Backpulver vergessen. Statt der Rosinen hast du Cranberries in den Teig für die Schnecken gemischt und jetzt die Bescherung mit den Brezen. Kannst du mir mal erklären, was heute los ist mit dir? Hast du am Ende doch nicht das Zeug dazu, die Bäckerei zu übernehmen?«
Tatjana erschrak. Sie wusste genau, was los war. Allerdings wollte sie nicht darüber reden. Frau Bärwald war eine gesellige Frau mit einem ausgeprägten Kontaktbedürfnis. Wenn sie erfuhr, dass Tatjana Ärger mit Danny hatte, würde diese aufregende Neuigkeit innerhalb kürzester Zeit die Runde durch das gesamte Stadtviertel machen.
»Natürlich kann ich das mit der Bäckerei. Ich hab nur schlecht geschlafen heute Nacht«, murmelte sie und wusste selbst, dass diese fadenscheinige Ausrede nicht als Entschuldigung herhalten konnte. Aber zumindest war es keine Lüge.
»Das ist noch lange kein Grund, die Backstube in eine Räucherkammer zu verwandeln«, brummte Hilde Bärwald, während sie eine neue Lage Brezen auf einem Backblech verteilte.
»Ich sagte doch schon, wie leid es mir tut«, wiederholte Tatjana am Boden zerstört und wollte ihrer Chefin zur Hand gehen.
Doch Hilde hielt sie mit einer abwehrenden Bewegung davon ab.
»Geh lieber und wirf das Blech weg. Das ist zu nichts mehr zu gebrauchen.« Mit dem Kopf deutete sie auf das schwarze Stück Metall, das Tatjana raus auf die kleine Terrasse im Hinterhof gestellt hatte. »Heute Vormittag brauch ich dich nicht mehr. Und wenn du nachmittags zurückkommst, will ich wieder die alte Tatjana sehen.« Sie klang so entschieden, dass Tatjana keinen Widerspruch wagte.
Kleinlaut band sie die Schürze ab und hängte sie an den Haken hinter der Tür.
»Bis später!«, murmelte sie zerknirscht.
Doch Hilde war so sehr mit ihrer Arbeit beschäftigt, dass sie nichts hörte oder nichts hören wollte. So verließ Tatjana ihren Arbeitsplatz. Draußen blieb sie einen Moment lang stehen und atmete tief die frische, von fröhlichem Vogelgezwitscher erfüllte Luft ein. Nach dem Orkan vor ein paar Tagen schien der Himmel wie frisch gefegt und nur ein paar Wattewölkchen schwammen wie Schaumkronen auf einem makellos blauen Meer. Doch auch daran konnte sich die junge Frau nicht wirklich erfreuen. Da sie nicht wusste, was sie mit sich und der unerwartet freien Zeit anfangen sollte, tat sie das einzig mögliche: Sie fuhr zu Fee Norden in die Klinik.
Vor dem Krankenzimmer angekommen, setzte sie eine fröhliche Miene auf. Auf keinen Fall sollte Felicitas etwas von ihren Sorgen bemerken.
»Tatjana, das ist ja eine schöne Überraschung! Was machst du denn um diese Uhrzeit hier?«, begrüßte die Ärztin ihre Besucherin erfreut.
»Ach, Frau Bärwald hat mir heute Mittag schon früher frei gegeben. Da dachte ich, ich schau jetzt schon vorbei«, erklärte die junge Bäckerin so unbeschwert wie möglich und zog sich einen Stuhl ans Bett. »Wie geht es dir?«
»Viel besser. Ich bin froh, dass ich endlich diese Magensonde los bin. Auch wenn das Essen noch kein richtiger Spaß ist, halte ich lieber diese Schmerzen aus …« Fee war guter Dinge und plauderte munter vor sich hin, während Tatjana lächelnd an ihrem Bett saß und so aufmerksam wie möglich zuhörte. Das war nicht ganz leicht, denn immer wieder wollten ihre Gedanken zu Danny eilen und taten es schließlich auch.
Fee hatte längst geendet und betrachtete ihre Schwiegertochter in spe schon eine ganze Weile, ehe sie fragte:
»Süße, was ist denn los mit dir?«
Auch diese Frage hörte Tatjana zunächst nicht. Erst als Felicitas sie wiederholte, wurde sie aufmerksam. Im ersten Augenblick wollte sie leugnen. Doch sie wusste um die besondere Beziehung zur Mutter ihres Freundes. Die wollte sie auf keinen Fall mit einer Lüge aufs Spiel setzen. Abgesehen davon, dass es ohnehin zwecklos war zu leugnen.
»Ach, Fee, Danny hat still und heimlich beschlossen, seine Promotion zu schreiben«, brach die ganze Wahrheit schließlich aus Tatjana heraus. »Dabei hatten wir ausgemacht, dass er damit wartet, bis ich mit meiner Ausbildung fertig bin, damit immer einer den anderen unterstützen kann«, klagte sie der Ärztin zerknirscht ihr Leid.
»Manchmal wird man durch besondere Ereignisse gezwungen, Pläne zu ändern«, gab Fee zu bedenken und setzte sich im Bett zurecht. Allmählich machte sie das tatenlose Herumliegen nervös, und sie sehnte sich nach ihrem gewohnten Leben zurück. »Egal, was man vorher beschlossen hat.«
»Mag schon sein.« Verlegen zupfte Tatjana mit den Zähnen an der Unterlippe. »Aber doch nicht stillschweigend. Manchmal hab ich das Gefühl, Danny spricht mit jedem, nur nicht mit mir.«
Allmählich ging Felicitas Norden ein Licht auf.
»Und darüber habt ihr gestritten?«
Tatjana nickte betreten.
»Ich glaub, ich hab mich nicht sehr freundlich ihm gegenüber verhalten. Aber ich war so wahnsinnig verletzt.« Dabei wirkte sie so zerknirscht, dass Fee unvermittelt lachen musste.
»Tut mir leid, meine Süße!« Immer noch lachend schüttelte sie den Kopf. »Ich fürchte, da sind zwei ganz schöne Sturköpfe aneinander geraten. Ihr müsst aufpassen, dass ihr über eurem Stolz nicht vergesst, was ihr aneinander habt.«
Tatjana nickte bedächtig und schickte Fee einen hoffnungsvollen Blick.
»Meinst du, du könntest bei Danny vielleicht ein gutes Wort für mich einlegen und ihm sagen, dass ich …« Ratlos hielt sie inne, und Fee schüttelte spontan den Kopf.
»Selbst ist die Frau! Denk einfach an die Liebe, die euch verbindet. An die besonderen Erlebnisse, die schönen und auch die schweren Stunden, die eure Beziehung zu dem gemacht haben, was sie ist. Zu etwas Besonderem. Dann braucht ihr mich nicht als Vermittlerin.«
»Meinst du wirklich?«
»Ja!«, erwiderte Felicitas mit fester Stimme und vertrieb damit auch noch den letzten Zweifel aus Tatjanas Herzen.
»Ich kann dir gar nicht sagen, wie dankbar ich dir bin«, erklärte sie zum Abschied und drückte innig Fees Hände, ehe sie aufstand. Sie wollte sich wieder auf den Weg in die Bäckerei machen, um Frau Bärwald zu beweisen, dass sie doch das Zeug zu ihrer Nachfolgerin hatte.
Felicitas sah der einsichtigen jungen Frau zufrieden nach. Immer wieder erinnerte Tatjana sie an ihre eigene Jugend, als ihre Liebe zu Daniel Norden noch genauso frisch gewesen war wie die der beiden jungen Leute.
»Ich halte große Stücke auf dich und bin sehr froh, dass du meinem Sohn hin und wieder Paroli bietest«, sagte sie, als Tatjana schon die Hand auf der Klinke hatte.
Die junge Bäckerin drehte sich noch einmal um und schickte der Mutter ihres Freundes einen dankbaren Blick. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, verließ sie das Zimmer.
*
Als Danny Norden an diesem Mittag in die Klinik kam, lagen bereits die ersten Untersuchungsergebnisse seiner Patientin Else Unterholzner vor.
»Du hattest recht«, klärte Matthias Weigand den jungen Kollegen auf und deutete auf den Computerbildschirm. »Die Bilder zeigen ganz deutlich einen komplexen Meniskusriss. Je eher wir Frau Unterholzner operieren, umso größer sind ihre Chancen, ohne Folgeschäden davonzukommen.«
Danny lächelte grimmig. Das fiel ihm nicht weiter schwer, denn seine Stimmung war ohnehin auf einem Tiefpunkt angelangt. Seit dem Streit hatte er nichts mehr von Tatjana gehört, und er litt mehr unter ihrem Schweigen, als er sich selbst eingestanden hätte. Er vermisste sie schmerzlich. Doch wann immer er selbst den Hörer in die Hand nehmen und sie anrufen wollte, hörte er eine innere Stimme, die ihn an den eiskalten Rauswurf erinnerte, und er legte wieder auf. Um den Gedanken an Tatjana zu entfliehen, konzentrierte er sich wieder auf seine Arbeit.
»Weiß Frau Unterholzner schon Bescheid? Oder soll ich mich in die Höhle des Löwen wagen?«, fragte er.
»Wir wollten dir nicht zuvor kommen. Die Patientin gehört dir«, grinste Dr. Weigand und drückte Danny die Mappe mit den Unterlagen in die Hand. »Ich bring dich zu ihr. Liegt eh auf meinem Weg. Und wenn du schon mal da bist, kannst du Frau May gleich die Einverständniserklärung für ihre Operation unterschreiben lassen.« Er griff nach einem Blatt Papier auf dem Schreibtisch und legte es auf die Akte Unterholzner.
»Ich habe schon immer geahnt, dass du ein hilfsbereiter, selbstloser Mensch bist«, frotzelte Danny und folgte dem Kollegen zum Aufzug.
Jeder in seine Gedanken vertieft stiegen sie aus und wanderten den Flur hinab, als schon von Weitem gedämpftes Gezeter zu hören war.
»Und was war damals mit der Dachrinne? Du hast dich geweigert, dich an den Kosten für die Abdeckung zu beteiligen«, schimpfte Else Unterholzner ungeniert.
»Du hättest dein Geld in die Baumfällarbeiten stecken können. Dann hätten wir keine Laubfanggitter gebraucht«, setzte sich Ditte May ebenso energisch zur Wehr.
Dr. Weigand grinste schief und ließ Danny allein vor der Tür zurück. Er trat nicht sofort ein, sondern wartete noch einen Moment in der Hoffnung, dass der Streit ein baldiges Ende fand.
Trotz der Wände dazwischen klang Elses abfälliges Lachen schrill in seinen Ohren.
»Hast du wirklich gedacht, ich bin so blöd und finanziere dir deinen Gärtner?«, fragte sie schnippisch.
In diesem Moment wurde dem jungen Arzt schlagartig klar, dass er keine Wahl hatte. Entweder er wagte sich jetzt in die Höhle des Löwen oder der Streit würde den Rest des Tages andauern.
Beherzt hob er die Hand und klopfte an. Dann holte er tief Luft und betrat energisch das Krankenzimmer.
»Guten Tag, meine Damen. Wie geht es denn heute?«
Schlagartig verstummten die beiden Hyänen, und zwei blitzende Augenpaare musterten ihn.
»Machen Sie Witze?«, fragte Else sichtlich empört. Mit verschränkten Armen saß sie aufrecht im Bett und funkelte Danny ärgerlich an. »Wie soll’s einem in Gesellschaft dieser Schnepfe schon gehen? Haben Sie wenigstens Champagner und ein paar Cognac-Trüffel mitgebracht? Dann kann ich mir die Welt schön trinken und muss das hier nicht länger nüchtern ertragen.«
»Wir befinden uns hier in einer Klinik und nicht in einer Wellnessoase«, klärte Danny die anspruchsvolle Seniorin geduldig auf.
Doch davon wollte Else nichts wissen.
»Na wunderbar. Wenn ich bis jetzt noch nicht krank war, dann werde ich es spätestens hier.«
Diese Bemerkung kam Danny gerade recht.
»Leider hat sich mein Verdacht bestätigt und Ihr Aufenthalt in der Klinik hat durchaus seine Berechtigung«, erwiderte er und trat an ihr Bett. Er öffnete die Mappe und deutete auf den Ausdruck der Bilder, die Dr. Weigand extra angefertigt hatte. »Hier ist der verletzte Meniskus klar und deutlich zu erkennen …«
Doch davon wollte Else Unterholzner nichts wissen. Abrupt wendete sie sich ab und starrte demonstrativ in die andere Richtung.
»Ich sehe gar nichts.«
Ditte lachte hämisch auf, und Danny schüttelte unwillig den Kopf.
»Sie müssen mir schon eine Chance geben, den Sachverhalt zu erklären. Falls Sie immer noch an meiner Glaubwürdigkeit zweifeln: Die Diagnose stammt von den Kollegen. Ich bin nur der Bote.«
»Wurden die Überbringer schlechter Nachrichten früher nicht hingerichtet?«, kicherte Ditte May gut gelaunt.
Im Normalfall hätte Danny mit ihr gelacht. So aber ruhte all seine Aufmerksamkeit auf der störrischen Else.
»Ich will so schnell wie möglich hier raus. Das ist alles«, brummte sie und wirkte schon nicht mehr so energisch wie am Anfang.
»Daraus wird leider nichts. Wir sollten so schnell wie möglich operieren, damit Sie ohne Folgeschäden davonkommen.«
»Ausgeschlossen«, entfuhr es Else spontan. Sie war ganz blass geworden. »Ich … mir … mein Hals schmerzt schon die ganze Nacht. Sieht so aus, als hätte ich mir eine Erkältung eingefangen. Wahrscheinlich einer von diesen Krankenhauskeimen, von denen man so oft in der Zeitung liest.«
Nur mit Mühe konnte sich Danny ein Schmunzeln verkneifen.
»Schwer vorstellbar. Aber natürlich werden Sie vorher gründlich untersucht. Zur Not müssen wir eben einen Tag länger warten.« Damit war für ihn das Thema erledigt, und er wandte sich Ditte zu.
»Mit Ihnen ist hoffentlich alles in Ordnung, Frau May«, tat er seine Hoffnung kund und legte ihr das Blatt vor, das ihm der Kollegen mitgegeben hatte. »Dr. Weigand bittet um eine Unterschrift für die Operation morgen früh.« Er hielt ihr einen Kugelschreiber hin, und schwungvoll setzte Ditte ihren Namen auf die Einverständniserklärung.
»Dann bringen wir es mal hinter uns. Wird schon schief gehen«, erklärte sie arglos und gab Danny den Stift zurück.
»An deiner Stelle würde ich mir auch keine Sorgen machen. Unkraut verdirbt ja bekanntlich nicht«, tönte Elses gehässige Stimme durch den Raum.
Die Tatsache, dass sich der junge Arzt nicht geirrt hatte und ein Eingriff nötig wurde, hatte ihr endgültig die Laune verdorben.
Danny überlegte kurz, ob er dazu etwas sagen sollte, beschloss aber dann, sich nicht einzumischen. Er nahm die Einverständniserklärung in Empfang und verstaute sie sorgfältig in den Unterlagen.
»Eine völlige Risikolosigkeit kann Ihnen natürlich kein Arzt garantieren. Aber die Methode zur Korrektur eines Hallux Valgus, die an dieser Klinik angewendet wird, ist sehr erfolgreich«, erklärte er der unerschrockenen Seniorin.
»Diese Methode wurde im Wilden Westen erfunden«, konnte sich Else auch dieses Mal nicht zurückhalten. »Damit es nicht so weh tut, bekommst du Whiskey eingeflößt und ein Beißholz zwischen die Zähne.«
Allmählich wurde es Danny Norden zu bunt. Zu Dittes großer Genugtuung drehte er sich ärgerlich zu Else um.
»Sehr schlimm scheint es mit Ihrer Grippe nicht zu sein, wenn Sie so austeilen können«, bemerkte er bissig und wandte sich wieder an Ditte. »Sie müssen sich wirklich keine Sorgen machen.«
»Wenn Sie das sagen, glaube ich das gern«, erwiderte Ditte May.
Dabei sah sie jedoch nicht den jungen Arzt an. Vielmehr glitt ihr Blick durchs Zimmer, dass Danny gar nicht anders konnte als sich umzudrehen. Er sah gerade noch, wie Elses seidener Morgenmantel durch einen Spalt in der Tür wehte, ehe sie mit einem leisen Klacken ins Schloss fiel.
»Typisch Else. Wenn es ernst wird, läuft sie davon«, stellte Ditte kopfschüttelnd fest.
»Sie meinen, Frau Unterholzner hat Angst vor dem Eingriff?« Allmählich ging Danny Norden ein Licht auf.
Ditte May antwortete nicht sofort. Sie schien mit sich zu hadern.
»Eigentlich ist es ja kein Wunder. Elses Mann ist vor fünfzehn Jahren während einer Operation gestorben. Damals haben die Ärzte auch gesagt, dass es sich um einen harmlosen Eingriff handelt«, beschloss sie schließlich, Danny einzuweihen. »Darüber ist sie nie wirklich hinweg gekommen. Auch wenn es wirklich nicht schade ist um den alten Schwerenöter«, konnte sich auch Ditte einen anzüglichen Kommentar nicht verkneifen. Danny beschloss, ihn wohlweislich zu ignorieren.
»Oh, das erklärt natürlich einiges …« Er klappte die Mappe zu und klemmte sie unter den Arm. Allmählich wurde es Zeit, seine Mutter zu besuchen, ehe er zur Nachmittagssprechstunde in die Praxis zurückkehren musste. »Ich werde sehen, was ich in dieser Angelegenheit tun kann«, versprach er noch, bevor er sich von Ditte May verabschiedete.
Die blieb mit einem geheimnisvollen Lächeln auf dem Gesicht zurück, wohlwissend, dass sie dem jungen Arzt nur einen Teil der ganzen, großen Wahrheit verraten hatte. Der Rest war nicht wichtig. Nicht für Danny Norden.
*
Nachdem Otto Holtz von seinem Sohn erfahren hatte, wo sich sein großer Schwarm Else Unterholzner aufhielt, hatte er nicht gezögert und sich, bewaffnet mit einem riesigen Blumenstrauß, auf den Weg in die Behnisch-Klinik gemacht. Er hatte noch keine Gelegenheit gehabt, sich bei der Information nach dem Zimmer zu erkundigen, als ihm Else schon auf dem Flur entgegen kam. Die Arme schützend um den Oberkörper geschlungen, humpelte sie mit verkniffener Miene und wehendem Morgenmantel in Richtung Cafeteria.
Als sie an dem Herrn mit dem riesigen Blumenstrauß vorbei eilte, würdigte sie ihn keines Blickes. So blieb Otto Holtz nichts anderes übrig, als sich bemerkbar zu machen.
»Frau Unterholzner! Sind Sie das wirklich?«, griff er nach der List, die er sich schon lange vor diesem Treffen zurechtgelegt hatte. »Ist das denn die Möglichkeit!«
Sein Plan ging auf. Die Bewunderung in seiner Stimme ließ Else aufhorchen. Abrupt blieb sie stehen. Doch sie drehte sich nicht sofort um. Otto Holtz konnte sehen, wie sie sich rasch mit der Hand durch den tadellos frisierten, dunkel getönten Pagenkopf fuhr. Erst als sie sicher sein konnte, gut auszusehen, wandte sie sich um.
»Ja bitte?«, flötete sie geschmeichelt. Die verkniffene Miene war verschwunden, und ihr Lächeln war professionell, wie sie es während ihrer Model-Karriere gelernt hatte. Sie musterte den gutaussehenden älteren Herrn mit sichtlichem Wohlgefallen. »Sie kennen mich, Herr …Herr …?«
»Bitte entschuldigen Sie meine Unhöflichkeit. Holtz, Otto Holtz«, stellte sich Otto vor. »Natürlich kenne ich Sie, das heißt natürlich, Ihre Fotos in Zeitschriften und Katalogen. Ihr Lächeln ist einzigartig.« Er nahm den Blumenstrauß in die linke Hand und reichte Else die rechte.
»Angenehm«, erwiderte die Seniorin und betrachtete den Strauß mit unverhohlenem Interesse. »Sie machen einen Krankenbesuch?«
Dieser Verdacht lag nahe, und Otto hatte keine passende Ausrede parat. Er konnte ihr ja schlecht gestehen, dass die Blumen von Anfang an für sie gedacht waren, hatte sie einfach in einem Anfall kopfloser Verliebtheit erstanden.
»Sie meinen wegen den Blumen?«, sagte er langsam, um Zeit zu gewinnen und rang fieberhaft um eine plausible Ausrede. »Die … die sind eigentlich für meine … meinen Bruder. Er liegt hier nach einer Knieoperation.«
»Die habe ich auch vor mir«, brummte Else unwillig. »Sie schenken Ihrem Bruder solche Blumen?«, hakte sie zu Recht skeptisch nach.
Am liebsten hätte sich Otto geohrfeigt.
»Ja … nein … ach, Sie wissen doch, wie ungeschickt Männer in solchen Dingen sind. Natürlich ist dieser Strauß völlig ungeeignet für einen Mann«, fand er endlich einen Weg aus dieser Sackgasse. »Wollen Sie ihn nicht haben?« Strahlend hielt er Else die wunderschönen Blumen hin. »Zu Ihnen passen Sie viel besser.«
»Wirklich?« Geschmeichelt und ohne Zögern nahm Else Unterholzner das Geschenk an und versenkte ihr zart gerötetes Gesicht in den duftenden Blüten.
»Darf ich die Gunst der Stunde nutzen und Sie auf einen Kaffee in die Cafeteria einladen?«, nahm Otto daraufhin allen Mut zusammen.
Diesmal antwortete Else nicht ganz so schnell. Sie maß ihr Gegenüber mit einem forschenden Blick. Blitzschnell registrierte sie jedes noch so kleine Detail: Die blank geputzten Lederschuhe, die modischen Khakis, zu denen Otto ein makellos weißes Hemd mit geöffnetem Kragen trug. Zum Schutz vor dem kühlen Wind, der immer wieder um die Häuser strich, trug er einen Feinstrickpullover über den Schultern. Sein ganzes Äußeres machte den Eindruck eines gepflegten, gut situierten Mannes im besten Alter. Kurzum: Otto Holtz war genau das, wonach Else schon so lange gesucht hatte.
»Kaffee ist natürlich sehr schön«, raunte sie ihm zu und beugte sich vor, sodass er ihr betörendes teures Parfum riechen konnte. »Aber ehrlich gesagt steht mir der Sinn im Augenblick mehr nach Champagner.«
Nur mit Mühe konnte sich Otto ein amüsiertes Schmunzeln verkneifen.
»Dann eben Champagner. Ihr Wunsch ist mir Befehl«, erwiderte er und reichte ihr galant den Arm. »Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob in einer Klinik-Cafeteria Alkohol ausgeschenkt wird.«
»Ich bitte Sie!« Else maß ihren Begleiter mit einem herausfordernden Blick und versuchte, das Humpeln so gut wie möglich zu unterdrücken. »Sie sind doch ein ganzer Kerl, der bekommt, was er will. Das sehe ich auf den ersten Blick.«
»Sie sind eine gute Menschenkennerin.« Otto Holtz schickte ihr einen ebenso geschmeichelten wie besorgten Seitenblick. »Sie sollen also auch am Knie operiert werden? Wollen Sie mir verraten, was genau Ihnen fehlt?«
»Gar nichts!«, entfuhr es Else Unterholzner schroffer als beabsichtigt. Inzwischen waren sie in der klinikeigenen Cafeteria angelangt. Bereitwillig ließ sie sich von ihrem Begleiter einen Stuhl zurecht rücken. »Diese Ärzte sind doch nur Kurpfuscher und wollen mit uns Privatpatienten möglichst viel Geld machen.« Wieder beugte sie sich vor und fuhr fast flüsternd fort. »Deshalb brauche ich den Champagner. Ich muss mir Mut antrinken, damit ich heute Abend die Flucht wagen kann. Wollen Sie mir helfen?«
Otto Holtz haderte mit sich. Bevor er Else Unterholzner persönlich kennengelernt hatte, war sie nur eine schöne, begehrenswerte Frau gewesen. Doch nun hatte sich seine Begeisterung ins schier Unermessliche gesteigert und paarte sich mit der Angst um ihre Gesundheit.
»Tut mir leid, wenn ich Sie enttäuschen muss. Aber das kann ich nicht.«
Mit dieser klaren Absage hatte Else nicht gerechnet. Einen Moment lang saß sie da und schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen.
»Warum?«, presste sie schließlich durch die Lippen.
Otto zögerte kurz. Dann griff er nach ihren Händen und zog sie zu sich. Er betrachtete sie kurz, ehe er einen Kuss auf die beiden Handrücken hauchte. Dabei ließ er sie nicht aus den Augen. Dieser Blick ließ Elses Herz schneller schlagen, und plötzlich fühlte sie sich wie ein Teenager.
»Ich verstehe das nicht. Auf der einen Seite sind Sie so eine mutige und selbstsichere Frau«, sagte er warm. »Und auf der anderen Seite haben Sie so viel Angst vor einer Operation. Dabei mag ich mutige Frauen.«
Else schluckte. Etwas an ihm traf ihr Innerstes, ohne dass sie hätte sagen können, was genau das war.
»Wirklich?«
»Natürlich. Welcher Mann mag das nicht?«, fragte Otto. Else hatte ihn tatsächlich richtig eingeschätzt. Er war ein Mann, der wusste, was er wollte, und der danach handelte. »Wenn Sie sich operieren lassen, dürfen Sie mich nach meiner Nummer fragen. Eher nicht. Und jetzt hole ich uns ein Glas Champagner.«
Dieses Unterfangen war leichter in die Tat umzusetzen als geahnt. Immer wieder gab es Grund zu feiern und daher auch Champagner in der Cafeteria. Doch als Otto Holtz an den Tisch zurückkehrte, war Elses Stuhl leer. Ein weiteres Mal hatte sie die Flucht ergriffen, dabei jedoch den Strauß mitgenommen. Auch wenn er enttäuscht war, wertete Otto Holtz zumindest diese Tatsache als gutes Zeichen. Die beiden Gläser in der Hand sah er sich fragend um. Als er ein Paar entdeckte, das in ein Gespräch vertieft an einem der benachbarten Tische saß, lud er die beiden kurzerhand ein. Gleich darauf machte er sich auf den Nachhauseweg, nichtahnend, dass Else ihn von einem sicheren Versteck hinter einer Säule beobachtete.
*
»Wenn ich nicht ganz genau wüsste, dass du dem Tod erst vor ein paar Tagen von der Schippe gesprungen bist, würde ich es nicht glauben.« Staunend stand Danny Norden vor seiner Mutter und betrachtete sie mit einer Mischung aus tiefer Bewunderung und professionellem Interesse. »Wie hast du das nur angestellt?« Er sah sich nach einem Stuhl um und setzte sich ahnungslos genau dorthin, wo seine Freundin noch vor kurzem gesessen hatte.
Fee lachte ausgelassen. Die meisten Krusten hatten sich von ihren Lippen gelöst, und nur noch vereinzelt waren Spuren der verheerenden Krankheit zu sehen.
»Wahrscheinlich liegt es an meinem unruhigen Geist und daran, dass ich das Gefühl habe, dringend gebraucht zu werden«, gestand sie offenherzig und hoffte darauf, ihrem Sohn damit den Weg zu ebnen. Als Danny aber nichts sagte, fuhr sie fort. »Deshalb muss ich so schnell wie möglich wieder fit werden.« Ihr forschender Blick ruhte auf ihrem ältesten Sohn. Der saß inzwischen vornübergebeugt auf dem Stuhl, die Ellegoben auf dem Oberschenkel abgestützt.
»Das ist eine mögliche Erklärung«, gab er ihr recht, wirkte dabei aber alles andere als glücklich. »Du ahnst nicht, wie gut es tut, dich so zu sehen!«, seufzte er ungewöhnlich innig. »Im Übrigen brauche ich deine Unterstützung.«
Sofort hatte Fee Tatjana im Sinn. Doch Danny überraschte sie mit einem anderen Thema.
»Du bist doch fast fertig mit deinem Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Da kennst du dich sicher auch mit älteren Herrschaften aus, oder?«
»Das kommt natürlich ganz darauf an.« Sofort war Fees berufliches Interesse geweckt, und sie rutschte unruhig im Bett hin und her. »Um was genau geht es denn?«
Die eben erlebte Szene noch deutlich vor Augen, berichtete Danny in lebhaften Worten von dem, was er mit Ditte und Else erlebt hatte.
»Nicht nur, dass die beiden sich offenbar schon ein halbes Leben lang kennen und hassen, hat Else auch noch Angst vor einer wichtigen Operation«, schloss er seinen Bericht nachdenklich. »Ich glaube, eine Versöhnung der beiden ist immens wichtig für alles, was weiter passiert.«
Unwillkürlich musste Felicitas lächeln.
»Weißt du eigentlich, dass du mich in vielerlei Hinsicht an deinen Vater erinnerst? Für Dan liegt die Heilung auch nicht ausschließlich in den körperlichen Symptomen, sondern auch in der Seele. So gesehen hast du also recht: Wenn Else und Ditte wirklich gesund werden wollen, müssen sie ihr Verhältnis klären.«
»Glaubst du, du kannst ihnen dabei helfen?«, fragte Danny und schickte ihr einen hoffnungsvollen Blick.
Nachdenklich wiegte Felicitas den Kopf hin und her.
»Versprechen kann ich natürlich nichts. Aber vielleicht gelingt es mir wenigstens, Else die Angst vor dem Eingriff zu nehmen. Das wäre ja schon mal die halbe Miete.«
»Stimmt.« Danny nickte zustimmen.
Im Grunde hätte er jetzt fröhlicher sein können. Doch es war ihm anzusehen, dass dieses Problem nicht sein einziges war. Eine Weile saß er schweigend vor dem Bett seiner Mutter und knibbelte an einem kleinen Stück Nagelhaut.
Felicitas sah ihm kurz dabei zu. Auch ohne Tatjanas Besucht hätte sie geahnt, dass ihn etwas bedrückte, und schließlich fasste sie einen Beschluss.
»Willst du mir nicht sagen, wo der Schuh dich außerdem drückt?«, fragte sie ohne Umschweife. »Mit Tatjana ist doch hoffentlich alles in Ordnung?«
Als er den Namen seiner Freundin hörte, zuckte Danny zusammen.
»Es geht ihr gut«, antwortete er zögernd. »Glaube ich.«
Das war das Stichwort, auf das Fee gehofft hatte.
»Glaubst du oder weißt du es?«, fragte sie. »Hattet ihr etwa Streit?«
»Nicht direkt«, seufzte der junge Arzt und war ebenso zerknirscht wie seine Freundin.
Er lehnte sich zurück und sah durch seine Mutter hindurch. Sein Augen füllten sich mit den Erinnerungen der vergangenen Tage.
»Ich habe ihr vorgeschlagen, zu mir zu ziehen, damit wir genügend Zeit füreinander haben, wenn ich meine Promotion schreibe, während sie ihre Ausbildung macht«, erklärte er und machte keinen Hehl daraus, dass er gekränkt war. »Damit war sie nicht einverstanden.« In knappen Worten berichtete er von dem verbalen Zusammenstoß, und Fee wusste sofort, wo der Hase im Pfeffer lag. »Am Ende hat sie mich sogar vor die Tür gesetzt, weil sie noch lernen musste. Zumindest hat sie das behauptet.«
»Und seither spielt ihr beiden beleidigte Leberwurst!«, sagte Fee ihrem Ältesten auf den Kopf zu.
Ob Danny wollte oder nicht, er musste über diesen komischen Ausdruck seiner Kindheit lachen.
»So ähnlich. Ich sehe es nicht ein, bei ihr anzurufen. Schließlich hat sie mich rausgeworfen. Und sie meldet sich nicht, weil ich mich nicht mit ihr abgesprochen habe«, räumte er zerknirscht ein. »Glaubst du, du könntest vielleicht mit Tatjana reden und mal abchecken, ob sie noch sauer auf mich ist?« Er setzte den Buben-Blick auf, dem seine Mutter noch nie widerstehen konnte.
Fee saß in ihrem Bett und blinzelte ins helle Licht der Mittagssonne. Was sollte sie darauf sagen?
»Selbst ist der Mann!«, begann sie und wiederholte die Worte, die sie auch Tatjana mit auf den Weg gegeben hatte. »Eure Liebe ist etwas Besonderes, das es zu bewahren gilt!«, schloss sie ihre Rede und stellte fest, dass die Augen ihres Sohnes aufleuchteten.
»Wie die von Dad und dir«, murmelte er, während er aufstand. Es wurde allerhöchste Zeit, in die Praxis zurückzukehren, und er stellte den Stuhl an seinen Platz zurück.
»Soweit ich das beurteilen kann schon«, erwiderte Fee, als sich ihr Sohn zu ihr hinab beugte und ihr einen Kuss auf die Wange drückte.
Mit Genugtuung bemerkte sie, dass er genau wie Tatjana nicht mehr so mutlos wirkte wie noch am Anfang seines Besuchs. Seine Schritte waren beschwingt, als er das Zimmer verließ. Jetzt konnte sie nicht mehr tun als abzuwarten, wie sich die Dinge zwischen dem jungen Paar entwickelten.
»Dann werde ich mich inzwischen mal um die beiden störrischen älteren Damen kümmern«, beschloss Felicitas und schlug die Bettdecke zurück. Der altbekannte Tatendrang war zu neuem Leben erwacht – ein eindeutiges Zeichen ihrer voranschreitenden Genesung –, und voller Elan machte sie sich auf den Weg zu Else Unterholzner und Ditte May.
*
Wutschnaubend und so schnell es ihr schmerzendes Bein erlaubte, stürmte Else Unterholzner ins Zimmer zurück. Krachend warf sie die Tür ins Schloss. Ditte, die friedlich im Bett gelegen und gedöst hatte, fuhr erschrocken hoch.
»Bist du jetzt endgültig von allen guten Geistern verlassen?«, fauchte sie.
Vor Aufregung schlug ihr Herz wild in ihrer Brust, und sie sah ihrer Erzfeindin dabei zu, wie sie einen wunderschönen Strauß Blumen auf den Boden warf und zertrampelte. Ein paar Mal stampfte sie wie ein Derwisch mit dem gesunden Bein auf. Dann vergaß sie ihre Krankheit und tat dasselbe mit dem verletzten Fuß.
»Aua, auweh!«, schrie Else Unterholzner auf. Sie bückte sich und umklammerte das verletzte Knie mit beiden Händen. Tränen der Wut und des Schmerzes rannen ihr über die zarten Wangen.
Ihr Anblick war so herzzerreißend, dass sogar Dittes Herz weich wurde. Sie machte Anstalten, aus dem Bett zu klettern, als die Tür aufgerissen wurde.
»Was ist passiert?« Niemand anderer als Fee Norden stand im Zimmer.
Sie hatte die Schmerzensschreie gehört und verschaffte sich blitzschnell einen Überblick.
Ditte May sank wieder in die Kissen zurück und hob abwehrend die Hände.
»Ich kann wirklich nichts dafür«, beteuerte sie energisch. »Sie ist einfach ausgerastet und hat hier gewütet wie ein Derwisch. Allmählich bekomme ich Angst vor der alten Schreckschraube.«
Kopfschüttelnd wandte sich Fee an Else. Der Schmerz hatte sie lammfromm gemacht, und sie ließ sich willig zum Bett führen. Fürsorglich half Felicitas Norden ihr, sich zuerst auf die Bettkante zu setzen und sich dann hinzulegen. Dann sah sie von einer zur anderen.
»Woher nehmen Sie eigentlich die Energie, sich ständig gegenseitig so fertig zu machen?« Bevor sie sich in das Zimmer gewagt hatte, hatte sich die erfahrene Ärztin von einer Schwester informieren lassen. »Ich dachte, Sie kennen sich. Sind Sie nicht sogar Nachbarinnen?«
»Ob Sie’s glauben oder nicht, ich war sogar mal mit dieser Schnepfe befreundet«, presste Else durch die Zähne. Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie es selbst nicht glauben.
»Das ist eine halbe Ewigkeit her«, bestätigte Ditte versonnen. Sie lag im Bett, das Rückenteil halb aufgerichtet, und musterte Else aus schmalen Augen. »Damals warst du noch mit Elmar verheiratet.« Auf diesen Namen legte sie eine besondere Betonung, und Else wurde sofort wieder wütend.
»Du bist doch nur neidisch, dass dich nie einer heiraten wollte«, konterte sie mit Funken sprühenden Augen.
»Hast du schon mal drüber nachgedacht, dass es andersrum gewesen sein könnte?«, stand Ditte ihr in nichts nach.
»Pah, das kannst du jetzt leicht sagen.« Else lächelte schmallippig, während Fee dem Streit schweigend lauschte. Eine innere Stimme befahl ihr, nicht einzugreifen. Gleich darauf bekam sie die Bestätigung. »Kurz vor seinem Tod sagte Elmar zu mir, er würde dich noch nicht mal mit einer Zange anfassen«, erklärte Else triumphierend.
Als Ditte das hörte, wurde sie blass. Sie richtete sich kerzengerade im Bett auf und schnappte nach Luft.
»Das hat er gesagt?« Ihre Stimme war schrill. »Hätte ich mir ja denken können, nachdem er bei mir abgeblitzt ist.«
Diesmal war es Else, die die Augen aufriss.
»Das ist nicht wahr!« Plötzlich war ihre Stimme nicht mehr als ein heiseres Flüstern. Ihre Wangen hatten die Farbe gewechselt. »Er hat dich nicht umgarnt. Nicht dich auch noch. Das sagst du jetzt nur, um mich zu verletzen.«
Elses offensichtliche Fassungslosigkeit brachte Ditte wieder zur Besinnung.
Langsam schüttelte sie den Kopf.
»Leider nein.« Mehr sagte sie nicht.
Das folgende Schweigen war das Zeichen für Fee, sich nun doch in das Gespräch einzumischen. Sie hatte genug gehört, um sich einen Reim auf das zu machen, was vor so vielen Jahren geschehen war.
»Darf ich fragen, warum Sie sich nach Elmars Tod so verfeindet haben?«
Es dauerte einen Moment, bis Else Unterholzner ihre Gedanken sortiert hatte. Sie räusperte sich umständlich, ehe sie die Frage der Ärztin beantwortete.
»Mein Mann ist während einer harmlosen Operation ganz unvermutet gestorben. Viele Menschen sind mir beigestanden in dieser schweren Zeit. Nur Ditte …«, ihre Augen wanderten hinüber zum Bett ihrer Feindin, »meine angeblich beste Freundin meinte, ich soll froh sein, dass ich ihn endlich los bin.« Elses Stimme war tränenerstickt, und Fee wusste nicht, ob sie um die verlorene Freundschaft oder den offenbar treulosen Mann weinte. »Und das in einer Zeit, in der ich so dringend Trost und Beistand gebraucht habe. Können Sie sich vorstellen, wie schrecklich das ist?« Dankbar nahm sie das Taschentuch, das Felicitas ihr reichte, und betupfte behutsam die empfindliche Haut um die Augen.
»Was ist dann passiert?«, beschloss die Ärztin, im Augenblick nicht weiter auf diese Geschichte einzugehen.
»Danach haben wir uns eine Zeit lang ignoriert. Und dann irgendwann gingen die Grabenkämpfe los.« Es war Ditte, die diese Frage beantwortete. »Es fing damit an, dass dein Gärtner meinen Apfelbaum derart verstümmelt hat, dass er eingegangen ist«, schimpfte sie in Richtung ihrer Nachbarin.
»Er hat lediglich abgeschnitten, was über meinen Zaun hing«, verteidigte sich Else postwendend. »Was kann ich dafür, dass du den Baum viel zu nah an mein Grundstück gepflanzt hast?«
»Wenn ich nicht irre, hast du mich damals angebettelt, genau das zu tun. Wir könnten uns die Äpfel teilen, hast du gesagt.«
»Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern?«, winkte Else herablassend ab. »Außerdem hast du mir im Winter jeden Tag den Schnee vor die Haustür geschaufelt. Das konnte ich nicht auf mir sitzen lassen.«
»Das war erst nach dem mysteriösen Baumsterben.«
An dieser Stelle hatte Fee genug gehört.
»Also, meine Damen …« Sie erhob die Stimme, um sowohl Else als auch Ditte in ihre Schranken zu verweisen. »Es ist offensichtlich, dass Sie emotional immer noch sehr miteinander verbunden sind«, stellte sie so sachlich wie möglich fest und sah von einer zur anderen.
»Wie bitte?«, platzte Else ungläubig heraus. »Das soll wohl ein Witz sein.«
Mit einer energischen Handbewegung brachte Fee sie zum Schweigen.
»Wenn dem nicht so wäre, hätte doch wenigstens eine von Ihnen längst die Flucht ergriffen«, gab sie zu bedenken.
Diesem Argument hatten die beiden Frauen spontan nichts entgegen zu setzen.
»Ich wollte das Haus nicht verkaufen, in dem ich so lange mit meinem Mann glücklich war«, fand Else schließlich eine halbwegs plausible Antwort.
»Dass ich nicht lache!«, prustete Ditte postwendend los. »Du musst an fortgeschrittener Demenz leiden, wenn du glaubst, dass eure Ehe gut war.« Sie zögerte kurz. So lange hatte sie geschwiegen. »Weißt du wirklich nicht, dass dein lieber Elmar dich pausenlos betrogen hat? Dabei war er noch nicht mal wählerisch und hat alles angegraben, was nicht bei drei auf dem Baum …«
»Hör auf! Hör sofort auf damit!« Elses Stimme war schrill. Sie hielt sich die Ohren zu, um nicht an das erinnert zu werden, was sie so dringend vergessen wollte.
Sie zitterte am ganzen Körper, und Fee ging zu ihr, um sie zu trösten und zu halten. Diese mitfühlende Berührung war mehr, als Else verkraften konnte. Wie ein Sturzbach rannen ihr die Tränen über die Wangen. Sie ließ die Hände sinken und ließ ihrer Trauer freien Lauf.
»Natürlich weiß ich, dass er mich ständig betrogen hat«, gestand sie, unterbrochen von Schluchzern, die ihren ganzen Körper schüttelten. »Aber ich konnte mir das einfach nicht eingestehen. Sonst hätte ich mir die Frage stellen müssen, warum ich nicht gegangen bin damals.« Willig ließ sie sich von Fee die Tränen abtupfen.
»Und? Warum haben Sie es nicht getan?«, stellte die Ärztin behutsam die alles entscheidende Frage.
Ditte hielt die Luft an, und einen Moment lang wirkte Else wie erstarrt.
»Ich … ich hatte Angst … hab mich einfach nicht getraut«, gestand sie endlich so leise, dass ihre Worte kaum zu hören waren. »Ich bin ein Feigling. Bis heute.«
Davon wollte Fee nichts wissen.
»Aber Sie lassen sich fotografieren, posieren für Modemagazine und laufen auf Modeschauen«, ließ sie diese Behauptung nicht gelten. »Dazu gehört jede Menge Mut.«
Else schniefte und schluckte und nickte.
»Deshalb mache ich es ja. Ich habe verstanden, dass ich endlich was tun muss, wenn sich was ändern soll.« Sie hatte ihre Umgebung völlig vergessen. In diesem Augenblick gab es nur Fee und sie, und sie sah die Ärztin aus geröteten Augen an. »Ich will nicht mehr allein sein. Jetzt ist es einfach genug.«
Felicitas lächelte weich und streichelte über die weiche Wange.
»Dieser Entschluss ist das Wichtigste. Daraus entsteht alles andere«, versprach sie fast feierlich. »Wenn Sie nicht in die völlige Isolation abgleiten wollen, müssen Sie sich operieren lassen. Das wissen Sie doch selbst am besten, oder?«
Elses verschwommener Blick wanderte hinüber zu den kläglichen Resten des Blumenstraußes, die am Boden vor sich hin welkten.
»Ich bin einverstanden. Wann soll der Eingriff stattfinden?«, fragte sie leise, sodass sowohl Ditte als auch Fee sich kurz fragten, ob sie sich verhört hatten.
»Ich werde Sie sofort in den OP-Plan eintragen lassen«, versprach Felicitas hocherfreut. Mit so einem schnellen Erfolg hatte sie nicht gerechnet. »In ein paar Minuten bin ich wieder hier.«
»Tun Sie das!« Else nickte und sah der Ärztin dabei zu, wie sie aufstand und das Zimmer verließ.
Inzwischen hatte Ditte genügend Zeit gehabt, sich von ihrer Überraschung zu erholen.
»Von wem sind eigentlich diese wunderschönen Blumen?«, fragte sie hämisch, gewöhnt daran, ihre wahren Gefühle für Else hinter Hohn und Spott zu verbergen.
»Das geht dich gar nichts an«, konterte ihre Nachbarin in altbewährter Manier.
»Eine Männerbekanntschaft also. Lässt du dich deshalb operieren? Weil es dir deine Eitelkeit befiehlt? Steht er nicht auf Klumpfüße?«, frotzelte Ditte vergnügt. Der freundliche Ausdruck in ihren Augen war unverkennbar. Das bemerkte auch Else in ihrer desolaten Verfassung. Plötzlich spürte sie den Drang zu lachen und konnte sich nur mit Mühe zurückhalten.
»Kannst du nicht einmal still sein?«, fragte sie nicht halb so schroff wie beabsichtigt.
Ditte antwortete nicht sofort. Als sie schließlich doch anfing zu sprechen, war ihre Stimme völlig verändert.
»Erst wenn ich weiß, dass er ein anständiger Kerl ist und nicht so ein Tunichtgut wie Elmar.«
Verdutzt lauschte Else dem Nachhall dieser Worte, den fassungslosen Blick auf Ditte gerichtet.
»Weißt du eigentlich, wie sehr ich dich in all den Jahren vermisst habe?«, fragte sie endlich heiser.
Verstohlen wischte sich Ditte mit dem Ärmel über die Augen.
»Die kluge Frau Doktor hat schon recht. Wahrscheinlich streiten wir deshalb so viel, weil wir uns eigentlich ziemlich gern haben.«
Dem gab es nichts hinzuzufügen, und eine Woge der Freundschaft durchflutete das Zimmer. Als Fee mit guten Nachrichten zu den beiden Frauen zurückkehrte, spürte sie die Veränderung sofort. Doch sie sagte nichts, sondern begnügte sich mit einem stillvergnügten Schmunzeln. Es gab Dinge, die bedurften keiner Worte.
*
Seit Daniel Norden wusste, dass er mit Marion Körber über die Operation sprechen und sie von der Notwendigkeit überzeugen sollte, beschäftigte ihn der Gedanke an diese Frau. Auch an diesem späten Nachmittag war er so versunken in seine Betrachtungen, dass er nicht hörte, wie es klopfte.
Nachdem Wendy auch beim dritten Mal keinen Erfolg hatte, drückte sie die Klinke herunter.
»Entschuldigen Sie, Chef!«, sagte sie leise, und Daniel schreckte aus seinen Gedanken hoch. Als er seine treue Assistentin erkannte, lächelte er.
»Ach, Wendy, Sie sind es«, seufzte er und winkte sie zu sich. »Kommen Sie nur rein.«
Sie trat näher und legte eine Unterschriftenmappe auf den Schreibtisch.
»Würden Sie das bitte unterschreiben? Janine geht auf dem Heimweg bei der Post vorbei.«
»Natürlich.« Er überflog die Schreiben und setzte seine Unterschrift darunter.
Als Wendy die Mappe wieder an sich nahm, fiel ihr Blick auf den vorläufigen Befund von Marion Körber. Damit hatte sich Daniel offenbar beschäftigt, als sie hereingekommen war. Dr. Norden bemerkte den Blick und seufzte.
»Jenny hat mich gebeten, mit dieser Frau Körber zu sprechen.«
»Ich weiß.« Wendy lächelte sanft. »Es fällt Ihnen schwer, diese Bitte zu erfüllen?« Es war mehr eine Feststellung denn eine Frage, und Daniel nickte langsam.
»Ja. Es ist mir unangenehm, weil ich mich im Gegensatz zu ihr kaum an sie erinnern kann«, erklärte er langsam. Sein Blick wanderte hinüber zum Fenster. Doch er sah die prächtigen Bäume und Sträucher im Garten nicht. All seine Gedanken gehörten dem vermeintlichen Treffen. »Ich weiß noch, dass wir uns auf irgendeinem Ärztekongress begegnet sind. Wir hatten einen lustigen Abend mit mehreren Kollegen im Hotel, und am nächsten Morgen bin ich abgereist. Das war’s. An Telefonate hier in der Praxis kann ich mich überhaupt nicht erinnern. Mal abgesehen davon, dass ich nicht wüsste, warum ich mit ihr hätte sprechen sollen.«
Wendy antwortete nicht sofort. Sie stand neben Daniels Schreibtisch, die Unterschriftenmappe in beiden Händen, und überlegte, wie sie ihrem Chef ihre Gedanken nahebringen sollte.
»Sie sagten, sie hätten einen lustigen Abend verbracht«, begann sie vorsichtig. »Da ist bestimmt auch Alkohol geflossen.«
»Mit Sicherheit«, räumte Daniel Norden ohne Zögern ein und schickte seiner langjährigen Assistentin einen argwöhnischen Blick. »Aber warum sagen Sie das?«
Vor Verlegenheit stieg Wendy eine heiße Röte ins Gesicht. Sie wusste selbst, wie abwegig ihr Gedanke war. Trotzdem musste sie ihn aussprechen.
»Könnte es da nicht sein … ich meine … hin und wieder schlägt man doch unter Alkoholeinfluss über die Stränge …«
»Nein!«, fuhr Dr. Norden entschieden dazwischen. »Sie kennen mich gut genug, um zu wissen, dass das ausgeschlossen ist.«
»Ich meine doch nicht Sie!« Trotz ihrer Sorge um ihren Chef musste Wendy lachen. »Aber es könnte doch sein, dass sich die Dame etwas einbildet, was gar nicht passiert ist.«
Daniel musterte sie eingehend.
»Das ist natürlich möglich.«
»Deshalb würde ich an Ihrer Stelle mit Frau Körber sprechen«, gab Wendy ihrem Chef einen wohlmeinenden Rat. »Ich kann nicht genau erklären, warum, aber ich habe ein ganz seltsames Gefühl bei dieser Person. Sie führt etwas im Schilde.«
»Aber Wendy, so kenne ich Sie ja gar nicht …« Dr. Norden sah seine Assistentin fragend an, und sie lachte unsicher.
»Das ist es ja. Ich mich auch nicht. Deshalb sollten wir vorsichtig sein.«
Diesen Rat ließ sich Daniel durch den Kopf gehen. Schließlich nickte er langsam.
»Sie haben recht. Ich werde mich gleich heute Abend mit Frau Körber unterhalten, herausfinden, warum sie ausgerechnet hier aufgetaucht ist. Und natürlich werde ich ihr eine Operation ans Herz legen.« Er klappte ihre Akte mit einer entschiedenen Handbewegung zu und stand ebenfalls aus. Seite an Seite verließ er mit Wendy das Zimmer. »Aber kein Wort zu Fee. Sie darf sich unter gar keinen Umständen aufregen. Nicht jetzt, wo es ihr endlich besser geht.«
Wendy war sich nicht sicher, ob das eine weise Entscheidung war. Aber sie respektierte sie natürlich und wünschte ihrem Chef viel Glück für sein Vorhaben.
*
Als Ditte May am nächsten Morgen zu ihrer Operation abgeholt wurde, schlief ihre Nachbarin noch tief und fest. Erst als sich die Tür wieder öffnete und die frisch operierte Seniorin zurück gebracht wurde, blinzelte Else verschlafen ins helle Sonnenlicht.
»Wo kommst du denn um diese Uhrzeit her?«, fragte sie in gewohnt schnippischem Tonfall, als ihr ein Gedanke kam. »Ach, sieh mal einer an, du hast gekniffen. Dachte ich es mir doch. Du bist nicht halb so mutig, wie du immer tust.«
Nach der Narkose fiel Ditte das Sprechen noch schwer. Deshalb übernahm es die Schwester, eine Antwort zu geben.
»Von wegen gekniffen. Die Operation ist schon vorbei. Frau May war sehr tapfer«, erwiderte sie mit zufriedenem Blick auf ihre schlaftrunkene Patientin.
Vor Argwohn wurden Elses Augen schmal.
»Ist das wahr?«
Diesmal antwortete Ditte selbst.
»Es ist alles gut gegangen. Auch wenn du mich lieber unter der Erde gesehen hättest«, erklärte sie matt. »Was ist mit dir? Lässt du dich auch operieren?«
Wenn sie ehrlich war, haderte Else immer noch mit ihrem Schicksal. Doch sie hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als das laut einzugestehen.
»Klar, so viel Mut wie du hab ich schon lange«, winkte sie so lässig wie möglich ab. »Wenn ich jetzt kneife, habe ich gar keine Chancen mehr bei dem schönen Otto. Das kann ich mir nicht erlauben.«
Im Normalfall hätte Ditte zu diesen Worten einen passenden, abfälligen Kommentar parat gehabt. Doch obwohl sie sich immer noch anfegten und stritten wie die Bürstenbinder, hatte Fee eine Veränderung im Verhältnis zwischen den beiden Frauen angestoßen. Nach außen hin kaum spürbar, vollzog sich der leise Wandel zunächst innerlich und würde eine lange Zeit in Anspruch nehmen. Aber ein Anfang war gemacht, und mit bangem Herzen sah Ditte dabei zu, wie Else aus dem Zimmer gefahren wurde. Sie musste mehr als zwei Stunden warten, bis ihre Nachbarin wieder zurückgebracht wurde.
»Es ist alles gut gegangen!« Die Schwester konnte die Unsicherheit in den Augen der Seniorin lesen. »Sie müssen sich keine Sorgen mehr machen.«
»Ich und Sorgen? Um diese alte Schnepfe etwa?« Ditte lachte abfällig. »Ich bin froh, wenn ich endlich entlassen werde und sie los bin. Diesen Tag werde ich zum Feiertag erklären.«
Die Schwester lächelte kopfschüttelnd und schob Elses Bett an seinen Platz zurück. Sie stellte die Bremse fest, überprüfte den Tropf und verließ dann das Zimmer.
Kaum war die Tür hinter ihr mit leisem Klacken ins Schloss gefallen, als sich Else wieder zu Wort meldete.
»Und ich werde ein Freudenfest feiern und meine Blumen mit Buttermilch gießen. So bleiben deine Läuse bei dir«, krächzte sie mit geschlossenen Augen.
»Nur zu. Dann geht dein steriler Designergarten endlich ein. Einen größeren Gefallen kannst du mir gar nicht tun«, erwiderte Ditte hämisch grinsend.
»Ich hab schon einen Gärtner bestellt. Dann werd ich dir mal zeigen, was ein richtiger Designergarten ist.«
»Das interessiert mich doch überhaupt nicht. Ich stell ein paar Bienenstöcke auf und werde in Zukunft Bienen züchten. Du wirst es dir in Zukunft drei Mal überlegen, Hand an meinen Garten zu legen«, konterte Ditte forsch.
Else kicherte wie ein Hexe.
»Warte mal ab, was mit deinen Bienen passiert, wenn ich meine erste Grillparty gebe. Und wenn ich gestochen werde, gibt es eine Klage wegen Körperverletzung.«
Doch Ditte ärgerte sich nicht etwa über diese Drohung. Ganz im Gegenteil stimmte sie in das Kichern mit ein.
»Was für eine lustige Vorstellung. Willst du jede Biene einzeln verklagen?«, lachte sie, bis ihr die Tränen kamen.
Auch um Elses Mundwinkel zuckte es wieder verdächtig.
»Lach du nur«, presste sie durch die Lippen. Sie schickte Ditte einen düsteren Blick, dann war es um ihre Beherrschung geschehen. Gemeinsam mit Ditte lachte und lachte sie, bis ihr der Bauch weh tat. Fee, die eben auf dem Weg zu den beiden Seniorinnen gewesen war, hielt vor der Tür inne und lächelte den gut aussehenden älteren Herrn an, der gleichzeitig mit ihr dort angekommen war.
»Klingt, als hätten die beiden einen Mordsspaß!« Zufrieden zwinkerte Fee Herrn Holtz zu.
»Kein Wunder! Mit einer netten Frau wie Else muss man einfach Spaß haben«, erwiderte er in Unkenntnis der Sachlage. Sein verliebter Blick sprach Bände und so verzichtete Fee darauf, ihn aufzuklären.
Das konnte Else zu gegebener Zeit selbst tun, und zufrieden damit, ihr Ziel erreicht zu haben, verabschiedete sie sich von Otto Holtz und kehrte in ihr Zimmer zurück.
*
Tatjanas Hände zitterten vor Aufregung, als sie ihrer Torte den letzten Schliff verpasste.
»Was machst du denn da?« Nach einem langen, arbeitsreichen Tag war Hilde Bärwald im Begriff, die Bäckerei zu verlassen. Als sie aber geschäftige Geräusche aus der Backstube hörte, ging sie noch einmal nach hinten und schaute ihrem Lehrling über die Schulter. »Das sieht ja fantastisch aus!«
»Scheint, als hätte Ihre Standpauke was genützt«, grinste Tatjana und betrachtete ihr Kunstwerk.
»Was ist das?« Hilde konnte den bewundernden Blick nicht von dem Gebäck lösen.
»Eine Eigenkreation«, gestand Tatjana fast schüchtern. »Die untere Lage ist Biskuitteig mit einer knackigen Karamellabdeckung. Dann folgt eine Limonencreme, die mit einer Schicht Streusel abgedeckt wird.« Tatjana trat einen Schritt zurück und betrachtete ihr Kunstwerk eingehend. Viel erkannte sie nicht, aber doch genug, um zu wissen, dass diese Torte perfekt gelungen war.
An Hilde Bärwalds zufriedenem Schnauben erkannte sie, dass ihre Lehrmeisterin versöhnt war.
»Ich bin überwältigt! Aber das wäre doch wirklich nicht nötig gewesen«, erklärte Frau Bärwald, die die Torte als eine Art Wiedergutmachung für die entstandenen Schäden der jüngsten Vergangenheit sah. Ehe Tatjana etwas sagen konnte, griff sie zu einem Messer und schnitt ein Stück ab. »Nicht zu süß und nicht zu sauer«, erklärte sie, während sie genüsslich kaute. »Der Boden ist luftig und locker. Die knackige Karamellschicht ist ein toller Kontrast dazu. Und sogar die Streusel haben die richtige Konsistenz. Außerdem schmecken sie schön nach Butter.«
Betroffen starrte Tatjana auf ihre Torte, die das Versöhnungsgeschenk für Danny hatte sein sollen.
»Freut mich, dass sie Ihnen schmeckt«, stammelte sie und war den Tränen nahe.
»Sie ist köstlich. Leider muss ich jetzt los.« Hilde Bärwald schob das letzte Stück Kuchen in den Mund und stellte den Teller zufrieden in die Spüle. »Übrigens hast du Besuch. Der junge Arzt ist hier. Das hätte ich fast vergessen.«
Wie von der Tarantel gestochen fuhr Tatjana herum. Augenblicklich trommelte ihr Herz in der Brust wie ein Schlagzeug.
»Danny ist hier?«, fragte sie atemlos, und Hilde lachte.
»Kinder, Kinder, was ist nur los mit euch?«, fragte sie ungläubig. »Ihr führt euch auf wie frisch verliebt. Dabei seid ihr doch schon eine kleine Ewigkeit zusammen. Na ja, dann will ich mal nicht länger stören. Er wartet vorn im Café auf dich. Aber keine Eile. Ich hab ihn gut versorgt.« Vergnügt zwinkerte Hilde ihrem Lehrling zu, ehe sie sich mit einem sehnsüchtigen Blick auf die Torte für diesen Abend endgültig verabschiedete.
Wie vom Donner gerührt stand Tatjana in der Backstube und wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Ihr verzweifelter Blick hing an der Torte. Der Torte, die sie doch extra für Danny gebacken hatte, um sich bei ihm zu entschuldigen. Und von der nun ein Stück fehlte.
»Genauso, wie der Kuchen nicht mehr ganz ist, geht es mir, wenn du nicht bei mir bist.« Samten klang Dannys Stimme an ihr Ohr.
Tatjana war so verzweifelt gewesen, dass sie nicht gehört hatte, wie er hinter sie getreten war. Als er sie sanft an den Schultern fasste und langsam zu sich herumdrehte, fühlte sich Tatjana gemeinsam mit ihm wie in einer Luftblase gefangen. Keiner von beiden hörte mehr ein Geräusch von draußen.
»Die Torte … sie war für dich … und dann hat Frau Bärwald einfach ein Stück abgeschnitten …«, stammelte sie, um überhaupt irgendetwas zu sagen.
Doch Danny hörte ihr gar nicht zu. Er schloss sie in seine Arme und zog sie an sich.
»Ich liebe dich!«, raunte er ihr ins Ohr und knabberte zärtlich daran. »Tu das nie wieder! Hörst du?«
Vor Glück und Erleichterung schwankte der Boden unter Tatjanas Füßen. Gleichzeitig erwachte der Kobold in ihr zu neuem Leben.
»Was soll ich nie wieder tun? Frau Bärwald ein Stück von deiner Torte abgeben?«, fragte sie und lächelte ihn so schelmisch an, dass es kein Halten mehr gab.
»Das auch!«, gab Danny heiser zurück und verschloss ihren Mund mit einem Kuss, den sie nie mehr wieder vergessen würde.
*
An diesem Abend wartete Felicitas Norden vergeblich auf ihren Mann. Sie ahnte nicht, dass Daniel vor einem fremden Haus stand und mit sich haderte. Zwei, drei Mal hatte er die Hand gehoben, um auf die Klingel zu drücken, und sie jedes Mal wieder sinken lassen.
»Warum stellst du dich eigentlich so an? Du bist dir sicher, dass damals nichts passiert ist«, sprach er sich selbst Mut zu. »Wovor hast du Angst?« Die Antwort auf diese Frage brachte die Entscheidung. Auch wenn Wendy ein ungutes Gefühl hatte, gab es keinen Grund, Angst zu haben, und schließlich drückte er entschieden auf den Klingelknopf. Eine Weile passierte gar nichts, und Daniel wollte sich schon abwenden, um in die Klinik zu seiner Frau zu fahren, als Schritte zu hören waren. Gleich darauf öffnete Marion Körber die Tür. Ein Strahlen erhellte ihr immer noch apartes Gesicht.
»Daniel! Du hast dich nicht verändert.«
Nur dunkel erinnerte sich Daniel Norden an die Begegnung von damals und hätte sie keinesfalls wiedererkannt.
»Frau Körber …«
»Ich bitte dich«, unterbrach sie ihn und lachte auf. »Damals waren wir doch schon weiter. Viel weiter.«
»Ich weiß gar nicht, wovon Sie sprechen«, setzte er sich energisch zur Wehr. Sein Unwohlsein steigerte sich ins Unermessliche. Welches Spiel spielte diese Frau?
Doch sein Widerspruch verhallte ungehört.
»Du musst dich nicht vor mir verstellen, Daniel«, erwiderte Marion weich und nahm ihn sanft am Ärmel. »Du musst keine Angst haben. Ich verrate dich nicht.«
Unwillig folgte Daniel ihr ins geschmackvoll eingerichtete Wohnzimmer. Es war offensichtlich, dass Marion Körber keine finanzielle Not litt.
»Was sollten Sie verraten?«, fragte er verständnislos und setzte sich in den Sessel, den sie ihm anbot. Unter normalen Umständen hätte er dieses Haus niemals betreten. Doch er sah nicht die Frau, sondern nur die schwer kranke Patientin. Er sah nur seinen Auftrag als Arzt, den er erfüllen musste. »Es muss sich um eine Verwechslung handeln.«
Marion hatte sich ihm gegenüber auf die Couch gesetzt. Allmählich verschwand die Freude aus ihrem Gesicht.
»Aber Daniel, wie könnte ich dich je verwechseln? Kein Mann hat mich je so behandelt wie du. Niemand war so zärtlich und aufmerksam, so gefühlvoll …« Das Ende des Satzes schwebte unausgesprochen in der Luft.
Allmählich wurde Dr. Norden böse.
»Frau Körber, das geht jetzt wirklich zu weit!«, verwahrte er sich gegen diese Unwahrheiten. »Ich weiß, dass wir vor vielen Jahren einen netten Abend im Kreise einiger Kollegen verbracht haben. Nicht mehr und nicht weniger. Danach haben sich unsere Wege getrennt. Ich weiß nicht, woran sie sich zu erinnern meinen.«
Mit jedem Wort wich mehr Farbe aus Marions Gesicht. Ineinander verkrampft lagen ihre Hände in ihrem Schoß.
»Das ist nicht dein Ernst. Du kannst doch nicht vergessen haben, was zwischen uns passiert ist«, stammelte sie fassungslos. Sie war den Tränen nahe. »Warum bist du dann überhaupt gekommen?«
Wie sie so vor ihm saß, nicht mehr als ein Häuflein Elend, tat sie Daniel fast leid. Dennoch wahrte er Abstand.
»Ich bin gekommen, um Sie von der Notwendigkeit einer Operation zu überzeugen«, erklärte er sehr ernst und sachlich.
Marion sah ihn an. Ihre Unterlippe zitterte.
»Aber ich … ich habe eine minderjährige Tochter, die niemanden sonst auf der Welt hat. Ich kann sie nicht im Stich lassen.«
Erleichtert stellte Daniel fest, dass es ihm offenbar gelungen war, das Gespräch in die richtige Richtung zu lenken.
»Es ist lebensnotwendig, dass Sie sich operieren lassen. Nur dann gibt es eine Chance, dass Sie wieder gesund werden. Das müssen Sie mir glauben.«
»Glauben?« Marion lachte unter Tränen. »Ich habe dir schon mal geglaubt. Und das ist dabei heraus gekommen.«
Daniel verstand kein Wort von dem, was sie ihm klarzumachen versuchte.
»Wie meinen Sie das?«, fragte er irritiert.
Marion bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Als sie nach einer gefühlten Ewigkeit wieder aufblickte, war ihre Miene erschreckend bitter, der Ausdruck in ihren Augen kalt und hart.
»Ganz einfach«, sagte sie mit klirrender Stimme. »Ich habe deinen Sohn gesehen. Er hat die Augen meiner Tochter.«