Читать книгу Im Sonnenwinkel Staffel 3 – Familienroman - Patricia Vandenberg - Страница 6

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»Ich kann nicht mit dir nach Paris fahren«, sagte Sandra Münster betrübt zu ihrem Mann. »Du musst es einsehen, Felix. Mutti ist so stark erkältet, dass sie sich nicht um die Kinder kümmern kann, und für Teta wird es einfach zu viel.«

Felix Münster grollte. An sich gab es keine Differenzen in seiner Ehe, und auch jetzt konnte man eigentlich nicht davon sprechen, aber er war nicht sehr erbaut von dieser Eröffnung.

»Mir ist es einfach zu dumm, auf diesem Empfang wieder ohne meine Frau zu erscheinen«, meinte er brummig. »Dauernd kann ich mich nicht drücken, und die Franzosen sind sowieso ein bisschen komisch. Ich habe ja immer gesagt, dass eine Kinderpflegerin ins Haus muss. Leider haben wir gesellschaftliche Verpflichtungen, die nicht zu umgehen sind, Sandra.«

»Das weiß ich ja. Aber ich kann Mutti doch keinen Vorwurf machen, dass diese Grippe gerade jetzt gekommen ist.«

Es tat ihr selbst leid, denn sie hätte ihren Mann gern auf dieser Reise begleitet.

So sehr sie die Kinder liebte, den nun siebenjährigen Manuel und die einjährigen Zwillinge Felix und Alex­andra, freute sie sich doch, wenn sie ab und zu ein paar Tage mit ihrem Mann allein verbringen konnte.

Ihm kam plötzlich eine Idee. »Könnte denn Sabine nicht mal einspringen?«, fragte er. »Ihr habt euch doch sehr angefreundet, und sie versteht sich mit den Kindern.«

An Sabine von Jostin hatte Sandra in diesem Zusammenhang noch nicht gedacht.

Die beiden letzten Nachkommen der einstmals verfeindeten Geschlechter Jostin und Rieding hatten sich sehr angefreundet. Sabine von Jostin kam oft zu einem Tee- und Plauderstündchen, und es stimmte auch, was Felix Münster sagte. Sabine verstand es sehr gut, mit den Kindern umzugehen.

»Ja, Sabine soll kommen«, mischte sich jetzt Manuel ein, der unbemerkt eingetreten war. »Dann ist Papi nicht mehr böse, dass du nicht mit ihm fährst.«

»Papi ist nie böse«, verteidigte Sandra ihren Mann.

»Ein bisschen schon, wenn er allein fahren muss«, behauptete Manuel, der seinen Papi recht genau kannte. »Er will eben, dass jeder weiß, dass er eine schöne Frau hat.«

Dieses Kompliment rang Sandra ein Lächeln ab.

»Ich kann Sabine ja mal fragen«, erklärte sie. »Sie kommt heute Nachmittag ohnehin.«

Felix Münsters Gesicht hellte sich auf. »Sie wird bestimmt nicht nein sagen«, äußerte er zuversichtlich. »Solange drüben noch kein Betrieb ist, hat sie doch Zeit«, meinte auch Manuel.

Drüben – das war der Jostinsche Besitz, auf dem nun bald die Kinderklinik von Dr. Allard eröffnet werden sollte.

Der Plan war geboren worden, als bei einem Busunglück viele Schulkinder verletzt worden waren und Dr. Allards Haus schnell zu einem Notkrankenhaus umfunktioniert wurde.

»Für Sabine ist es auch eine Abwechslung«, erklärte Felix Münster. »Ich kann mir nicht denken, dass Dr. Allard sehr unterhaltend ist.«

»Das will ich dahingestellt sein lassen«, bemerkte Sandra mit einem versteckten Lächeln. »Aber augenblicklich hat er wohl genug um die Ohren. Ein bisschen fatal ist es mir schon, dass ich Sabine sozusagen die Pistole auf die Brust setze.«

»Es sind ja nur vier Tage. Ich werde heute jedenfalls früh genug kommen, um Sabine noch guten Tag zu sagen.«

»Und um sie mit deinem unwiderstehlichen Charme zu becircen«, meinte Sandra neckend.

»Na, das nun auch wieder nicht. Schließlich bin ich schon ein in Ehren ergrauter Familienvater.«

Sandra lachte hellauf und fuhr mit der Hand durch sein volles dunkles Haar, das nur an den Schläfen silbern schimmerte.

»Du willst doch nur das Gegenteil hören«, scherzte sie.

Er zog sie zärtlich in die Arme.

»Ich will vor allem, dass du mich begleitest, Liebling.«

Manuel hatte sich bereits taktvoll zurückgezogen. Er ging in die Küche, um Tetas Meinung zu erforschen.

»Wenn Sabine kommt, kann Mami doch mit Papi nach Paris fahren«, bemerkte er beiläufig.

Teta brummte etwas Unverständliches. Er sah sie skeptisch an.

»Bist du nicht einverstanden, Teta?«

»Es ist ziemlich viel Verantwortung«, sagte sie. »Die Kleinen stellen schon allerlei an.«

»Aber auf mich braucht keiner mehr aufzupassen. Ich kann ja auch oft zu den Auerbachs gehen, dann seid ihr mich los. Aber Papi schaut so grimmig drein, wenn Mami nicht mitfährt. Du magst Sabine doch auch.«

»Freilich mag ich sie. Mir soll es auch recht sein.«

Manuel trollte sich wieder und verkündete seinen Eltern, dass Teta nichts dagegen hätte, wenn Sabine käme. »Dann wäre ja alles in schönster Ordnung«, erklärte Felix Münster.

*

Dr. Nicolas Allard hob den Kopf, als Sabine von Jostin nach einem kurzen Anklopfen sein Arbeitszimmer betrat, das als Erstes in der Villa Magnolia renoviert worden war. Es herrschte noch ein erhebliches Durcheinander, aber das schien ihn nicht zu stören.

»Dass du bei dem Lärm arbeiten kannst, Nicolas«, wunderte sich Sabine, denn die Bohrmaschinen dröhnten und die Handwerker hämmerten.

»Man gewöhnt sich daran«, lächelte er. »Es geht ja bald vorüber, Sabine. Du willst wegfahren?«, fragte er dann.

»Nur zu Sandra. Brauchst du etwas? Ich könnte über Hohenborn fahren.«

»Ich hätte gern gewusst, ob man diesen schießwütigen Wilderer endlich erwischt hat«, sagte er unwillig. »Vorgestern hat er wieder herumgeballert. Es beunruhigt mich.«

Sie alle waren beunruhigt darüber. Es störte den himmlischen Frieden am Ufer des Sternsees. Aber trotz aller Bemühungen war es bisher nicht gelungen, diesen Schurken zu fassen.

»Er muss gefasst werden, bevor wir die Klinik eröffnen«, erklärte Nicolas Allard, »und wenn ich mich höchstpersönlich auf die Lauer lege.«

»Bitte nicht, Nicolas!«, rief Sabine erschrocken. »Er könnte auch auf dich schießen. Man weiß doch nicht, was er eigentlich beabsichtigt und wozu er fähig ist.«

Sosehr Sabine sich auch vorgenommen hatte, ihren Gefühlen für Nicolas noch keinen allzu großen Raum zu geben, jetzt konnte sie ihre Angst um ihn doch nicht verbergen. Ein weiches Lächeln huschte um seinen Mund.

»Es ist lieb von dir, wenn du mir ab und zu doch zeigst, dass ich dir etwas bedeute«, bemerkte er leise.

Er hatte seine Hand nach ihr ausgestreckt und zog sie an sich.

Nur ganz kurz schmiegte sie sich in seinen Arm, löste sich aber sofort wieder.

»Du weißt, was du mir bedeutest, Nicolas«, äußerte sie verhalten, »aber wir haben uns versprochen, dass wir erst an uns denken wollen, wenn Lisa geheilt ist.«

Ein Schatten fiel über sein Gesicht. Er fragte sich, ob das nicht ein vergebliches Warten sein würde.

»Sie wird nächste Woche mit André zurückkommen«, sagte er gepresst. »Ich habe heute einen Brief von Dr. Valdere erhalten. Er kapituliert.«

Lisa, die Tochter des Verwalterehepaars Thewald – wie Sabine seit einiger Zeit wusste, allerdings nur die Pflegetochter – hatte durch einen Schock in frühester Kindheit die Sprache verloren. Aber es gab noch mehr Geheimnisse in Lisas Leben, von denen Sabine nichts wusste.

»Und du, Nicolas, kapitulierst du auch?«, fragte Sabine nach einem langen Schweigen.

»Nein, das will ich nicht.«

Sie warf ihm einen langen Blick zu. »Wie wird André mit dem Tod von Florence fertig?«, fragte sie nun.

»Er schreibt nichts darüber. Er hatte doch damit gerechnet.«

Und du, Nicolas, wie wirst du damit fertig, dachte Sabine. Wie groß war deine Liebe zu ihr wirklich?

Seit dem Tag, als Nicolas aus Frankreich zurückgekommen war und ihr gesagt hatte, dass Florence gestorben sei, hatten sie nicht mehr über die Frau gesprochen, die eine so bedeutungsvolle Rolle in seinem Leben gespielt hatte.

Florence war Dr. André Fernands Schwester gewesen, eine bildhübsche und sehr eigenwillige Frau, die um ihre unheilbare Krankheit gewusst und sich von aller Welt und auch den Menschen zurückgezogen hatte.

»Eines Tages werde ich über alles sprechen können«, hatte Nicolas zu Sabine gesagt. Wann würde dieser Tag kommen? Aber er hatte ihr auch gesagt, dass er sie brauche, und sie liebte ihn so sehr, dass sie sich in Geduld fassen musste.

»Ich muss jetzt fahren«, erklärte Sabine.

»Pass auf dich auf, und komm nicht zu spät zurück!«, ermahnte er sie, und sie musste doch ein wenig lächeln. Sie war doch kein Kind mehr, aber manchmal behandelte Nicolas sie so.

*

Manuel konnte seine Zunge kaum noch im Zaum halten, als Sabine kam.

Er war ihr schon zum Wagen entgegengelaufen, aber Sandra folgte ihm schnell.

»Wir wollen uns doch erst mal begrüßen«, dämpfte sie seine Begeisterung. »Überlass es bitte mir, mit Sabine zu sprechen, Manuel. Du wolltest doch zu Bambi gehen.«

»Ich möchte aber erst wissen, ob Sabine zu uns kommt«, erwiderte er. »Kommst du, Sabine?«

»Ich bin doch schon da«, bemerkte Sabine lachend.

»Ich meine doch, dass …«

»Dass du das besser mir überlassen sollst«, unterbrach Sandra ihn energisch. »Man kann nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen.«

»Worum handelt es sich denn?«, fragte Sabine, nun doch ein wenig neugierig geworden.

»Nimm erst mal Platz«, bat Sandra. »Mir ist das alles ein bisschen fatal, und du kannst ruhig nein sagen, wenn es dir nicht passt.«

»Sag bitte ja, Sabine«, bettelte Manuel, »sonst wird Papi grantig! Er will doch nicht ohne Mami nach Paris fahren.«

Sandra stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus.

»Er kann einfach nicht ruhig sein. Also …«

»Du sollst mit Felix nach Paris fahren«, warf Sabine nun ein.

»Und Omi hat doch die Grippe, da kann sie nicht auf die Kleinen aufpassen«, meldete sich Manuel wieder zu Wort. »Und da hat Papi gesagt, dass du zu uns kommen könntest.«

»Ich wollte dich ganz bescheiden fragen, ob es möglich wäre«, brachte Sandra stockend über die Lippen. »Der Schlingel lässt mir ja keine Zeit, es dir erst diplomatisch beizubringen. Es würde sich um vier Tage handeln.«

»Bald?«, fragte Sabine, die an Andrés und Lisas Rückkehr dachte.

»Übermorgen.«

»Das geht freilich«, sagte Sabine. »Wenn du mir die Kinder anvertraust?«

»Sonst würde ich dich ja nicht bitten.«

»Das ist fein, Sabine!«, freute sich Manuel. »Nun gehe ich zu Bambi. Ich werde dich auch nicht ärgern.«

»Das möchte ich mir auch ausgebeten haben«, meinte Sandra.

Manuel warf ihr einen schrägen Blick zu …

»Du kannst dich doch auf mich verlassen, Mami«, versicherte er eifrig.

»Macht es dir auch wirklich nichts aus?«, fragte Sandra, nachdem er verschwunden war. »Ich wollte ja nicht mitfahren.«

»Warum denn nicht? Es ist doch mal wieder was anderes, und dein Mann hat dich ohnehin viel zu selten für sich. Bei uns wird es schon noch eine gute Woche dauern, bis alles so weit in Ordnung ist.«

»Dann wollt ihr den Klinikbetrieb schon aufnehmen? So schnell?«

»Ganz gemächlich, denke ich. Die Kinder werden ja nicht gleich scharenweise krank werden. Und einen Namen müssen wir auch noch haben, der ein bisschen ins Ohr geht.«

Es beruhigte Sandra, dass Sabine so selbstverständlich immer ›wir‹ sagte. Sie sprach nicht viel über Nicolas Allard, aber Sandra spürte, dass zwischen den beiden viel festere Bande geknüpft waren, als anfangs vermutet wurde. Wenn Sandra sich von einem anderen Mann beeindrucken ließ, von ihrem eigenen abgesehen, musste er schon eine ungewöhnliche Persönlichkeit sein. Und das war Nicolas Allard.

»Einen Namen für die Klinik«, meinte sie gedankenvoll. »Wie wäre es denn mit Sternsee-Klinik? Das merkt sich jeder.«

»Ein guter Einfall«, sagte Sabine erfreut. »Ich werde gleich mit Nicolas darüber sprechen.«

Sie errötete tief, als Sandra sie forschend anblickte.

»Wir verstehen uns sehr gut«, erklärte sie rasch. »Es war sehr dumm von mir, dass ich zuerst Hassos Einflüsterungen Glauben schenken wollte. Ich verstehe es heute nicht mehr.«

»Hast du wieder mal von ihm gehört?«, fragte Sandra. Es war auch ihr unverständlich gewesen, dass ein Mädchen wie Sabine sich mit Hasso von Sillberg verlobt hatte. Glücklicherweise war sie noch früh genug dahintergekommen, wes Geistes Kind er war, und hatte die Verlobung gelöst.

»Gott sei Dank, nein«, erwiderte Sabine. »Hoffentlich begegnet er mir nie wieder. Ihr müsst eine schöne Meinung von mir gehabt haben.«

»Wir bilden uns erst eine, wenn wir den Menschen kennen. Es freut mich jedenfalls, dass du dich mit Dr. Allard verstehst.«

Sie kamen nun vom Hundertsten ins Tausendste. Sandra erkundigte sich nach den Naumann-Kindern, die von den Thewalds in Obhut genommen worden waren. Sie hatten ihren Vater bei dem Autobusunglück verloren und waren als Waisen zurückgeblieben.

»Sie fühlen sich wohl«, erzählte Sabine. »Frau Thewald sorgt auch rührend für sie. Schorsch hilft fleißig, Frieder erholt sich gut, und die kleine Marilli hat sich schon tüchtig bei den Thewalds eingeschmeichelt. Ich weiß nur nicht recht, was werden wird, wenn Lisa nun wieder zurückkommt.«

»Sobald schon?«, fragte Sandra bestürzt. »Hat dieser Arzt auch nichts ausrichten können?«

Sabine schüttelte den Kopf.

»Nicolas sagte mir vorhin, er hätte kapituliert. Aber jetzt etwas anderes. Was ist eigentlich mit dem Wilderer?«

»Bis jetzt wissen wir noch gar nichts«, erwiderte Sandra. »Ein richtiger Wilderer scheint es auch nicht zu sein. Die lassen ja das Wild, das sie schießen, nicht liegen, wie er es tut. Aber manchmal scheint er auch nur so herumzuknallen. Manchmal denke ich, dass es so ein Kerl ist, der dem Gruber-Bauern schaden will. Aber aus dem bekommt man ja nichts heraus. Ein seltsamer alter Mann, aber mit Bambi ist er rein närrisch. Jetzt will er auch nicht mehr, dass Jonny auf die Spur von dem Wilderer gehetzt wird, weil es Bambis Hund ist. Dieses Kind hat die seltene Gabe, das härteste Herz zu erweichen.«

»Vielleicht hat er gar kein hartes Herz«, sagte Sabine nachdenklich. »Vielleicht ist er nur einer jener einsamen Menschen, die verlernt haben, an die Liebe zu glauben.«

»Oder nie welche erfahren haben«, bemerkte Sandra. »Wie ich hörte, hatte er einmal eine Nichte, die er sehr gerngehabt haben soll. Sie verließ die Heimat und wurde eine berühmte Pianistin. Hier hat sie sich nie wieder blicken lassen, und deswegen soll er verbittert sein. Aber man kann auch nicht alles glauben, was erzählt wird. Jeder macht ein bisschen was dazu, und dann ist das schönste Märchen fertig. Aber wir wären alle froh, wenn dieser schießwütige Bursche endlich dingfest gemacht würde. So etwas passt gar nicht hierher. Um noch einmal auf Lisa zurückzukommen, was soll nun mit ihr werden? Ein so entzückendes Mädchen. Es ist wirklich ein Jammer.«

»Ja, es ist ein Jammer«, sagte Sabine leise.

*

Lisa Thewald – unter diesem Namen lebte sie nun bereits seit siebzehn Jahren – war wirklich ein entzückendes Mädchen. Man vergaß ihr Leiden, wenn sie so lächelte, wie jetzt, als sie sich von dem hochgewachsenen jungen Mann verabschiedete.

Sie befand sich seit drei Wochen in dem Sanatorium von Dr. Valdere in der Nähe von Cannes. Heute hatte Michael von Jostin, Sabines Bruder, sie besucht.

Er hatte Hemmungen gehabt, mit dem jungen Mädchen zu sprechen, das ihn zwar verstehen, aber selbst nichts erwidern konnte. Doch dann war es ihm plötzlich ganz leichtgefallen, weil Lisas Gesicht so unendlich viel auszudrücken vermochte und weil er schon bald die Worte von ihren Lippen lesen konnte. So schnell wie Michael war das noch niemandem gelungen. Dr. Fernand staunte.

Nicolas Allards Freund hatte sich lange mit Dr. Valdere über Lisa unterhalten. Er wusste, wie sehr das Schicksal des Mädchens Nicolas beschäftigte, und auch bei ihm, der ebenfalls Arzt war, erregte dieser Fall großes Interesse.

»Meiner Ansicht nach kann nur ein gewaltiger Schock helfen«, erklärte Dr. Valdere, ein alter, sehr erfahrener Arzt. »Ich möchte sogar sagen, dass ein Panikzustand herbeigeführt werden müsste, um diese Stimmbandlähmung zu heilen. Wenn es dafür nicht schon zu spät ist«, räumte er ein. »Immerhin sind bereits siebzehn Jahre seit dem Unglück vergangen, und damals war sie ein kleines Kind. Aber ihre psychische Entwicklung ist völlig normal. Darüber gibt es keinen Zweifel. Ich habe sie allen möglichen Tests unterzogen. Sie ist in vielen Dingen ein Kind, aber ein ungewöhnlich intelligentes, aufgeschlossenes Kind von unglaublicher Wissbegierde. Vielleicht könnte ihr auch ein Liebeserlebnis helfen, eines, in dem ihr ihre Bestimmung als Frau offenbar würde. Dieser junge Mann scheint ihr sehr zu gefallen.«

»Michael von Jostin?«, fragte André atemlos. »Oh, ich fürchte … Nein, solche Gedanken sollten wir lieber nicht weiterspinnen.«

Ein seltsam wissendes Lächeln legte sich um Dr. Valderes schmalen Mund, und es war auch in seinen Augen.

»Ich meine eine seelische Erschütterung«, betonte er, »gleichgültig, ob sie sich positiv oder negativ auf Lisas Gemüt auswirken würde. Aber wenn mit unseren medizinischen Hilfsmitteln nichts mehr zu machen ist, kommt man wohl auf die ausgefallensten Ideen.«

Lisa, die von diesem Gespräch nichts wusste, lächelte zu Michael empor. Er war viel größer als sie. Sie reichte ihm nur knapp bis zur Schulter, und ihm erschien sie wie ein zerbrechliches Nippfigürchen.

»Ich habe es mir überlegt, Lisa«, sagte er. »Ich komme gleich nächste Woche mit euch und überrasche Sabine. Gefällt Ihnen das?«

Ihre Augen strahlten wie Sterne, und sie nickte eifrig. Ihm war plötzlich die Kehle ganz eng.

»Es muss schön sein am Sternsee, wenn Frühling ist, und nun ist bald Frühling.«

Wieder nickte sie. Dann bückte sie sich und umfasste behutsam eine Blume.

Er beugte sich etwas herab.

»Sie meinen, dass am Sternsee dann auch Blumen blühen?«

Ihre Lippen formten ein Ja, und ihr Mund war so süß und zärtlich, dass er den brennenden Wunsch verspürte, ihn zu küssen.

Bist du verrückt geworden, Michael, schalt er sich. Das war nicht ein Mädchen, das man einfach in den Arm nahm, weil einem danach zumute war. Mit Lisa musste man ganz behutsam umgehen, und vielleicht war es auch falsch, so vertraut mit ihr zu reden.

Aber er konnte nicht anders, und wenn er in ihre wunderschönen reinen Augen blickte, wurde ihm ganz heiß. »Ich werde noch mit André verabreden, wann wir fahren«, sagte er leise. »Auf Wiedersehen, Lisanne.«

Ein Zucken lief über ihr Gesicht. Ein seltsamer Ausdruck kam in ihre Augen, und es war, als lausche sie in sich hinein.

»Lisanne klingt hübsch«, flüsterte er. »Gefällt es dir, kleines Mädchen?«

Betroffen sah er den Schleier aufsteigender Tränen. Ihre Lider senkten sich rasch. Zart legte er einen Finger an ihre Wange.

»Darf ich nicht du zu dir sagen?«, fragte er.

Sie griff plötzlich nach seiner Hand, drückte ihre weichen Lippen darauf, wandte sich dann um und lief davon.

Konnten Worte mehr ausdrücken, fragte er sich, aber die Antwort war nein.

Michaels Herz klopfte wie ein Hammer. Vielleicht würde ihn niemand verstehen, aber er wusste in diesem Augenblick, dass dieses Herz für Lisa schlug, für Lisanne, wie er sie zärtlich genannt hatte.

Er beugte sich hinab und pflückte die Blume, die sie vorhin so zart umschlossen hatte. Er legte sie in sein Notizbuch und achtete darauf, dass die Blätter glatt gepresst wurden. Die Blüte einer Azalee, und in der Villa Azalee am Sternsee würde er mit Sabine über Lisa sprechen, die selbst wie eine Blume war.

*

André sah die Tränenspuren in Lisas Augen, obgleich sie sich bemüht hatte, sie sorgfältig zu entfernen.

»Hat Michael dich gekränkt?«, fragte er erschrocken.

Sie schüttelte den Kopf, um dann zu Boden zu blicken. Er wusste, dass man sie nicht Dinge fragen durfte, die ihre Gefühle betrafen. Aber er ahnte, dass etwas in ihrem jungen Herzen vor sich ging, was sie erschütterte.

Er nahm sich vor, mit Michael zu sprechen, damit er keine falschen Hoffnungen in ihr erweckte.

Am Abend fuhr er zu dem herrlichen Landsitz, den Gräfin Josette Michael vererbt hatte.

Michael empfing ihn in der Wohnhalle, die von dem Gemälde der Gräfin beherrscht wurde. Anders konnte man es nicht bezeichnen, denn unwillkürlich zog es in seiner lebendigen Faszination jeden Blick an.

Es hätte auch ein Bild von Sabine sein können, so ähnlich waren sich die beiden Frauen.

»Nett, dass du mir Gesellschaft leisten willst, André«, sagte Michael. »Ich wollte ohnehin mit dir sprechen.«

»Über Lisa?«, fragte André sehr direkt.

»Ja, über Lisa. Das heißt, über die Heimfahrt. Ich werde mitkommen.« Andrés Augen verengten sich. »Hast du dir das gut überlegt?«

»Ja, gewiss. Es war zwar ein impulsiver Entschluss, aber er gefällt mir. Ich möchte doch mal sehen, was man aus dem alten Bau gemacht hat.«

»Und nebenbei mit Lisa flirten?«, fragte André hart.

Michaels Augen schoben sich zusammen.

»Ich will nicht flirten«, erwiderte er gereizt. »Bist du ihr Vormund?«

»Sie steht unter meinem Schutz! Ich habe es Nicolas versprochen!«

»Und Nicolas – welche Rolle spielt er in ihrem Leben?«

»Er will ihr helfen, aber du, Michael, denkst du nicht darüber nach, dass du ihr schaden könntest?«

»Misch dich da bitte nicht ein, André! Ich will Lisa nicht schaden. Ich habe sie gern, vielleicht ist es auch mehr. Ich denke nicht, dass ich darüber Rechenschaft ablegen müsste. Aber wenn du es genau wissen willst, vielleicht werde ich sie heiraten.«

»Eine Frau, die nicht sprechen kann, die dir niemals etwas sagen kann? Willst du dich zum Märtyrer machen, Michael?«

»Ich mag es nicht, wenn du so redest. Mich interessiert nicht, ob sie sprechen kann. Ich verstehe sie auch so.«

»Nach ein paar Stunden?«, fragte André gedehnt.

»Nach ein paar Stunden. Ich bin zwar kein Arzt und auch kein Psychologe, aber ich verstehe sie eben, das muss dir genügen.«

Mit brennenden Augen starrte Michael ihn an.

»Ich bin doch nicht dein Feind, Michael. Ich bin dein Freund. Aber ich bin auch Nicolas’ Freund, und er fühlt sich verantwortlich für Lisa.«

»Dann werde ich ihm die Verantwortung abnehmen.«

»Nicolas liebt deine Schwester«, bemerkte André leise.

Michael warf den Kopf in den Nacken. Ganz weit waren seine Augen, und ein ungläubiger Ausdruck war in ihnen.

»Das kannst du sagen, nachdem Florence erst ein paar Wochen tot ist?«, entgegnete er heiser. »Florence, deine Schwester, die er geliebt hat?«

»Hast du sie nicht auch geliebt?«

Ein langes Schweigen war zwischen ihnen.

»Ich wusste von Anfang an, dass sie unerreichbar für mich sein würde«, sagte Michael mit schwerer Zunge.

»Vielleicht wusste Nicolas das auch. Für wen war sie erreichbar? Für niemanden, nicht einmal für ihren Bruder. Versteh mich doch! Fast kommt es mir so vor, als würden wir alle auf der Flucht sein vor uns selbst, weil wir hilflos zusehen mussten, wie sie starb. Wir flüchten uns zu jenen Menschen, die hilflos sind.«

»Lisa ist nicht hilflos«, erklärte Michael. »Sie kann mir eher helfen als ich ihr.«

»Brauchst du denn Hilfe, Michael?« Der andere schwieg ein paar Sekunden.

»Es bleibt dabei«, sagte er dann. »Ich fahre Lisa heim.«

*

Manuel hatte Bambi viel zu erzählen gehabt. Dass seine Mami nun doch mit Papi nach Paris fahren würde und dass Sabine dann zu ihnen kommen wollte.

»Sie will wirklich«, erklärte er, als Bambi ungläubig schaute. »Vier Tage.«

Sie streckte sich, weil es sie kränkte, dass Manuel schon wieder gewachsen war und sie nicht. Und nun stellte er es auch noch fest. Er war sehr stolz.

»Ich bin jetzt schon ein ganzes Stück größer als du«, sagte er.

»Wachse ich eigentlich gar nicht mehr?«, meinte Bambi empört.

»Nur nicht so schnell wie ich. Teta sagt, bei mir ist der Knoten gerissen, aber ich bin ja auch ein Junge, und außerdem gehe ich schon in die Schule.«

»Jetzt werde ich auch bald sechs, und dann wachse ich auch.«

»Du bist niedlich so«, beteuerte er. Für solche Komplimente hatte Bambi noch nichts übrig mit ihren fünf Jahren.

»Alle wollen, dass ich klein bleibe«, beschwerte sie sich. »Kann Sabine eigentlich mit kleinen Kindern umgehen?«

Bisher hatte sie immer »Fräulein von Jostin« gesagt, aber da Manuel sie schlicht Sabine nannte, nahm sie sich diese Freiheit auch.

»Sie ist doch noch gar keine Mami.«

»Aber sie kann’s ganz gut«, meinte Manuel. »Sie ist sehr nett. Du kannst zu uns kommen, wenn sie da ist, und sie besser kennenlernen.«

»Kannst du es denn leiden, dass deine Mami auch wegfährt?«, erkundigte sich Bambi. »Ich möchte das gar nicht so gern.«

»Papi will Mami immer dabei haben, sonst wird er grantig«, sagte Manuel. »Wenn wir mal verheiratet sind, Bambi, musst du auch immer mitkommen.«

Bambi blickte ihn tiefsinnig an.

»Du willst mich auch heiraten?«, fragte sie ernsthaft mit gekraustem Näschen.

»Wer denn noch?« Manuel war sichtlich betroffen.

»’ne ganze Menge, der Jerry, und der Flori, aber wenn ich erst groß bin, dann heirate ich den Hannes.«

»Hannes ist doch dein Bruder!«, ereiferte sich Manuel.

»Wenn ich groß bin, ist er nicht mehr mein Bruder«, entgegnete Bambi energisch. »Aber das verstehst du nicht.«

»Dein Bruder bleibt immer dein Bruder. Wenn du zur Schule gehst, lernst du das schon. Und Jerry ist ja noch kleiner als du.«

Wenn es Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen gab, dann nur deswegen, weil Bambi auch noch andere Freunde hatte und weil Manuel das nicht gern sah. Mit Mädchen konnte sie ruhig spielen, aber mit Jungen war er nicht so nachsichtig. Schließlich war er ihr bester Freund gewesen, und das wollte er auch bleiben.

Bambi war nicht streitsüchtig. Wenngleich sie immer kampfeslustig gestimmt war, wenn man sie so nachdrücklich darauf hinwies, dass Hannes ihr Bruder wäre und sie ihn nicht heiraten könnte, wollte sie sich deswegen doch nicht mit Manuel in die Haare kriegen.

»Hat Tante Marianne immer noch die Grippe?«, lenkte sie ab.

»Mächtigen Schnupfen hat sie noch, deswegen will sie uns ja auch nicht anstecken.«

»Sie muss mal Opis Tropfen nehmen«, sagte Bambi, »die helfen gleich, und vielleicht braucht Sabine dann gar nicht zu euch zu kommen.«

»Sie kann aber gern kommen. Omi kann nicht dauernd hinter den Zwillingen herflitzen, und Teta auch nicht.«

»Ich kann ja aufpassen«, schlug Bambi vor.

Manuel warf ihr einen schrägen Blick zu.

»Magst du Sabine nicht?«, fragte er.

»Doch, ich mag sie schon, aber wenn nun der alte Baron von Rieding wütend wird, dass sie bei euch im Haus ist? Er hat doch auch keine Jostins leiden können.«

»Er ist doch tot«, entgegnete Manuel. »Ihm kann’s gleich sein, und Mami hat Sabine gern. Sie verstehen sich prima.«

»Und wenn nun der Geist umgeht und sie erschreckt?«, meinte Bambi skeptisch.

»Welcher Geist denn?« Manuel war bei Weitem nicht mehr so ängstlich wie früher einmal.

»Der von den Riedlings. Die Ritter hatten doch Geister«, überlegte Bambi. »Du, Manuel, glaubst du, dass das vielleicht auch ein Geist ist, der dauernd schießt?«

»Geister schießen nicht«, belehrte er sie. »Vielleicht ist es ja doch der Gruber-Bauer.«

»Bestimmt nicht«, ereiferte sich Bambi. »Der Gruber-Bauer ist nämlich gar kein böser Mann. Heute Morgen war er wieder bei uns und hat mich besucht. Und nun soll ich ihn auch mal besuchen.«

»Kann ich da mitkommen?«

»Da muss ich ihn erst fragen. Das erste Mal lieber nicht. Man muss alles ganz langsam machen. Nur nichts überstürzen«, sagt Mami. »Er kann aus seiner Haut ja nicht raus. Aber zu mir ist er jetzt ganz lieb, und er bringt mir auch immer was mit. Willst du mal sehen, was er mir heute mitgebracht hat?«

Natürlich wollte Manuel das sehen.

Es war ein Kaleidoskop, und wenn man es vors Auge hielt und drehte, formten sich bunte Bilder.

»Das hat Viktoria gehört«, erzählte Bambi. »Wenn sie beim Gruber-Bauern war und ihn besucht hat, hat sie es immer angeschaut.«

»Wer ist Viktoria?«, fragte Manuel.

»Das war auch mal ein Kind, das er gernhatte, aber jetzt ist sie kein Kind mehr, sondern eine große Dame, wenn sie noch lebt. Das hat er gesagt. Und darum hat er mir das Kaleidoskop geschenkt. Er war ganz nett.«

»Hauptsache, er verkauft den Wald nicht«, meinte Manuel. »Will er ihn dir immer noch schenken, Bambi?«

»Mami hat gesagt, das geht nicht, und er soll auch nicht denken, dass ich lieb mit ihm bin, bloß weil er mir was schenken will. Die Hauptsache ist, dass er ihn nicht an die fremden Leute verkauft. Aber Kummer macht es ihm schon, dass sein Wild immer beschossen wird. Das kann doch nicht mit rechten Dingen zugehen. Ob der Mann eine Tarnkappe hat, dass ihn keiner sieht?«

»Papi sagt, das ist vielleicht einer, dem man es gar nicht zutraut, und der allen ins Gesicht schöntut.«

Bambi tippte sich an die Nase. Das tat sie immer, wenn sie nachdachte.

»Bösen Menschen sieht man an, wenn sie böse sind«, bemerkte sie. »Wenn Jonny ihn bloß mal suchen dürfte, der würde ihn bestimmt schnappen.«

»Und wenn er dann auch totgeschossen wird?«

»Das ist es ja eben, deswegen lassen wir ihn ja nicht los. Das will der Gruber-Bauer auch nicht.«

*

Felix Münster, Werner Auerbach und der Polizeiinspektor Helmers, die heute wegen des vermeintlichen Wilderers eine Besprechung hatten, waren zu einer ganz anderen Überlegung gekommen.

»Mir drängt sich einfach der Gedanke auf, dass dieser Mensch etwas anderes im Schilde führt«, äußerte Werner Auerbach nachdenklich. »Er knallt jetzt in der Gegend herum … Aber sicher ist das absurd. Meine fantasievolle Familie wird mich angesteckt haben.«

»Sprich es aus, Werner«, forderte Felix Münster ihn auf. »Ich habe auch eine Theorie. Vielleicht decken sich beide.«

»Er mag nur den Anschein erwecken wollen, ein Wilderer zu sein, und hat es eigentlich auf einen Menschen abgesehen«, rückte Werner Auerbach zögernd mit seiner Meinung heraus.

»Ein kaltblütiger Mörder, der nur darauf wartet, dass ihm der Richtige vor die Flinte läuft«, sagte Felix Münster sinnend.

»Der Gruber?«, fragte Polizeiinspektor Helmers entsetzt.

»Oder jemand anders«, warf Felix Münster ein. »Der Gruber-Bauer wohnt doch schon ein Leben lang hier, und nie ist in seinem Wald gewildert worden. Er hatte keine Freunde, aber auch keine Feinde.«

»Wer aber hat Feinde?«, bemerkte Werner Auerbach.

»Das ist die Frage. Vielleicht ich, vielleicht du, vielleicht Dr. Allard. Ich habe lange nachgedacht.« Felix Münster machte eine kleine Pause. »Angefangen hat es doch erst, seit Allard hier ist.«

»Dann dürfen wir Fräulein von Jostin aber auch nicht ausschließen«, stellte Helmers fest. »Ob es noch einen Erben gibt, der sich benachteiligt fühlt?«

»So weit wollen wir nun doch nicht denken«, entgegnete Felix Münster. »Aber es wird besser sein, wenn wir uns nicht allzu sehr auf einen Wilderer oder Streuner konzentrieren, sondern einfach auf Fremde, die erst in letzter Zeit hier aufgetaucht sind. Es ist zwar ein scheußlicher Gedanke und es passt nicht zu unserer friedlichen Gegend, aber wir können nicht Augen und Ohren verschließen vor der Tatsache, dass sich diese Knallerei immer wiederholt.«

»Und immer in ganz bestimmten Abständen«, erklärte Inspektor Helmers, »jedenfalls immer an den Wochenenden, wenn die Besichtigungstage für die Felsenburg sind und mehr Auswärtige hier herumschwirren. Und wenn wir Tierkadaver gefunden haben, dann immer in dem Waldstück, das an den Jostinschen Besitz grenzt.«

Werner Auerbach und Felix Münster hatten genug nachzudenken, als sie gemeinsam heimwärtsfuhren.

»Man weiß so wenig von Allard. Vielleicht hat er Feinde, die ihm nachspüren«, sagte Felix Münster gedankenvoll. »Womöglich glaubte er, sich hier verstecken zu können. An einen etwaigen weiteren Erben kann ich nicht glauben.«

»Es gibt auch keinen. Dr. Allard und Sabine von Jostin sind die Alleinerben. Michael von Jostin kommt nicht infrage. Nachgedacht haben wir auch schon darüber, warum Allard als gebürtiger Franzose sich hier niederlässt. Er hatte sich übrigens schon einen Namen gemacht als Neurologe.«

»Also Neurologe? Weißt du das bestimmt, Werner?«

»Ganz bestimmt. Inge hat sich mit ihm darüber unterhalten.«

»Dann ist es vielleicht ein Verrückter, der ihn verfolgt hat. Einer, den er mal in ein Irrenhaus gesteckt hat? Verfolgungswahn kann gefährliche Ausmaße annehmen.«

»Mach mich nicht schwach. Ich bin doch einer der größten Befürworter seines Projekts.«

»Das ja auch ein Kinderkrankenhaus wird und nicht eine Nervenklinik. Aber wenn ich aus Paris zurückkomme, werde ich mich doch einmal näher mit ihm beschäftigen.«

Wenn es dann nicht schon zu spät ist, dachte Werner Auerbach, aber das behielt er lieber für sich.

*

Ganz vergaß Felix Münster dieses Problem auch nicht; als er daheim erfuhr, dass Sabine die Kinder während Sandras Abwesenheit betreuen würde.

Er hatte gelernt, sich zu beherrschen, und unterhielt sich liebenswürdig mit Sabine. Aber unentwegt überlegte er, wie er das Gespräch auf Dr. Allard bringen könnte, ohne dass sie stutzig wurde. Ahnungslos half Sandra ihm dabei.

»Wir haben einen Namen für die Klinik gefunden«, erklärte sie unbekümmert. »Wie gefällt dir Sternsee-Klinik?«

»Sehr gut. Soll es eigentlich immer eine Kinderklinik bleiben?«

»Aber gewiss! Hegen Sie Zweifel, Felix?«, fragte Sabine.

»Ich dachte nur, dass Dr. Allard eigentlich kein Kinderarzt ist«, äußerte Felix beiläufig.

»Sie meinen, weil er früher Neurologe war?«, entgegnete Sabine arglos. »Ich kann mir vorstellen, dass er einige Erlebnisse hatte, die ihn einen anderen Weg suchen ließen. Wissenschaftlich wird er aber auch noch weiterhin an der Erforschung der Nervenkrankheiten arbeiten. Meiner Ansicht nach ist er zu empfindsam, um sich auf einem Gebiet zu spezialisieren, das so wenig nachhaltige Erfolge zeitigt.«

»Haben Sie schon darüber mit ihm gesprochen?«, fragte Felix interessiert.

Sandra warf ihm einen forschenden Blick zu und hielt unwillkürlich den Atem an. Sie kannte ihren Mann so gut, dass sie den Unterton vernahm und die gespannte Aufmerksamkeit bemerkte.

»Nur einmal ganz beiläufig«, antwortete Sabine. »Wir sprachen darüber, wie winzig der Schritt von der überdurchschnittlichen, aber nicht lebensnahen Intelligenz zum übersteigerten Geltungstrieb und dann zum Wahnsinn ist. Übrigens ist Nicolas ein Arzt, der auf allen Gebieten seine Erfahrungen gesammelt hat. Er hält nichts davon, dass man sich auf ein bestimmtes Gebiet spezialisiert. Er ist der Ansicht, dass die Ärzte der Allgemeinmedizin noch immer die zuverlässigsten wären, wenn sie ernsthaft den Menschen als Ganzes betrachten und auch die Psyche nicht außer Acht lassen.«

Felix Münster musterte Sabine mit einem unergründlichen Blick.

»Das war ja schon fast ein Plä­doyer für Dr. Allard«, sagte er.

»Nicolas ist ein wunderbarer Mensch«, erwiderte sie leise.

»Auch wunderbare Menschen werden manchmal nicht verstanden«, stellte Felix fest.

»Sie meinen Hasso von Sillberg?« An den hatte Felix augenblicklich nicht gedacht.

»Oh, ich denke, dass er keine Angriffe mehr auf Dr. Allard wagen wird«, entgegnete er. Oder doch?, fragte er sich, und nun kamen ihm plötzlich ganz andere Gedanken.

»Warum hast du Sabine so in Verwirrung gestürzt?«, fragte Sandra, als sie mit ihrem Mann allein war. »Sie hat etwas übrig für Nicolas Allard. Es ist peinlich, wenn Hasso von Sillberg ins Gespräch gebracht wird.«

»Sie hat ihn doch ins Gespräch gebracht«, bemerkte er.

»Ging dein Gespräch nicht auf ihn hinaus?«, fragte sie erstaunt.

»Nein, Sandra. An Sillberg habe ich gar nicht gedacht. Aber ich meine, dass wir uns doch mal intensiver mit Dr. Allard beschäftigen sollten.«

»Was hast du denn gegen ihn?«

»Gegen ihn gar nichts. Aber vielleicht hat jemand anderes etwas gegen ihn.«

Sie konnten sich darüber nicht länger unterhalten. Magnus von Roth und Bambi brachten Manuel zurück. Die Zwillinge schrien nach ihrer Mami.

Abends führte Felix noch ein paar Ferngespräche, und Sandra war mit ihren Reisevorbereitungen beschäftigt. Und wie es bei einem vielbeschäftigten Mann ist, der für einige tausend Angestellte Verantwortung trägt, war Dr. Allard bei Felix Münster vorerst in den Hintergrund getreten.

*

Sabine wusste selbst nicht, warum sie auf der Heimfahrt solche Angst gehabt hatte. Ihr war zumute, als säße ihr der Teufel im Nacken. Die wenigen Minuten, die sie warten musste, bis sich das Tor auftat, erschienen ihr wie eine Ewigkeit.

Am liebsten wäre sie Nicolas um den Hals gefallen, als er vor ihr stand und ihr aus dem Wagen half.

»Es ist ziemlich spät geworden«, sagte er.

Er hat mich vermisst. Er hat sich Sorgen gemacht, dachte sie, und eine heiße Welle durchflutete sie.

»Sandra will ihren Mann nach Paris begleiten und hat mich gebeten, mich während dieser Tage um die Kinder zu kümmern.«

»Wie lange?«, fragte er schnell.

»Vier Tage.«

»Du tust es gern?«

»Gewiss.«

»Es ist eine Abwechslung. Du brauchst dich nicht ständig mit einem langweiligen Mann zu unterhalten«, sagte er leise.

»Nicolas, du hast doch keine Minderwertigkeitskomplexe?«, bemerkte sie überrascht. »Missfällt es dir, dass ich mich mit Sandra gut verstehe?«

»Ich habe Angst, dass es dir hier nicht mehr gefallen könnte, Sabine«, erwiderte er gepresst.

Nie wäre sie auf den Gedanken gekommen, dass einen Mann wie ihn Angst bewegen könnte, und dass er es auch noch aussprach, raubte ihr den Atem.

»Es sind nur ein paar Tage, Nicolas«, äußerte sie leise. »Es ist eine Gefälligkeit für eine Freundin. Sonst möchte ich nur da sein, wo du bist.«

Seine Lippen pressten sich in ihr Haar.

Die Dunkelheit umfing sie wie ein Mantel, der sie einhüllte.

»Ma Cherie!«, sagte er mit einer Zärtlichkeit, wie sie sie noch niemals in seiner Stimme vernommen hatte. »Ohne dich möchte ich hier nicht sein. Es ist so kalt, wenn du nicht da bist.«

»Es sind nur vier Tage, Nicolas, und du kannst mich besuchen«, flüsterte sie, und doch wusste sie, dass auch ihr diese vier Tage zu lang sein würden.

Sie drehte sich um und legte die Arme um seinen Hals.

»Verzeih mir, aber es macht mich glücklich, wenn du mich vermisst.«

»Willst du es herausfordern?«, fragte er, seine Arme um sie legend.

»Nein, Bestimmt nicht. Ich glaubte nicht, dass es dir etwas ausmachen würde.«

»Was denkst du sonst noch?«

Sie dachte gar nichts mehr. Sie hob ihm ihren Mund entgegen, und als sie seine Lippen spürte, versank die Welt für sie.

Es war das erste Mal, dass er sie so küsste, seit Florence tot war. Sie zitterte. »Es ist kalt«, sagte er.

»Im Haus ist es warm«, erwiderte sie. Ihre Blicke tauchten ineinander. Sie stieß die Tür auf und drückte auf den Lichtschalter.

»Du hast bestimmt noch nicht gegessen«, bemerkte Sabine. »Kannst du drüben überhaupt richtig schlafen, Nicolas?«

»Es riecht noch ziemlich nach Farbe.«

»Die Zimmer oben sind schon lange bereit für euch.«

»Aber André ist noch nicht da.«

Sie lachte leise. »Du willst mich also nicht kompromittieren.«

»Findest du das amüsant?«, fragte Nicolas.

Stand ihr Herz nicht still in diesem Moment, als sie Verzweiflung in seinen Augen las, die dann einem resignierenden Ausdruck wich?

Ein Schwindel erfasste sie, als er sich von ihr abwandte, und sie fiel ihm in den Arm. Sie stammelte unzusammenhängend zärtliche Worte, ganz dicht an seinem Ohr, und eine Seligkeit ohnegleichen erfüllte sie, als er sie dann an sich zog und küsste.

»Du darfst nicht weggehen«, flüsterte er.

»Ich gehe nie weg, Nicolas, nicht so weit, dass du mich nicht jederzeit erreichen könntest«, gab sie zurück.

*

Lisa ging immer früh zu Bett, und meistens schlief sie sofort ein. Sie sehnte sich in das Reich der Träume, in dem sie sprechen konnte wie andere, lachen und fröhlich sein. Sie wünschte sich, von Michael zu träumen, und in den vergangenen Nächten hatte sie wundervoll geträumt.

Diesmal schreckten Geräusche sie aus dem Halbschlaf, in den sie eben gesunken war. Sie vernahm Dr. Valderes Stimme, dann Andrés und Michaels. Mit atemloser Spannung lauschte sie und vernahm nun das Weinen eines Kindes. Es war ein klägliches Weinen.

Lisa schnellte empor, als ihr bewusst wurde, dass dies kein Traum war, und im nächsten Augenblick war sie aus dem Bett und schlüpfte in den flauschigen Hausmantel.

Als sie die Tür leise öffnete, herrschte draußen Stille. Aber sie sah in der Halle Michael stehen, nur ihn, nicht die anderen.

»Ich hörte das Kind um Hilfe rufen«, sagte er.

Lisa verstand jedes Wort. Nun sah sie auch das Kind. Es war ein kleines Mädchen, das, in eine Decke gehüllt, in einem der Sessel saß.

Dr. Valdere hob es jetzt empor und trug es in den Raum, in dem er sich mit seinen Patienten unterhielt. André folgte ihm, aber Michael blieb zurück. Langsam drehte er sich um und blickte zu Lisa empor.

Sie hielt sich am Geländer fest und ging nun langsam die Treppe hinab.

Michael zögerte noch, als könnte er es nicht glauben, sie wirklich zu sehen. Doch nun kam er ihr mit schnellen Schritten entgegen, griff nach ihren Händen und hinderte sie, die Treppe weiter hinabzuschreiten.

Ihre Lippen bewegten sich, doch mehr in ihren Augen als von ihren Lippen las er die Frage: Was ist geschehen? Er senkte den Kopf.

»Du solltest schlafen, Lisanne«, sagte er sanft.

Sie schüttelte heftig den Kopf und deutete auf die Tür, hinter der Dr. Valdere mit dem Kind verschwunden war. Mit beiden Händen umklammerte sie seinen Arm und sah ihn flehend an.

Warum bist du hier, was ist mit dem Kind, fragten ihre Augen.

»Es ist etwas Schreckliches geschehen«, erklärte er leise. »Das Kind ist nur leicht verletzt. Sie waren mit einem Wohnwagen drunten am Meer. Es ist wohl eine Propanflasche explodiert. Der Wagen brannte.«

Lisas Hände lösten sich von seinem Arm und legten sich über ihr Gesicht. Ein unartikulierter Laut kam über ihre Lippen. Ihr wurde es wohl nicht bewusst, aber es war ein deutlich vernehmbarer Laut, und augenblicklich dachte Michael nichts anderes. Seine Hände schlossen sich um ihre Schultern.

»Ich habe das Kind gefunden und hierhergebracht«, fuhr er heiser fort. »Die Eltern sind tot.«

Sie soll schreien, dachte er dabei, sie soll endlich schreien. Aber kein Laut kam mehr über ihre Lippen. Starr vor Entsetzen war ihr Gesicht, und bevor er sie wieder festhalten konnte, lief sie an ihm vorbei, die Treppe hinunter und auf die Tür zu, die André hinter sich ins Schloss gezogen hatte.

*

»Wie heißt du?«, fragte Dr. Valdere das Kind.

»Jill«, antwortete das Mädchen.

»Deutsch versteht sie«, sagte Dr. Valdere zu André.

»A little«, erwiderte die Kleine.

»Sie ist Engländerin«, bemerkte André. Das Kind nickte eifrig.

Lisa drängte sich durch die Tür. Betrofen sah Dr. Valdere sie an.

»Das ist nichts für Sie, Lisa«, erklärte er.

Sie hörte nicht auf ihn, kniete bei dem Kind nieder und umarmte es.

Verwirrt sah Jill Dr. Valdere an.

»Kann ich mit dem Mädchen englisch sprechen?«, fragte sie.

»Lisa kann gar nicht sprechen«, erwiderte er heiser. »Bitte, Lisa, lassen Sie uns mit dem Kind allein.«

»Ich will aber, dass sie dableibt«, sagte Jill in englischer Sprache.

»Sie will, dass Lisa dableibt«, übersetzte Michael, der in der Tür stand, mechanisch.

Dr. Valdere zuckte die Schultern. »Vielleicht dolmetschen Sie. Mit meinem mangelhaften Englisch kommen wir auch nicht weiter.«

»Und du, André?«, fragte Michael. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« Lisa konnte sich anscheinend auch ohne Worte mit Jill verständigen. Die Kleine hatte ihre Arme um Lisas Hals geschlungen und weinte leise. Und Lisa streichelte sie beruhigend.

»Vielleicht wird das Kind jetzt schlafen«, bemerkte Dr. Valdere. »Es wäre das Beste.«

Lisa drehte sich um und gab ihnen zu verstehen, dass sie das Kind mit in ihr Zimmer nehmen wolle.

Dr. Valdere und André tauschten einen langen Blick, während Michael Lisa kopfschüttelnd betrachtete. Doch dann war er es, der die Kleine hinauftrug.

Anscheinend begriff Jill noch nicht, was eigentlich geschehen war, oder Lisas Gegenwart übte eine so beruhigende Wirkung auf sie aus, denn sie hatte zu weinen aufgehört und sah Michael an.

»What’s your name?«, fragte sie.

»Michael«, erwiderte er.

»Mike«, sagte sie mit einem Lächeln, das ihr trauriges Gesichtchen erhellte.

Nun wollte sie wissen, ob er Lisas Mann sei und dableiben würde. Sie war betrübt, als er es verneinte.

»Du wirst jetzt schlafen, Jill«, erklärte er eindringlich. »Morgen komme ich wieder. Lisa bleibt bei dir. Wenn du etwas möchtest, sage es ihr. Sie kann alles verstehen.«

»Ich mag sie, weil sie nichts fragt und nur lieb ist«, äußerte Jill.

Behutsam streichelte er ihre Wange, legte dann seine Hand unter Lisas Kinn und hob ihren Kopf empor. Er umfasste sie mit einem zärtlichen Blick und küsste sie dann impulsiv auf die Stirn, bevor er ging. André wartete auf ihn.

»Ich weiß nicht, ob es gut ist, wenn Lisa sich mit ihr befasst«, gab er zu bedenken.

»Jill mag sie, weil sie keine Fragen stellt«, entgegnete Michael ironisch, »und ich glaube, das ist jetzt besser für das Kind.«

*

Während das künftige Schicksal der kleinen Jill noch ungeklärt blieb, war Sabine bereits auf den Sonnenhügel übergesiedelt.

Die Zwillinge fanden es ganz lustig, da sie sich fast ausschließlich mit ihnen beschäftigte, während Manuel seine Hausaufgaben machte. Aber als dann der Mittag kam und vor allem der kleine Felix vergeblich nach seiner Mami rief, wurde es kritisch. Selbst Teta konnte nichts ausrichten.

Alexandra, zuerst noch friedlich, wurde von ihres Bruders Gebrüll angesteckt.

Sabine versuchte alles Erdenkliche, um sie abzulenken. Es war vergeblich. Da die Mami nicht kam, brüllten sie nun nach dem Papi und dann nach der Omi. Teta behielt die Ruhe.

»Das legt sich schon wieder«, meinte sie.

Aber Manuel hatte doch ein anderes Rezept. Er sauste los und holte Bambi. Und siehe da, die Zwillinge verstummten schlagartig. Sabine war indessen ganz verstört.

»Ich bin ein glatter Versager«, bemerkte sie deprimiert zu Teta.

»Ach was! Zu sehr verwöhnt sind sie von ihrer Mami. Bambi spielt oft mit ihnen. Da sind sie abgelenkt.«

Bambi fütterte die Kleinen auch mit einer erstaunlichen Geschicklichkeit, und sie erteilte Sabine dann auch Unterricht über den Umgang mit kleinen Kindern.

»Man darf sich nur nicht aus der Ruhe bringen lassen«, erklärte sie. »Das merken sie, und dann werden sie auch kribbelig. Das ist bei unserm Henrik auch so.«

»Mami fot«, plapperte Felix dazwischen.

»Papi fot«, schloss Alexandra sich an. »Sie kommen ja wieder und bringen euch was Schönes mit«, tröstete Bambi. »Sönes mit«, plapperten sie nach. »Tüt, tüt? Püppi?«

Dann ging Alexandra freiwillig zu Sabine und schmuste mit ihr.

Nach diesem ersten Sturm herrschte Frieden.

Marianne Heimberg rief an und erkundigte sich mit krächzender Stimme, ob die Kinder sich beruhigt hätten. Die besorgte Omi wünschte ihre Grippe zum Teufel, aber das nützte ihr nicht viel. Sie ließ sich nicht wegzaubern.

Am Abend waren die Zwillinge jedenfalls ebenso heiser wie ihre Omi. Aber da eine Ansteckung durchs Telefon kaum erfolgen konnte, schob Teta es auf ihr lang anhaltendes Gebrüll, das sich nun auswirkte.

Sabine machte sich jedoch Sorgen, und um nur ja nichts zu versäumen, rief sie Nicolas an.

Um nicht den Anschein zu erwecken, dass sie unbedingt Nicolas hier haben wollte, machte sie den Vorschlag, Dr. Riedel anzurufen. Aber Manuel sagte, dass der nicht daheim sei, weil er auch in anderen Dörfern Patienten hätte.

Teta dachte für sich, dass es wieder Geschrei geben könnte, wenn ein Fremder kam. Doch sie äußerte diese Bedenken nicht laut. Dafür wurde sie allerdings auch überrascht, denn die Zwillinge gaben keinen Piepser von sich, als Dr. Allard das Kinderzimmer betrat. Mit kugelrunden Augen blickten sie ihn an.

Teta sah es staunend und Sabine voller Glück, wie sie Nicolas ihre Händchen entgegenstreckten.

»Ihr seid aber brave Kinder«, bemerkte Nicolas, der von Sabine schon vorbereitet worden war, dass es nicht reibungslos abgehen würde.

»Brav«, sagte Felix.

»Lieb«, sagte Alexandra. »Nich Wehweh.«

»Da wollen wir doch lieber erst mal nachschauen«, meinte Nicolas und öffnete seinen Koffer.

»Gucken«, rief Felix und reckte seinen Hals.

Nicolas stellte den Koffer neben sein Bett. Aber sogleich kletterte Alexandra aus ihrem heraus und drängte sich auch an ihn heran.

»Auch gucken«, forderte sie.

»Na, dann schaut euch mal alles schön an.«

Sie taten es sehr vorsichtig, und lächelnd schaute er ihnen zu. Mit diesem gütigen Lächeln gewann er auch Tetas Herz.

Alexandra war schon ganz zutraulich und kletterte zu ihm aufs Knie.

»Guck, guck«, machte sie und blinzelte schelmisch.

»Mach mal schön dein Mündchen auf«, sagte er, und sie tat es, ohne zu zögern.

»Kannst du schon A sagen?«, fragte er.

Sie konnte es prächtig, und Felix machte es so schnell nach, dass Nicolas blitzschnell schalten musste.

»Nich Wehweh«, behauptete auch Felix.

»Nein, kein Wehweh, aber ihr dürft nicht mehr weinen, sonst werdet ihr krank«, ermahnte er sie liebevoll. »Pielen«, verlangte Felix. »Dotto pielen.«

»Er meint Doktor«, erklärte Manuel und konnte nur noch staunen, denn nun hatte Nicolas beide Kinder auf den Knien und schaukelte sie.

So kannte ihn Sabine noch nicht, und sie konnte sich nicht sattsehen an seinem gelösten Gesicht. Er wäre bestimmt ein wundervoller Vater, dachte sie.

*

Die Zwillinge waren ganz plötzlich mitten unter Plappern eingeschlafen. Auch Manuel ging brav zu Bett.

»Kommen Sie morgen wieder?«, fragte er Nicolas. »Sabine ist doch noch ein bisschen aufgeregt. Es ist ja auch das erste Mal, dass Mami ein paar Tage fort ist, und ganz schön lebhaft sind die Kleinen auch. Aber ich mach dir keinen Ärger, nicht wahr, Sabine?«

»Du bist wirklich ein lieber, vernünftiger Junge, Manuel«, lobte sie ihn.

»Als ich klein war, war ich auch nicht vernünftig. Teta weiß das noch.«

»Das kann man wohl sagen. Aber jetzt werden wir dem Herrn Doktor erst mal etwas anbieten.«

»Bitte, keine Umstände«, wehrte Nicolas ab.

»Wenn Sie doch schon umsonst gekommen sind«, meinte Teta. »Umsonst? Das kann man nicht sagen.« Er warf Sabine einen schnellen Seitenblick zu.

»Aber essen sollten Sie jetzt doch was«, erklärte Teta. »Sagen Sie es ihm, Fräulein von Jostin.«

Sie huschte davon, und Nicolas war mit Sabine allein.

»Ich stelle mich schon recht blöd an«, äußerte sie kleinlaut.

Er lächelte zärtlich.

»Bist ja selbst noch ein kleines Mädchen«, erwiderte er. »So kleine Kinder haben eine Antenne für die leiseste Unsicherheit. Je ruhiger du bist, desto wirkungsvoller ist deine Nähe.«

»Du weißt so viel von Kindern, Nicolas«, bemerkte sie nachdenklich. »Du weißt ganz genau, wie man sie behandeln muss.«

»Ich habe nur keine Angst, etwas falsch zu machen. Das besagt durchaus nicht, dass ich alles richtig mache, aber ein Angstgefühl teilt sich diesen kleinen Wesen mit. Du wolltest gleich ganz perfekt sein, denke ich, und genau dadurch fühlten sie, dass etwas anders war als sonst. Frau Münster ist bestimmt nicht dauernd auf dem Sprung. Warum nicht? Weil die Kinder Bestandteil der Familie sind. Wenn du erst Kinder hast … Er hielt inne, weil ein unendlich sehnsüchtiger Ausdruck in ihren Augen war. Er beugte sich nahe zu ihr herab. »Ich wünsche mir auch Kinder, Liebes.«

Sein Mund war so weich, dass sie ihn am liebsten geküsst hätte. Aber Teta machte sich schon von Weitem bemerkbar mit dem Klappern des Geschirrs auf dem Servierwagen.

Dennoch sagte Nicolas ganz leise: »Ich liebe dich!«

Ausgerechnet jetzt, da sie ihm nicht in die Arme fallen konnte, überwältigt von diesem berauschenden Glücksgefühl. Aber gerade das wollte er nicht. Sie sollte dieses Bekenntnis in sich aufnehmen und nachklingen lassen. Und er selbst dachte darüber nach, dass er diese so bedeutungsvollen Worte noch niemals ausgesprochen hatte.

»Wenn es gestattet ist, würde ich jetzt gern schlafen gehen«, bemerkte Teta. »Lassen Sie nur alles stehen, Fräulein von Jostin. Und vielen Dank, Herr Doktor, dass Sie sich so lieb um unsere Zwillinge gekümmert haben. Es freut mich sehr, dass ich Sie endlich kennengelernt habe, wenn ich das sagen darf.«

»Es freut mich auch, dass ich Sie kennengelernt habe, Teta«, erwiderte er voller Wärme.

»Es wird Segen auf Ihrer Kinderklinik ruhen«, äußerte Teta gedankenvoll. »Wenn ich sie mir einmal anschauen dürfte, wäre ich Ihnen sehr dankbar. Und nun lassen Sie es sich schmecken. Gute Nacht, Dr. Allard.«

»Darauf kannst du dir etwas einbilden, Nicolas«, meinte Sabine, als Teta die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Teta ist sonst sehr zurückhaltend.«

Ein rätselhaftes Lächeln legte sich um seinen Mund.

»Wir sprechen die gleiche Sprache, Sabine, und dazu braucht man sich nicht lange zu kennen.«

»Ich dachte, dass es gar nicht so einfach ist, dich zu ergründen, Nicolas.«

»Nur dann nicht, wenn man etwas in mich hineindenkt, was gar nicht vorhanden ist. Ich bin gar nicht kompliziert, Cherie, Ich bin ganz einfach nur ein Mensch, und Teta hat das gleich erkannt.«

»Du bist ein wundervoller Mensch«, flüsterte sie.

»Sag das nicht. Ich will nicht, dass du mich über andere erhebst. Ich wünsche mir nur, dass du mich liebst, mit allen meinen Fehlern und Schwächen, vor denen du die Augen nicht verschließen sollst.«

Sie fiel in seine Arme, durchglüht von Sehnsucht und mit wild klopfendem Herzen. Doch dann wurde ihr bewusst, dass sie sich in einem fremden Haus befanden, und sie küsste ihn nur schnell auf die Wange.

*

Sabine richtete sich nach den Worten von Nicolas und war nicht dauernd auf dem Sprung, wenn die Zwillinge einen Laut von sich gaben. Sie krabbelten in ihrem Spielzimmer herum und beschäftigten sich selbst.

Es war putzig, wie sie sich unterhielten und wie gut sie sich verständigen konnten, trotz ihres mäßigen Sprachschatzes.

»Mami fot«, sagte Felix, während er seine Bausteine aneinanderreihte.

»Bine da«, rief Alexandra. »Dotto tommt. Dotto lieb.«

Sabine konnte sich nicht sattsehen an diesen kleinen Geschöpfen, den süßen Gesichtchen, und es machte sie glücklich, dass sie Nicolas gleich so lieb gewonnen hatten. Es gab heute keinerlei Schwierigkeiten mit ihnen.

Sabine zog sie warm an und ging mit ihnen eine halbe Stunde an die frische Luft. Felix links, Alexandra rechts an den Händen haltend, spazierten sie durch den Park.

Die beiden hatten früh laufen gelernt und waren schon sehr sicher auf ihren kleinen Beinen.

»Omi gehen«, verlangte Alexandra.

»Omi ist krank, Sandy«, erwiderte Sabine.

»Dotto heileheile machen«, piepste die Kleine.

»Bum, bum«, sagte Felix.

Sabine hob die Kinder empor und lief mit ihnen zum Haus zurück. Teta stand schon in der Tür.

»Der Verrückte ist wieder am Werk!«, knurrte sie empört.

»Es war ziemlich nahe«, stieß Sabine atemlos hervor.

»Das klingt bloß so«, meinte Teta beruhigend.

Die Zwillinge protestierten lauthals, als Sabine ihnen die Mäntelchen und Stiefel wieder auszog. Teta beschwichtigte sie mit Keksen.

»Ich wage mich nicht mehr hinaus«, sagte Sabine.

»Ich glaube jetzt auch bald, dass er uns das Fürchten lehren will«, bemerkte Teta.

Auch im Sonnenwinkel hegte man solche Gedanken. Auch dort hatte man den Schuss vernommen.

Jonny, der Collie, sprang am Gartenzaun empor und bellte wütend.

»Du bleibst hier, Bambi!«, rief Inge Auerbach, als Bambi hinauslaufen wollte.

»Jonny würde ihn schon schnappen«, versicherte Bambi. »Ganz bestimmt würde er ihn schnappen!«

Ein paar Minuten später kam Magnus von Roth, um Johnny zu holen.

»Ich will mal zur Felsenburg gehen«, erklärte er. Aber Inge wusste, dass dies nur eine Ausrede war.

»Ich möchte mitgehen, Opi«, bettelte Bambi.

»Wir fahren nach Hohenborn«, sagte Inge schnell entschlossen.

»Warum denn?«, fragte Bambi. »Weil ich was besorgen muss.« Widerspruch gab es bei Bambi nicht, obgleich sie viel lieber mit ihrem Opi gegangen wäre.

Während sie sich den Mantel anzog, raunte Inge Auerbach ihrem Vater zu: »Werner geht auch mit, aber seht euch bloß vor!«

»Pass du nur auf, und nimm ja keinen Anhalter mit!«, warnte er sie.

Inge war bekümmert. Immer wieder mussten sie jetzt fragen, ob jemand nur ihren Frieden willkürlich und aus unerfindlichen Motiven stören oder ob er das Leben irgendeines Menschen ernsthaft bedrohen wollte.

*

Magnus von Roth und Werner Auerbach gingen den Weg zur Felsenburg. Jonny wurde an der Leine gehalten. Er schnüffelte zwar von Zeit zu Zeit, aber er zeigte keine Unruhe. Er ging auch immer schön bei Fuß. Doch als sie die Felsenburg hinter sich gelassen hatten und tiefer in den Wald eindrangen, begann er zu ziehen.

»Immer langsam, Jonny!«, mahnte Werner Auerbach. »So schnell kommen wir nicht mit.«

Jonny warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu, der wohl besagen sollte, dass man von ihm etwas erwartete und Mahnungen unangebracht wären.

Nach weiteren zwanzig Metern begann Jonny zu knurren, leise, aber gefährlich. Sie blieben stehen und lauschten, aber es war nichts zu hören, und doch zerrte Jonny nun ganz wild.

Magnus von Roth gab ihn frei. »Vorsicht, Jonny«, befahl er, »und komm gleich zurück!«

Der Hund schoss los, verschwand im Dickicht und blieb minutenlang verschwunden.

»Hoffentlich passiert ihm nichts«, sagte Werner Auerbach. »Ich würde nicht wagen, Bambi noch mal unter die Augen zu treten.«

»Er ist doch dressiert«, erklärte Magnus von Roth beruhigend.

Jonny bellte, laut und freudig, und wenig später kam er in großen Sprüngen daher. Er trug etwas in der Schnauze. Es war ein Handschuh, wie ihn Autofahrer zu tragen pflegten. Der Handrücken mit den Löchern verriet es. Es war feines, weiches Leder. Er war nicht mehr neu, konnte aber noch nicht lange hier gelegen haben, denn er war nicht feucht.

Jonny sah die beiden Männer erwartungsvoll an. Er wollte gelobt werden, und sie taten es auch.

»Nun, Herr Detektiv, was schließt du daraus?«, fragte Werner Auerbach seinen Schwiegervater.

»Recht merkwürdig finde ich es. Ein Autohandschuh und dazu keiner von der billigen Sorte. Nach einem Wilderer sieht das wirklich nicht aus.«

»Es kann ein Spaziergänger gewesen sein. Wir befinden uns nicht weit vom Sonnenhügel. Vielleicht gehört er sogar Carlo oder Felix.«

»Der Handschuh liegt noch nicht lange hier«, stellte Magnus von Roth fest. »Felix ist in Paris und Carlo in München.«

»Vielleicht haben sie Besuch. Wir können schließlich nicht alles wissen.«

»Aber wir können auf dem Rückweg vorbeigehen. Marianne hat doch die Grippe. Sie geht bestimmt nicht aus dem Haus.«

»Es ist ein Männerhandschuh«, äußerte Werner Auerbach.

»Und Carlo geht nicht ohne seine Frau spazieren«, bemerkte der Ältere.

Teta hegte keinerlei Hintergedanken, als sie ihnen die Tür öffnete.

»Das ist aber nett«, sagte sie. »Wo ist denn Bambi?«

Es wollte ihr nicht in den Kopf, dass Bambi nicht mitgekommen war. Aber Magnus von Roth gab ihr die Erklärung dafür.

»Wir haben uns mal im Wald ein bisschen umgeschaut. Jonny hat das hier gefunden. Kennen Sie den Handschuh, Teta?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ob ihn Dr. Allard gestern Abend vielleicht verloren hat? Wo haben Sie ihn denn gefunden?«

»Im Wald.«

Sabine hatte gehört, dass Teta Dr. Allards Namen nannte, und erschien nun auf der Bildfläche. Die Zwillinge trippelten hinter ihr her. Sie zeigten lautstark ihre Freude über die wohlbekannten Gäste.

»Kommen Sie einigermaßen zurecht, gnädiges Fräulein?«, fragte Werner Auerbach.

»O doch, heute geht es schon sehr gut«, erwiderte sie lächelnd. »Was gibt es denn?«

»Jonny hat diesen Handschuh gefunden, und wir wollen uns nur mal erkundigen, ob er hier vermisst wird.«

»Ich dachte, dass Dr. Allard ihn vielleicht verloren hat«, mischte sich Teta ein, »aber im Wald war er ja nicht.« Sabine betrachtete den Handschuh. »Nein, Nicolas hat andere«, sagte sie, »aber …« Sie unterbrach sich und schüttelte den Kopf.

»Haben Sie solche Handschuhe vielleicht doch schon einmal gesehen?«, fragte Magnus von Roth.

»Es kann sein. Diese Art gibt es häufig. Darf ich mal sehen?«

Sie hielt ihn in der Hand und schnupperte daran.

»Er riecht nach Öl«, bemerkte sie, verriet aber nicht, dass sie auch noch einen anderen Geruch wahrgenommen hatte. Juchten!

Ein Frösteln kroch über ihren Rücken. Juchten erinnerte sie an Hasso. Aber es war absurd, anzunehmen, dass Hasso hier gewesen sein könnte. Er hatte eine zu arge Niederlage einstecken müssen. Es war besser, wenn sie seinen Namen nicht erwähnte. Aber sie spürte, dass man doch eine Erklärung von ihr erwartete.

»So ähnliche Handschuhe habe ich mal meinem Bruder geschenkt«, sagte sie, »aber Michael ist in Frankreich. Er kann ihn nicht verloren haben.«

Doch sie erinnerte sich, dass Michael seine Handschuhe vermisst hatte, als er damals weggefahren war. Er war ärgerlich gewesen, weil er sie nicht fand. Aber Michael hasste den Geruch von Juchten, wie er Hasso von Sillberg gehasst hatte.

*

»Die kleine Jostin war ein bisschen merkwürdig, findest du nicht?«, fragte Magnus von Roth seinen Schwiegersohn.

»Vielleicht gehört der Handschuh doch Dr. Allard. Es könnte ja sein, dass sie gestern Abend mit ihm im Wald spazieren gegangen ist. Sie will es womöglich nur nicht zugeben.«

»Der Handschuh hat nicht die ganze Nacht im Wald gelegen, dann wäre er feucht«, beharrte Magnus von Roth. »Und wenn deine Fantasie noch weiter reichen sollte, so muss ich sagen, dass ich mir schlecht vorstellen kann, dass Dr. Allard hier Schrecken verbreiten will, wo er eine Kinderklinik einzurichten gedenkt.«

»Ich habe überhaupt keine Fantasie, Papa, das solltest du eigentlich wissen«, brummte Werner Auerbach. »Ich bin ein ganz nüchterner Wissenschaftler. Was sollen wir diesem Handschuh überhaupt Bedeutung beimessen?«

»Na, wir werden ja sehen«, meinte Magnus von Roth nachdenklich. »Jonny wird vielleicht herausfinden, wem er gehört.«

»Wau, wau«, machte Jonny.

»Bist ein kluger Hund«, lobte ihn Magnus von Roth.

*

Zur gleichen Zeit stürzte Carla Richter, die junge Wirtin vom Gasthof Seeblick, zu ihrem Mann ins Kaminzimmer. Sie war in Hohenborn gewesen.

»War Sillberg hier?«, fragte sie atemlos.

»Was bist du denn so aufgeregt, Carla?«, entgegnete ihr Mann. »Sillberg? Wie kommst du denn auf den?«

»Ich könnte schwören, dass er an mir vorbeigefahren ist! Er wird doch nicht wagen, Sabine wieder zu belästigen?

Aber diesem Kerl ist ja alles zuzutrauen!«

»Hier war er jedenfalls nicht. Toni brüllt schon nach dir. Was geht uns Sillberg an.«

Sie musste den Kleinen beruhigen.

Das Adoptivkind Toni spielte die erste Geige im Haus. Natürlich war Sillberg nicht wichtig, aber ganz konnte sie ihn doch nicht aus ihren Gedanken verbannen.

Sie wusste, dass Sabine bei den Münsters war, und sie beschloss, nach dem Mittagessen einmal bei ihr vorbeizuschauen. Sie brauchte ja nicht mit der Tür ins Haus zu fallen.

Sabine freute sich über den Besuch.

Die Zwillinge schliefen, und Manuel war bei den Auerbachs. Inge und Bambi hatten ihn abgeholt. Allein hätte sie ihn nicht gehen lassen.

In ihr war eine Furcht, gegen die sie nicht ankonnte. Sie war sich jetzt fast sicher, dass es Michaels Handschuh gewesen war. Aber dann beschwichtigte sie sich mit dem Gedanken, dass sie es sich jetzt nur einbildete. Sie war froh, dass Carla kam und sie mit jemandem reden konnte.

»Wirst du fertig mit den Kindern?«, fragte Carla.

»Sie sind sehr lieb«, erwiderte Sabine. »Mir ist nur bange wegen der Schießerei.«

»Über kurz oder lang werden sie ihn schon erwischen«, meinte Carla. »Vielleicht ist es wirklich ein Verrückter.«

»Ein Verrückter? Das wäre ja noch schlimmer, Carla. Verrückte sind unberechenbar.«

Carla wusste einfach nicht, wie sie auf Hasso von Sillberg zu sprechen kommen könnte. Sie hörte nur mit halbem Ohr zu, weil sie sich unentwegt darauf konzentrierte.

»Nun wird die Klinik ja bald eröffnet werden«, bemerkte sie geistesabwesend. »In Hohenborn warten sie schon darauf. Die Kinderstation ist hoffnungslos überfüllt. Aber eigentlich wollte ich dich was anderes fragen, Sabine. Hast du mal wieder was von Hasso gehört?«

»Nein«, antwortete Sabine abweisend, »ich lege auch keinen Wert darauf.«

»Abgehalfterte Männer sind auch unberechenbar«, sagte Carla. »Entschuldige bitte, aber ich mache mir manchmal nur Sorgen.«

»Er wird es nicht wagen, mir noch einmal unter die Augen zu treten. Das war wirklich der größte Fehler, den ich je gemacht habe, Carla.«

»Ich wäre nur froh, wenn er dich in Ruhe ließe. Mir spukt das dauernd im Kopf herum. Heute habe ich mir doch tatsächlich eingebildet, er wäre an mir vorbeigefahren.«

Mit schreckensvollen Augen blickte Sabine Carla an.

»Es war sicher eine Täuschung«, erklärte Carla rasch. »Anton meinte es auch. Aber ich halte es doch für besser, wenn du auf der Hut bist, Sabine. Er war schon immer hinterhältig, wenn auch feige.«

Sabine starrte sie an. »Du kennst ihn doch von Kindheit an. Was hat er eigentlich alles angestellt?«

»Die Leute schikaniert. Ein Sillberg konnte sich das ja erlauben. Er war einfach boshaft.«

»War er eigentlich auch ein guter Schütze?«, fragte Sabine tonlos.

Carla Richter zuckte zusammen. »Ich wüsste nicht«, flüsterte sie. »Was denkst du, Sabine?«

»Diese Schießerei geht mir auf die Nerven. Er hasst Nicolas. Ich bin schon völlig durcheinander. Dieser Handschuh und nun sagst du auch noch, du hättest ihn gesehen.«

»Ich kann es nicht beschwören. Aber was ist mit einem Handschuh?«

»Jonny hat ihn im Wald gefunden. Ein Autohandschuh, der so aussieht wie einer von denen, die ich Michael einmal geschenkt habe. Carla, würdest du es Hasso zutrauen, dass er … Aber das ist doch alles Wahnsinn.«

»So verrückt wird er doch nicht sein. Und was sollte er damit bezwecken?«

»Ich weiß es doch auch nicht.« Sabine fasste sich an die Stirn. »Ich habe Angst um Nicolas!«, stöhnte sie.

Carla schöpfte tief Atem.

»Du liebst Nicolas Allard, Sabine«, sagte sie leise.

»Ja, ich liebe ihn«, erwiderte Sabine nach einer kurzen Pause. »Ich liebe ihn und habe Angst um sein Leben.«

»Hasso von Sillberg ist ein Feigling«, erklärte Carla ruhig. »Er würde nie wagen, einem Mann wie Dr. Allard entgegenzutreten. So weit kenne ich ihn.«

»Aber vielleicht würde er ihn aus dem Hinterhalt erschießen«, flüsterte Sabine.

»Ich glaube, wir reden uns jetzt wirklich etwas ein. Anton würde mich schön schelten, wenn er es wüsste.« Schweigend sah Sabine sie an.

»Bleib noch«, bat sie, als Carla ihr die Hand zum Abschied entgegenstreckte. »Es war doch nicht nur Zufall, dass wir uns kennenlernten. Es war Schicksal, Carla. Du kanntest Hasso, und gerade hier musstest du ihm begegnen. Du kanntest ihn länger als ich, aber ich war mit ihm verlobt und kannte ihn nicht. Das ist kein Zufall, es ist von Gott bestimmt. Du bist meine Freundin geworden, und nun frage ich dich: Hältst du Hasso für fähig, einen Mord zu begehen?«

»Nein!«, stieß Carla hervor. »Er müsste völlig verrückt sein. Er ist eitel, und deshalb muss es ihn arg getroffen haben, dass du ihn hast fallen lassen. Aber deswegen mordet man doch nicht. Vergiss es Sabine, ich flehe dich an!«

»Ich frage mich nur, ob ein Mensch, der andere betrügt, nicht auch fähig ist, Schlimmeres zu tun«, bemerkte Sabine gequält. »Es wäre so schrecklich für mich, wenn ich Schuld an allem trüge, was diesen wundervollen Frieden hier stört. Es bliebe mir dann doch nichts übrig, als zu gehen.«

»Nun mal hübsch langsam, Sabine«, erklärte Carla Richter energisch. »Steigere dich nicht in etwas hinein, was nicht bewiesen ist!«

»Bine, Bine!«, riefen die Zwillinge im Duett, und es erschien Carla wie eine Erlösung.

»Ich muss jetzt auch wieder zu unserem Toni«, sagte sie rasch.

*

Viel schneller vergingen die Tage, als Sabine gemeint hatte. Felix und Sandra kehrten wohlbehalten und in beschwingter Stimmung zurück.

Von den Zwillingen wurden sie mit gedämpfter Freude begrüßt, womit sie wohl zeigen wollten, dass sie noch beleidigt waren.

»Ihr habt mich wohl gar nicht vermisst?«, fragte Sandra.

»Mami, Papi fot, Bine da«, erwiderte der kleine Felix.

»Dotto auch da«, schloss sich Alexandra an.

»Dotto?«, fragte Sandra.

»Dr. Allard«, erklärte Sabine errötend. »Am ersten Tag waren die Kleinen heiser, da habe ich ihn vorsichtshalber kommen lassen.«

»Und gleich waren sie Feuer und Flamme für ihn«, mischte sich Teta ein.

»Es wird Zeit, dass wir Dr. Allard auch näher kennenlernen«, äußerte Sandra. »Ich hoffe, dass ihr uns bald besuchen werdet, Sabine.«

»Nächste Woche wird bei uns der Betrieb beginnen«, entgegnete Sabine.

»Dann kommt doch gleich morgen«, schlug Sandra vor.

»Finde dich erst mal wieder zurecht«, lenkte Sabine ab.

Sie konnte nun wieder heimfahren, heim zu Nicolas, und wenn die Zeit mit den Kindern auch beglückend gewesen war und sie nun hinter ihr her weinten, so wusste sie doch, dass sie wahrhaft glücklich nur mit Nicolas sein konnte, und die Angst, dass dieses Glück zerstört werden könnte, wuchs wieder in ihr.

Während ihrer Abwesenheit hatten die Handwerker ihre Arbeit beendet. Aber zu ihrer maßlosen Enttäuschung war Nicolas nicht da. Frau Thewald sagte ihr, dass er nach Hohenborn gefahren sei und dass schon morgen zwei kleine Patienten kämen.

Für Sabine war am Morgen ein Brief von Michael gekommen. Als sie ihn las, weiteten sich ihre Augen in ungläubigem Staunen.

*

Für Michael hatte sich die Welt verändert. Durch Lisa! Wie viel ihm dieses Mädchen bedeutete, wurde ihm klar, als sie seine Hilfe erbat. Sie hatte geschrieben, was sie nicht sagen konnte, was aber auch nicht mit Gesten auszudrücken war.

Es betraf nicht sie selbst und auch nicht ihn, was er da las. Doch die Tatsache, dass sie sich an ihn wandte, und nicht an Dr. Valdere oder André, machte ihm bewusst, wie sehr sie ihm vertraute. Dieses Vertrauen durfte er nicht enttäuschen.

Ich möchte Jill mitnehmen, hatte sie geschrieben. Sie ist so klein und so verlassen. Dr. Valdere sagte, dass sie keine Angehörigen mehr hätte und in ein Waisenhaus gebracht würde. Sie ahnt es wohl. Sie klammert sich an mich. Sie braucht jetzt nichts so sehr wie Liebe, Michael. Man muss ihr doch die Angst nehmen, die durch dieses schreckliche Erlebnis ausgelöst wurde. Ich fühle mich so hilflos, weil ich nicht aussprechen kann, was ich denke, weil ich mich nicht mit aller Leidenschaft für Jill einsetzen kann. Würdest Du es für mich tun, Du, mein Freund?

Und er hatte es getan, mit der Leidenschaft und Unerschütterlichkeit, die Lisa erhoffte. Er hatte sich für dieses fremde kleine Mädchen eingesetzt, um sich Lisas Vertrauen würdig zu erweisen.

Mit dem Einfluss, den der Name Jostin hier hatte, war es ihm gelungen, alle Widerstände zu beseitigen. Lisa konnte Jill mitnehmen.

Und dies hatte Michael nun seiner Schwester Sabine geschrieben, dies und noch mehr.

Mag es Dir auch befremdlich vorkommen, Sabine, aus meinem Leben ist Lisa nicht mehr wegzudenken, und glaube nicht, dass es Mitleid sei.

So schloss sein Brief, den Sabine mehrmals las.

Sie würden nun bald kommen. Lisa, Michael und André, und mit ihnen dieses kleine Mädchen, das seine Eltern auf so schreckliche Weise verloren hatte.

*

Nicolas sagte dazu nur wenige Worte. »Es wird auch Platz für die kleine Jill hier sein.« Er sagte es mit der ihm eigenen Selbstverständlichkeit.

Als er gekommen war, hatten seine Augen geleuchtet.

»Du bist zurück«, hatte er sie begrüßt, und ein Aufatmen hatte diese Worte begleitet.

Sie saßen nebeneinander auf dem Sofa. Er hatte seinen Arm um sie gelegt, und ihr Kopf ruhte an seiner Schulter. Es war wundervoll, die beglückende Nähe des geliebten Mannes so ungestört genießen zu können. Bald würde das nicht mehr so sein. Sabine schalt sich dieser egoistischen Regung.

»Frau Thewald sagte mir, dass morgen schon zwei Patienten kommen«, bemerkte sie.

»Deswegen war ich in Hohenborn. Es sind keine akuten Fälle. Zwei kleine Neurotiker.«

»Neurotiker?«, wiederholte Sabine fragend.

»Als solche wurden sie mir offeriert. Ich muss sie erst beobachten. Es fällt ja in mein Spezialgebiet.«

Es war eine sachliche Feststellung, aber Sabine verspürte eine Beklemmung.

»Wieso können Kinder eigentlich schon Neurotiker sein?«, fragte sie.

»Aus mancherlei Gründen. Einer kann sein, dass sie immer zu stark in den Mittelpunkt gestellt wurden und sich dies dann situationsbedingt änderte. Aber auch das Gegenteil kann auslösend sein, nämlich, dass das Kind zu wenig beachtet wird. Es gibt natürlich auch noch manche anderen Gründe.«

»Warum überträgt man dir ausgerechnet solche Fälle, Nicolas?«

»Nun, erstens ist bekannt, dass ich Neurologe bin, und zum anderen hat man für solche Fälle in einem Krankenhaus keinen Platz und keine Zeit. Eine gründliche Beobachtung erstreckt sich über mehrere Wochen. Doch damit beginne ich morgen. Es soll nicht der Gesprächsstoff für den heutigen Abend sein.«

»Mir wäre ein akuter Blinddarm als Anfang ehrlich gesagt lieber gewesen«, sagte Sabine.

»Solange der Chirurg noch nicht im Haus ist?«, entgegnete er lächelnd. »Was machst du dir für Gedanken! Es sind doch ganz harmlose Fälle.«

Sie rang mit sich, sprach dann aber doch aus, was sie bewegte und quälte.

»Früher hast du doch sicher auch weniger harmlose behandelt. Ist es nicht sehr gefährlich, sich mit Nervenkranken zu befassen?«

»Die Ansteckungsgefahr ist jedenfalls ausgeschlossen«, scherzte er.

»Bist du nicht manchmal bedroht worden?«

»Was soll das, Sabine?«, fragte er verwundert.

»Verzeih«, sagte sie leise, »aber manchmal überlege ich, warum du dich hier niedergelassen hast.«

»Weißt du es noch immer nicht?«, erwiderte er, ihren Blick festhaltend. »Deinetwegen, Sabine.«

Warum nur konnten ihr auch diese Worte nicht die Angst nehmen? Auch sein Kuss, dieser lange und unendlich zärtliche Kuss, vermochte es nicht.

Irgendjemand hatte gesagt: »Früher war nur Frieden hier.« Wurde nicht in solchen Worten ein Verdacht laut, dass es sich erst geändert hatte, als Nicolas hier lebte?

*

Die beiden ersten Patienten in der Sternsee-Klinik kamen aus ganz unterschiedlichen Verhältnissen. Der fünfjährige Thomas war der Sohn des Textilgroßhändlers Frenzel, die vierjährige Ulrike die Tochter einer geschiedenen Schneiderin.

Abgesehen davon, dass sie den gleichen Kindergarten besucht hatten, gab es noch manche Gemeinsamkeit zwischen ihnen. Sie waren beide blass, von zarter Konstitution und schienen sich darüber einig zu sein, auf alle Fragen mit aggressivem Schweigen zu antworten.

Die erste positive Reaktion vernahm Nicolas aus dem Mund des kleinen Thomas, als er ihm das Zimmer zeigte, in dem er nun die nächsten drei Wochen verbringen sollte.

»Das ist ja gar kein richtiges Krankenhaus«, sagte der Junge. »Es sieht aus wie ein Hotel.«

»Du warst wohl schon oft in Hotels?«, fragte Nicolas beiläufig.

»Früher, als wir das Baby noch nicht hatten. Da sind meine Eltern immer mit mir verreist. Jetzt können sie wegen dem Schreihals nicht mehr.«

Es wurde ihm wohl nicht bewusst, dass er mit dieser Bemerkung dem Arzt einen bedeutungsvollen Hinweis gegeben hatte. Nicolas war zu erfahren, um darauf gleich einzugehen.

Ulrike hingegen, reagierte anders. »Mama wird schimpfen, wenn sie zahlen muss«, meinte sie, als sie sich in ihrem Zimmer umblickte. »Sie wird mich nicht hierlassen. Und Frau Frenzel wird erst schimpfen, wenn ich hier mit dem Thomas beisammen bin.«

»Darüber mach dir mal keine Sorgen«, äußerte Nicolas freundlich.

»Muss ich jetzt schlafen?«, fragte Ulrike.

»Nein, ihr könnt spielen«, erwiderte Nicolas. »Du wirst dich doch mit Thomas vertragen?«

»Frau Frenzel erlaubt nicht, dass er mit mir spielt«, sagte Ulrike.

»Ich erlaube es.«

Ulrike sah ihn von unten herauf an. »Da wirst du was zu hören kriegen!«, erklärte sie trotzig.

Ulrike war von einer Fürsorgerin gebracht worden. Thomas von seinem Vater, der Nicolas aber keine Gelegenheit zu einem Gespräch gegeben hatte.

»Versuchen Sie Ihr Glück. Ich bin gespannt, was diesmal dabei herauskommt«, hatte er gesagt. »Was es kostet, ist mir egal. Ich will endlich wieder Frieden in der Familie haben.«

Dann hatte er wichtige Geschäfte vorgeschützt. Das dringend notwendige Gespräch muss nachgeholt werden. Aber damit wollte Nicolas sich Zeit lassen. Er wusste schon jetzt mehr, als zu erwarten gewesen war.

*

Im Spielzimmer waren die Kinder sich selbst überlassen, und sie kamen sich völlig unbeobachtet vor.

Sie wussten nicht, dass hier eine Sprechanlage installiert war und ihre Unterhaltung von einem Tonband registriert wurde. Dennoch mussten sie unter dem Zwang eines unkindlichen Misstrauens stehen, denn sie unterhielten sich nur flüsternd.

»Nun haben wir es doch geschafft, dass wir wieder beisammen sind«, sagte Thomas. »Wir müssen bloß schlau sein, dass sie nicht dahinterkommen.«

»Mama kann das doch nicht bezahlen. Sie holt mich bestimmt wieder ab, wenn ich nicht richtig krank bin.« Das war Ulrike.

»Du bist aber krank! Du hast Kopfschmerzen und keinen Appetit. Der Bauch tut dir weh.«

»Jetzt habe ich aber Hunger. Und der Bauch tut mir nicht weh«, entgegnete Ulrike. »Hier gibt es bestimmt besseres Essen als im Krankenhaus.«

»Mir tut der Bauch weh und der Kopf und alles«, erklärte Thomas. »Und dir auch.«

Donner und Doria, dachte Nicolas, der alles hören konnte, das sind ja keine Neurotiker, das sind Simulanten.

Es klopfte an der Tür. Sabine trat ein. »Störe ich?«, fragte sie.

»Hör dir das mal an«, sagte er und ließ das Band noch einmal ablaufen. »Was soll denn das bedeuten?«, fragte sie.

»Dass zwei Knirpse recht erfolgreich ihre Eltern und mehrere Ärzte hinters Licht geführt haben. Aber nein«, unterbrach er sich, »so leicht sollte ich es mir doch nicht machen. Seelischer Kummer kann zu echten Neurosen führen. Es ist gut, wenn man sie im Keim erstickt.«

»Was willst du jetzt tun?«

»Die Ursache dieses gefährlichen Spiels beseitigen. Versuchen muss ich es zumindest.«

*

Michael hatte beschlossen, die Fahrten auf zwei Tage zu verteilen.

»Es wird sonst zu anstrengend für das Kind und für Lisa«, erklärte er energisch und überstimmte André damit.

André hatte seinen Widerstand gegen das Vorhaben, Jill mitzunehmen, schnell aufgegeben, denn die Anhänglichkeit der Kleinen an Lisa rührte auch ihn.

Auch Dr. Valdere hatte seine Meinung geändert. Er stellte fest, dass Lisa einen Reifeprozess durchmachte. Ob daran nur Jill schuld war, die Mutterinstinkte in ihr geweckt hatte?

Sicher mochte es auch Michael zuzuschreiben sein. Aber vielleicht erwachten auch Erinnerungen an das eigene Kindheitserlebnis in ihr, das so einschneidend ihr Leben bestimmt hatte. Erinnerungen, die lange geschlummert hatten, die noch keine bildhaften Formen annahmen, die sie möglicherweise aber auch verdrängen wollte.

Alle medizinischen Erkenntnisse hatten bei ihr versagt. Nun erhofften sich die Ärzte von Michael und Jill Hilfe für Lisa.

Es lag ein frühlingshafter Morgen über der Cote d’Azur, als sie ihre Reise antraten.

Michael sagte Jill, dass in Deutschland noch Winter wäre.

»Das ist nicht schlimm«, erwiderte Jill. »Ich kenne den Winter in Deutschland.«

Sie war mit ihren fünf Jahren ein sehr ernsthaftes, nachdenkliches Kind, aber von früheren Erlebnissen erfuhr man nur nebenbei.

Sie sprach mehr Deutsch, als sie anfangs zugegeben hatte. Wie weit ihre Kenntnisse reichten, wollte Michael dadurch herausbekommen, dass er nun mit ihr nur deutsch sprach.

»Du warst schon in Deutschland?«, fragte er.

Sie saß mit Lisa auf dem Rücksitz. Er konnte sie im Spiegel sehen und merkte, dass sie bei dieser Frage überlegte. »Manchmal«, gab sie zögernd zu.

»Im Flachland oder im Gebirge?«

»Bei Leuten«, erwiderte sie ausweichend.

Er dachte, dass sie damit einen Ort meinte. Aber dann begriff er, dass sie von Personen sprach.

Sie kuschelte sich in Lisas Arm und erwiderte: »Ich möchte jetzt lieber mit Lisa reden.«

Diese Unterhaltung ging auch von ihrer Seite aus lautlos vonstatten. Jill war ein sehr sensibles Kind und malte sich wohl aus, dass es Lisa freuen würde, wenn sie sich mit ihr auf die gleiche Weise verständigen würde, die Lisa als einzige Möglichkeit blieb, und dies bereitete ihr keinerlei Schwierigkeiten mehr.

Michael und André blieben dabei jedoch ausgeschlossen und vernahmen nur ab und zu das leise Lachen des Kindes, das verriet, dass Lisa ihm etwas Heiteres mitgeteilt haben musste.

Am Abend erreichten sie den Genfer See, und nun war auch André froh, dass Michael auf einer nächtlichen Ruhepause bestanden hatte.

Jill war zu müde, um noch etwas zu essen, aber sie hatten mittags eine reichliche Mahlzeit zu sich genommen.

Lisa brachte sie zu Bett. Sie wollte bei ihr bleiben, bis sie fest schlief. Aber Jill sagte: »Geh lieber zu Michael, sonst ist er böse mit mir, dass ich nur mit dir rede.« Sie legte die Ärmchen um Lisas Hals. »Ich bin so froh, dass du mich mitgenommen hast. Danke, allerliebste Lisa.«

*

Nach dem Essen zog sich André gleich zurück. Michael hielt Lisa zurück.

»Wollen wir nicht noch ein wenig frische Luft schnappen?«, fragte er rau. »Ich möchte auch ein bisschen mit dir reden.«

Sie lächelte scheu und sah ihn fragend an.

»Nein, ich bin dir nicht böse«, sagte er. »Du bist sehr lieb zu Jill.«

Michael legte seinen Arm um Lisas Schultern und zog sie an sich.

»Wir werden nicht oft allein sein können«, bemerkte er leise, »und gerade das habe ich mir doch so gewünscht, Lisanne.«

Er spürte, wie sie zusammenzuckte, und suchte ihren Blick. Aber sie hatte die Lider gesenkt, und ihr Gesicht zeigte keine Regung.

»Bitte, schau mich an, ich möchte dir etwas sagen«, bat er.

Seine Hände legten sich um ihr kaltes Gesicht. Ihre Lippen bebten, aber die Augen hielt sie krampfhaft geschlossen. »Bedeutet dir Jill jetzt mehr als ich?«, fragte Michael heiser.

Sie schüttelte den Kopf. Nun hoben sich ihre Lider, und ihr Blick richtete sich kummervoll auf ihn.

»Warum bist du so traurig, ma petite?«, fragte er leise.

Ihre Hand stahl sich unter dem Umhang hervor, und mit dem Zeigefinger berührte sie ihre Lippen, danach seine. Blinkende Tränen stahlen sich in ihre Augen.

»Ich liebe dich, Lisanne«, sagte er weich. »Ich will, dass du meine Frau wirst.«

Ihre Lippen öffneten sich, und sie sah so betörend aus in all ihrer unschuldigen Schönheit, dass er mit einem leisen Stöhnen seinen Mund auf ihre Lippen presste.

Es war ein langer, betäubender Kuss, der seltsame Wünsche in ihr weckte, von denen sie nur eine ferne Ahnung hatte.

»Liebe braucht keine Worte, Li­sanne«, flüsterte Michael. »Sie braucht nur Erfüllung.«

Er nahm ihre Hand und legte sie auf sein Herz, das wie ein Hammer schlug. Und wie damals, am ersten Abend, legte sie wieder ihre Lippen auf seine Hand. Doch diesmal begriff er, dass sie damit ausdrücken wollte, welche Kluft sie trennte.

Er hob sie empor und bedeckte ihr Gesicht mit zärtlichen Küssen.

»Du wirst meine Frau, Lisanne! Du darfst nie daran zweifeln!«, sagte er innig.

*

Am nächsten Morgen gab es einen Zwischenfall, dessen volle Bedeutung sie nicht begriffen.

Sie trafen sich im Frühstückszimmer.

Jill war beinahe ausgelassen. Sie hatte gut geschlafen, und Lisa musste wohl besonders lieb zu ihr gewesen sein.

Lisa sah so bezaubernd aus, dass auch André den Blick nicht von ihr wenden konnte. Und Michael musste sich höllisch zusammennehmen, um nicht unentwegt auf ihren Mund zu blicken, der noch von seinen Küssen brannte.

Jill entwickelte heute einen prächtigen Appetit, und zu Michaels Überraschung äußerte sie ihre Wünsche in nahezu perfektem Deutsch und mit der Unbefangenheit eines Kindes, das viel gereist sein musste.

Die Bedienung verstand die deutsche Sprache jedoch nicht. André übernahm die Rolle des Dolmetschers.

»Du hast gesagt, wir sind in der Schweiz, Michael«, bemerkte Jill mit leisem Vorwurf.

»Wir sind auch in der Schweiz«, erwiderte er.

»Es gibt aber auch eine Schweiz, in der die Leute deutsch sprechen«, erklärte sie.

»Gewiss, Jill. Es gibt auch eine italienische Schweiz.«

»Ach so«, sagte sie. »Und warum heißt jede Schweiz?«

Er vergaß zu antworten, weil es ihn beschäftigte, dass sie auch die deutschsprachige Schweiz zu kennen schien. André antwortete ihr.

»Es ist ein Land, das aus verschiedenen Volksstämmen besteht.«

Jill sah Lisa an. »Wusstest du das?«, fragte sie. Lisa nickte. »Lisa weiß alles«, stellte Jill fest.

»Du weißt aber auch sehr viel«, äußerte Michael nachdenklich. »Du bist schon viel herumgereist, Jill.«

»Immer«, war ihre Erwiderung. Aber der bedeutungsvolle Zwischenfall kam erst später, als sie das kleine Hotel verließen.

André saß schon am Steuer. Michael verstaute noch die Koffer. Jill sah ihm dabei aufmerksam zu.

Auf dem Balkon des Hauses erschien eine junge Frau. Sie trug einen grünen Hosenanzug, und nur ganz zufällig hatte Lisa sie bemerkt, niemand sonst.

»Nun beeilt euch!«, drängte André. »Schon fertig«, sagte Michael. »Steigt ein.«

Warm umschloss seine Hand die von Lisa. Er beugte sich dicht zu ihr hinab, und sein Atem streifte ihre Stirn.

Jill stand hinter ihm und blickte noch einmal zu dem Haus. Plötzlich kam von dort ein Schrei.

»Jennifer! Jennifer! Mein Gott, warte!«

Jill drängte sich an Michael vorbei in den Wagen.

Michael setzte sich auf den Fahrersitz und gab Gas. Sie sahen nicht, wie eine junge Frau im grünen Hosenanzug im Eingang des Hotels in sich zusammensank.

»Es war Jennifer«, bemerkte sie schluchzend zu dem Mann, der sich besorgt über sie beugte.

»Beruhige dich, Liebling«, tröstete er sie. »Du hast sie doch nur flüchtig gesehen.«

»Es war Jennifer, ich weiß es! Oh, Don, warum haben sie nicht gewartet! Es ist doch mein Kind, es ist mein Kind!«

»Ich werde dir Gewissheit verschaffen, Manja«, sagte der Mann, »aber bitte, beruhige dich! Du hast sie doch schon zwei Jahre nicht mehr gesehen.«

»Es war Jennifer!«, beharrte sie. »Bitte, frage, wer diese Leute waren.«

*

Nicolas wusste indessen schon ziemlich genau Bescheid über seine beiden kleinen Patienten, obgleich diese mit bemerkenswertem Geschick ihre Rollen weiterspielten.

Er ließ sie gewähren, denn er würde bei ihnen keinen Erfolg verzeichnen können, solange die familiären Verhältnisse nicht geklärt waren.

Wurden Thomas und Ulrike sich selbst überlassen, fühlten sie sich sehr wohl, wie aus ihren Gesprächen hervorging. Sobald jemand hinzukam, markierten sie wieder Schmerzen. Thomas war der Initiator, das stand einwandfrei fest. Ulrike stand völlig unter seinem Einfluss und tat alles, was er ihr einredete.

Sabine stellte fest, dass dies doch wohl ein wenig zu weit ginge.

»Das ist kein Spiel mehr«, sagte sie zu Nicolas.

»Da hast du vollkommen recht. Es kann bitterer Ernst werden, und deshalb werde ich mich einmal sehr ernsthaft mit dem Ehepaar Frenzel unterhalten. Würdest du Frau Eigner übernehmen, Sabine? Sie wollte Ulrike heute besuchen.«

»Soll ich ihr sagen, dass die Kinder uns an der Nase herumführen«, fragte sie spottend.

»So leicht ist das nicht zu nehmen, Sabine. Wir müssen die Ursachen erforschen. Geholfen ist den Kindern nicht damit, dass wir sie durchschauen. Geholfen werden kann ihnen nur, wenn sie bei ihren Eltern Verständnis finden. Wenn wir herausfinden, welche Spannungen zwischen den Frenzels und Frau Eigner bestehen, sind wir einen Schritt weiter, vielleicht schon am Ziel.«

Sabine war zwar eher geneigt, die beiden als eigensinnige Rangen zu betrachten, aber sie widersprach ihm nicht.

Nicolas fuhr nach Hohenborn, und sie beschäftigte sich mit den beiden Kindern.

»Deine Mutti wird dich heute besuchen, Ulrike«, erklärte sie der Kleinen. »Freust du dich?«

»Nein«, antwortete das Mädchen. »Wenn sie kommt, nimmt sie mich doch gleich wieder mit.«

»Kann sie doch gar nicht, wo du solche Bauchschmerzen hast«, sagte Thomas.

Das kannte Sabine nun schon.

»Dann musst du dich gleich hinlegen, Ulrike. Schwester Meta bringt dir Tee, und heute Mittag gibt es Haferbrei.«

»Heute Mittag gibt’s Hähnchen und hinterher Schokoladenpudding, hat Schwester Meta gesagt«, behauptete Thomas.

»Aber nicht, wenn man Magenkrämpfe hat«, meinte Sabine. »Vielleicht ist es bei Ulrike auch der Blinddarm. Nun, das werden wir bestimmt herausfinden. Heute kommt Dr. Fernand, der schaut mal in dein Bäuchlein hinein.«

»Wie macht er denn das?«, erkundigte sich Thomas interessiert.

»Indem er es aufschneidet«, entgegnete Sabine. »Er ist Chirurg. Er kann das.«

»Er kann doch nicht Ulrikes Bauch aufschneiden!«, sagte Thomas empört.

»Doch, das kann er, wenn man sonst nicht feststellen kann, woher die Schmerzen kommen.«

»Das hat aber noch kein Arzt gemacht«, meinte Thomas. »Auch Dr. Allard nicht. Vielleicht geht es Ulrike jetzt auch schon wieder besser.«

»Die Schmerzen sind doch nur manchmal«, äußerte Ulrike kleinlaut. »Eigentlich tut mir auch mehr der Kopf weh.«

»Und den kann man nicht aufschneiden!«, trumpfte Thomas auf.

Schwester Meta löste Sabine ab. »Frau Eigner ist gekommen«, sagte sie.

»Ulrike hat wieder Schmerzen«, bemerkte Sabine hintergründig. »Ich werde erst mal mit Frau Eigner sprechen.«

Frau Eigner war eine schlanke, eigentlich ganz hübsche Frau, wenn man sich den vergrämten Zug um ihren Mund wegdachte. Sie war sehr gehemmt, und da Sabine auch nicht wusste, wie sie ein Gespräch beginnen sollte, herrschte erst einmal Schweigen.

»Wie geht es Ulrike jetzt?«, fragte Frau Eigner dann zögernd. »Weiß man schon, was ihr fehlt?«

»Darüber wird Dr. Allard mit Ihnen sprechen, Frau Eigner. War Ulrike eigentlich immer anfällig?«

»Überhaupt nicht. Das fing erst an, als sie eine Zeit im Kindergarten war. Aber es ging doch nicht anders. Ich musste doch Geld verdienen. Von Ulrikes Vater kann ich keine Unterstützung erwarten.«

»Und im Kindergarten hat sie sich dann mit Thomas angefreundet«, warf Sabine ein.

»Das wissen Sie?«

»Sicher. Thomas ist ja auch hier.«

»Er ist hier? Mein Gott, das kann doch nicht gut gehen!«

»Wieso eigentlich nicht, Frau Eigner? Gerade darüber müssten wir uns einmal unterhalten. Die beiden Kinder hängen wie Kletten aneinander.«

»Ja, sie haben sich gleich gut verstanden, aber Frau Frenzel hat das nicht gepasst. Sie mag mich nicht.«

»Warum nicht?«

»Ich bin doch eine geschiedene Frau und …« Glühende Röte schlug jetzt in Frau Eigners blasse Wangen. »Der Bruder von Herrn Frenzel hat uns ein paarmal mitgenommen, wenn er Ausflüge mit Thomas gemacht hat, als das Baby zur Welt gekommen ist. Da ging es dann los. Der Thomas hat sich halt an seinen Onkel gehängt, weil sich daheim alles um das Baby drehte, und Ulrike hat den Alois auch gern gemocht. Er ist so ein netter, ruhiger Mann; aber Frau Frenzel hatte wohl Angst … Doch das interessiert Sie wohl kaum, Fräulein von Jostin.«

In der kurzen Zeit war bereits eine Menge gesagt worden, und wenn man dann noch ein bisschen kombinierte, konnte man auch schon zu einem Ergebnis kommen. Sabine überlegte, was wohl Nicolas erfahren würde.

Nicolas stieß auf völlige Ablehnung. »Unsere familiären Verhältnisse sind intakt«, behauptete Artur Frenzel. »Sie haben nichts mit Thomas’ Gesundheitszustand zu tun. Er hat alles bekommen, was ein Kind sich nur wünschen kann. Er hat zu spinnen angefangen, seit er in dem Kindergarten war. Für mich simuliert er, wenn Sie es genau wissen wollen, Herr Doktor.«

»Und damit haben Sie sogar recht«, erwiderte Nicolas.

Artur Frenzel starrte ihn an. »Das sagen Sie auch?«

»Ich habe ihn beobachtet. Festzustellen ist nur, warum er simuliert, und auch dafür weiß ich eine Erklärung. Er hat sich zurückgesetzt gefühlt, als das zweite Kind kam. Das ist häufiger der Fall, als man annehmen möchte.«

»Aber das ist doch lächerlich! Er ist nicht benachteiligt worden. Natürlich muss meine Frau sich um das Baby mehr kümmern, aber Thomas ist doch groß genug, um das einzusehen.«

»So vernünftig nun auch wieder nicht, Herr Frenzel. Er wurde wahrscheinlich sehr verwöhnt. Er war der Mittelpunkt, und das war nun plötzlich vorbei. Er musste in den Kindergarten gehen, während seine Mutter sich ausschließlich mit dem Baby beschäftigte. Und Sie hatten wahrscheinlich auch keine Zeit für ihn.«

»Ich muss mich ums Geschäft kümmern, man muss doch am Drücker bleiben, wenn man sich gegen die Konkurrenz behaupten will. Mein Bruder hat sich doch um ihn gekümmert, und da war Thomas auch noch ganz normal.«

»Er hatte sich sehr mit der kleinen Ulrike Eigner angefreundet«, warf Nicolas ein.

»Ja, diese Geschichte! Mein Bruder hat den Fehler gemacht, die Frau und Ulrike einzuladen.«

»Warum war das ein Fehler?«, fragte Nicolas.

»Sie ist doch erst kürzlich geschieden worden. Alois ist eine gutmütige Haut. Er lässt sich leicht ausnützen. Er hat immer Pech mit den Frauen gehabt, und da hat Jenny auch gemeint, dass das nicht guttut. Thomas konnte ja schon gar nicht mehr ohne Ulrike sein. Seine kleine Schwester mochte er nicht. Das ist doch kein Zustand. Meine Frau war völlig verzweifelt. Dauernd hatte der Junge ein anderes Wehwehchen. Immerzu hat er sie beschäftigt. Sie war nur noch ein Nervenbündel. Und dann hat Thomas auch noch gesagt, dass Alois Ulrikes Mutter heiraten soll und dass er dann zu ihnen gehen würde. Glauben Sie, dass einem so was nicht unter die Haut geht?«

Frau Frenzel erschien in der Tür, das Baby im Arm.

»Sag doch, dass die Eigner Thomas aufgehetzt hat!«, stieß sie hervor. »Natürlich wäre der Alois eine gute Partie für sie, dann hätte sie ausgesorgt. Und da sie Thomas auch noch auf ihre Seite gebracht hat, war die Sache schon so gut wie gelaufen, weil Alois mit Thomas immer rein narrisch war. Der Junge ist uns völlig entfremdet worden. Er ist doch unser Sohn.«

»Und Sie wollen ihn sicher nicht verlieren«, äußerte Nicolas gedankenvoll.

»Ist er denn so krank?«, schluchzte Frau Frenzel auf.

»Nein, er ist nur völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. Aber das wird zu beheben sein, wenn gewisse Probleme aus der Welt geschafft werden. Können wir uns darüber jetzt einmal ganz vernünftig unterhalten?«

*

»Nun, was hast du erreicht?«, empfing Sabine Nicolas.

»Völlige Handlungsfreiheit«, erwiderte er lächelnd. »Zuerst ging es ja ein bisschen zäh, aber als dann auch noch der Herr Alois Frenzel hinzugezogen wurde, klärte sich die Lage.«

»Dann weißt du ja schon alles. Wirst du deine Patienten nun wieder los?«

»Vorerst bleiben sie noch hier. Ich denke, dass sich in ein paar Tagen alles in Wohlgefallen auflösen wird.«

»Ich habe Ulrike gesagt, dass ihr der Bauch aufgeschnitten werden muss, wenn wir nicht herausfinden, woher ihre Schmerzen kommen«, gestand Sabine.

»Das ist aber eine rigorose Methode, Sabine«, meinte er lächelnd.

»Anscheinend aber eine heilsame. Jetzt hat sie nur noch Kopfschmerzen. Und zu ihrer Mutti war sie auch recht lieb.«

»Das wird noch besser werden, wenn der gute Onkel Alois ihre Mutti heiratet«, äußerte Nicolas schmunzelnd.

»Will er das?«

»Und ob.«

»So weit scheint Frau Eigner gar nicht gedacht zu haben.«

»Frauen denken oft nicht an das Nächstliegende«, bemerkte er anzüglich.

»Geht das auf mich?«, fragte sie.

»Zweifelst du nicht auch immer noch daran, dass ich nur deinetwegen hierbleiben wollte, Sabine?«

Er zog sie leicht an sich und küsste sie auf die Stirn.

»Wir werden bald heiraten, wenn du einverstanden bist«, flüsterte er.

»Bald!« Ein heißes Glücksgefühl durchflutete sie. Doch dann dachte sie an Lisa, und plötzlich tönten Stimmen an ihr Ohr. »Sie kommen!«, sagte sie atemlos.

*

Jill drückte sich ganz eng an Lisa, während Michael und Sabine sich umarmten. Ängstlich war ihr Blick auf Sabine gerichtet, und er wurde noch ängstlicher, als Nicolas nun Lisa begrüßte.

»Das ist meine Schwester, Jill«, erklärte Michael.

»Deine Schwester«, wiederholte sie mit einem erleichterten Seufzer. »Und der Herr?«

»Das ist mein Freund Nicolas. Dr. Allard.«

»Er sieht aber nicht aus wie ein Nicolas«, sagte Jill und schenkte ihm ein Lächeln.

Aufregend wurde es für sie, als die Thewalds kamen und in ihrem Gefolge die drei Naumann-Kinder, Schorsch, Marilli und Frieder, denn niemand hatte ihr vorher erzählt, dass Lisa Eltern hatte.

Eine unerklärliche Spannung lag über diesem Wiedersehen. Auf der einen Seite standen die Thewalds mit den drei Kindern, auf der anderen Lisa und Jill und dicht neben ihnen Michael.

»Es wird einiges zu besprechen sein«, bemerkte Michael heiser.

»Wir haben uns darauf geeinigt, dass Lisa und Jill bei Sabine wohnen werden«, sagte Nicolas ruhig.

Lisa ging auf Lotte Thewald zu und umarmte sie. Diese Geste drückte Bitte um Verstehen und Dank zugleich aus, und das Mienenspiel von Lotte Thewald verriet Verzicht. Sie spürte wohl am meisten von allen, dass für Lisa ein eigenes Leben begonnen hatte.

*

Thomas und Ulrike hatten die Begrüßung vom Fenster aus beobachtet.

»Einer von den Männern ist bestimmt der Doktor, der mir den Bauch aufschneiden soll«, flüsterte Ulrike.

»Das darf er nicht«, flüsterte Thomas zurück. »Dann müssen wir eben sagen, dass du gar keine Bauchschmerzen hast.«

»Und was soll ich dann für Schmerzen haben, Thomas? Ich habe manchmal solchen Hunger, und das Essen schmeckt doch so gut. Ich mag nicht immer Kamillentee und Haferbrei. Und wenn sie mir dann doch den Bauch aufschneiden und finden, dass mir gar nichts fehlt? Der Doktor ist schlau.«

»Das ist doch ein anderer Doktor, der jetzt kommt. Der ist vielleicht nicht so schlau«, meinte Thomas. »Und ich lasse meinen Bauch dann auch aufschneiden.«

Von so viel Opferbereitschaft gerührt, kamen Ulrike die Tränen. »Wenn wir doch wenigstens einem sagen könnten, dass wir uns lieb haben«, schluchzte sie.

»Onkel Alois weiß es doch. Er braucht bloß deine Mutti zu heiraten, und dann komme ich zu euch.«

»Und dann ist deine Mutti noch mehr böse«, sagte Ulrike kleinlaut.

»Ach, sie hat doch das Baby«, entgegnete er wegwerfend.

*

Leider hatte Nicolas dieses Gespräch nicht mitgehört, denn er war mit Lisa und Jill beschäftigt. Er konnte es erst am nächsten Morgen vom Band abhören.

Es war ein Sonntagmorgen wie aus dem Bilderbuch. Blau wölbte sich der Himmel über dem Sternsee, und unter den Sonnenstrahlen glitzerte der Tau auf den Wiesen wie ein Meer von Perlen.

Jill erwachte in dem breiten Bett in dem wunderschönen großen Zimmer und kam sich wie eine Prinzessin vor. Sie begriff nicht gleich, dass es Wirklichkeit war. Sie meinte noch immer zu träumen und öffnete ganz langsam die Augen. Nur durch ein schmales Regal, auf dem Bücher standen, von sich getrennt, sah sie das andere Bett, in dem Lisa schlief.

Ihr kam die Erinnerung an ein anderes Zimmer, in dem die Betten auch so gestanden hatten. Es war kleiner gewesen, aber auch sehr schön. Es hatte auch ein breites Fenster gehabt, von dem man auf den See blicken konnte, den See mit den Seerosen, und vor dem Fenster hatten bunte Blumen geblüht.

Ganz leise stieg sie aus dem Bett. Der Teppich unter ihren Füßen war weich und seidig, und als sie sich aufstellte, versanken ihre Füße ganz tief darin.

Das ganze Zimmer war mit diesem Teppich bedeckt, und kein Schritt, den sie tat, war zu hören. Dennoch ging sie auf Zehenspitzen zu dem Fenster, das von schweren grünen Vorhängen verhüllt war. Aber ein paar Sonnenstrahlen fanden doch schon den Weg ins Zimmer.

Mit ihrer kleinen Hand schob sie den Vorhang zur Seite. Vor dem Fenster blühten keine Blumen. Riesengroße Bäume ragten vor ihm in den Himmel. Doch zwischen den entlaubten Zweigen konnte sie auf eine glitzernde Wasserfläche blicken. Das Wasser nahm kein Ende. Es schien mit dem Himmel zusammenzufließen. Und Seerosen sah sie auch nicht.

Dennoch formte sich vor Jills Augen ein anderes Bild, und sie wusste plötzlich, dass etwas nicht stimmte, was sie bisher gedacht hatte. Es war ein Seerosenteich gewesen, ein See. Ein Teich, um den man herumgehen konnte, und er war ganz dicht bei einem Haus. In dem Haus war eine Dame mit weißen Haaren. Ein bohrender Schmerz war jetzt in Jills Köpfchen.

»Granny!«, rief sie laut. Und noch einmal: »Granny!«

Lisa schreckte empor. Steil aufgerichtet saß sie in ihrem Bett und starrte das Kind an, das ihr den Rücken zuwendete.

Aber Jill bemerkte gar nicht, dass Lisa erwacht war. Sie presste ihre Stirn an die Fensterscheibe und murmelte Worte, die Lisa nicht verstehen konnte.

Lisa stand auf und ging zu Jill. Sie legte sanft ihre Hände auf die schmalen Schultern des Kindes und drückte ihre Lippen in das weiche Haar.

Ganz langsam hob Jill den Kopf. »Granny hat mich Jennifer gerufen.

Jetzt weiß ich es«, erklärte sie leise. Sie klammerte sich an Lisa. »Ich weiß ja, dass du nichts sagen kannst«, flüsterte sie, »und es macht mir auch nichts aus. Aber jetzt würde ich es so gern haben, dass du mit mir redest.«

In ihren Augen blinkten Tränen. Lisa beugte sich zu ihr hinab und streichelte ihr Gesichtchen. Sie deutete auf den Hocker, auf dem die Kleidungsstücke lagen.

»Ich soll mich anziehen?«, fragte Jill. Lisa nickte. Sie nahm ihre Sachen und verschwand im Bad. Schon wenige Minuten später war auch sie angekleidet. »Ich muss mich noch waschen und Zähne putzen«, sagte Jill.

Lisa führte sie in das Bad und wusch ihr das Gesicht. Mit einer Handbewegung bedeutete sie dem Kind, dass sie später baden könnte. Sie nahm Jill bei der Hand und ging mit ihr aus dem Zimmer, die Treppe hinunter und dann aus dem Haus.

*

Nicolas sprang auf, als Lisa mit Jill an der Hand sein Arbeitszimmer betrat. Er war heute früh aufgestanden und wollte eben das Tonband abhören.

»So zeitig seid ihr schon auf?«, rief er. Lisas Lippen formten ein paar Worte.

Er schüttelte leicht den Kopf.

»Schreib es mir lieber auf«, bat er. »Du bist aufgeregt.«

Während Lisa sich über den Block beugte, den er ihr hingeschoben hatte, betrachtete er Jill. Er hatte dafür gestern noch nicht genügend Zeit gehabt.

Sie war ein reizendes Kind. Er schätzte sie auf etwa fünf Jahre.

Lisa hielt ihm den Block hin. Verwundert las er die Worte, die sie aufgeschrieben hatte.

»Frag Jill bitte nach Granny! Sie muss Jennifer gerufen worden sein. Was sich am Genfer See zutrug, kann Dir Michael erzählen. Jill möchte mit mir reden.«

Sie sah ihn flehend an, als er den Block wieder auf den Schreibtisch legte.

»Es ist gut, Kleine«, bemerkte er. »Ich verstehe dich.« Er ergriff Jills Hand. »Du weißt jetzt, dass ich Lisas Freund bin«, sagte er voller Wärme zu dem Kind. »Ich hoffe, dass du auch zu mir Vertrauen hast, Jill.«

»Lisa ist meine Allerliebste«, beteuerte Jill.

»Aber sie macht sich ein wenig Sorgen um dich, weil du traurig warst, und weil sie nicht mit dir sprechen kann, möchte sie, dass ich es für sie tue.«

Jills Augen wanderten zwischen ihnen hin und her.

»Willst du das, Lisa?«, fragte sie. »Ist Nicolas dein allerbester Freund?«

Lisa nickte.

»Und Michael?«, fragte das Kind. »Ist er nicht dein allerbester Freund?« Hilflos sah Lisa Nicolas an. Er legte den Arm um sie.

»Ich kenne Lisa schon von Kindheit an, Jill«, erklärte er, »als sie noch ein so kleines Mädchen war wie du.«

»Du bist aber noch nicht alt«, meinte Jill nachdenklich.

»Aber doch schon viel älter als Lisa und auch älter als Michael.«

Jills Blick wanderte an ihm vorbei in die Ferne.

»Es ist nur, weil Granny mich Jennifer gerufen hat«, sagte sie leise. »Und die Dame gestern Morgen hat auch Jennifer gerufen. Da sind mir Gedanken gekommen.«

»Welche Gedanken, Jill?«

»Wegen dem Seerosenteich und dem Haus mit den Blumen, in dem Granny war. Es muss schon lange her sein, aber vielleicht habe ich das nur geträumt. Kann das sein, Nicolas?«

»Es kann schon sein, aber erzähle mir doch mal, was du sonst noch geträumt hast!«

»Manchmal war das aber nicht schön.«

»Du brauchst mir nur zu erzählen, was du erzählen willst, Jill. Wer hat dich denn noch Jennifer genannt?«

Ihre Augen verdunkelten sich. »Mami«, antwortete sie leise. »Janet war eine andere Mami. Daddy hat sie erst geholt.«

Nicolas wandte sich zu Lisa um. Ganz weit waren ihre Augen, und schnell beugte sie sich wieder über den Block. Wenig später las Nicolas: »Janet hieß die Frau, die mit Jills Vater verunglückt ist.«

»Was hat Lisa geschrieben?«, wisperte Jill.

Nicolas zögerte einen Augenblick. »Dass du ein sehr liebes kleines Mädchen bist«, erwiderte er dann rasch.

»Ich habe Lisa auch sehr lieb. Ich hatte bei ihr keine Angst mehr. Daddy hat mit Janet gestritten, und da bin ich weggelaufen«, erklärte sie zusammenhanglos. »Und dann hat Michael mich zu Lisa gebracht.«

»Und gestern Morgen hat eine Dame dich Jennifer gerufen«, sagte Nicolas gedankenverloren.

»Sie hat doch nicht mich gerufen«, entgegnete Jill. »Sie hat jemanden gerufen.«

»Du hast sie nicht erkannt. Es war nicht deine Granny?«

»Granny hatte weiße Haare. Sie war lieb mit mir. Sie hat mir das Kettchen geschenkt.«

»Welches Kettchen?«, fragte Nicolas. »Das ich um den Hals trage. Da, guck mal.«

Es war ein goldenes Kettchen mit einem Anhänger, auf dem die Buchstaben J und B eingraviert waren. Nicolas betrachtete es eingehend.

»Du heißt Jill. Und wie noch?«, fragte er.

»So wie Dada.«

»Und wie ist der Name von deinem Daddy?«

»Barmister«, erwiderte Jill. Lisa nickte. »Daddy ist tot. Das hat Dr. Valdere gesagt«, erklärte Jill.

»War er lieb zu dir?«, fragte Nicolas nach einer kurzen Pause.

»Ja, aber Janet war nicht so lieb. Sie hat oft gestritten mit Daddy. Und wir sind immer nur herumgefahren. Wir haben nie in einem schönen Haus gewohnt. Ich möchte so gern bei Lisa bleiben. Erlaubst du es, Nicolas?«

»Möchtest du nicht auch zu deiner Granny?«, fragte er.

Jill schloss die Augen und lehnte ihren Kopf an seine Schulter …

»Wenn ich es aber doch nur geträumt habe?«, fragte sie leise. »Kennst du den Seerosenteich und das Haus mit den Blumen?«

Seine Finger glitten sanft durch ihr Haar.

»Wir werden es finden, Jill, wenn du es nicht nur geträumt hast«, sagte er sinnend.

*

Lisa hatte Jill wieder mit sich genommen. Nun kam Nicolas endlich dazu, sich mit dem Tonband zu beschäftigen. Aber er wurde bald unterbrochen. Diesmal war es Schwester Meta, die ihn ins Spielzimmer rief.

»Thomas muss Ihnen etwas ganz Wichtiges sagen«, erklärte sie. »Ich bin gespannt, was sie diesmal wieder ausgeheckt haben.«

Er ahnte bereits, dass er nun auch direkt aus ihrem Mund die Wahrheit erfahren würde.

Die leicht aggressive Haltung, die beide Kinder einnahmen, konnte nicht über ihre schuldbewussten Mienen hinwegtäuschen.

»Ulrike hat keine Bauchschmerzen, und ich auch nicht«, begann Thomas. »Es ist nämlich so.«

Und dann erfuhr Nicolas alles, was er doch schon wusste. Die Kinder jedoch waren erstaunt, dass keine Strafpredigt folgte.

»So ähnlich habe ich es mir gedacht«, sagte Nicolas. »Ich freue mich, dass ihr endlich vernünftig werdet, denn nun können wir uns auch ganz ernsthaft über alles unterhalten. Ihr seid ja schlau genug, dass ihr begreifen werdet, was ihr angerichtet habt.«

»Wir haben aber nichts angerichtet!«, protestierte Thomas, während Ulrike nun doch mit den Tränen kämpfte. »Und dass ihr euren Eltern großen Kummer bereitet habt, ist das nichts?«

»Ich habe keine Eltern, ich habe nur eine Mutti«, warf Ulrike weinerlich ein.

»Aber der Onkel Alois will ihr Vati sein, und das will meine Mutti nicht«, erklärte Thomas erzürnt. »Meine Eltern sind froh, dass sie mich los sind. Sie haben jetzt das Baby.«

»Das redest du dir nur ein, Thomas«, entgegnete Nicolas ruhig. »Deine Mutti war sehr traurig, weil du Ulrike lieber hast als dein Schwesterchen. Es ist doch ein kleines, hilfloses Wesen, das man lieb haben muss.«

»Es hat mich auch nicht lieb. Es schreit bloß immer«, sagte Thomas bockig.

»Es kann dir noch nicht zeigen, dass es dich lieb hat, aber wenn es größer ist und sprechen kann, wird es ganz anders sein. Du musst natürlich auch etwas dazu beitragen. Es ist doch schön, wenn man Geschwister hat.«

»Wenn sie größer sind«, räumte Thomas mit seiner eigenen Logik ein. »Ich bin schon so groß, und das Baby ist noch so klein.«

»Gerade weil du so viel größer bist, musst du es beschützen.«

»Das kann ich ja gar nicht. Mutti lässt mich doch nicht ran«, beharrte er.

Ja, es waren auf beiden Seiten Fehler gemacht worden. Jenny Frenzel hatte nicht bedacht, dass Thomas einen seelischen Knacks bekommen könnte, wenn das Baby nun eine bevorzugte Stellung einnahm. Mit den Worten: »Er wird sich schon daran gewöhnen«, war es nicht getan.

Immer wieder machten Eltern den Fehler, ihre Kinder nicht ernst zu nehmen, und in diesem Fall hätte es zu einer Katastrophe führen können.

»Nun passt mal auf, ihr beiden. Heute Nachmittag holt euch der Onkel Alois ab, und dann macht ihr einen Ausflug mit ihm. Er wird euch erklären, wie es in Zukunft weitergehen soll.«

»Da wird Mutti aber schön schimpfen«, sagte Thomas.

»Sie wird nicht schimpfen. Sie ist einverstanden.«

»Auch damit, dass Onkel Alois Ulrike mitnimmt?«, staunte Thomas.

»Auch damit.«

Die Miene des Jungen drückte größte Skepsis aus.

»Das werden wir ja sehen«, meinte er trotzig.

*

Nicolas wusste auch schon, welches Ausflugsziel er Alois Frenzel vorschlagen wollte. Die Felsenburg!

Vorsichtshalber fragte er noch bei Magnus von Roth telefonisch an, ob sie heute zu besichtigen wäre und ob vielleicht Bambi mit ihrem bewährten Instinkt ein wenig Hilfestellung leisten könnte.

Thomas und Ulrike zweifelten noch immer daran, dass es so kommen würde, wie Dr. Allard es ihnen versprochen hatte. Heute brauchten sie nun keine Schmerzen vorzuschützen, aber diesmal nahm ihnen die Aufregung den Appetit.

»Es wird höchste Zeit, dass sie wieder in normale Verhältnisse kommen«, stellte Nicolas fest, »sonst werden sie tatsächlich noch Neurotiker. Man kann sich nämlich so in eine Rolle hineinleben, dass man später gar nicht mehr anders kann.«

Auch die Reaktion der Kinder, als Alois Frenzel kam, schien ein Beweis für diese Theorie zu sein.

Thomas klammerte sich an ihn und betätschelte sein breites, gutmütiges Gesicht, und Ulrike begann herzzerreißend zu schluchzen. Die Spannung löste sich. Endlich zeigte sich wieder ein Lächeln auf den Kindergesichtern.

»Bist du allein?«, fragte Thomas. »Ganz allein. Wir müssen uns nämlich über manches unterhalten«, erwiderte Alois Frenzel.

»Bringst du mich dann gleich nach Hause?«, erkundigte sich Thomas.

»Es wird sich alles finden.«

Er war die Ruhe selbst, dieser Alois Frenzel, und Nicolas war guter Dinge, als er ihn und die beiden Kinder, die sanft wie Lämmer waren, zum Tor begleitete.

Auf ihn wartete jetzt ein gemütliches Kaffeestündchen mit Sabine, Lisa, Jill, Michael und André. So dachte er wenigstens. Aber kaum hatte er sich niedergesetzt, wurde er ans Telefon gerufen.

»Dein erster Fall«, sagte er zu André, als er zurückkam. »Ein Kind ist vom zweiten Stockwerk aus dem Fenster gestürzt.«

»Hat es sich sehr wehgetan?«, fragte Jill ängstlich.

»Das müssen wir erst mal sehen«, erklärte Nicolas.

Nun begann die richtige Arbeit in der Sternsee-Klinik, und das an einem Sonntagnachmittag.

»Jetzt bekommst du gleich einen Vorgeschmack, was dir als Arztfrau blüht«, raunte Nicolas Sabine zu.

*

Es war selbstverständlich, dass Bambi zur Stelle war, wenn ihr Opi zur Felsenburg ging. Auch Hannes schloss sich an, weil ihm langweilig war.

Jonny, der sich eben noch faul gerekelt hatte, war auch gleich zur Stelle, als sie aufbrachen.

»Es ist ja alles ganz gut und schön«, meinte Hannes, »aber aus purer Freundschaft können wir die Felsenburg auch nicht herzeigen. Wir müssen jetzt mal ein Eintrittsgeld festlegen.«

»Die Leute stecken doch alle was in die Büchse, wenn sie kommen«, sagte Bambi versöhnlich. »Sie ist schon ganz schön voll.«

»Aber kontrollieren kann man es nicht, ob es nicht manchmal nur ein Zehnerl ist. ’nen Euro könnten wir schon verlangen.«

»Mach es nicht gleich zu happig«, brummte Magnus von Roth.

»Du bist halt ein Idealist, Opi«, bemerkte Hannes. »Andere denken da viel kommerzieller. Ich habe neulich gelesen, dass einer aus seiner Burg ein Hotel gemacht hat, und da zahlen die Leute ein sagenhaftes Geld, nur um mal ein paar Tage wie die Fürsten zu wohnen. Das würde schön was abwerfen. So hundert Euro am Tag für jeden könnten da schon rausspringen.«

»Und du kochst und machst die anfallenden Arbeiten«, stellte Magnus von Roth anzüglich fest.

»Und wo wollen die Leute denn schlafen für so viel Geld?«, fragte Bambi.

»Man könnte alles ganz toll ausbauen.« Hannes ließ sich nicht irritieren.

»Dann ist es aber nicht mehr un­sere Felsenburg«, sagte Bambi. »Fremde kommen jetzt schon genug her.«

Sie hatten die Felsenburg erreicht, als der Wagen mit Alois Frenzel und den Kindern die Straße heraufkam. Magnus von Roth hatte schon die schwere Eichentür aufgeschlossen.

Bambi begrüßte die beiden Kinder ohne Scheu, und da sie wusste, dass sie aus der Klinik kamen, erkundigte sie sich auch gleich, ob sie schon wieder ganz gesund wären. Darauf wurden Thomas und Ulrike ein bisschen verlegen.

»Was hat euch denn gefehlt?«, fragte Bambi unbefangen.

»Kopfschmerzen«, sagte Thomas. »Und Bauchschmerzen«, schloss Ulrike sich an.

»Und deshalb kommt ihr gleich in die Klinik?«, wunderte sich Bambi. »Ich musste nur mal ins Krankenhaus, als mir die Mandeln herausgenommen worden sind. Hannes hat auch manchmal Bauchschmerzen, aber meistens nur wenn er am nächsten Tag eine Schulaufgabe hat. Hannes ist mein Bruder.«

Thomas war leicht irritiert. Erstens, weil Bambi das so schelmisch sagte, und dann auch, weil dieser große Junge, der sich jetzt mit Onkel Alois so angeregt unterhielt, der Bruder von dem kleinen Mädchen sein sollte.

»Das ist dein Bruder?«, fragte er verwundert.

»Freilich«, erwiderte Bambi. »Das ist der Hannes. Er geht aufs Gymnasium.«

»Er ist aber viel älter als du«, äußerte Thomas nachdenklich.

»Acht Jahre, und das bleibt immer so«, stellte Bambi fest.

»Könnt ihr euch leiden?«, mischte Ulrike sich ein.

Bambi sah sie beinahe empört an. »Wir können uns nicht nur leiden, wir haben uns lieb.«

»Er war doch schon groß, als du noch ein Baby warst«, sagte Thomas.

»Na und? Es ist doch schön, wenn man einen großen Bruder hat.«

»Was hat er denn mit dir angefangen?«, fragte Thomas neugierig. »Hannes, was hast du mit mir angefangen, als ich noch ein Baby war?«, rief Bambi.

Solche Fragen waren Hannes natürlich peinlich in Gegenwart von anderen. Er bekam ganz rote Ohren.

»Aufgepasst habe ich halt, dass du keinen Blödsinn machst«, brummte er.

»Mir ist nie was passiert, weil er so gut aufgepasst hat«, versicherte Bambi strahlend. »Und jetzt passen wir auf unseren kleinen Henrik auf.«

»Habt ihr jetzt auch noch ein Baby?«, fragte Thomas staunend.

»Unsere Schwester hat eins. Es ist unser Neffe«, erklärte sie voller Stolz.

»Wir haben nämlich noch eine große Schwester und einen großen Bruder, die beide schon verheiratet sind.«

»Die schon verheiratet sind?«, wiederholte Thomas verwirrt. »Und ihr vertragt euch alle?«

»Na klar«, meinte Bambi.

»Dann hast du aber keine Freunde«, sagte Thomas.

»Warum denn nicht? Eine Menge Freunde habe ich. Alle Kinder hier in Erlenried sind meine Freunde. Warum fragst du so was eigentlich?«

»Ich habe auch eine kleine Schwester, die noch ein Baby ist«, gab Thomas stockend zu.

»Das ist doch fein. Es ist erst richtig schön, wenn man Geschwister hat.«

»Ich habe aber gar keine«, wisperte Ulrike.

»Dann wünsch dir doch welche«, erwiderte Bambi, »und wenn ihr keins mehr kriegt, dann adoptiert ihr eben eins. Das machen viele Leute. Aber ihr wolltet euch doch die Felsenburg angucken.«

Damit war das heikle Thema dann auch zu Alois Frenzels Erleichterung beendet.

Ihm sollte erst später bewusst werden, dass Bambi ihm einen großen Dienst erwiesen hatte, und dass die Besichtigung der Felsenburg trotz des recht mäßigen Interesses von Thomas und Ulrike Erfolge zeigte.

Thomas erklärte plötzlich: »Ich habe Hunger.«

»Ich habe auch Hunger«, echote UIrike.

»Dann werden wir mal in den ›Seeblick‹ gehen«, schlug Onkel Alois vor. »Da gibt es guten Kuchen«, rief Bambi.

Kopfschüttelnd sah sie dem abfahrenden Auto nach.

»Das sind schon ein bisschen komische Kinder«, meinte sie vorsichtig. »So was Wehleidiges. Bloß wegen Kopf- und Bauchschmerzen in die Klinik gehen.«

»Aber der Onkel ist dufte. Der hat einen Zwanzigeuroschein in die Büchse gesteckt«, warf Hannes ein.

»Wenn Dr. Allard bloß solche Kinder kriegt, wird Schwester Meta sich aber nicht freuen«, lenkte Bambi von diesem kommerziellen Thema ab.

»Es gibt doch auch Krankheiten, die man nicht gleich herausfindet. Da muss man dann in die Klinik zur Beobachtung.«

Bambi war immer voller Bewunderung, wenn Hannes so gescheit redete. Doch diesmal machte sie schon einen Einwand.

»Ein bisschen komisch waren die Kinder aber doch. Hoffentlich verderben sie sich jetzt nicht wieder den Magen.«

*

Was Thomas und Ulrike nicht wussten, als sie mit Onkel Alois den Gasthof »Seeblick« betraten, war die Tatsache, dass schon ein Tisch für sie reserviert war. Und an diesem Tisch waren bereits drei Personen: Das Ehepaar Frenzel und Ilse Eigner.

Schweigen herrschte zwischen ihnen.

Jeder war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Aber als sich die Tür auftat und Onkel Alois mit den Kindern eintrat, sprangen sie gleichzeitig auf.

Ulrike lief als Erste zu ihrer Mutti. »Du bist auch da«, flüsterte sie. »Das hat Onkel Alois uns gar nicht gesagt.« Thomas blickte sich suchend um, als seine Mutter ihm die Hände entgegenstreckte.

»Wo ist denn das Baby?«, fragte er aufgeregt. »Habt ihr es weggegeben?«

»Es ist zu Hause«, erwiderte Jenny Frenzel konsterniert, weil sie auf eine solche Reaktion nicht vorbereitet gewesen war. »Wir haben jetzt ein Kindermädchen, damit ich mehr Zeit für dich habe, wenn du wieder heimkommst, Thomas.«

»Und wenn es nun nicht richtig aufpasst?«, fragte er. »Wenn es nun Blödsinn macht?«

»Dazu ist es zu klein. Geht es dir gut, mein Junge?«, fragte Jenny Frenzel.

Thomas schaute sie, dann seinen Vater an. Sie taten gar nicht so, als wäre er lange weggewesen. Es war schon ein recht eigenartiges Gefühl, wenn man sie so sah.

»Ich habe jetzt Hunger«, erklärte er. Insgeheim hoffte er, dass sie nun auch Ulrike ansprechen würden, damit er dies alles gutheißen könne, denn allzu viel Zugeständnisse wollte er nicht gleich machen.

»Hast du auch Hunger, Ulrike?«, fragte da Jenny Frenzel tatsächlich.

Ulrike, gewohnt, auf Thomas zu hören, sah den Jungen an.

»Freilich hat sie auch Hunger«, sagte er.

»Und was möchtet ihr?«

»Apfelkuchen mit Sahne«, erwiderte Thomas.

»Ich auch«, schloss Ulrike sich an. »Macht es dir eigentlich Spaß, immer das Gleiche zu tun wie Thomas?«, fragte Artur Frenzel beiläufig.

»Er ist schlauer als ich«, antwortete Ulrike.

»Wir sind uns immer einig«, behauptete Thomas.

»Das haben wir gemerkt«, stellte Artur Frenzel hintergründig fest. »Und mit Onkel Alois seid ihr euch auch einig.«

»Wir haben nicht gewusst, dass er uns heute abholt«, verteidigte sich Thomas. »Und dass ihr auch hier seid, haben wir auch nicht gewusst.« Er sah Frau Eigner an, dann seine Eltern. »Seit wann vertragt ihr euch denn?«, erkundigte er sich.

Diese Frage zu beantworten, fiel keinem leicht. Inzwischen war aber der Kuchen gebracht worden, und die Kinder stürzten sich mit Heißhunger darauf.

»Es hat sich einiges geändert«, bemerkte Onkel Alois beiläufig, »aber darüber unterhalten wir uns zu Hause.«

»Nehmt ihr uns gleich mit?«, fragte Thomas. »Erlaubt das denn Dr. Allard?«

»Eure Schmerzen werden auch daheim zu kurieren sein«, meinte Onkel Alois mit einem gutmütigen Grinsen. »Magenbeschwerden scheint ihr ja nach eurem Appetit zu urteilen, nicht mehr zu haben.«

Sie wurden beide knallrot und starrten auf ihre Teller. Diesmal ergriff Ulrike das Wort.

»Wir haben ja auch viel Kamillentee getrunken und Haferbrei gegessen.«

»Ihr habt wahrhaftig Opfer gebracht«, äußerte Onkel Alois. »Na, es hat sich auch gelohnt.«

Er sah dabei Ilse Eigner an, und diese errötete nun auch. Aber so ganz begriffen die Kinder die Bemerkung nicht. Es genügte ihnen auch vollkommen, dass ihren freundschaftlichen Beziehungen nichts mehr im Wege stand.

*

In der Sternsee-Klinik war währenddessen der Operationssaal eingeweiht worden.

Der kleine Patient hieß Peter Grandel, war vier Jahre und der Sohn eines in den Münster-Werken beschäftigten Elektrikers.

Er hatte mit seinem Kätzchen auf dem Fensterbrett gesessen, und als seine Großmutter zu Besuch kam, hatte er das Fenster geöffnet, um ihr zuzuwinken. Dabei war das Kätzchen auf den Sims gesprungen. Peter wollte es festhalten und war selbst aus dem Fenster gestürzt.

So hatte der völlig verzweifelte junge Vater den Vorfall geschildert. Er hatte nicht nur Angst um das Leben seines Sohnes, sondern auch um das seiner Frau, die kurz vor der Geburt des zweiten Kindes stand.

Peter hatte einen Schädelbasisbruch, und auch die Beine waren gebrochen. Sein Zustand war bedenklich, und die beiden Ärzte waren über Stunden mit ihm beschäftigt, während Sabine sich bemühte, den Vater des Jungen zu beruhigen.

Lisa war mit Jill zu ihren Eltern gegangen, da das gemütliche Beisammensein so jäh zerstört worden war. Michael hatte mit ihr spazieren gehen wollen, aber sie hatte verneint und ihm bedeutet, dass sie ihre Eltern nicht kränken könne. So ging er allein.

Die Standuhr im Wohnzimmer der Thewalds schlug viermal, als Lisa und Jill eintraten. Sie wurden von den Neumann-Kindern umringt, und nach wenigen Minuten wichen die Hemmungen bei Jill. Die Kinder weihten sie in das Würfelspiel ein, das sie gerade begonnen hatten.

Herr Thewald erklärte, dass er zu den Gewächshäusern wollte, und Lisa folgte ihrer Mutter in die Küche. Es war nicht zu leugnen, dass es anders war als früher. Etwas Unerklärliches stand zwischen ihnen.

»Hat es dir gefallen in Frankreich?«, fragte Lotte Thewald gepresst.

Lisa nickte, gab ihr aber auch zu verstehen, dass sie gern wieder hier sei.

»Bleibt Herr von Jostin auch länger?«, fragte Lotte Thewald forschend, und sie bemerkte, dass Lisa verwirrt war. »Das Kind soll auch hierbleiben?«, fragte sie rasch weiter. Sie las von Lisas Lippen die Bestätigung und fuhr fort: »Wir haben uns entschlossen, Schorsch, Marilli und Frieder zu adoptieren. Es sind sehr liebe Kinder. Du darfst nun aber nicht denken, dass wir dich weniger lieb haben.«

Lisa legte den Arm um sie und küsste sie auf die Wange.

»Du heißt es also gut«, sagte Lotte Thewald erleichtert. »Es ist hier nun alles anders geworden. Es wird viel Arbeit geben, auch für dich.«

Da fiel ein Schuss. Lisa schrak zusammen und begann zu zittern.

»Man gewöhnt sich daran«, erklärte Lotte Thewald bitter. »Ich werde nach den Kindern sehen, dass sie nicht hinauslaufen.«

Jill hatte aufgehorcht. »Was war das?«, fragte sie.

»Da schießt einer«, erwiderte Schorsch.

»Ein böser Mann schießt Rehlein«, warf Frieder ein.

»Und heute ist Sonntag«, flüsterte Marilli.

Schorsch wollte hinauslaufen, aber da kam schon Lotte Thewald.

»Ihr bleibt hier!«, sagte sie. »Das ist nicht unsere Sache.«

»Ich will zu Lisa«, wisperte Jill.

Aber Lisa war nicht mehr in der Küche und auch nicht im Haus. Dafür erschien Leo Thewald.

»Wohin ist denn Lisa gelaufen?«, fragte er. »Ich habe sie gerade noch gesehen.«

»Warum hast du sie nicht zurückgehalten?«

Lotte Thewald packte ihren Mann am Arm. Er schob sie in die Diele.

»Der Graf ist auch draußen«, brummte er. »Zwischen den beiden ist was, das fühlt man doch.«

Seine Frau starrte ihn betroffen an. »Du meinst, sie treffen sich?«, fragte sie tonlos. »Hast du denn den Schuss nicht gehört?«

»Da hör’ ich schon gar nicht mehr hin. Mir klang es wie ein Auspuff. Es fahren jetzt viele Leute vorbei. Mich beschäftigt mehr, dass das Kind sich nicht unglücklich macht.«

»Lisa ist kein Kind mehr«, sagte Lotte Thewald.

»Es wird sich nichts ändern«, entgegnete der Mann. »Es kann ihr ja doch niemand helfen.«

*

Lisa hatte vorhin gesehen, dass Michael in den Wald gegangen war. Nun wurde sie von seltsamen Vorstellungen gepeinigt, von Ahnungen, wie sie sie manchmal quälten. So auch an jenem Tag, als der Autobus verunglückt war.

Sie hatte sich den Umhang umgeworfen und knöpfte ihn im schnellen Lauf mit bebenden Fingern zu. Immer wieder formten ihre Lippen einen Namen: Michael! Aber sie konnte ihn nicht laut rufen.

Sie lief an der Mauer entlang, die für sie viele Jahre das Ende der Welt bedeutet hatte. Die Mauer war so hoch, dass sie nicht darüberblicken konnte, und dort, wo sie aufhörte, war so dichtes Gebüsch, dass man sich nicht hindurchzwängen konnte.

Nun stand sie davor und sah mit schreckgeweiteten Augen, dass sich hier doch jemand einen Weg gebahnt haben musste. Die morschen Zweige waren gebrochen, Füße hatten sie niedergetreten.

Sekundenlang verharrte sie so. Da vernahm sie ein schmerzvolles Stöhnen. Ihr Herz schlug bis zum Hals, die Angst in ihr wuchs riesengroß. Aber dennoch bahnte auch sie sich den Weg von einem unerklärlichen fremden Willen getrieben.

Noch einmal klang das gequälte Stöhnen an ihr Ohr, ganz nahe, und da sah sie ausgestreckt zwischen den Bäumen Michael liegen.

Sie taumelte vorwärts, kniete bei ihm nieder, sah mit tränenblinden Augen das Blut, das aus einer Wunde an der Brust sickerte.

Wahnsinnige Angst hielt sie gepackt, und ihre Gedanken überstürzten sich. Sie konnte ihn doch nicht allein lassen. Vielleicht lauerte dieser Mörder noch im Hinterhalt.

Sie hatte nicht Angst um sich, sondern nur um Michael, und da brach ein gellender Schrei aus ihrer Kehle, ein Schrei, den sie selbst nicht begriff und der doch weithin hallte.

Sie wusste nicht, dass sie diesen Schrei ausgestoßen hatte und dass sie nun immer wieder schrie: »Hilfe, Hilfe! Michael verblutet!«

*

Sabine hatte Herrn Grandel zur Tür begleitet. Endlich hatte er sich mit dem Trost, dass sein kleiner Sohn nicht in unmittelbarer Lebensgefahr schwebte, dazu bewegen lassen, heimzufahren.

Sie hatte noch ein paar Minuten frische Luft geschöpft, als plötzlich dieser Hilfeschrei an ihr Ohr tönte. Da kam auch schon Leo Thewald aus dem Verwalterhaus gelaufen, gefolgt von seiner Frau.

»Michael …, da hat jemand Michael gerufen«, stammelte Sabine. »Wer ruft …«

Leo Thewald lief schon in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war.

Mechanisch folgte ihm Sabine. Und dann, Minuten später, nahm sie fassungslos das Bild in sich auf, das sich ihren Augen bot. Sie begriff als Erste, dass Lisa immer wieder rief: »Michael! Michael!«

Es war so unfassbar, dass sie später nicht mehr zu sagen wusste, was sie mehr erschüttert hatte: Ihr verwundeter Bruder oder das verzweifelte Mädchen, dessen Hände auf Michaels Brust lagen und von seinem Blut rot gefärbt waren.

Nicolas und André kamen, von Frau Thewald alarmiert, mit der Tragbahre. Leo Thewald hatte die Büsche niedergestampft und den Weg freigemacht.

Jäh war Lisa wieder verstummt, und erst als Michael auf die Tragbahre gebettet worden war, sagte sie: »Er darf nicht sterben! Nicolas, Michael darf nicht sterben!«

Da begriffen sie alle, dass dieser Schock Lisa die Sprache wiedergegeben hatte.

Sabine legte ihren Arm um das bebende Mädchen.

»Komm, Lisa«, bat sie erschüttert, »sei ganz ruhig! Nicolas wird ihm helfen.«

»Rede mit ihr. Sie muss jetzt reden, nur reden«, erkärte Nicolas. »Du kannst sprechen, Lisa! Du musst alles sagen!«

Lisas Hand fuhr zur Kehle.

»Ich kann reden«, sagte sie stockend, und dann ging sie wie eine Traumwandlerin neben Sabine hinter den Männern her, die Michael zur Klinik trugen.

*

Sabine zwang Lisa zum Reden, wie Nicolas es befohlen hatte. Ja, es war ein Befehl gewesen. Er hatte die Nerven nicht verloren.

Lisa befand sich jetzt in einer maßlosen Erregung, aber weder Nicolas noch André konnten sich um sie kümmern.

Für Lotte und Leo Thewald war der Schock, nun plötzlich Lisas Stimme zu vernehmen, noch größer als Michaels schwere Verwundung.

Niemals hatten sie das Kind sprechen hören, und was alles hatten sie in vielen – genau in siebzehn Jahren – getan, um das zu erleben, um dem Kind, das als hilfloses kleines Mädchen zu ihnen gekommen war, zu helfen.

Diese beiden Menschen, die das fremde Kind wie ein eigenes aufgezogen und geliebt hatten, waren ganz still geworden. Zu viel war über sie hereingebrochen, und sie wurden sich nun wohl auch bewusst, dass Lisa jetzt ihr ureigenes Leben beginnen würde, und zwar als jene, als die sie geboren worden war.

»Wenn sie nur glücklich wird«, sagte Leo Thewald leise, mit geradezu rührender Behutsamkeit die Hand seiner Frau in seinen harten Arbeitshänden haltend. »Wenn jetzt nur alles gut für sie wird. Lotte, es kann doch nicht sein, dass ihr wieder grenzenloser Schmerz zugefügt wird. Sie kann nicht nur geboren sein, um zu leiden.«

Blicklos starrte Lotte Thewald vor sich hin. Sie konnte nichts sagen. Die Kehle war ihr wie zugeschnürt.

Die kleine Jill stand in der Tür.

»Ich möchte so gern zu Lisa«, flüsterte sie. »Warum darf ich nicht zu ihr, Tante Lotte?«

Sie nannte sie Tante Lotte, weil die Naumann-Kinder sie auch so nannten. Es rief Lotte Thewald zurück in. die Wirklichkeit, in der es verschreckte Kinder gab, die noch nicht wussten, was geschehen war.

»Lisa muss sich jetzt erst beruhigen«, erklärte Leo Thewald tonlos. »Sie hat sich so sehr erschrocken.«

»Was ist denn mit Michael?«, fragte Jill scheu.

»Er ist verletzt.«

»Ist er gefallen?«

»Ja, er ist gefallen.«

War es ein Zufall, oder hatte dieser Unheimliche auf ihn gezielt?, fragte sich Leo Thewald. Langsam konnte er wieder logisch denken.

»Wer hat denn um Hilfe gerufen?«, fragte Jill zaghaft.

»Lisa«, entfuhr es Lotte Thewald. »Lisa hat gerufen.«

Jill krauste die Stirn. Staunend blickte sie die Frau an, die jetzt ihre Hände gefaltet hatte.

»Der liebe Gott hat gemacht, dass sie wieder sprechen kann?«, fragte Jill leise.

Wahnsinnige Angst hat sie gehabt, dachte Lotte Thewald, Angst um den Menschen, der ihr viel, viel mehr bedeutet als jeder andere. Mit aller Liebe und Güte hatte niemand das erreicht, was diese Angst vollbracht hatte.

Lotte Thewald ahnte, was Lisa bewegte, als sie neben Michael kniete, so hilflos und verzweifelt und mit dieser Furcht, dass er sterben könnte.

Würde er leben? War dieser Hilfeschrei aus der so lange stummen Kehle noch zur rechten Zeit gekommen? Niemand von ihnen wusste es zu dieser Stunde, in der Nicolas und André um das Leben des Freundes kämpften, kurz nachdem sie erst das Leben des kleinen Peter gerettet hatten.

Sie wussten, dass dieses Leben an einem hauchdünnen Faden hing, dass es verloren gewesen wäre, wenn Lisas Schrei nicht so rasch Hilfe herbeigeholt hätte.

Sie hatten keine Zeit, darüber nachzudenken, wer das getan hatte und warum.

*

Im Sonnenwinkel hatte man diesen Schuss am Sonntagnachmittag auch für den Knall aus einem Auspuff gehalten, denn es klang anders als die vorhergehenden, dumpfer und ferner.

Es mochte auch sein, dass man weniger Notiz davon nahm, weil man überall gemütlich am Kaffeetisch saß und sich angeregt unterhielt.

Bei den Münsters saßen heute auch wieder die Heimbergs mit Tino am Tisch, nachdem Marianne Heimberg von ihrer Grippe kuriert war.

Bei den Auerbachs weilten Fabian und Ricky mit ihrem kleinen Henrik, der heute ganz besonders lebhaft war.

Ganz ruhelos aber war Jonny, der von einem zum andern schlich und mit leisem Bellen und Knurren ausdrückte, dass er hinaus wollte.

»Lass uns doch wenigstens in Ruhe Kaffee trinken, Jonny«, ermahnte ihn Bambi. »Was hast du denn bloß?«

Er sprang an der Tür hoch und drückte die Klinke herunter.

»Du wirst auch immer frecher«, sagte Bambi. »Nachher gehen wir ja noch ein Stück. Jetzt benimm dich aber!«

Er bellte nun laut. Hannes erhob sich. »Er hat doch was«, bemerkte er. »Er verbellt was.« Und wenig später rief er: »Deinen Mantel verbellt er, Opi. Wo warst du denn damit?«

Nun ging auch Magnus von Roth in die Diele, wo sein Mantel hing, und Bambi folgte ihm.

Jonny benahm sich ganz absonderlich. Immer wieder sprang er an dem Mantel hoch.

»Suchst du etwa den?« Magnus von Roth zog den Handschuh aus der Tasche. »Liebe Güte, ich hätte ihn beinahe vergessen.«

»Was ist das für ein Handschuh?«, fragte Bambi.

»Jonny hat ihn im Wald gefunden. Es ist schon länger her, ich habe den Mantel seitdem nur nicht angehabt.«

Jonny beruhigte sich aber durchaus nicht. Jetzt winselte er an der Haustür.

»Das ist schon sehr merkwürdig«, äußerte Magnus von Roth. »Nun, ich denke, da muss ich wohl doch mal nachsehen.«

»Wohin willst du, Papa?«, rief Inge Auerbach von drinnen. »Lass doch Jonny in den Garten.«

»Er ist so verrückt mit dem alten Handschuh«, erklärte Bambi. Doch das genügte, dass auch Werner Auerbach aufsprang.

Sonst hatte er wahrhaftig nicht das beste Gedächtnis, aber um den Handschuh waren seine Gedanken jeden Tag gekreist, mehr noch als die seines Schwiegervaters.

»Diese Männer«, stöhnte Teresa von Roth.

Inge schrak zusammen. Ihre Gedanken waren eben auch fern gewesen.

Ein seltsamer Ausdruck war in ihren Augen, als sie sich ebenfalls erhob.

»Es liegt etwas in der Luft«, bemerkte sie gedankenvoll. »Bambi, du bleibst hier!«

Aber Bambi war schon längst draußen.

*

»Ich werde mir jetzt mal ein bisschen die Beine vertreten«, sagte Felix Münster zur gleichen Zeit zu seiner Frau. »Kommst du mit, Sandra?«

Manuel spielte mit Tino Mühle, und dabei ließen sie sich nicht stören.

Marianne und Carlo genossen es, die Zwillinge mal wieder auf den Knien zu schaukeln, wovon sie gar nicht genug bekommen konnten. Und Felix Münster freute sich über jede ruhige Minute, die er mit seiner Frau genießen konnte.

Wie hätten sie auch ahnen sollen, welch dramatischen Verlauf dieser Nachmittag noch nehmen sollte. »Gehen wir lieber am See entlang«, schlug Sandra vor. »Im Wald ist es mir zu unheimlich.«

»Auch dann, wenn ich bei dir bin?«, fragte Felix scherzend. Aber er gab ihr gern nach.

»Im ›Seeblick‹ ist immer mächtiger Betrieb am Sonntag«, stellte Sandra fest, als sie den voll belegten Parkplatz bemerkte. »Es rentiert sich doch.«

»Aber es wird unangenehm, wenn die Leute ihre Wagen auch in unserem Wald abstellen«, sagte Felix verärgert.

»Das tun sie doch nicht«, meinte Sandra.

»Und was ist das da?« Er deutete auf einen grauen Wagen, der zwischen den Bäumen hervorlugte.

»Ach, das ist mal eine Ausnahme«, entgegnete Sandra leichthin.

Im gleichen Moment startete der Wagen. Doch der Weg war ihm verbaut, denn eben wollte eine dunkle Limousine in anderer Richtung losfahren. Es war der Wagen von Alois Frenzel, was Sandra aber nicht wissen konnte. Sie hatte ihr Augenmerk auch nur auf den grauen Wagen gerichtet und stieß einen erschreckten Schrei aus.

»Sillberg! Das ist doch Sillberg!«, sagte sie tonlos.

Felix war irritiert. Aber nun erkannte er den Mann auch. Es war tatsächlich Hasso von Sillberg.

Zwischen ihm und Alois Frenzel entspann sich schon ein Disput, in dem Onkel Alois bewies, dass er auch nicht immer die Gelassenheit in Person war. In kriegerischer Haltung ging er auf Hasso von Sillberg zu. Felix sah es.

»Ich möchte doch zu gern wissen, was der Kerl hier verloren hat«, äußerte er grimmig und setzte sich in Bewegung.

Sandra blieb wie angewurzelt stehen.

Ihre Gedanken überstürzten sich.

Hasso von Sillberg musste jetzt wohl Felix Münster erkannt haben, denn plötzlich wandte er sich um und rannte davon. Onkel Alois war darob verblüfft, er warf über die Schulter hinweg Felix einen fragenden Blick zu.

»Ich habe doch nur gesagt, dass er ausweichen soll«, murmelte er.

Aber Felix hörte gar nicht richtig hin, sondern lief Hasso von Sillberg nach. »Felix«, rief Sandra, »bleib hier! Leg dich nicht mit ihm an!«

Alois Frenzel stand auf dem Sprung. »Hat er etwas auf dem Kerbholz?«, fragte er Sandra, die nun ebenfalls zu laufen begann. Sie nickte mechanisch. »Bleiben Sie zurück!«, rief er und setzte sich in Bewegung.

Verstört rannten Thomas und Ulrike zu ihren Eltern. Thomas umklammerte seine Mutter, Ulrike ihre. Und Artur Frenzel half Sandra, die gestolpert war, auf die Beine.

»Felix! Felix!«, schrie Sandra in höchster Angst, die sie sich selbst nicht erklären konnte.

*

»Das ist Sandra«, sagte Bambi aufgeregt. »Mit Onkel Felix ist was passiert.« Jonny zerrte an seiner Leine, und sein Knurren klang gefährlich.

»Lass ihn los, Opi!«, drängte Bambi atemlos. »Er will Onkel Felix helfen!«

Magnus von Roth gab den Hund frei, der wie der Wind davonstob. Wer hätte ihm schon folgen können. Jetzt konnten sie nur beten. Und das tat Bambi dann auch gleich.

»Lieber Gott, lass bloß Onkel Felix nichts passiert sein«, sagte sie. Sie wollte den Männern nach, die davonhasteten, aber Hannes hielt sie zurück.

»Du bleibst hier«, erklärte er energisch. »Du Butzerl kannst gar nichts tun. Einer muss ja auf dich aufpassen. Jonny ist schlau. Ihm wird schon nichts passieren.«

Ein gellender Angstschrei zerriss die Luft. Hannes zog Bambi ganz fest an sich und umklammerte ihre Arme. Ein zweiter Schrei folgte und dann hörte man Stimmen. –

Jonny war buchstäblich geflogen, und wie ein Raubtier sprang er den Mann an, der durch den Wald hetzte.

Niemand hatte den folgsamen, wohlerzogenen Jonny bisher so gesehen. Niemand hatte ihn je so fauchen gehört, und seine scharfen Zähne gruben sich in das Bein des Mannes, der ihm hatte entkommen wollen und nun um sein Leben schrie.

»Lass aus, Jonny!«, sagte Felix Münster keuchend.

Jonny lockerte den Biss, aber seine Zähne verbissen sich in das zerfetzte Hosenbein. Seine Beute lag vor ihm schmutzig, zerkratzt und hilflos.

Hasso von Sillberg sah gewiss nicht mehr aus wie ein Playboy. Er konnte auch nicht mehr fliehen. Er war umringt, denn nun waren auch Magnus von Roth und Werner Auerbach herangekommen.

Den Männern wurde in diesem Augenblick klar, dass sie den Mann gefunden hatten, dem der Handschuh gehörte, der aus blindem Hass über viele Wochen ihren Frieden gestört hatte. Aber noch wussten sie nicht, was er heute getan hatte.

»Was habe ich denn getan, dass ich so behandelt werde?«, fragte Hasso von Sillberg schrill.

»Das wird sich herausstellen«, entgegnete Felix Münster. »Jonny, lass aus!«

Jonny ließ nicht aus, bis es ihm auch Magnus von Roth befahl, während Werner Auerbach kopfschüttelnd Hasso von Sillberg anblickte. Er hielt den Handschuh zwischen seinen Fingern.

»Gehört der Ihnen, Herr von Sillberg?«, fragte er dumpf.

Er bekam keine Antwort.

*

Für Alois Frenzel war dieser dramatische Zwischenfall beendet. Er wusste ja nicht, welche Hintergründe und welche Folgen er hatte. Er hatte nur zur Kenntnis genommen, dass man ihn darüber noch informieren wolle. Und jetzt wollte er in der Sternsee-Klinik Bescheid sagen, dass Thomas und Ulrike mit ihren Eltern heimgefahren wären.

Die beiden Kinder waren so aufgeregt gewesen, dass sich Artur und Jenny Frenzel zu diesem Entschluss durchgerungen hatten, als Alois echauffiert zu ihnen zurückgekehrt war.

»Ilse soll aber auch bei euch bleiben, bis ich komme«, hatte er noch gesagt. Dagegen gab es auch keinen Widerspruch.

»Vielleicht war das der Wilderer, der immer geschossen hat«, meinte Thomas unterwegs.

»Ein Wilderer?«, fragte seine Mutter ängstlich.

»Er hat immer Rehlein geschossen«, flüsterte Ulrike.

»Wir haben es knallen hören«, schloss Thomas sich an. »Ich bin vielleicht stolz auf Onkel Alois, wenn er ihn geschnappt hat.«

»Ich auch«, echote Ulrike.

Onkel Alois war gar nicht stolz. Er war völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. Eben noch ein mutiger Mann, war er am Boden zerstört, als er von Leo Thewald erfuhr, was sich hier in der Sternsee-Klinik inzwischen alles zugetragen hatte.

»Dr. Allard können Sie jetzt nicht sprechen«, sagte er. »Sie operieren noch den Grafen Jostin, der angeschossen worden ist.«

»Angeschossen?«, fragte Alois Frenzel konsterniert.

»Und ein schwerverletztes Kind ist heute auch noch eingeliefert worden«, erkläre Leo Thewald. »Dr. Allard wird nur froh sein, wenn Sie Ihre Kinder gleich behalten.«

Man musste ihm zugestehen, dass er selbst noch nicht wieder ganz gegenwärtig war, als er sich so ausdrückte. Aber Alois Frenzel, der eben selbst das aufregendste Erlebnis gehabt hatte, vor dem alle anderen verblassten, nahm das gar nicht zur Kenntnis.

»Im Wald ist eben ein Mann gestellt worden, der was auf dem Kerbholz hat«, murmelte er. »In der Nähe vom ›Seeblick‹. Ein Adliger ist es. Sillberg haben sie ihn genannt.«

Leo Thewald war starr vor Staunen.

Er brachte kein Wort mehr über die Lippen.

»Sagen Sie Dr. Allard, dass ich die Rechnung begleichen werde«, bat Alois Frenzel. »Ich werde ihm mein Leben lang dankbar sein.«

Dann ging er mit schweren Schritten zu seinem Wagen zurück, und Leo Thewald stand noch immer da und konnte nicht begreifen, was er eben gehört hatte.

*

»Geschafft!«, sagte Nicolas erleichtert und ließ die Kugel, die er aus Michaels Brustkorb geholt hatte, mit der Pinzette in die Schale fallen.

»Wir müssen sie gut aufheben. Sie ist ein Beweisstück.«

»Wenn er nur durchkommt. Was nützen uns sonst alle Beweise«, bemerkte André. Dicker Schweiß stand ihm auf der Stirn. Schwester Meta tupfte ihn nun ab.

»Es müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn Sie es nicht schaffen würden«, erklärte sie bewundernd.

Die einen flehten zu Gott, die anderen beschworen den Teufel, aber beide waren wohl an diesem Tag im Spiel gewesen. Jetzt blieb nur die Frage, wer Sieger bleiben würde. So ganz sicher waren die beiden Ärzte sich nicht. Michaels Atem ging matt, sehr matt. André saß an seinem Bett und fühlte seinen Puls, während sich Nicolas nun um Lisa kümmerte.

Ihre Augen waren dunkel und glanzlos, und sie regte sich nicht, als er ihre Hände ergriff.

»Sag etwas, Lisa«, drängte er, »du darfst jetzt nicht grübeln!«

»Was ist mit Michael?«

Es war eine seltsame Stimme, heiser und doch klangvoll.

Nicolas legte seine Hand an ihre Wange.

»Du musst jetzt glauben und auf Gott vertrauen!«, erklärte er eindringlich.

»Ich will nicht leben, wenn Michael nicht lebt«, entgegnete sie. »Er hat mich lieb gehabt, so wie ich war und obgleich ich ihm nicht sagen konnte, wie sehr ich ihn liebe.«

Nun rannen die Tränen über ihre Wangen, und er tat nichts, um sie aufzuhalten.

»Deine Liebe wird ihm helfen, kleine Lisanne«, flüsterte Nicolas, »und sei ganz gewiss, dass er dich nun noch viel mehr lieben wird, da er dir sein Leben verdankt.«

Ihr Gesicht belebte sich.

»Du bist mein Freund, Nicolas. Du warst immer mein Freund. Ich will nur, dass er gesund wird, sonst nichts. Wer hat das getan? Wer kann so gemein sein?«

Sie verbarg ihren Kopf in den Kissen und schluchzte leise.

Nicolas sah Sabine an. Ihr Mienenspiel verriet, wie erschüttert sie war. Er gab ihr unauffällig einen Wink.

»Ich muss nach dem kleinen Peter sehen«, raunte er ihr zu. »Bitte, bleib bei Lisa.«

Es hätte dieser Aufforderung nicht bedurft. Sabine hätte das Mädchen in seinem Schmerz nicht allein gelassen, dieses rührende Geschöpf, das ihren Bruder so liebte.

Sie nahm die schmale Hand und streichelte sie.

»Michael wird wieder gesund werden, Lisa«, sagte sie tröstend.

*

Leo Thewald merkte nicht, dass Nicolas nahte. Er stand noch immer auf dem gleichen Platz und dachte daran, was Alois Frenzel gesagt hatte.

»Ich kann es nicht glauben«, sprach er vor sich hin.

Nicolas legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Es war für uns alle ein großer Schrecken«, äußerte er begütigend, »aber Lisa kann sprechen, und das wird so bleiben, Herr Thewald.«

Blicklos starrte der Mann ihn an. »Der Sillberg ist es gewesen«, murmelte er. »Sie haben ihn gefasst. Herr Frenzel war dabei. Sie nehmen die Kinder mit nach Hause.«

Monoton kamen die Worte über seine Lippen. Nicolas glaubte, nicht richtig gehört zu haben.

»Was sagen Sie da?«, stieß er hervor.

»Der Sillberg war’s«, wiederholte Leo Thewald. »Er hat geschossen.«

Die Worte, so leise sie gesprochen waren, dröhnten in Nicolas’ Ohren, und es war ihm, als käme das Echo immer wieder von den Wänden zurück. Gewaltsam nahm er sich zusammen.

»Sprechen Sie mit niemandem darüber, bis es bestätigt ist«, sagte er heiser. »Und dann soll Sabine es von mir erfahren.«

Und was ist dann, dachte er, als er mit übermächtiger Anstrengung das Krankenzimmer des kleinen Peter betrat. Wie wird Sabine damit fertig werden?

Schwester Meta bewachte den kleinen Patienten. Sie war auch nicht von ihrem Platz gewichen, als sich das Drama draußen abspielte.

»Er wird schon durchkommen«, bemerkte Schwester Meta. Sie dachte an Peter, aber Nicolas dachte jetzt an Michael. Wenn er nun nicht durchkam? Wenn Hasso von Sillberg Sabines Bruder auf dem Gewissen hatte?

Schwester Meta hatte andere Sorgen. »Um Thomas und Ulrike werde ich mich heute kaum kümmern müssen«, erklärte sie.

»Sie sind bei ihren Eltern«, erwiderte sie geistesabwesend.

»Das ist gut. Auf solchen Betrieb sind wir doch noch nicht eingerichtet.«

Ihre nüchterne Feststellung erinnerte ihn daran, dass er Pflichten hatte. Schwester Meta brauchte auch mal Ruhe.

Jetzt brauche er sich darüber noch keine Sorgen zu machen, meinte sie.

Sie konnte ja nicht wissen, welche schweren Sorgen ihn bewegten.

*

Sorgenvollen Gedanken gab sich auch Sandra Münster hin, nachdem Hasso von Sillberg abtransportiert worden war. Und im »Seeblick« erinnerte sich Carla Richter an ihr Gespräch mit Sabine über Hasso von Sillberg. Sie wusste jetzt, dass sie sich auch damals nicht getäuscht hatte.

»Der Kerl kann nicht zurechnungsfähig sein«, sagte Felix Münster zu seiner Frau.

»Blindwütiger Hass wäre auch ein Motiv«, äußerte sie leise. »Für Sabine muss es entsetzlich sein. Von wem wird sie es erfahren? Müssten wir nicht …«

Sie kam nicht weiter, denn das Telefon läutete. Felix nahm den Hörer ab.

»Ja, Dr. Allard?« Er sah Sandra an, während er lauschte. »Das ist entsetzlich. – Nein, wir wussten es noch nicht. Sillberg ist weggebracht worden. Jonny hat ihn ganz schön zugerichtet. – Wer hätte auch diesen Verdacht hegen können.«

Herzklopfend breitete die Dämmerung einen sanften Schleier über die Landschaft, die wieder voller Frieden war, als wäre nichts geschehen.

Sandra stand am Fenster und ließ ihren Blick zum See schweifen.

»Wir haben diese heile Welt als etwas Selbstverständliches betrachtet«, sagte sie leise. »Wir mussten wohl daran erinnert werden, dass Hass vor nichts haltmacht.«

»Nicht melancholisch werden, Sandra«, erwiderte Felix. »Auch im Paradies gab es schon eine Schlange. Das Stärkere siegt, und das Gute ist immer stärker als das Böse.«

Dann kam der zweite Anruf, und Felix Münster erfuhr, dass Hasso von Sillberg sich mit einer Giftkapsel, die er bei sich getragen hatte, das Leben genommen hatte.

Nun würde man nie erfahren, ob er Michael hatte treffen wollen oder einen anderen aus dieser kleinen Welt, die ihm verschlossen gewesen war, weil er nicht hineingepasst hatte.

*

Lisa hatte eine lange Zeit mit geschlossenen Augen gelegen. Sabine hoffte so sehr, dass die Erschöpfung ihr Schlaf bringen würde, der sie von quälenden Gedanken befreite. Doch plötzlich richtete sich Lisa auf.

»Ich will zu Michael!«, sagte sie entschlossen. »Ich liege hier, anstatt bei ihm zu sein.«

Sie war nicht aufzuhalten. Ein ungeheurer Wille war jetzt in dem zierlichen Persönchen, das eben erst die entsetzlichsten Stunden seines Lebens durchlebt hatte.

Sie duschte und kleidete sich um. Sabine wartete. Da schob sich Jill zur Tür herein. Ängstlich sah sie Sabine an. »Ich möchte nur Lisa sehen«, flüsterte sie. »Wo ist sie?«

»Du bist doch nicht etwa allein gekommen?«, fragte Sabine erschrocken. Dabei dachte sie, wie sehr Lisa von allen geliebt wurde, auch jene Lisa, die ihre Gedanken nie in Worten hatte ausdrücken können.

»Tante Lotte hat mich gebracht«, erzählte Jill. »Ich darf nur mal hineinschauen, hat sie gesagt. Erlaubst du nicht, dass ich ihr schnell einen Kuss gebe?«

»Du musst dich noch einen Augenblick gedulden, Jill. Lisa wird gleich fertig sein. Sie will zu Michael gehen.«

Jill nickte. »Sie wird ihn gesund machen«, erklärte sie eifrig. »Wenn sie seine Hände streichelt, kann er ruhig schlafen. Ich konnte auch immer ganz schön schlafen, wenn sie meine Hände gestreichelt hat. Da hatte ich gar keine Angst mehr.«

Sie verstummte, als sich die Tür auftat und Lisa erschien. Mit ausgebreiteten Armen ging sie auf Lisa zu.

Ein heller Schein flog über Lisas Gesicht, als sich das Kind an sie schmiegte.

»Meine kleine Jill«, sagte sie zärtlich, und jetzt war ihre Stimme nicht mehr heiser. Sie gehorchte ihr und war wie ein sanftes Streicheln.

Jill betrachtete sie andächtig.

»Jetzt kann ich hören, was du denkst«, flüsterte sie. »Sonst konnte ich es immer nur fühlen.«

Wie viel drückten diese Worte aus einem Kindermund aus. Sabine hielt den Atem an.

»Ich werde ganz brav bei Tante Lotte bleiben, weil Michael dich jetzt viel mehr braucht«, erklärte Jill. »Thomas und Ulrike sind gar nicht mehr hier. Sie sind jetzt wieder zu Hause. Sonst wäre es für Schwester Meta auch zu viel.«

Guter Gott, dachte Sabine, wir haben ja noch einen Patienten.

Lotte Thewald wartete in der Halle.

Ihre Augen waren umschattet, leuchteten dann aber auf, als Lisa auf sie zutrat und sie umarmte.

»Mutter«, flüsterte sie, »nun kann ich endlich Mutter zu dir sagen.«

Tränen würgten Lotte Thewald, denn sie musste daran denken, dass nun bald die Stunde kommen würde, in der Lisa erfuhr, dass sie nicht ihre Mutter war.

»Mein Kind«, sagte sie innig. Sie hatte es oft gesagt, aber nie zuvor so bewusst wie in dieser Sekunde.

Sie hatte Lisa wie ein eigenes Kind geliebt, und so würde es bleiben.

*

Sabine und Nicolas trafen sich an der Tür zu Michaels Krankenzimmer. Sie trocknete schnell die Tränen, die in ihren Augenwinkeln standen.

»Stör sie jetzt nicht«, bat sie. »Sie hält Zwiesprache mit ihm. Er ist ganz ruhig geworden, als sie seine Hände streichelte. Wie viel Kraft sie hat!«

Und du, dachte er. Sein Herz zog sich zusammen. Noch immer wusste sie nichts. Noch waren sie abgeschirmt von der Außenwelt.

»Ich werde Schwester Meta ablösen«, fuhr Sabine nach einer kurzen Pause fort. »Frau Thewald hat das Essen gebracht. Du musst dich jetzt auch stärken, Nicolas.«

»Hast du etwas gegessen?«, fragte er besorgt.

»Ich bringe keinen Bissen herunter.

Wer war das, Nicolas? Wer hat auf Michael geschossen?«

Ahnte sie etwas? Warum fragte sie so eindringlich? Seine Kehle war trocken. Er wagte nicht, sie anzusehen.

»Du weißt es«, sagte er schleppend. »Und ich weiß es auch. Ich ahne es schon lange. Früher war hier ja Frieden. Erst seit ich hier bin …«

»Still, sprich nicht weiter!«, stieß sie hervor.

»Quäl dich nicht, Sabine, er ist tot. Er hat sein Leben selbst beendet.« Sie unterdrückte einen Aufschrei.

Ganz fest pressten sich ihre Lippen aufeinander.

»Und was ändert das?«, fragte Sabine nach einem langen Schweigen, das wie eine Mauer zwischen ihnen stand. »Ich bringe dir kein Glück«, fuhr sie fort. »Es war nur ein Traum mit einem bitteren Erwachen.«

*

Er musste ihr auch jetzt wieder Zeit lassen. Mit Worten konnte man nichts erreichen. Wer wusste das besser als er. Nicolas hatte André eingeweiht. Erfahren würde er es ja doch, und es war besser, wenn er es aus seinem Mund erfuhr.

»Scheußliche Geschichte«, sagte André. »Weiß es Sabine schon?«

»Ja, würdest du ab und zu nach ihr sehen? Sie ist bei Peter.«

»Braucht sie dich jetzt nicht mehr, Nicolas?«

»Ich fürchte, sie ist weiter denn je von mir entfernt.«

»Vielleicht fürchtet sie, dass der Schatten dieses Mannes zwischen euch steht«, meinte André bedächtig.

»Ich befasse mich nicht mit Schatten, und ich möchte auch keinen in unser Leben einbeziehen. Er ist tot, und Michael wird leben. Allein das gilt. Es ist doch absurd, wenn Sabine Schuld bei sich sucht.«

»Willst du ihr nicht helfen?«, fragte André verwundert.

»Sie wird sich nicht helfen lassen wollen, also muss sie allein damit fertig werden. Wir werden morgen noch mehr Arbeit bekommen, André. Ich muss noch einige Dispositionen treffen. Wenn du mich brauchst, ich bin in meinem Arbeitszimmer.«

Und dort blieb er bis Mitternacht.

Dann ging er doch noch einmal zu dem kleinen Peter.

Regungslos saß Sabine an seinem Bett und beobachtete ihn. Sie hob auch nicht den Kopf, als Nicolas eintrat.

»Willst du dich nicht niederlegen?«, fragte er sanft.

Sie schüttelte den Kopf.

»Es könnte etwas Unvorhergesehenes passieren«, sagte sie leise.

»Es wird nichts passieren. Er wird schlafen.«

»Man weiß doch nie, was die nächste Stunde bringt.«

Aber die Nacht ging vorbei, ohne dass etwas geschah. Schwester Meta löste Sabine ab und Lotte Thewald Lisa. Sie waren beide so erschöpft, dass sie kein Wort mehr sprachen.

*

Erst am übernächsten Tag erwachte Michael aus der Bewusstlosigkeit.

Wie heiß hatte Lisa diesen Moment ersehnt. Ihre Augen hingen an seinem Gesicht, und sie beobachtete, wie sich die Lider millimeterweise hoben.

»Lisanne«, flüsterte er, als sie sich über ihn beugte.

»Michael«, hauchte sie.

Der Schein eines Lächelns erschien auf seinem Gesicht.

»Du, ich kann dich hören, Lisanne.

Träume ich?«

»Du darfst nicht so viel reden«, mahnte sie.

Grübelnd blickte er sie an. Sie spürte, wie angestrengt er nachdachte.

»Du sprichst mit mir«, sagte er ungläubig.

»Ich werde sehr viel mit dir sprechen, wenn es dir besser geht. Pst!« Sie legte ihren Finger auf seine Lippen.

Mit einem ungläubigen Lächeln schlief er wieder ein, und es blieb lange auf seinem Gesicht.

Später, als Nicolas kam, lächelte auch Lisa.

»Michael hat mit mir gesprochen«, flüsterte sie.

Nicolas fühlte seinen Puls. »Er schläft jetzt ganz ruhig«, bemerkte er. »Ich muss mit dir sprechen.«

»Sag nicht, dass ich mich ausruhen soll«, begehrte sie auf. »Ich bleibe bei ihm!«

»Du kannst nachher wieder zu ihm gehen. Es gibt jetzt auch noch etwas anderes, was dich bewegen wird, Lisanne.«

»Es gibt nichts, was mir wichtiger wäre als Michael.«

»Auch nicht Jill?«

»Was ist mit Jill?«, fragte sie erschrocken. »Ist sie krank?«

»Sie spielt ganz friedlich, aber was ich mit dir zu reden habe, geht sie an. Lassen wir Michael schlafen. Du wirst dich bald mit ihm unterhalten können. Er hat eine Konstitution wie ein Bär.«

Darauf hatte er gebaut, aber erst heute bekam er die Bestätigung dafür. Es erleichterte ihn. Lisa hatte er seine gewaltigen Sorgen nicht spüren lassen.

Sie folgte ihm nur zögernd in sein Arbeitszimmer.

»Ich habe Jill vernachlässigt«, sagte sie entschuldigend. »Aber sie wird es verstehen.«

»Darum geht es nicht. Ich bekam heute einen Brief. Das heißt, es waren drei Briefe. Einer war an André gerichtet, einer an Michael und einer an mich. Aber sie haben nie den gleichen Inhalt, nur wollte der Absender ganz sichergehen, dass einer von uns diesen Brief auch erhält.«

»Was hat das mit Jill zu tun?«, fragte sie verwundert.

»Du erinnerst dich an jenen Morgen am Genfer See? André hat mir davon erzählt. Eine junge Frau rief den Namen Jennifer.«

»Ja, ich erinnere mich.« Fragend sah sie ihn an.

»Aller Wahrscheinlichkeit nach war es Jills Mutter«, erklärte er.

»Aber ihre Mutter ist ums Leben gekommen«, rief Lisa. »Es war ein schreckliches Unglück, Nicolas. Es hat mich sehr bewegt und mich an etwas erinnert, was weit zurückliegt.«

Seine Brauen schoben sich zusammen, und augenblicklich war ihm Lisa noch wichtiger als Jill.

»Du meinst den Brand, als du noch ein kleines Mädchen warst«, bemerkte er gedankenverloren. »Hast du dich daran erinnert?«

»Ja, es war ein Brand, und jemand holte mich aus dem Zimmer. Es war nicht Maman!« Sie hielt inne und lauschte diesem Wort nach. »Was habe ich eben gesagt?«, fragte sie.

»Jemand holte dich aus dem Zimmer, und es war nicht Maman«, wiederholte er betont.

»Maman? Wie komme ich auf Maman?«

»Weil du sie so genannt hast, Lisanne.

Du warst mit deiner Mutter in einem Hotel, in dem ein Brand ausbrach. Du wurdest gerettet, aber du hattest durch den Schock die Sprache verloren. Du warst gerade drei Jahre alt.«

War es nicht doch zu viel, was er ihr zumutete? War es nicht unverzeihlich, ihr so viel abzuverlangen?

»Wir können ein andermal darüber sprechen«, sagte er. »Verzeih, Kleines.«

»Nein, ich will es wissen! Es ist doch ständig in meinen Gedanken. Ich sitze an Michaels Bett und denke nach. Und ich kann keine Zusammenhänge finden. Sage es mir, Nicolas! Es hat mich doch auch früher schon gequält, aber ich konnte keine Fragen stellen.«

»Deine Mutter kam damals ums Leben, Lisanne. Ja, Lisanne bist du getauft worden, Lisanne de Chan­telle. Dein Vater brach zusammen, als er von dem Unglück hörte. Er wusste nicht, dass du gerettet worden warst. Er hat deine Maman sehr geliebt und wollte ohne sie nicht leben. Er ahnte nicht, dass seine kleine Tochter allein zurückbleiben würde. Gräfin Josette, deine Patin, brachte dich zu den Thewalds, weil sie hoffte, dass du in einer anderen Umgebung den Schock überwinden würdest.«

Er hatte schnell gesprochen, damit nicht jedes Wort gleich in ihr Bewusstsein dringen würde. Und alles begriff sie auch nicht, nur eines.

»Dann sind Vater und Mutter gar nicht meine richtigen Eltern?«, fragte sie.

Er zögerte. »Sie haben sich bemüht, dir deine Eltern zu ersetzen«, erklärte er. Was würde sie darauf nun wohl erwidern?

»Ich habe sie lieb«, sagte Lisa bebend. »Sie werden doch nicht denken, dass ich sie weniger lieb habe, jetzt …«

Sie konnte nicht mehr weitersprechen. So wie früher, wenn sie sich ihrer Hilflosigkeit bewusst wurde und nicht ausdrücken konnte, was sie fühlte, legte sie ihren Kopf an seine Schulter.

»Sie müssen doch wissen, dass ich sie immer lieb haben werde«, schluchzte sie auf.

»Darüber werden sie sehr glücklich sein, Lisanne«, meinte er voller Wärme. »Ich habe nie daran gezweifelt, dass du so fühlen würdest, auch wenn du unter deinem richtigen Namen ein neues Leben beginnst. Davon abgesehen, dass du sicher bald einen anderen tragen wirst«, fügte er nachdenklich hinzu. »Die Comtesse de Chantelle braucht aber keine Angst zu haben, dass sie Michael von Jostin nicht ebenbürtig sein wird.«

»Kannst du in mich hineinschauen, Nicolas?«, fragte sie staunend. »Wieso weißt du, was ich denke?«

»Ich kenne dich schon so lange, und ich habe gelernt, in deinen Augen zu lesen.«

Sie schwieg, und er ließ ihr Zeit. Er hatte etwas ganz anderes mit ihr besprechen wollen, und nun hatte sich ihr eigenes Schicksal in den Vordergrund gedrängt. Doch sie vergaß Jill nicht darüber.

»Du hast von Jills Mutter gesprochen, Nicolas«, bemerkte sie nach diesem gedankenvollen Schweigen. »Es ist wohl wichtiger als ich.«

Das war die Lisa, die jeder lieben musste, weil sie sich selbst niemals wichtig genommen hatte, die so unendlich viel Liebe zu verschenken hatte.

»Jene Frau, die mit Jills Vater bei dem Unglück ums Leben kam, war seine zweite Frau, wenn alles, was in diesem Brief steht, Gültigkeit hat. Er ist mit dem Kind kurz vor der Scheidung auf und davon gegangen, weil er wusste, dass es der Mutter zugesprochen würde. Aber lies es selbst, Lisanne, wenn du ruhiger geworden bist. Ich habe dir ein bisschen sehr viel zugemutet.«

Sie lächelte zu ihm empor, dieses hinreißende Lächeln, das sie schon früher unwiderstehlich machte und auf das Sabine so eifersüchtig gewesen war.

»Was uns nicht umbringt, macht uns stärker«, erklärte sie. »Du hast es mir immer wieder gesagt, Nicolas. Ich habe dir so viel zu verdanken. Ich werde den Brief lesen, wenn ich wieder an Michaels Bett sitze, aber sprich du bitte mit Jill. Du kannst das viel besser als ich.«

*

Wahrscheinlich musste alles so kommen, dachte Nicolas, als er zum Verwalterhaus ging. Tante Josettes Testament, das ihnen konkrete Entscheidungen abverlangte, die dann zur Folge hatten, dass Sabine ihre Verlobung mit Hasso von Sillberg löste. Dann dieses Autobusunglück, das die verwaisten Naumann-Kinder ins Haus brachte, die nun ein neuer Lebensinhalt für die Thewalds wurden, wenn Lisanne eines Tages mit Michael fortging. Dass es so kommen würde, bezweifelte er nicht. Dann Li­sannes Aufenthalt in Dr. Valderes Sanatorium, auf den er selbst alle Hoffnungen setzte und der am Ende Michael und Lisa zusammenführte und sie beide mit der kleinen Jill, um die es jetzt ging.

Verworren waren die Fäden des Schicksals, fein gesponnen und manchmal ein undurchdringliches Netz, in dem sie gefangen wurden.

Auch Hasso von Sillberg hatte eine Rolle dabei gespielt, die bedeutungsvoll für das Gute geworden war, wenngleich er nur Böses beabsichtigt hatte. Durch seine Tat hatte Lisa die Sprache wiedergefunden!

Unerforschlich war der weise Ratschluss des Allmächtigen, der über ihnen herrschte, unantastbar und in vielem nicht begreiflich. Erst die Jahre, die vergingen, brachten die Erkenntnisse, wie das zu bewerten war, was manchmal so elementar in ihr Dasein eingriff.

Er fand Jill, unbefangen mit den drei Kindern spielend und nicht ahnend, wie ein Zufall auch in ihr kleines Leben eingriff, ein Zufall, den auch göttlicher Wille herbeigeführt haben musste.

Auch wenn man von einem Zufall sprach, musste man schon andere mit einbeziehen, denn nie wäre Jill an jenem Tag an den Genfer See gekommen, wenn nicht das Unglück geschehen wäre, wenn Michael sie nicht zu Valdere gebracht und sie dort Lisa gefunden hätte.

Es war eine Kette, die sich eines Tages zu einem Kreis schließen würde. So, wie es von einer weisen Vorsehung bestimmt war!

*

Jill war gar nicht betroffen, als Nicolas sie in den Arm nahm und ihr sagte, dass er sich mit ihr unterhalten wolle. »Weißt du jetzt, wo der Seerosenteich ist«, fragte sie, »und das Haus mit den Blumen?«

»Vielleicht wirst du es bald wiedersehen, Jill«, entgegnete Nicolas. »Wünschst du dir das?«

»Die Granny möchte ich gern wiedersehen. Ist sie noch in dem Haus?«

Wenn sie sich an die Granny erinnerte, musste sie sich doch auch an ihre Mutter erinnern können! Warum sprach sie nicht von ihr?

»Und deine Mami, Jill?«, fragte er gedankenvoll.

»Dad hat gesagt, sie kommt nie mehr zu mir, weil sie mit einem anderen Mann weggegangen ist. Darum ist Janet mit uns gefahren. Dad hat immer gesagt, dass Janet nun meine Mami sei, aber sie war nicht lieb mit mir. Sie wollte, dass Dad mich zu Mami bringt. Weißt du, was sie an dem Abend getan hat?«

»Nein, das weiß ich nicht, Jill.«

»Willst du es wissen?«

»Wenn du es mir erzählen willst?«

»Sie war wütend«, berichtete Jill. »Sie war oft wütend. Ich habe es satt, hat sie gesagt. Schick Jill zu ihrer Mutter, hat sie auch gesagt. Und dann hat sie mich gestoßen, und ich bin aus dem Wohnwagen gefallen. Und dann habe ich mich versteckt, weil ich solche Angst hatte und sie immer noch so geschimpft hat.«

Und das hatte Jill das Leben gerettet, damit eine unglückliche Mutter nun bald ihr so lange entbehrtes Kind in die Arme schließen konnte.

»Deine Mami hat Sehnsucht nach dir, Jill«, bemerkte er. »Woher weißt du das?«

»Weil sie es mir geschrieben hat.«

»Aber sie ist doch mit einem Mann weggegangen.«

»Dieser Mann wird dich sehr lieb haben.«

»Streitet er nicht mit Mami, wie Janet mit Dad?«

»Nein, er möchte, dass du zu ihnen kommst, damit deine Mami wieder lachen kann.«

»Ich möchte aber lieber Granny wiedersehen«, sagte Jill zaghaft.

»Du wirst sie bald wiedersehen«, versprach er.

»Und das Haus und den Seerosenteich auch?«, fragte sie aufgeregt.

Davon hatte Manja Bürkle nichts geschrieben. Aber Nicolas hoffte, dass auch dieser heiße Wunsch des Kindes in Erfüllung gehen möge.

»Wir werden es bald wissen, Jill«, meinte er gedankenvoll.

*

Lisanne hatte Manja Bürkles Brief gelesen und auch das, was zwischen den Zeilen stand, begriffen. Ihr Blick ruhte noch immer auf dem Briefbogen.

»Sprich mit mir, Lisanne«, tönte Michaels Stimme an ihr Ohr. »Ich habe geträumt, dass du mit mir gesprochen hast.«

Der Bogen entglitt ihren Händen. Sie neigte sich zu ihm herab. Ihre Lippen legten sich an sein Ohr.

»Du hast es nicht geträumt, Michael. Ich habe mit dir gesprochen. Du bist wieder eingeschlafen.«

»Jetzt bin ich wach. Ich sehe dich, ich fühle dich, ich höre dich. Und du sagst, es ist kein Traum.«

Er wollte seine Hand heben, aber mit einem leisen Stöhnen ließ er sie zurücksinken.

»Nicht bewegen!«, sagte sie erschrocken. »Oh, ich bin eine schlechte Krankenpflegerin.«

»Wieso bin ich krank?«, fragte er. »Weißt du nicht, was geschehen ist?«

»Nein! Oder doch? Ich wollte mit dir spazieren gehen, Lisanne.«

Das war schon fast eine Woche her, aber für ihn war die Zeit zusammengeschmolzen. Er wusste nicht, dass man tagelang um sein Leben gebangt hatte.

»Da war doch etwas mit einem Kind, das aus dem Fenster gestürzt war«, erinnerte er sich.

»Ja, es geht dem kleinen Peter schon wieder ganz gut«, bemerkte sie.

Eine steile Falte erschien auf seiner Stirn.

»Aus dem Fenster bin ich jedenfalls nicht gefallen«, sagte er ironisch. »Es war … Allmächtiger! Nein, das kann nur ein Albtraum gewesen sein.«

Lisanne wusste, dass er sich erinnerte und dass er Hasso von Sillberg gesehen haben musste.

»Grüble nicht, Michael«, bat sie. »Du musst erst gesund werden.«

»Aber versteh doch, Lisanne, es war Sillberg! Er rennt hier mit einem Gewehr herum, und er hat auf mich geschossen!«

»Er wird nicht mehr herumrennen und schießen. Er ist tot«, erklärte sie. »Jetzt wird hier wieder Frieden sein, und du wirst gesund werden, Michael.«

»Ich begreife so vieles noch nicht«, sagte er stöhnend.

»Es ist auch schwer, das zu begreifen, aber …«

Sie hielt inne, denn die Tür tat sich auf. Es war André.

»Entschuldigt bitte, aber du wirst dringend benötigt, Lisa. Jills Angehörige sind gekommen.«

Lisanne fing einen bestürzten Blick von Michael auf.

»Auch das werde ich dir später erklären«, versprach sie.

»Das kann ich ja tun, während ich Michael Gesellschaft leiste«, meinte André lächelnd.

*

Nicolas wartete auf Lisanne.

»Ich habe mit Jill gesprochen und ihr erklärt, was in dem Brief stand. Es ist aber wohl doch besser, wenn du jetzt bei ihr bist. Sie hat bestimmte Vorstellungen von ihrer frühen Kindheit, und noch weiß man nicht, ob sie sich erfüllen.«

»Wo sind sie?«, fragte Lisanne.

»Bei Sabine, Jill ist noch hier.« Unbefangen lachte das Kind Lisanne an.

»Der Nicolas hat mir eine schöne Geschichte erzählt, Lisa«, sprudelte es über ihre Lippen. »Hast du jetzt Zeit? Kann ich sie dir auch erzählen?«

»Wir gehen jetzt mal zu Sabine«, sagte Lisa.

»Dann kann ich sie ihr auch gleich erzählen. Sabine ist jetzt immer so traurig. Was hat sie denn?«

»Sie hat sich große Sorgen um Michael gemacht.«

»Du aber auch.« Sie trippelte neben Lisa her und plauderte unbekümmert. »Meine Mami hat Sehnsucht nach mir. Es stimmt gar nicht, dass sie nichts von mir wissen will. Nicolas hat es mir erzählt. Ich weiß gar nicht mehr richtig, wie meine Mami aussieht. Ist das schlimm, Lisa?«

Nun würde sie sie bald wiedersehen, und Lisa fragte sich, wie sie dann reagieren würde.

Sie hatte ein wenig Angst vor dieser Begegnung, der sie mit jedem Schritt näher kamen. Geschah das nicht zu überstürzt? Aber konnte man einer Mutter, die ihr Kind Jahre vermisst und schmerzlich gesucht hatte, verdenken, dass sie keinen Tag mehr verstreichen lassen wollte?

»Es ist so schön, dass du sprechen kannst, Lisa«, sagte Jill. »Dann kann ich doch mal mit dir telefonieren, wenn ich bei meiner Granny bin. Du bleibst doch meine allerliebste Lisa.«

Bis die Liebe der anderen mich verdrängt, dachte Lisa. Aber das war kein wehmütiger Gedanke. Jill hatte eine Mutter, und es war nur gerecht, wenn sie nun den ersten Platz im Herzen ihres Kindes einnehmen würde.

Doch schon im nächsten Moment kamen Lisa bange Zweifel, dass dies so sein würde, denn Jill blieb plötzlich stehen und blickte intensiv zu dem breiten Fenster von Sabines Wohnraum, an dem eine weißhaarige Dame stand.

Ein spitzer Schrei löste sich aus ihrer Kehle.

»Granny!«, rief sie dann. »Das ist meine Granny!«

Sie riss sich los von Lisas Hand und begann zu laufen. Und als sie das Haus erreicht hatte, tat sich auch schon die Tür auf, und Jill wurde liebevoll von zwei Armen aufgefangen. Doch es war ein junges Gesicht, umgeben von braunen Haaren, das sich zu ihr herabneigte.

Lisa blieb zurück. Ihr Herz klopfte schnell und in banger Erwartung.

»Mein Kind, meine geliebte kleine Jill«, flüsterte Manja Bürkle bebend.

»Früher hast du immer Jennifer gesagt, Mami. Jetzt erkenne ich dich doch wieder«, sagte Jill.

Der Bann war gebrochen, wenngleich Jill keine Zeit hatte, sich schon jetzt länger mit ihrer Mutter zu befassen, denn in der anderen Tür stand ihre Granny, der Tränen des Glücks über die Wangen rannen.

»Wohnst du noch in dem Haus mit den vielen Blumen, Granny?«, fragte Jill atemlos. »Hast du den Seerosenteich noch?«

»Ja, mein Liebling«, antwortete die alte Dame. »Alles wartet darauf, dass du wieder heimkommst.«

Und noch jemand wartete, dass Jill auch Notiz von ihm nehmen würde, Donald Bürkle, der sich bis jetzt ganz im Hintergrund gehalten hatte.

Er musste sich in Geduld fassen, und vielleicht würde es auch noch einige Zeit brauchen, bis Jill ihn in ihr Leben einbezog.

Jill sah ihn forschend an und schenkte auch ihm dann ein Lächeln, das ihn ahnen ließ, dass er nicht lange auf die Zuneigung würde warten müssen.

*

Nicht nur von dieser dramatischen Familienzusammenführung war Michael von André unterrichtet worden, sondern auch davon, wie Lisa ihre Stimme wiedergefunden hatte.

»Die Angst um dich hat vollbracht, worum Nicolas in all den Jahren vergeblich gerungen hat«, sagte er. »Du verdankst diesem Umstand dein Leben, Michael.«

»Es gehört Lisanne«, äußerte Michael gedankenvoll. »Ich möchte mit ihren Eltern sprechen.«

Dass noch mehr Überraschungen auf ihn warteten, sollte Lisanne ihm selbst erzählen. Sie ließ sich Zeit damit.

Von Tag zu Tag hatte sich die Klinik mehr und mehr gefüllt. Auch sie konnte sich jetzt nicht ausschließlich um Michael kümmern.

Jill war in den Schoß ihrer Familie zurückgekehrt. Ein paar Tränen waren schon geflossen, als sie von ihrer Lisa Abschied nahm, die versprechen musste, sie in dem Haus am Seerosenteich zu besuchen.

Andere kleine Patienten wollten nun betreut werden, und bis das Pflegepersonal vollständig war, mussten Lisa und Sabine tüchtig zugreifen.

Alle Befürchtungen, dass Hasso von Sillbergs unheilvolles Treiben einen Schatten auf den Beginn in der Sternsee-Klinik werfen würde, erwiesen sich als überflüssig. Nur die Eingeweihten wussten um die Hintergründe, die anderen glaubten noch immer an den Wilderer, dem nun das Handwerk gelegt worden war. Der Frieden war zurückgekehrt.

Der Gruber-Bauer hatte sein Wort gehalten und seinen Wald der Gemeinde Erlenried überschrieben. Er hatte sich damit auf seine alten Tage vollends die Zuneigung seiner kleinen Freundin Bambi gesichert, die so furchtlos sein verhärtetes Herz erweicht hatte.

Jonny war wieder der friedfertigste Hund, der fröhlichste Spielkamerad der Kinder, die ohne Angst im Wald herumstreifen konnten und ihr Paradies wiedergefunden hatten.

Alois Frenzel und Ilse Eigner hatten ihr Aufgebot bestellt. Thomas war versöhnt mit einem Schwesterlein und fand es jetzt schon ganz niedlich. Zum Reden und Spielen hatte er ja Ulrike, die oft bei ihnen war, während ihre Mutter fleißig ihr neues Heim einrichtete. Die Vernunft hatte auch hier über Vorurteile gesiegt.

Ein dankbares Ehepaar konnte den kleinen Peter Grandel völlig genesen aus der Sternsee-Klinik heimholen. Mit ihm ging wieder ein Stück Erinnerung an einen schreckensvollen Sonntag.

Und auch Michael zog um in das Haus seiner Schwester.

»In einer Kinderklinik fühle ich mich fehl am Platz«, erklärte er.

Er meinte auch, dass es endlich Zeit würde, Klarheit über seine und Lisannes Zukunft zu schaffen. Aus diesem Grund war er doch eigentlich hierhergekommen.

Sabine überraschte ihn, als er vor dem Spiegel stand und etwas mühsam seine Krawatte band.

»Du sollst dich noch nicht anstrengen!«, sagte sie mahnend.

»Ich kann nicht im Pyjama um Lisannes Hand anhalten«, erwiderte er sarkastisch.

»Das läuft dir doch nicht davon«, bemerkte sie lächelnd, aber dieses Lächeln erreichte ihre Augen nicht, die immer einen melancholischen Ausdruck hatten.

»Liebe Sabine, ich bin diesbezüglich ein schrecklich altmodischer Mensch. Ich bin hierhergekommen, um mir das Jawort ihrer Eltern zu holen. Missliche Umstände haben mich daran viel zu lange gehindert. Ich will nicht, dass Lisanne sich als Krankenschwester unentbehrlich macht und ihre ganze Liebe an fremde Kinder verschwendet.«

»Egoist«, sagte sie scherzend. »Ihre Liebe gehört doch dir, ihre Fürsorge den Kindern und ihre Dankbarkeit Nicolas.«

»Sie wird meine Frau, und ich werde sie mitnehmen. Ich liebe sie und will sie für mich haben.«

»Mit Haut und Haaren«, meinte Sabine nachdenklich. »Oh, wir Jostins!«

»Was willst du damit sagen?«

Sie wandte sich um. »Ich habe wohl schon zu viel gesagt. Für dich mag das gar keine Gültigkeit haben. Und für mich wird es keine mehr bekommen.«

»Aus dir soll man klug werden. Willst du etwa Buße tun für Sillberg?

»Es wäre alles nicht geschehen, wenn ich nicht diesen entsetzlichen Fehler gemacht hätte«, flüsterte sie.

»Er hat für seine Schuld auf seine Weise bezahlt oder wie man immer das nennen will. Und ich stehe gesund vor dir und werde eine Frau bekommen, die lachen, reden und singen kann. Sieh es doch einmal so, Sabine. Der Nächstenliebe sind hier keine Grenzen gesetzt. Aber ein resignierter Mensch kann anderen nicht viel geben, vor allem nicht kranken Kindern, die fröhliche Worte brauchen. Und noch eins: Mach es Nicolas nicht so schwer!«

Da lief Sabine aus dem Zimmer.

*

Lisanne sah Michael aus dem Verwalterhaus kommen. Sie lief ihm, ohne zu überlegen, entgegen.

»Du kannst doch nicht herumrennen!«, sagte sie besorgt.

»Ich renne nicht. Ich gehe ganz langsam«, erwiderte er lächelnd.

»Du weißt doch, dass ich um diese Zeit noch in der Klinik bin«, meinte sie verwundert.

»Eben. Deshalb habe ich bei deinen Eltern um deine Hand angehalten, damit du mich nicht wieder daran hindern kannst.«

Ihre Augen weiteten sich. Verwirrung malte sich auf ihrem reizvollen Gesicht.

»Haben sie dir nicht gesagt, dass sie gar nicht meine Eltern sind, Michael?«, fragte sie bebend.

»Doch, sie haben mir alles gesagt, ma petite. Aber ich denke doch, dass sie sich ein Anrecht darauf erworben haben, als deine Eltern zu gelten. Meinst du das nicht auch, Lisanne?«

Sie nickte und blickte mit leuchtenden Augen zu ihm empor.

»Es ist schön, dass du das sagst«, flüsterte sie.

»Hast du etwas anderes erwartet?

Wir werden unsere Hochzeit hier feiern, mit ihnen und ihren neuen Kindern. Sie werden uns besuchen, und wir werden sie besuchen. Für mich ist es völlig gleichgültig, welchen Namen meine geliebte kleine Lisanne früher einmal getragen hat, da sie nun doch bald eine Jostin sein wird.«

»Geliebter Michael«, sagte sie zärtlich, »ich bin so glücklich!«

*

Sabine machte ihre abendliche Runde durch die Krankenzimmer. Alle waren sie belegt. Die meisten Kinder schliefen, doch hin und wieder griff eine kleine Hand nach ihr und hielt sie fest.

»Bleib noch ein bisschen da, Sabine.« – »Erzähl mir noch eine Geschichte, Sabine.« – »Ich habe Durst, Sabine.«

Nichts wurde ihr zu viel. Sie war glücklich über die Zuneigung, die ihr entgegenschlug. Sie fand aufmunternde Worte und zeigte eine fröhliche Miene.

Sie verlor die Angst, mit anderen zu reden, denn niemand äußerte ein Wort über Hasso von Sillberg. Sie wich auch Nicolas nicht mehr aus. Er wartete jeden Abend auf sie und begleitete sie dann durch den Park zu ihrem Haus. Auch heute, obgleich sie sich lange bei den Kindern aufgehalten hatte.

»Du verwöhnst sie ganz hübsch, Sabine«, meinte Nicolas.

»Sie haben Schmerzen oder Heimweh«, äußerte sie entschuldigend. »Ich bin glücklich, wenn sie mich brauchen, Nicolas.«

»Ich brauche dich auch, Sabine.« Seine Finger umschlossen ihr Handgelenk. Wie lange war es her, dass er es gewagt hatte? Ihr erschien es wie eine Ewigkeit. Aber sie gestand sich ein, dass ihre eigene Haltung schuld daran war.

»Sandra hat angerufen«, sagte sie verhalten. »Die Zwillinge fragen, warum der Dotto nicht mehr kommt. Wenn du einmal Zeit hast, sollen wir sie doch besuchen.«

»Dann werden wir uns diese Zeit nehmen«, erwiderte er, und seine Stimme klang froh. »Wenn ich gebraucht werde, kann ich in ein paar Minuten zur Stelle sein. Es ist doch nicht aus der Welt. André ist ja auch noch da.«

Von irgendwoher vernahmen sie Lisas und Michaels Lachen. Anscheinend genossen sie auch noch den Abend, der beinahe frühlingshaft mild war.

»Sie sind glücklich«, bemerkte Sabine leise. »Nun werden sie uns bald verlassen.«

Sein Atem ging schneller. Sie spürte seinen warmen Mund an ihrer Schläfe. »Aber du wirst bleiben, Sabine.«

»Ja, ich werde bleiben. Ich gehöre hierher.«

»Und zu mir«, sagte er.

»Willst du mich denn noch haben, Nicolas?«, fragte sie mit erstickter Stimme.

Seine Arme umschlossen sie, fest und beschützend, und ein langer Kuss erlöste sie von diesem letzten Zweifel.

Sie würde sein Leben teilen, seinen kleinen Patienten alle Liebe geben, die sie zur Genesung brauchten, ohne dass es die Liebe schmälern würde, die diesem Mann gehörte, ohne den ihr Leben nicht mehr denkbar war.

Im Sonnenwinkel Staffel 3 – Familienroman

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