Читать книгу Im Sonnenwinkel Staffel 3 – Familienroman - Patricia Vandenberg - Страница 9

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»Es war dunkel, als die schlanke junge Frau die Bahnhofshalle verließ. Sie hatte gewartet, bis diese sich völlig geleert hatte, bevor sie ins Freie trat.

Es kehrte schon wieder Stille ein auf dem Bahnhofsplatz von Hohenborn. Ein letztes Auto fuhr eben weg. Ein Taxi war weit und breit nicht zu sehen.

Es war nicht viel anders als früher, vor zehn Jahren, als ein junges Mädchen die Reise in die weite Welt antrat. Wenigstens hier, in der Umgebung des Bahnhofs.

Aber es hatte sich doch manches in Hohenborn verändert, wie sie, die sich als Fremde fühlte, feststellen konnte. Auf dem Marktplatz, den sie nach zehn Minuten erreichte, sah es ganz anders aus. Das Hotel »Zur Post« war nicht wiederzuerkennen. Die Fassade, einst verwittert und grau, wirkte direkt vornehm. Die neuen Geschäfte, die Lokale, dies alles war jener jungen Frau unbekannt, und sie hoffte, daß auch sie niemand erkennen würde.

Sie betrat die Halle des Hotels »Zur Post.« Ein weicher Teppichboden, bequeme Sessel, schöne Vorhänge, alles sehr gediegen, nicht billig. Doch da, an der Rezeption, ein junges Mädchen, ein Gesicht, das sie kannte, oder das Ebenbild eines andern Gesichts, das jetzt viel älter sein mußte, zehn Jahre älter!

Es kostete sie dennoch Überwindung, näher zu treten, und wäre sie nicht zu müde gewesen, wäre sie wieder umgekehrt.

»Kann ich bitte ein Zimmer haben?« fragte sie mit wohlklingender Stimme.

Zwei helle Augen musterten sie rasch und forschend.

»Zufällig ist eins frei geworden«, erwiderte die helle Mädchenstimme. »Es hat aber nur eine Dusche.«

»Das ist mir recht.«

»Würden Sie sich dann bitte eintragen, gnädige Frau?«

Das Mädchen schob ihr einen Block hin.

Mit steifen Fingern, die ihr nicht gehorchen wollten, schrieb sie den Namen »Ria Burg«.

»Meine Koffer sind noch auf dem Bahnhof«, bemerkte sie leise. »Es war kein Taxi aufzutreiben.«

»Ja, sie sind bei uns rar«, sagte das Mädchen. »Kurt kann die Koffer holen, wenn es Ihnen recht ist. Kurt ist mein Bruder.«

»Heli, komm doch mal!« rief eine weibliche Stimme, bei deren Klang Ria Burg zusammenzuckte.

»Da ist gerade ein Gast gekommen, Mama«, entgegnete das Mädchen.

Eine Frau in mittleren Jahren erschien, das ältere Ebenbild des Mädchens, das Gesicht, das Ria Burg vorhin zu sehen meinte, weil sie für einen Augenblick die zehn Jahre zwischen damals und heute vergessen hatte.

Wieder fühlte sie sich gemustert, und diesmal stockte ihr Herzschlag.

Aber nicht ein einziges Zeichen des Erkennens war in den Augen der anderen zu lesen.

»Ich hoffe, Sie werden sich bei uns wohl fühlen, gnädige Frau«, sagte Maria Dosch, die Besitzerin des Hotels »Zur Post«, in ihrem breiten Dialekt.

»Danke, das werde ich«, erwiderte Ria Burg erleichtert.

»Kurt kann doch gleich mal die Koffer der gnädigen Frau holen, Mama«, meinte Heli Dosch.

»Ja, sofort.«

Ria Burg reichte ihr den Aufbewahrungsschein. Maria Dosch nahm ihn mit einem Lächeln entgegen.

»Mein Sohn muß sich beeilen, sonst machen sie den Bahnhof zu«, äußerte sie. »Bei uns geht es geruhsam zu, aber das werden Sie noch merken, wenn Sie länger bleiben.«

»Doch, ich denke, daß ich einige Tage bleiben werde«, sagte Ria Burg. Wenn mich niemand erkennt, dachte sie weiter.

*

Das Zimmer war sehr hübsch und geräumig. Das Hotel mußte erst kürzlich renoviert worden sein. Alles sah noch sehr neu aus. Und damals vor zehn Jahre, als Josef Dosch gerade gestorben war, hatte man davon gerade gesprochen, daß seine Frau Maria den Gasthof – damals war es noch einer – kaum würde halten können.

Ja, es mußte sich schon manches in Hohenborn verändert haben. Heli war zu jener Zeit elf Jahre gewesen. Und Kurt? Der war fünfzehn und ein richtiger Lausbub, der mit seinen Streichen die Stadt in Atem hielt.

Jetzt war er ein erwachsener Mann, breitschultrig, aber schlank. Er sah recht gut aus und war mit städtischem Schick gekleidet. Er gab sich ganz als junger Hotelier, der sich jedoch nicht scheute, den Gästen in jeder Form gefällig zu sein.

»Wird sofort erledigt, gnädige Frau«, erklärte er höflich. »Ich bin in ein paar Minuten zurück. Und falls Sie Wünsche haben, sagen Sie es nur der Heli. Sie macht das dann schon.«

Die gute Maria scheint wenigstens mit ihren Kindern Glück gehabt zu haben, dachte Ria Burg, die unter richtigem Namen als Viktoria Lindberg in Hohenborn aufgewachsen war und deren bitteres Schicksal, das mit einer glanzvollen Karriere begonnen hatte, wohl jeder hier noch in Erinnerung hatte, denn daß es durch die Zeitungen gegangen war, hatte Viktoria Lindberg, die sich nun Ria Burg nannte, nicht verhindern konnte.

Sie wollte jetzt nicht daran denken. Nicht, bevor sie eine Nacht richtig geschlafen hatte. Die Erinnerungen kamen dann schon von selbst, und sie hatte es mit ihrer Rückkehr nach Hohenborn herausgefordert.

Kurt Dosch brachte schon die Koffer. Ria bedankte sich.

»Wenn Sie speisen wollen, gnädige Frau, wir können heute mit einem ganz delikaten Hasenrücken dienen.«

Nun hatte sie plötzlich Appetit. Hasenrücken – guter Gott, wie lange hatte sie den nicht mehr gegessen, weil er sie immer an die Heimat erinnert hatte. Aber nun war sie ja hier.

»Das ist wunderbar«, sagte sie. »Ich mache mich nur ein wenig frisch. Dann komme ich herunter.«

Maria Dosch hatte sie nicht erkannt, also würde auch niemand anders sie erkennen. Das machte ihr Mut.

Sie betrachtete sich eingehend im Spiegel, nachdem sie geduscht hatte.

Wer sollte denn dieses Gesicht noch erkennen, das acht Operationen hinter sich hatte. Es war nichts mehr von Viktoria Lindberg übriggeblieben. Nur zwei kleine Narben verrieten, wie schrecklich entstellt sie vor einem Jahr gewesen war.

Ihre Augenlider waren noch immer ein wenig geschwollen. Deswegen trug sie eine Brille mit dunkelgetönten Gläsern, mit der sie wie eine Gouvernante wirkte. Aber das wollte sie auch.

Nur das Haar war das gleiche geblieben, wundervolles aschblondes Haar, das sie in einem Nackenknoten trug.

Natürlich hatte man auch nicht die Augenfarbe verändern können, aber die konnte man hinter den getönten Gläsern ohnehin nicht richtig definieren.

Nein, sie war nicht mehr die berühmte Pianistin Viktoria Lindberg, die auf der Höhe des Triumphes in einen Abgrund gestoßen worden war, wobei sie alles verloren hatte, was ihr Leben ausgemacht hatte: ihr Gesicht, die Beweglichkeit ihrer Finger, ihr Vermögen, ihre Freunde und den Mann, den sie zu lieben glaubte.

Ihre Mundwinkel bogen sich abwärts. Liebe, Freunde – oh, wie sehr konnte man sich täuschen.

Aber weg mit diesen Gedanken. Ein delikater Hasenrücken wartete auf sie.

*

Die Spezialität des Hauses wurde von vielen geschätzt. Der Speisesaal war dicht gefüllt. Aber Kurt Dosch war zur Stelle und geleitete Ria Burg in einen kleinen Nebenraum, der für die Hotelgäste reserviert war, und die schienen alle schon gegessen zu haben. Nur ein älteres Paar saß noch an einem Ecktisch.

Kurt Dosch hatte nicht zuviel versprochen. Der Hasenrücken war nicht nur köstlich, die Beilagen machten einem Luxushotel Ehre, die Portion war überaus reichlich. Aber es schmeckte Ria so gut, daß sie nichts auf der Platte ließ. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt mit solchem Appetit gegessen hatte.

Aber schlafen konnte sie jetzt keinesfalls. Sie mußte sich noch ein wenig Bewegung verschaffen und bummelte durch die stillen Straßen der Stadt.

Sie fühlte sich im Innern schon wieder als die junge Viktoria, die es so sehr geliebt hatte, durch diese stillen abendlichen Straßen zu gehen, bis der Ehrgeiz sie gepackt hatte und die Welt lockte. Ihr Musiklehrer hatte ihr den Floh ins Ohr gesetzt.

»Du mußt lernen, Viktoria«, hatte er immer gesagt. »Du hast großes Talent, aber ohne Fleiß keinen Preis.«

Und sie hatte gelernt. Sie hatte geübt und alles darüber vergessen. Die Freundinnen, Onkel Korbinian und auch den Jugendfreund Till, mit dem sie sich einstmals doch so gut verstanden hatte.

Nun kamen die Erinnerungen schon ganz deutlich, und sie wehrte sich nicht dagegen.

War sie nicht gekommen, weil sie Heimweh gehabt hatte, Sehnsucht nach diesen Menschen, die sie einstmals so enttäuscht hatte, als ihr der Ruhm wichtiger gewesen war als ihre menschlichen Beziehungen?

Jetzt gab es keinen Ruhm mehr, keinen Applaus, keine enthusiastischen Bewunderer, die sich darum rissen, einen Blick von der berühmten Vik­toria Lindberg zu erhaschen. So schnell konnte alles vorbei sein, so schnell war man vergessen. Man mußte es erlebt haben, um es begreifen zu können.

Aber wo passierte es auch schon, daß auf einer Bühne ein Scheinwerfer zersprang und ausgerechnet den Star des Abends schwer verletzte? Das mußte man schon als ein Zeichen der Vorsehung hinnehmen, die es nun plötzlich doch nicht mehr gut mit dem Glückskind Viktoria meinte.

Viktoria sah vertraute Häuser. Da war das, in dem Dr. Rückert, der Notar, wohnte.

Ja, sein Name befand sich noch immer dort, obgleich auch dieses Haus modernisiert worden war.

Was wohl aus seinen Kindern geworden sein mochte? Aus dem gescheiten, netten Fabian, der vor zehn Jahren gerade sein Abitur mit Glanz bestanden hatte, als Jüngster seiner Klasse und als Bester? Und der kleinen Stella, diesem bezaubernden, temperamentvollen Kind, die ihr zum Abschied noch eine Rose aus dem Garten brachte?

»Du wirst bestimmt mal eine ganz große Künstlerin, Viktoria«, hatte sie bewundernd gesagt. »Ich möchte auch mal die weite Welt sehen.«

Die Haustür tat sich auf. Schnell wich Viktoria in den Schatten der großen Eiche zurück, hinter der sie früher Versteck gespielt hatte. Sie war noch gewaltiger geworden.

Aus dem Haus traten zwei Herren. Der eine war Dr. Rückert. Viktoria erkannte ihn. Der andere war ihr fremd. Ihnen folgten zwei Damen. Rosemarie Rückert und eine andere. Und dann kamen ein Junge und ein kleines Mädchen. Es hängte sich an Rosemarie Rückerts Hals.

»Komm doch öfter mal, Bambi«, meinte Rosemarie Rückers. »Bei uns ist es doch so still, seit Stella fort ist.«

Viktoria hörte alles, auch den herzlichen Abschied.

»Wiederschaun, Inge! Arbeite nicht zuviel, Werner! Wenn du nachmittags Schule hast, kannst du doch bei uns essen, Hannes!« Das galt dem hochaufgeschossenen Jungen. »Grüßt Fabian und Ricky, und gebt dem Kleinen ein Bussi«, sagte Rosemarie Rückert zum Schluß.

Dr. Heinz Rückert lachte.

»Sie tut gerade so, als wären wir aus der Welt und nicht schon übermorgen bei euch. Aber es ist nett, wenn ihr auch mal bei uns seid. Kommt gut nach Hause allesamt, und du, Bambischatz, schlaf gut!«

Bambi – Viktoria sah das Kind, da das Licht der Straßenlaterne voll auf sein Gesicht fiel – lachte und winkte, und dann sprang sie auf der Straße herum, dicht an ihr und der Eiche vorbei.

»Los, Bambi, sonst kommen wir heute nicht mehr nach Hause!« rief der Junge, den Frau Rückert Hannes genannt hatte.

Bambi lief aber doch noch um die Eiche herum. Und nun sah sie Viktoria.

»Entschuldigung«, sagte sie, nachdem sie kurz Luft geholt hatte. Zwei große dunkle Augen blickten Viktoria verwundert an, und sie hastete, sich ertappt fühlend, weiter.

*

Viktoria kam spät zurück. Kurt Dosch sah sie ganz verwundert an. Heli war anscheinend schon zu Bett gegangen. Schon…? Erschrocken sah sie auf die Uhr. Es war elf Uhr vorbei.

»Hatten Sie sich verlaufen?« fragte Kurt.

»Nein, das nicht. Es ist ein so schöner Abend. Ich hatte völlig die Zeit vergessen«, erwiderte sie. »Hoffentlich mußten Sie nicht meinetwegen aufbleiben.«

»Ach, das ist doch nicht schlimm. Ich habe noch Abrechnungen gemacht. Wissen Sie, wir sind ein Familienbetrieb. Aber das wird Sie kaum interessieren.«

»Doch, es interessiert mich«, sagte Viktoria. »Ich bin viel in der Welt herumgekommen. So richtige Familienbetriebe findet man nur noch in Deutschland und in der Schweiz. Die Luft hier bekommt mir gut. Ich werde gar nicht müde.«

»Möchten Sie noch ein Gläschen Wein trinken?« fragte Kurt.

Und ihm stand der Sinn noch nach Unterhaltung. Viel in der Welt herumgekommen war diese Frau Burg, und das interessierte ihn. Er konnte gar nicht genug davon erfahren, wie es dort in den Hotels zuging, denn Kurt Dosch hatte seinen Ehrgeiz. Er wollte einmal das beste Hotel weit und breit haben.

Und diese noch junge Frau – er hatte schnell einen Blick auf den Anmeldeschein geworfen und festgestellt, daß sie gerade erst einunddreißig war – hatte etwas ganz Besonderes an sich, auch wenn sie kein hübsches junges Mädchen mehr war. Sie war eine Dame, und arrogant war sie doch nicht. Man konnte gut mit ihr reden.

Irgendwie war sie ihm direkt ein wenig vertraut, wenigstens ihre Stimme, dieser leichte Dialekt, der hin und wieder ein wenig durchkam.

Sie forderte ihn sogar auf, sich zu ihr zu setzen. Sie begann über Hohenborn zu sprechen.

»Es ist ein hübsches Städtchen, aber doch recht groß geworden«, sagte Viktoria gedankenvoll.

»Kennen Sie es denn?« fragte er.

»Von ganz früher«, entgegnete sie rasch. »Als Kind war ich hier. Es ist lange her.«

»Gar so lange bestimmt nicht«, meinte er galant.

Wie anders er doch war als sein Vater, dieser ungehobelte Klotz, der fast immer betrunken gewesen war und seine Frau schikaniert hatte.

Leicht hatte es die Maria nicht gehabt, aber an ihren Kindern hatte sie nun bestimmt Freude.

»Schon eine ganze Zeit«, äußerte sie leichthin. »An Ihr Hotel kann ich mich aber nicht erinnern.«

»Es sah ganz anders aus«, erwiderte er. »Mein Vater hatte keinen Unternehmungsgeist, und rentieren tut es sich erst, seit die Münster-Werke so gewachsen sind und Erlenried entstanden ist.«

»Erlenried?« fragte sie.

»Die neue Siedlung beim Sonnenwinkel. Die müssen Sie sich mal anschauen, und das Gestüt vom Großmann-Walter, falls Sie den Namen noch kennen. Einen Fohlenhof hat er gegründet und macht auch sein Geschäft. Man kann schon einen schönen Urlaub hier verbringen. Die Felsenburg ist renoviert worden, und am Süd­ufer gibt es jetzt eine Kinderklinik.«

»Und wie bewirtschaften Sie Ihr Hotel mit der Familie?« erkundigte sich Viktoria. »Einen phantastischen Koch müssen Sie haben.«

Er lachte auf. »Das ist die Tante Leni, die Schwester von Mama. Sie hat in der Schweiz gelernt und war in einem feinen Hotel. Sie ist unsere Perle.«

Die Leni! Als Hausmädchen hatte sie bei Viktorias Eltern angefangen. Du lieber Gott, was da alles auf sie einstürmte. Es war ein wenig zuviel. Und der Wein tat das seine, daß Viktoria müde wurde.

Sie schlief in dieser Nacht wunderbar, tief und traumlos, und hatte vieles von dem abgeschüttelt, was sie während der letzten Monate so gequält hatte.

*

Dr. Till Jaleck stand früh am Morgen auf. Noch nicht ganz sechs Uhr war es, aber er mußte sich dennoch schicken, um alles zu schaffen, bis er nach Hohenborn ins Gymnasium fahren mußte.

Die Kinder mußten gefüttert werden, die kleine Corri gewaschen und angekleidet.

Christoph half sich jetzt schon selbst, aber so ganz wollte das auch nicht klappen.

Es war nur gut, daß es in Erlenried den Kindergarten gab, wo er sie unterbringen konnte, aber auf die Dauer ging das auch nicht.

Vor vierzehn Tagen war seine letzte Haushaltshilfe davongelaufen. »Hier ist ja nichts los, da versauert man ja«, war ihr Argument gewesen. Sie wollte lieber in die Großstadt, wie so viele junge Mädchen.

Christoph kam auf Zehenspitzen in die Küche.

»Corri hat heute nacht gehustet, Papi«, erzählte er.

Guter Gott, nein, laß sie bloß nicht krank werden, dachte Till Jaleck verzweifelt. Was sollte er dann machen?

Corri hustete auch, als er sie aus ihrem Bettchen nahm. Aber sie war ein liebes, geduldiges Kind, wie auch Christoph, der schon brav seinen Kakao trank.

Er konnte die Kinder doch nicht in ein Heim geben. Nein, das brachte er nicht übers Herz. Sie hatten dieses schöne Haus. Gerda hatte es gar nicht mal fertig gesehen.

Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn er es wieder verkauft hätte. Interessenten hätten sich bestimmt genug gefunden, aber er hatte sich so gewünscht, in Erlenried zu leben. Er hatte es sich nur nicht so schwer vorgestellt, ohne eine Frau im Haus fertig zu werden.

Anfangs war Tante Helene eingesprungen, aber dann hatte das Ischias sie so geplagt, daß sie ins Krankenhaus mußte und anschließend zur Kur. Ganz gesund würde sie niemals mehr werden, und zwei lebhafte Kinder waren ihr einfach zuviel.

Drei Haushaltshilfen hatte er während dieser verhältnismäßig kurzen Zeit gehabt. Keine war geblieben. Zwei waren gegangen, weil sie sich mehr von dem jungen Witwer erhofft hatten, als er zu geben bereit war, und die dritte wollte, wie schon gesagt, nicht versauern.

»Werd mir bloß nicht krank, Corri«, sagte er zu der Kleinen.

»Nicht krank, Papi, nur Snupfi«, erwiderte sie.

Christoph zog sich schon die Stiefel an.

»Weißt du, Papi«, seufzte er, »so ganz ohne Frau geht’s doch nicht. Warum haben wir bloß keine Mutti.«

Er konnte sich an seine auch nicht mehr erinnern. Er war auch eineinhalb gewesen, so wie Corri jetzt, als Gerda starb. Eine gute Frau war sie gewesen, und bestimmt wäre sie auch eine fürsorgliche Mutter geblieben. Es hatte nicht sein sollen.

Ich habe kein Glück mit den Frauen, dachte Till Jaleck an diesem Morgen wieder. Aber die Kinder brauchen jemanden.

*

Viktoria erwachte frisch gestärkt. Alles war jetzt nur halb so schlimm. Sie konnte unerkannt hier herumwandern. Sie würde innerlich endlich zur Ruhe kommen.

Sie trat ans Fenster. Von hier aus konnte sie den Marktplatz über­blicken.

Ihr machte der morgendliche Betrieb nichts aus. Sie war mehr Krach gewohnt in den großen Hotels, die oft an verkehrsreichen Straßen lagen.

Sie sah die Schulkinder, die dem Gymnasium zustrebten. Auch das war viel größer und moderner als früher.

Und dann sah sie einen grauen Volkswagen, der vor dem Lebensmittelgeschäft hielt.

Ein Mann stieg aus, dessen Anblick ihr den Atem stocken ließ. Es war Till, ihr Jugendfreund Till Jaleck! Er lebte also noch immer hier.

Er ging nicht in das Geschäft. Er trat auf einen Mann zu und sprach mit ihm.

Und dann setzte er sich wieder in seinen Wagen und bog in den Parkplatz des Gymnasiums ein.

Viktoria stützte ihre Hände auf das Fensterbrett. Sie dachte an Till. War er Lehrer geworden und in seine Heimatstadt zurückgekehrt? Es mußte wohl so sein.

Und wie war sein Leben sonst verlaufen? Hatte er eine Frau gefunden, die ihn über die ruhmsüchtige Viktoria hinweggetröstet hatte?

Doch sicher. Ein Mann wie Till wurde gern geheiratet. Er war immer treu und zuverlässig gewesen. Er war immer den ganz geraden Weg gegangen, ein Ziel im Auge, aber mit den Füßen auf dem Boden bleibend.

Aber sie konnte niemanden fragen, wenn sie ihr Inkognito nicht lüften wollte, und diese Absicht hatte sie nicht. Sie wollte sich die Möglichkeit offenlassen, wieder so aus Hohenborn zu verschwinden, wie sie gekommen war. Anonym!

*

Wieder saß Viktoria in dem kleinen Speiseraum. Diesmal brachte Maria Dosch selbst das Frühstück.

»Haben Sie gut geschlafen, gnädige Frau?« fragte sie.

Gnädige Frau! Früher hatte sie Vicky gesagt.

»Danke, sehr gut. Drüben ist eine Schule, wenn ich richtig gesehen habe?«

»Ja, das Gymnasium. Hat der Krach der Kinder Sie geweckt?«

»I wo! Es gibt störenderen Lärm als Kinderlärm.«

»Na, manchmal treiben Sie es schon arg, aber die meinen waren ja auch nicht anders«, äußerte Maria Dosch seufzend.

»Sie haben doch sehr nette, fleißige Kinder«, sagte Viktoria.

Maria Dosch strahlte. »Ja, ich kann jetzt schon zufrieden sein. Sie haben es beide gepackt, nachdem ihr Vater gestorben ist. Sonst würde es auch nicht zu schaffen sein. Jetzt lassen Sie es sich gut schmecken, und wenn Sie noch etwas brauchen, läuten Sie bitte. Die Pflicht ruft.«

Reichlicher konnte ein Frühstück nicht sein. Die Doschs gaben sich wirklich in jeder Hinsicht Mühe. Beim besten Willen konnte Viktoria nicht bewältigen, was ihr geboten wurde. Richtig schön war es. Sie fühlte sich zu Hause.

*

Wieder ging sie durch die Straßen. Sie entdeckte altvertraute Plätze und neue Häuser, die Münster-Werke und ein paar andere Betriebe, die es früher auch nicht gegeben hatte. Dann die Bushaltestelle »Erlenried – Sternsee-Klinik« stand vorn in großen schwarzen Lettern auf weißem Grund. Kurz entschlossen stieg sie ein.

Nur drei junge Frauen saßen im Bus, als die Fahrt losging, und sie hörte ge nau, worüber sie sich unterhielten. Sie hatten ihrem Reden nach ihre Kinder zur Schule gebracht und in Hohenborn eingekauft.

»Richtig leid getan hat mir der Dr. Jaleck heute morgen, als er die beiden Kleinen zum Kindergarten gebracht hätt«, sagte eine junge Frau. »Himmel noch mal, es wird sich doch wohl jemand finden lassen, der ihm den Haushalt führt.«

»Wir können ihm ja anbieten, daß wir abwechselnd die Kinder betreuen, Petra«, erklärte eine andere, »aber ob er das annehmen wird?«

»Auf die Dauer geht es auch nicht. Das Haus muß ja auch gepflegt werden. Er ist ein so guter Lehrer. Adrian schwärmt von ihm. Er ist gleich viel besser geworden«, sagte nun wieder die mit Petra Angeredete.

Viel zu schnell verging Viktoria die Fahrt. Sie hätte so gern noch mehr über Till Jaleck erfahren.

Sie fühlte sich flüchtig gemustert von den drei Damen, als sie in Erlenried ausstieg.

»Möchten Sie zur Sternsee-Klinik?« fragte der Schaffner. »Da müssen Sie noch drin bleiben. Oder wollen Sie nur zur Felsenburg? Da müssen Sie jetzt aussteigen.«

Viktoria stieg aus, mit ihren Gedanken bei Till. Von Kindern war die Rede gewesen. Ob seine Frau krank war?

Petra Höllering drehte sich zu ihr um. »Verzeihen Sie, aber wenn Sie die Felsenburg besichtigen wollen, müßten Sie erst zu Herrn von Roth gehen. Er hat die Schlüssel.«

»Ich möchte mir die Gegend ein bißchen anschauen«, antwortete Viktoria verlegen. »Vielen Dank.«

Sie war wieder allein mit ihren Gedanken. Sie ging am See entlang, ihren Blick auf die hübschen Einfamilienhäuser gerichtet.

Vor zehn Jahren hatte noch kein einziges Haus hier gestanden, aber Viktoria fand, daß sie sich hübsch in die Landschaft einfügten.

Und irgendwo hier mußte wohl auch Till wohnen, sonst würde man ihn sicher nicht so gut kennen.

»Gasthof Seeblick«, las sie da. Ob man sich da mal so nebenbei nach Till umhören konnte?

Hier kannte sie ja bestimmt niemand. Hier konnte sie es wohl riskieren, seinen Namen mal zu nennen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen.

Sie trat durch die Tür. Alles war leer. Es war Vormittag und ein Wochentag. Da war hier noch kein Betrieb. Aber die Gaststube bot einen einladenden Anblick.

Viktoria war weder hungrig noch durstig, aber sie bestellte doch einen Kaffee. Irgend etwas mußte sie schließlich zu sich nehmen, wenn sie in ein Gespräch kommen wollte.

Sie saß erst ein paar Minuten, als ein winziges Bübchen hereinmarschiert kam.

»Toni?« rief eine weibliche Stimme, und eine junge Frau kam dem Jungen nachgelaufen. »Du Schlingel! Bist du mir schon wieder ausgerissen?« rief die hübsche junge Frau. »Guten Morgen«, begrüßte sie dann Viktoria ganz erstaunt. »Entschuldigen Sie, so früh haben wir selten Gäste.«

»Mich stört das Kind nicht«, meinte Viktoria, um dann schnell fortzufahren: »Darf ich Sie etwas fragen?«

»Aber gern. Ich bin Carla Richter. Uns gehört der ›Seeblick‹. Interessieren Sie sich für ein Haus?«

»Ich hätte gern gewußt, wo Dr. Jaleck wohnt«, erklärte Viktoria gepreßt. »Wohnt er hier in der Nähe?«

»Freilich. Ein paar Meter weiter. Wollen Sie sich etwa um die Stelle bewerben? Mein Gott, das wäre ja wunderbar! Ein rettender Engel! Aber jetzt ist er leider noch in der Schule.«

»Ist es sehr vermessen, wenn Sie mir ein paar Auskünfte geben würden?« fragte Viktoria verhalten.

»Ganz und gar nicht. Sie haben wohl schlechte Erfahrungen gemacht und wollen sich lieber erkundigen? Ich kann das verstehen. Aber bei Dr. Jaleck können Sie ganz sicher sein, daß alles in bester Ordnung ist. Er ist ein feiner, stiller Mensch. Die Kinder sind goldig. Es ist ja zu tragisch, daß sie ihre Mutter so früh verloren haben. Ich rede wohl ein bißchen zuviel«, unterbrach sie sich. »Bitte, verstehen Sie es. Wir bemühen uns schon so lange, ihm zu helfen, aber es war einfach niemand zu finden.«

»Ich habe erst jetzt erfahren, daß er jemanden sucht«, hörte sich Viktoria sagen.

Himmel, was redete sie denn da. Was ging ihr da durch den Sinn? Sie konnte sich doch nicht bei Till um eine Stellung bewerben. Er würde sie doch bestimmt erkennen!

Würde er das, wenn nicht mal Maria Dosch sie erkannte? Und wenn schon! Sie konnte es ja mal versuchen.

Sie konnte notfalls auch sagen, daß sie ihm über eine mühevolle Zeit hinweghelfen wollte. Als alte Freundin, die einen Lebensinhalt suchte. Und wenn er sie abwies, konnte sie immer noch gehen.

Sie hatte so viele Enttäuschungen einstecken müssen, daß es auf die eine auch nicht mehr ankam.

»Wollen Sie sich bei ihm vorstellen?« fragte Carla Richter. »Er nimmt Sie bestimmt, wenn Sie Kinder gern haben.«

»Versuchen will ich es. Kinder habe ich gern, aber mit dem Haushalt habe ich nicht viel Erfahrung«, erwiderte Viktoria leise.

»Wenn alle Stricke reißen, kann ich Ihnen ja manchen Tip geben«, erklärte Carla Richter herzlich. »Nehmen Sie es bitte nicht krumm, wenn ich so geradeheraus bin. Hier sind wir nun mal so. Einer steht für den andern ein. Dr. Jaleck tut uns allen so leid.«

»Ich finde das sehr nett. Wann meinen Sie, daß er kommen wird?«

Carla Richter sah auf die Uhr.

»In einer Stunde. Heute ist Mittwoch. Ja, in einer Stunde. Aber Sie könnten ja schon mal zum Kindergarten gehen und sich die Kinder anschauen, dann fällt Ihnen die Entscheidung gewiß noch leichter.«

»Ja, das werde ich tun«, sagte Viktoria.

Carla zeigte ihr noch den Weg. Kopfschüttelnd stand ihr Mann in der Diele.

»Carla, Carla«, seufzte er, »du redest dich eines Tages noch mal um Kopf und Kragen!«

»Wieso, wenn es um eine gute Sache geht?«

»Das war doch eine Dame. Du hättest sie auch mal zu Wort kommen lassen müssen.«

»Ach, was verstehst du schon, Toni«, entgegnete sie unbekümmert. »Sie ist bestimmt in einer Notsituation und traut sich nicht so recht, sich anzubieten. Das habe ich auch spitzgekriegt. Jedenfalls ist sie interessiert an der Stellung, und wir können jetzt bloß hoffen, daß sie ihm dann bleibt.«

»Du hast Nerven!« meinte er ächzend.

»Und einen guten Menschenverstand!« lachte sie.

*

Ich bin verrückt, dachte Viktoria. Da habe ich etwas aufgeschnappt, und gleich renne ich los.

Aber noch konnte sie umkehren. Noch hatte sie Till nicht getroffen.

Doch sie kehrte nicht um. Sie ging weiter zu dem Kindergarten, wie eine Traumwandlerin, als könne sie gar nicht anders.

Die Tür wurde ihr von einer mütterlich aussehenden Frau aufgetan.

Schwester Herta nannte sie sich, und sie war gleich ganz Ohr, als Viktoria zaghaft ihr Anliegen vortrug.

»Das wäre ja wunderbar, wenn Dr. Jaleck endlich jemanden finden würde«, sagte Schwester Herta. »Corri macht mir zu schaffen. Ich kann sie nicht im Kindergarten behalten, wenn sie krank wird. Wegen der anderen Kinder«, fügte sie entschuldigend hinzu. »Man müßte sie glatt in die Klinik bringen.«

»Kann ich die beiden Kinder bitte sehen?« fragte Viktoria. Sie dachte und handelte wie unter einem Zwang, und wenig später hatte sie Tills kleine Tochter im Arm. Christoph stand vor ihr und sah sie mit Tills Augen an.

»Sie hat schon heute nacht gehustet. Papi war schon ganz bedeppert«, berichtete er.

»Betti gehn«, weinte Corri.

»Du kommst ja in dein Betti«, sagte Viktoria tröstend. »Wir müssen nur noch ein Weilchen warten, bis dein Papi kommt.«

»Ich hab den Schlüssel«, bemerkte Christoph. »Wir können schon rein.«

Dieses winzige Bürschchen hatte schon den Hausschlüssel. Armes Kerlchen, dachte Viktoria. Armer Till! Er hatte eine Frau gefunden und sie wieder verloren.

»Dann bringen wir Corri in ihr Bettchen«, erklärte sie entschlossen. »Hast du Vertrauen zu mir, Christoph?«

»Ja«, versicherte er sehr ernsthaft. »Du bist lieb. Wie heißt du?«

Jäh wurde ihr bewußt, in was sie sich da einließ. Aber nun gab es schon kein Zurück mehr.

»Ria«, erwiderte sie.

»Das können wir uns leicht merken. Das kann sogar Corri schon sagen.«

»Ria«, flüsterte die Kleine. Dann schlang sie ihre Ärmchen um Viktorias Hals.

*

Till Jaleck fiel aus allen Wolken, als er seine Kinder abholen wollte und Schwester Herta ihm die Neuigkeit berichtete.

Natürlich war er skeptisch. Eine wildfremde Frau – war das nicht recht leichtsinnig von Schwester Herta gewesen? Ihm war eigenartig zumute, als er sein Haus betrat.

Christoph kam ihm bereits entgegengelaufen.

»Jetzt haben wir doch mal Glück gehabt, Papi!« flüsterte er. »Ria ist sehr lieb!«

Er ahnte nicht, daß Viktoria innerlich zitterte, von ihm erkannt zu werden.

»Ria hat eine Brille, und im Arm hat sie nicht viel Kraft«, unterrichtete Christoph seinen Vater flüsternd, »aber gell, Papi, das macht uns nichts aus. Sie hat gesagt, daß du es entscheiden mußt, ob sie bei uns bleiben kann. Aber wenn wir dich ganz schön bitten, sagst du doch ja?«

Die Entscheidung war ihm durch die Kinder eigentlich schon vorweggenommen worden, denn nun hörte er auch Corri rufen: »Ria, bleib da! Bitte, bitte, bleib da!«

Er stand schon in der Tür des Kinderzimmers und sah den Kopf, der sich zu dem Kind hinabneigte. Dieses Haar! Ein schmerzhafter Stich durchzuckte ihn.

Doch da richtete sich Viktoria auf, und Till Jaleck blickte in ein fremdes Gesicht.

Er spürte, wie sie bebte, aber er schob es auf diese etwas seltsamen Umstände.

»Entschuldigung«, flüsterte sie heiser, »ich muß Ihnen eine Erklärung geben.«

Ihre Stimme gehorchte ihr nicht. Nur stockend kamen die Worte über ihre Lippen, und nichts, aber auch gar nichts erinnerte an jene lebhafte, selbstbewußte junge Viktoria, die Tills große Liebe gewesen war. Zudem war er selbst so befangen, daß er nicht wußte, was er sagen sollte.

»Einer Erklärung bedarf es jetzt kaum noch«, bemerkte er. »Taten sagen mehr als Worte. Ich muß Ihnen danken. Aber noch weiß ich nicht, ob Sie mit den Bedingungen einverstanden sind, ich meine, mit dem, was ich Ihnen bieten kann. Bedingungen werden Sie ja zu stellen haben.«

»Nein«, entgegnete sie rasch. »Ich habe einige Handikaps, die ich nicht verschweigen kann. Ich muß froh sein, wenn Sie mir eine Chance geben«, fügte sie rasch hinzu.

Die Chance, etwas gutzumachen, was ich dir einmal antat, dachte sie für sich. Es an diesen beiden Kindern gutmachen zu können.

»Ria, Corri Durst hat«, rief die Kleine.

»Ja, übrigens, mein Name ist Ria Burg«, sagte sie gepreßt. »Vielleicht kann ich bleiben, bis Sie eine perfekte Kraft gefunden haben.«

»Ria soll bleiben, Papi«, meldete sich nun Christoph wieder zu Wort.

Irgend etwas paßt da nicht zusammen, dachte Till Jaleck. Diese Kleidung! So viel verstand er auch, daß Kleid und Mantel, so schlicht sie auch waren, eine ganze Menge gekostet haben mußten. Aber schließlich konnte man auch unvorhergesehen schnell in Not geraten. Doch das würde er ja noch alles erfahren.

»Dann werden wir mal etwas zu essen machen«, erklärte er in betont heiterem Ton.

»Ich habe es schon vorbereitet«, warf sie errötend ein. »Christoph hat mir gesagt, daß es heute Kartoffelbrei und Bratwurst geben soll.«

Till sah sie staunend an. Selbständig schien sie ja zu sein und auch ziemlich entschlossen.

»Ja, das hab ich gesagt. Und gezeigt habe ich Ria auch schon alles«, berichtete Christoph.

Na, dann werde ich mich mal überraschen lassen, dachte Till und kümmerte sich nun erst mal um Corri.

*

»Kochen kann ich nicht besonders gut, das ist das erste Handikap«, sagte Viktoria, als sie das Essen auf den Tisch brachte.

Kategorisch hatte Corri verlangt, mit ihnen zu essen, obgleich sie kaum noch aus den Augen schauen konnte.

»Es riecht aber sehr gut«, stellte Christoph fest.

»Da kann man ja auch nicht viel verderben«, erklärte Viktoria, froh, daß bisher alles so gut gelaufen war.

»Es schmeckt auch gut«, bemerkte Till.

»Und die Bratwurst ist nicht geplatzt«, meinte Christoph. »Bei Papi platzt sie immer.«

Zum erstenmal erschien ein flüchtiges Lächeln auf Tills Gesicht.

»Der Kartoffelbrei von Papi schmeckt auch nicht so gut«, fuhr Christoph fort.

»Es mußte immer schnell gehen«, warf Till entschuldigend ein.

Viktoria fütterte Corri, die trotz des leichten Fiebers einen guten Appetit hatte. Sie rieb sich immer das Bäuch­lein und klatschte bei jedem Bissen in die Hände.

»Smeckt gut! Pima!« jauchzte sie.

Bei den Kindern hatte sie schon einen Stein im Brett. Doch wie war es bei Till? Sie wagte nicht, ihn anzusehen.

»Ihr schlaft jetzt«, sagte er zu den beiden Kleinen. »Ich werde mit Frau Burg alles besprechen.«

»Ria, bleib da!« jammerte Corri. Christoph streichelte ihre Hand. »Bleibst du?« fragte er flehend.

»Ja, ich bleibe«, erwiderte sie. »Ich muß nur meine Koffer holen.«

»Wo sind die?« fragte Christoph.

»In Hohenborn.«

Und jetzt wurde ihr bewußt, daß sie an diesem Morgen nicht die blasseste Ahnung gehabt hatte, wie dieser Tag enden würde. Daß sie als Haushälterin bei Till landen würde, hatte nicht in ihrem Programm gestanden.

*

Sie fragte ihn, wann ein Bus nach Hohenborn fahren würde.

»Selbstverständlich werde ich Sie fahren«, sagte er rasch.

»Und die Kinder? Sie können doch nicht allein bleiben. Corri ist schwer erkältet. Ich fürchte, daß das Fieber noch steigen wird.«

Sie wollte auf keinen Fall, daß er erfuhr, welch teures Zimmer sie im Ho­tel »Zur Post« bewohnt hatte. Sie wollte in Hohenborn auch nicht mit ihm gesehen werden. Nicht von Maria Dosch.

Noch war auch sie ahnungslos, aber vielleicht kamen doch Erinnerungen, wenn man sie mit Till beisammen sah.

Vielleicht will sie wieder heimlich verschwinden, dachte Till. Aber die Chance mußte er ihr einräumen. Die Kinder hatten sie bestürmt, sie förmlich unter Druck gesetzt. Und er selbst konnte einfach nicht glauben, daß ihnen das Glück hold sein könnte.

»Der nächste Bus fährt in einer halben Stunde«, sagte er mit einem Blick zur Uhr. »Er fährt vom ›Seeblick‹ ab. Um fünf Uhr fährt er dann wieder zurück. Und um acht Uhr kommt der letzte. Aber wenn Sie einen Führerschein haben, könnten Sie meinen Wagen nehmen.«

»Ich bin lange nicht gefahren, und meine Augen machen mir zu schaffen. Da würde ich nur andere gefährden«, entgegnete sie leise. »Nein, ich nehme den Bus, und um fünf Uhr komme ich zurück. Das ist doch leicht zu schaffen. Soll ich noch etwas aus Hohenborn mitbringen?«

Wenn sie wirklich die Absicht hatte zu verschwinden, verstand sie es recht geschickt, ihn zu täuschen. Er wollte jetzt nicht darüber nachdenken, er wollte abwarten.

»Vielleicht könnten Sie Hustensaft für Corri in der Apotheke besorgen«, sagte er.

»Das hätte ich sowieso getan. Ich glaube, jetzt muß ich mich beeilen.«

Vielerlei Gedanken gingen ihr durch den Sinn, als sie zum Bus eilte, aber keinen konnte sie zu Ende denken, weil immer wieder neue kamen.

Carla Richter sprach mit dem Busfahrer.

Ein Lächeln erhellte ihr Gesicht, als sie Viktoria gewahrte.

»Schwester Herta hat mir schon erzählt, wie lieb Sie sich um die Kinder gekümmert haben«, berichtete sie. »Da tun Sie ein gutes Werk. Werden Sie bleiben?«

»Ja, ich hole meine Koffer«, erwiderte sie.

»Fein! Und wie schon gesagt, wenn Sie mal nicht weiter wissen, kommen Sie zu mir.«

Diesmal war Viktoria ganz allein im Bus. Sie war froh darüber.

»Auf der Heimfahrt ist es aber gesteckt voll«, meinte der Fahrer. »Kommen Sie man früh, junge Frau, daß Sie einen Platz kriegen.«

Heli Dosch sah Viktoria ganz erschrocken an, als sie erklärte, daß sie das Zimmer aufgeben müsse.

»Selbstverständlich bezahle ich für diese Nacht noch«, sagte Viktoria verlegen.

»Gefällt es Ihnen denn nicht bei uns? Ist es Ihnen zu laut?« fragte Heli.

»Nein, aber ich habe ganz zufällig eine Stellung gefunden in Erlenried. Da werde ich nötig gebraucht?«

»Doch nicht etwa beim Dr. Jaleck?« fragte Heli staunend.

»Genau da.«

Heli war noch jung, aber sie hatte doch schon ihre Erfahrungen. Wie eine Haushälterin sah ihr Gast gewiß nicht aus. Sie war demzufolge reichlich verwirrt. Und noch verwirrter wurde sie, als sie bemerkte, daß Viktorias Brieftasche mit großen Geldscheinen prall gefüllt war.

»Ich mache noch einige Besorgungen und hole dann die Koffer«, erklärte Viktoria.

»Ja, gewiß«, stammelte Heli.

Aber als Viktoria das Hotel verlassen hatte, eilte sie in die Küche zu ihrer Mutter und Tante Leni.

»Du, Mutti, was sagst du jetzt? Frau Burg hat sich bei Dr. Jaleck als Haushälterin verdingt!« sprudelte sie hervor.

»Frau Burg?« Maria Dosch war augenblicklich etwas begriffsstutzig.

»Die Dame, die gestern bei uns das Zimmer genommen hat. Ist das nicht komisch?«

»Vielleicht ist sie wegen der Stellung gekommen«, äußerte Maria Dosch, »und sie wollte es nur nicht sagen, bevor sie sie hat. Für den Till wird’s gut sein, wenn er jemanden bekommt. Wenn ich bloß wüßte…«

Sie unterbrach sich.

»Wenn du was wüßtest?« hakte Heli ein.

»Ach, nichts«, entgegnete ihre Mutter rasch, versank aber gleich wieder ins Grübeln.

Als Viktoria, beladen mit Paketen, zurückkam, stand Maria Dosch an der Rezeption. Sie hatte Heli weggeschickt, denn ihr war eine Erinnerung gekommen.

»Vicky!« rief sie leise.

Viktoria zuckte zusammen. Ängstlich blickte sie sich um.

»Es ist niemand da, der uns belauschen kann«, sagte die Ältere. »Viktoria Lindberg, warum habe ich dich nicht gleich erkannt.«

»Wahrscheinlich habe ich mich doch sehr verändert«, äußerte Viktoria ironisch.

»Meinst du, daß Till dich nicht erkennen wird?« fragte Maria. »Heli hat es mir brühwarm erzählt.«

»Und du?«

»Ich sage nichts, wenn du es nicht willst, Vicky. Ich kann’s nicht glauben, Mädchen. Entschuldige, wenn mir die Zunge durchgeht.«

»Wirst du es Till sagen, Maria?« fragte Viktoria verhalten.

»Kein Wort! Wenn er so blind ist, daß er dich nicht erkennt, ist ihm nicht zu helfen. Aber was hast du dir dabei gedacht?«

»Ich kann noch zu etwas nütze sein«, flüsterte Viktoria. »Ich muß mich sputen, daß ich den Bus bekomme. Bitte, schweig!«

»Ich bringe dich hin. Du kannst doch das ganze Zeug nicht allein schleppen. Mädchen, ich bin ganz durcheinander. Warte, ich hole meinen Mantel.«

*

»Woran hast du mich erkannt?« fragte Viktoria, als sie nebeneinanderher gingen.

»An deinen Zähnen, ja, an deinen Zähnen. Die kleine Ecke da vorn hast du dir abgestoßen, als du bei uns hingefallen bist. Und ich war schuld, weil ich Öl ausgeschüttet hatte.«

Sie machte eine kleine Pause. »Wenn der Till dich genau anguckt, wird er auch drauf kommen. Warum gehst du zu ihm, Vicky?«

»Ich weiß es nicht. Die Kinder haben mir leid getan.«

»Und was ist mit deiner Karriere?«

»Schau dir doch den Arm an«, sagte Viktoria. »Es ist aus und vorbei, und du wirst es mir nicht glauben, aber ich bin darüber hinweg.«

»Und warum gehst du nicht zu Onkel Korbinian?«

»Das hatte ich eigentlich vor. Sehen wollte ich ihn wenigstens. Jetzt muß ich erst zur Ruhe kommen. Irgendwann werde ich schon mal Zeit haben, daß wir länger miteinander reden können. Aber bitte, Maria, sprich mit niemandem über mich!«

»Kannst dich drauf verlassen, Vicky.«

»Hab Dank, daß du es mir nicht nachträgst, daß ich nie etwas von mir hören ließ. Ich war gefangen in dieser Welt, aber heute weiß ich, daß ich eine Gefangene war. Es ist nichts übriggeblieben, nichts, was mir noch etwas bedeuten könnte. War Till glücklich mit seiner Frau?« fragte sie dann leise.

»Glücklich? Ich weiß nicht, Vicky. Sie war ein liebes, gutes Menschenkind, aber du…«

»Komm bald mal wieder, Vicky!« flüsterte Maria Dosch noch, und verstohlen wischte sie sich ein paar Tränen ab. »Jetzt werde ich ja hierbleiben«, erklärte Viktoria.

Maria Dosch ging langsam zurück, ganz langsam, um Ordnung in ihre Gedanken zu bringen.

Sie war mit Viktorias Mutter befreundet gewesen. Sie kannte die kleine Vicky von Geburt an, und die Lindbergs hatten Marias viel jüngere Schwester Leni bei sich aufgenommen, nachdem ihre Eltern gestorben waren.

Leni war immer fürs Praktische gewesen. Sie hatte sich als Haushaltshilfe bei den Lindbergs ein schönes Taschengeld verdient, und gut hatte sie es auch bei ihnen gehabt.

Und dann war dieser schreckliche Winter gekommen mit der Grippeepidemie, die beide Lindbergs hinweggerafft hatte. Die kleine Vicky, erst zwölf Jahre, war zum Onkel Korbinian gekommen, dem alten Gruber-Bauern, dem reichen, eigensinnigen Eigenbrötler.

Allen hatte die kleine Vicky leid getan, aber ändern konnte niemand etwas daran. Doch eins mußte man dem Gruber-Bauern lassen: Ganz vernarrt war er in das Kind gewesen, und eifersüchtig hatte er es bewacht.

Als dann die erste Liebe zwischen Till, dem Gärtnerssohn, und Vicky keimte, hatte Maria Dosch oft herhalten müssen, damit Vicky sich ein Alibi verschaffte. Und sie hatte es gern getan, weil sie fest daran glaubte, daß aus den beiden mal ein Paar werden würde.

Und doch war alles ganz anders gekommen, als man Vickys Talent entdeckte, als auch der Korbinian mit all seinem Einfluß nichts dagegen ausrichten konnte, daß sie ihren Weg in die Welt ging.

Geschimpft und gewettert hatte er, und auch gesagt, daß er sie enterben würde und sie ihm nie mehr unter die Augen kommen sollte. Und manche hatten doch gewußt, daß er nichts anderes erhoffte, als daß ihre Träume sich zerschlagen würden und sie doch wieder den Weg zu ihm fände.

Und der Till? Marias Gedanken waren bei ihm angelangt. Aber da kam ihr Heli entgegengelaufen.

»Du bist vielleicht eine Mutti!« sagte sie vorwurfsvoll. »Schickst mich weg und gehst selber los, und niemand ist am Empfang!«

»Ich hab die…« Sie verschluckte sich fast, weil sie sich nun beinahe verplappert hätte. »Frau… Burg zum Bus gebracht. Es gehört sich ja wohl. Schließlich war sie zahlender Gast bei uns, und die Koffer hätte sie nicht tragen können mit ihrem Arm.«

»Was hat sie denn mit dem Arm?« fragte Heli bestürzt. »Ich hab doch gar nichts bemerkt.«

»Einen schweren Unfall hatte sie mal. Sie hat es mir erzählt«, erwiderte Maria Dosch hastig. »Kraft hat sie keine mehr.«

»Und da will sie einen Haushalt mit zwei Kindern bewältigen?« wunderte sich Heli.

»Der Till wird froh sein, wenn er überhaupt jemanden hat«, meinte Maria Dosch. »Ich bin schon arg froh und hoffe, daß alles gut wird.«

Hell konnte nur noch den Kopf schütteln über ihre Mutter.

*

Corri weinte herzzerreißend, weil Ria nicht da war, und Christoph bombardierte seinen Vater mit empörten Blicken.

»Du hast sie wieder weggeschickt!« sagte er aggressiv.

»Ich habe sie nicht weggeschickt, sie holt ihre Koffer. Sie wird bald wiederkommen.«

»Und wenn sie nicht wiederkommt?« Nun heulte auch Christoph los. »Hätte ich bloß nicht geschlafen! Du warst bestimmt nicht lieb zu ihr!«

»Nun wartet doch erst mal ab«, seufzte Till resigniert. »Der Bus muß gleich kommen. Ich fahre schnell mal runter, damit sie ihre Koffer nicht zu tragen braucht. Paßt du auf Corri auf, Christoph?«

»Aber wehe, wenn du Ria nicht mitbringst!« stieß der Junge trotzig hervor. »Dann gucke ich dich nicht mehr an!«

Gott gebe, daß sie wiederkommt, dachte Till, als er den Wagen aus der Garage holte.

Er sah den Bus schon kommen, als er die Straße erreichte, die man vom Haus aus nicht sehen konnte. Und er sah sie, die schon an der Tür stand.

Er sprang aus seinem Wagen und eilte auf sie zu. Viktoria war wie erstarrt, als sie in seine hellen Augen schaute, in denen sie so viel Dankbarkeit und Erleichterung las.

»Zu Fuß ist es doch ein bißchen weit«, murmelte er, »und die Koffer sollten Sie nicht tragen. Christoph paßt schon auf Corri auf. Sie ahnen ja nicht, wie froh ich bin, daß Sie wiederkommen!«

Es fiel ihr unsagbar schwer, sich weiterhin als Fremde zu geben. Am liebsten wäre sie ihm um den Hals gefallen. Ein jähes Erschrecken war plötzlich in ihr.

Was waren das für Gedanken, für Wünsche, die da erwachten? Zehn Jahre waren doch nicht ungeschehen zu machen, nicht einfach wegzustreichen. Sie waren beide nicht mehr die, die sie früher gewesen waren. Gewaltsam versuchte sie, sich von diesen Gedanken zu befreien.

»Sie haben doch nicht etwa gefürchtet, daß ich kneifen würde?« fragte sie leichthin.

»Doch, das habe ich gefürchtet«, gab er zu.

Ehrlich war Till eben immer gewesen, auch damals, als sie Abschied nahm.

»Du wirst mich bald vergessen, Viktoria«, hatte er gesagt. »Was kann ich dir auch bieten. Ich habe immer gefürchtet, daß es einmal so kommen würde. Aber ich werde dich nie vergessen. Ich werde dich immer lieben.«

Was war davon geblieben? Durfte sie überhaupt noch etwas erwarten? Hätte sie sich seiner noch erinnern wollen, wenn dieser Unfall ihr Leben nicht verändert hätte?

Dann wäre sie jetzt Garys Frau und – was und? Was war denn von dieser Leidenschaft geblieben?

»Ich möchte Sie jetzt herzlich willkommen heißen bei uns, Frau Burg«, sagte Till voller Wärme, und da stürzte auch schon Christoph aus dem Haus und in ihre Arme.

»Du bist wieder da, Ria!« jubelte er. »Nun bleibst du immer bei uns!«

Und drinnen rief Corri: »Ria, Ria, komm zu mir!«

Es war wunderschön, fast zu schön, um wahr zu sein.

*

Es gab bei all dem Glück, das sie erfüllte, einige unbequeme Gedanken.

Erstens den, daß sie Geld annehmen sollte von Till. Ein Gehalt für ihre Dienste. Es war ihr schon fatal.

Dann die polizeiliche Anmeldung, auf die er sie schüchtern aufmerksam machte. Das war noch fataler. Bisher war sie drum herumgekommen, ihren Paß vorzulegen. Das war nun unvermeidbar.

»Ich könnte es für Sie erledigen«, bot er sich an.

»Nein, das tue ich schon selbst. Wohin muß ich da gehen?«

»Zum Opi von Bambi«, mischte sich Christoph ein. »Ich zeige es dir, Ria.«

»Wir können damit doch warten, bis Corri wieder ganz gesund ist«, meinte Viktoria.

»Es ist auch wegen Ihrer Versicherung, das ist Vorschrift«, sagte Till.

»Ich bin versichert. Das brauchen Sie nicht zu übernehmen, und überhaupt, ich habe hier doch alles, ich brauche nicht noch extra ein Gehalt.«

Verblüfft sah er sie an.

»Sie sind eine seltsame Heilige, Ria«, stotterte er. »Wollen Sie sich umsonst plagen?«

»Ich plage mich nicht. Die Kinder machen mir Freude. Und sie stellen keine unbequemen Fragen.« Das war ihr ungewollt über die Lippen gekommen.

»Haben Sie denn welche zu fürchten?« fragte er nachdenklich. »Nein, ich werde keine Fragen stellen«, fuhr er rasch fort. »Ich verlasse mich auf mein Gefühl.«

Und was sagte ihm dieses Gefühl? Bestimmt nicht, daß sie Viktoria war! Sollte sie sich darüber freuen oder traurig sein?

Ein Ausdruck war in ihrem Gesicht, der ihm den Atem stocken ließ. Wenn er ihr doch einmal in die Augen sehen könnte, wünschte er sich. Warum wünschte er das? Weil sie Erinnerungen in ihm weckte?

Aber es waren zu schmerzliche Erinnerungen, als daß er ihnen Raum geben wollte.

»Ich muß die Schulaufgaben korrigieren«, sagte er rauh. »Sie haben übrigens eine ganz seltene Haarfarbe«, fügte er geistesabwesend hinzu.

Hätte ich mir die Haare doch färben lassen sollen, überlegte sie. Sie hatte mit dem Gedanken gespielt, sich aber nicht dazu aufraffen können. Es war das einzige, was von der einstigen Viktoria übriggeblieben war.

Und das Herz, die Seele? War dies nicht geblieben?

*

Abends, als Viktoria Till eine gute Nacht wünschte, war sie voll ängstlicher Spannung.

Er saß noch an seinem Schreibtisch über den Schulheften und blickte nur kurz auf.

»Diese Rangen«, seufzte er, »man möchte fast meinen, daß man tauben Ohren predigt.«

»Die Kinder waren doch brav«, sagte Viktoria.

»Ich meine die Schulkinder. Fehler haben sie wieder gemacht, daß man Zahnweh bekommen kann. Wenn man ihnen doch nur begreiflich machen könnte, daß sie für sich selbst, für ihr eigenes Leben lernen. Sie sehen immer nur den Pauker, den sie gern ärgern möchten. Verwöhnen Sie die Kinder nicht zu sehr«, wechselte er sprunghaft das Thema.

Er sah so müde aus. Am liebsten hätte sie ihn gefragt, ob sie ihm helfen könne.

»Soll ich Ihnen noch einen Tee bringen oder irgend etwas anderes?« fragte sie.

»Mich dürfen Sie auch nicht verwöhnen, Ria«, erwiderte er. »Ich bin gewohnt, mich selbst zu versorgen. Gute Nacht, es war ein anstrengender Tag für Sie.«

Sie ging lieber, bevor sie doch noch von ihren Gefühlen überwältigt wurde, denn jetzt wußte sie ganz genau, wie lieblos ihr Leben in den letzten zehn Jahren gewesen war.

Karriere, Karriere, verbunden mit einer Hetze von Ort zu Ort, die ihr keine Zeit zur Besinnlichkeit und inneren Einkehr gelassen hatte.

Sie sank auf das Bett und bohrte ihren Kopf in das Kissen. Sie wollte nicht mehr denken. Sie hatte nicht mehr Viktoria Lindberg zu sein. Sie war Ria Burg, ausersehen von der Vorsehung, Till Jalecks Kinder zu betreuen. Sonst nichts!

Sie stand wieder auf, ging leise in das Bad und knipste das Licht an.

Sie sah ihr Gesicht im Spiegel, ein Gesicht, an das sie sich noch immer nicht gewöhnen konnte.

Glatt spannte sich die Haut über die Wangenknochen, zu glatt für eine Frau von einunddreißig Jahren. Die Kunst der Chirurgen hatte das vollbracht. Ein ganz ansehnliches, aber leeres Gesicht. Eine Maske!

Niemand brauchte sich davor zu fürchten, und wahrscheinlich würde Maria Dosch die einzige bleiben, die die winzige Ecke, die ihrem Schneidezahn fehlte, auffiel. Es war ja kaum zu bemerken.

Viktoria dachte an den Tag, an dem sie alle Bilder, die sie von sich selbst besaß, verbrannt hatte, um sich nicht mehr daran zu erinnern, wie sie früher einmal aussah. Hatte sie nicht geglaubt, daß sie damit alles auslöschen könnte?

Es war, als sänke ein Schleier über den Spiegel oder ihr Gesicht herab und als würde sie nun ein anderes erblicken, das der siebzehnjährigen Vicky, die zum erstenmal in ihrem jungen Leben geküßt worden war, von Till, dem Sohn des Gärtners, mit dem sie sich nur heimlich treffen konnte…

*

Till klappte das letzte Heft zu und zog die Schreibtischschublade auf, der er eine Ledermappe entnahm, die mit einem Schloß gesichert war.

Niemand außer ihm hatte den Inhalt bisher zu Gesicht bekommen, auch Gerda nicht.

Nun lag sie offen vor ihm. Ein paar Briefe, denen man ansah, daß sie oft gelesen worden waren, Zeitungsausschnitte, die schon gelblich gefärbt waren, ein paar Fotos.

Eine fettgedruckte Überschrift sprang in die Augen: »Viktoria Lindberg – ein junges Talent auf dem Weg zum Ruhm.« Das Bild darunter zeigte ein zierliches Mädchen im dunklen Kleid vor dem Flügel sitzend.

Die Fotografien zeigten Viktoria als Fünfzehnjährige im Dirndlkleid, als Siebzehnjährige im Skianzug. Dann ein Porträtfoto, auf dessen Rückseite geschrieben stand: »So sehe ich jetzt aus. Erkennst du mich noch?«

Sie hatte es dem einzigen Brief beigefügt gehabt, den sie aus der Fremde geschrieben hatte. Dann, bald danach, mußte die andere Welt sie so gefangengenommen haben, daß sie keine Zeit mehr hatte, an ihn zu denken. Oder es war ein anderer Mann gewesen!

Von dem Unfall auf der Bühne hatte er selbst nichts gelesen. Er hatte nur flüchtig davon gehört, als man im Lehrerkollegium darüber sprach.

Er hatte keine Fragen gestellt. Er wollte davon keine Notiz nehmen. Es sollte vorbei sein mit den Gedanken an Vicky. Er hatte den Schlußstrich doch schon gezogen, als er die junge Kollegin Gerda heiratete.

War das nicht eine Selbsttäuschung? Warum sonst suchte er jetzt alle nur möglichen Ähnlichkeiten mit Vicky in Ria?

Es ist nicht nur das Haar, es ist auch die Stimme, der Mund, dachte er. Wenn ich doch nur ihre Augen sehen könnte. Bestimmt hat sie ganz andere Augen als Vicky, und Vicky hatte auch nicht eine so gerade Nase gehabt. Sie hatte sich immer darüber geärgert, daß sie einen winzigen Schwung nach oben hatte.

Er war sich nicht bewußt geworden, daß seine innere Auflehnung der eigentliche Grund war, daß er Vicky nicht erkannte. Er wollte sich überzeugen, daß er sich diese Ähnlichkeiten nur einredete, er wollte die innere Stimme zum Schweigen bringen, die ihm da sagte: Das ist Vicky, das muß sie sein, wenn sie auch ein anderes Gesicht hat!

Aber man bekam doch nicht so einfach ein anderes Gesicht. Und wenn man so eine berühmte Pianistin geworden war, ging man nicht in die Heimat zurück, um bei dem Jugendfreund Haushälterin zu spielen.

Till schalt sich all diesen Gedanken. Er war müde, sein Kopf schmerzte, und seine Augen brannten. Morgen brauche ich nicht schon halb sechs Uhr aufstehen, dachte er, als er den Wecker stellte. Und dann kam der Schlaf und mit ihm die Träume, in denen Vickys und Rias Gesicht ineinanderflossen…

*

Viktoria wurde von etwas Feuchtem geweckt, das ihre Wange berührte. Es war Christophs Mund.

»Hat der Wecker denn schon geklingelt?« fragte sie, zu verwirrt, um diesen zärtlichen Augenblick auszukosten.

»Ich wache immer von allein auf«, wisperte Christoph. »Papi muß uns doch immer ganz früh fertig machen und in den Kindergarten bringen.«

»Jetzt braucht ihr nicht mehr in den Kindergarten, und von jetzt an wird länger geschlafen, Christoph.«

Sie sah, daß es noch nicht ganz sechs Uhr war. Liebe Güte, so früh hatte Till immer schon aufstehen müssen.

»Ich wollte auch nur mal gucken, ob du noch da bist«, gab Christoph zu. »Du siehst sehr hübsch aus ohne Brille, Ria.«

Sie mußte unwillkürlich lachen.

»Mach jetzt keine Komplimente, sondern leg dich wieder hin. Du bist ja noch so müde.«

»Könnte ich nicht ein bißchen bei dir bleiben?« fragte er.

»Und was wird der Papi dazu sagen?«

»Er braucht es doch nicht zu wissen. Er traut sich bestimmt nicht in dein Zimmer«, flüsterte er. »Er macht sich seinen Kaffee auch allein.«

»Von heute an nicht mehr«, erklärte sie. »Na schön, fünf Minuten, du Schlingel.«

Blitzschnell kroch er unter die Decke. Zärtlich rieb er sein Näschen an ihrer Schulter.

»Es ist so schön, daß du da bist, Ria«, flüsterte er. »So schön war es noch nie. Und wenn du keine Brille aufhast, siehst du wie das Christkind aus.«

Es blieb natürlich nicht bei den fünf Minuten, und als er fürchten mußte, daß sie ihn daran erinnerte, schloß er die Augen und dann war er auch schon wieder eingeschlafen.

Sie stand schnell auf, als sie im Bad das Wasser rauschen hörte. Sie nahm sich nicht lange Zeit für die Morgentoilette. Nein, jetzt sollte Till sich den Kaffee nicht mehr allein bereiten müssen.

Er hatte nicht gehört, daß sie in die Küche gegangen war. Ganz erschrocken sah er sie an, als er eintrat.

»Guten Morgen«, sagte sie heiter.

»Guten Morgen. Aber meinetwegen brauchen Sie nicht so früh aufzustehen.«

Er war bei weitem nicht so gelassen wie sie. Er sah aus wie ein großer, verlegener Junge. Etwa so wie an jenem Tag, als er ihr eine Rose mitbrachte. Verschämt hatte er sie unter seiner Jacke verborgen gehalten. Daran mußte sie jetzt denken.

Natürlich hatte sie jetzt wieder die Brille auf, und er konnte in ihren Augen nicht den weichen Schimmer sehen. Aber er sah ihren lächelnden Mund und starrte fasziniert darauf. Irgend etwas, eine winzige Kleinigkeit, verwirrte ihn.

Aber wieder dachte er, daß er sich etwas einredete.

»Möchten Sie das Ei hart oder weich?« fragte sie, obgleich sie ganz genau wußte, daß er nur hartgekochte Eier mochte.

»Eigentlich hatte ich in der Früh nie Zeit, etwas zu essen«, erwiderte er.

»Dann werden Sie sich jetzt wieder daran gewöhnen. Mit einem guten Frühstück beginnt der Tag noch mal so schön.«

»Daß Christoph noch gar nicht munter ist«, bemerkte er, als er sich am Tisch niederließ.

»Er war es schon. Ich habe ihn wieder ins Bett gesteckt.« Sie verriet allerdings nicht, daß er in ihrem Bett lag.

»Er könnte auch weiter in den Kindergarten gehen. Wäre das nicht eine Entlastung für Sie?« fragte Till.

»Nein. Er könnte es als ungerecht empfinden.«

»Sie scheinen von Kindern eine ganze Menge zu verstehen«, äußerte Till beiläufig.

»Das ist reine Gefühlssache. Bisher hatte ich noch gar nicht mit Kindern zu tun. Leider…!«

»Was haben Sie denn bisher gemacht, Ria?« fragte er nebenbei.

»Nichts, was von Bedeutung gewesen wäre.«

Sie wandte sich ab, als er sie forschend anblickte.

»Ach, ich wollte ja keine Fragen stellen«, murmelte er.

»Dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar«, sagte sie gepreßt. »Es macht alles leichter.«

Und in diesem Augenblick wußte er es. Ganz deutlich wurde es ihm bewußt, daß er Viktoria vor sich sah. Aber er hatte sich in der Gewalt. Er sprach es nicht aus.

Er hatte keine Erklärung dafür, daß er schwieg. Es war wieder die innere Stimme, die ihn warnte. Und er mußte auch erst mit sich selbst ins reine kommen.

Es war ein Glück, daß Corri sich meldete und Viktoria sofort zu ihr lief. Vielleicht hätten schon die nächsten Sekunden eine Entscheidung herbeigeführt, die Till in dem Wirrwarr seiner Gefühle zu Ungerechtigkeiten verleitet hätten.

Doch nun war es Zeit für ihn, zur Schule zu fahren.

»Ich gehe jetzt«, rief er hinauf. Viktoria erschien, mit Corri auf dem Arm, an der Treppe.

»Was möchten Sie heute zu Mittag essen?« fragte sie.

»Das ist mir gleich. Nein, ich hätte mal Appetit auf Bohneneintopf. Grüne Bohnen.«

Ihr Herz tat einen schnellen Schlag. Das war früher ihr Leibgericht gewesen, seines aber auch.

»Schmeckt das, Ria?« fragte Corri.

»Das schmeckt wunderbar, Schätzchen«, sagte sie, und ihre Stimme schwang wie eine Glocke.

*

Es ist Vicky, dachte Till. Mit einem andern Gesicht, aber doch Vicky.

Es war so unbegreiflich, daß er seine Gedanken nicht davon lösen konnte.

Auf dem Parkplatz vor der Schule traf er Fabian Rückert. Er verstand sich ausnehmend gut mit dem Jüngeren.

»Es spricht sich herum, daß Sie eine Betreuerin für Ihre Kinder gefunden haben, Herr Jaleck«, sagte Fabian. »Sind Sie zufrieden?«

Zufrieden? Du lieber Gott, was sollte er darauf antworten. Es war Vicky!

»Die Kinder sind zufrieden«, erwiderte er.

»Das ist die Hauptsache«, meinte Fabian.

Damit war das Gespräch auch schon wieder beendet. Sie gingen beide in ihre Klassen.

»Also, Herrschaften, die Schulaufgabe ist saumäßig ausgefallen«, leitete Till den Unterricht ein. »Damit ihr nicht in Schwierigkeiten bei den Zensuren kommt, werden wir sie übermorgen wiederholen. Tut mir den Gefallen und setzt euch auf die Hosen!«

Er blickte in bestürzte Gesichter, aber auch dabei dachte er an Vicky. Und da saßen sie vor ihm, diese Vierzehn- und Fünfzehnjährigen, die mit ihren Gedanken oftmals nicht bei der Sache waren.

»Schreiben wir die Schulaufgabe wirklich noch mal?« fragte Hannes Auerbach.

Till Jaleck kehrte in die Gegenwart zurück.

»Ich habe es doch gesagt. Aber ich möchte darum bitten, daß ihr mir keine Schande macht.«

*

»Der Jaleck ist schon ein pfundiger Knabe«, berichtete Hannes Auerbach daheim. »Wir haben die Schulaufgabe verhauen, und er läßt sie noch mal schreiben.«

»Er hätte wahrhaft verständigere Schüler verdient«, stellte Inge fest.

»Er hat jetzt auch eine Dame für seine Kinder«, mischte sich Bambi ein. »Frau Richter hat es Sandra erzählt.«

»Das muß ja ein Engel sein«, bemerkte Hannes. »Er ist die Toleranz in Person.«

»Er ist ein ausgezeichneter Pädagoge«, sagte Inge. »Ich hätte nicht die Nerven, mit euch Rabauken fertig zu werden.«

»Mit uns wirst du auch fertig, Mami«, erklärte Hannes unbekümmert. »Aber ich habe doch nie was gegen den Jaleck gesagt.«

»Fleißiger bist du aber auch nicht«, kritisierte sie. »Willst du eigentlich alle Klassen zweimal absolvieren, Hannes?«

Er wurde knallrot, denn gern ließ er sich nicht daran erinnern, daß er sitzengeblieben war.

Er hatte so sehr gehofft, daß die Tatsache, Fabian Rückerts Schwager zu sein, sich als zwingender erweisen würde, als seine schulischen Leistungen. Aber da hatte er sich schwer geirrt. Fabian hatte ihm schön die Leviten gelesen und ihm klar zu verstehen gegeben, daß Faulheit nicht auch noch durch persönliche Intervention honoriert würde.

Bambi war wieder einmal bemüht, ihren geliebten Hannes in Schutz zu nehmen.

»Er ist doch immer noch einer von den Jüngsten in der Klasse, Mami«, sagte sie und erntete dafür einen dankbaren Blick des großen Bruders.

»Papi hat das Abitur mit knapp achtzehn Jahren gemacht«, entgegnete Inge Auerbach unbeirrt. »Hannes macht es mit zwanzig.«

»Mit neunzehn«, warf Hannes ein.

»Wenn du nicht noch mal kleben bleibst«, stellte Inge drastisch fest. »Aber das ist ja nicht mein Bier.«

Sie hatte ihre ganz besondere Art, solcherlei Probleme zu bewältigen, und damit traf sie meistens ins Schwarze. Hannes saß wie ein begossener Pudel da.

»Ich bin eben nicht so gescheit wie Papi und Jörg«, brummte er. »Ich bin das schwarze Schaf der Familie. Eins gibt es ja überall.«

»Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung«, äußerte Inge ungerührt.

»Diesmal schreibt Hannes bestimmt einen Einser, Mami«, schmeichelte Bambi, »oder wenigstens einen Zweier.«

»Wer’s glaubt, wird selig«, sagte Inge. »So, jetzt wird gegessen, und dann setzt du dich auf die Hosen, mein Sohn!«

»Da habe ich nun einen Vater, der ein mathematisches Genie ist, aber erklären kann er mir nichts«, brummte Hannes.

»Er kann dir doch nichts eintrichtern, wozu dein Grips nicht reicht«, antwortete seine Mutter.

»Er ist eben so sehr schlau«, warf Bambi ein. »Er kann ja auch Sachen erfinden, auf die andere nicht kommen.« Unverhohlener Stolz auf ihren Papi sprach aus ihrer Stimme. »Ich habe dich immer lieb, Hannes, auch wenn du dumm bleibst«, versicherte sie dann.

Und vielleicht erreichte sie damit bei ihm mehr, als jeder andere Zuspruch bewirkt hätte, denn vor Bambi dumm dazustehen wollte Hannes zuallerletzt.

»Du bist eine komische Nudel«, meinte er, »aber böse sein kann man dir nicht.«

Für solche Worte wollte Bambi auch gern eine komische Nudel sein. Was Hannes sagte, empfand sie nie als eine Kränkung.

*

Till hatte nach der Schule den Redakteur des Hohenborner Tageblatts aufgesucht.

Er kannte Klaus Lienau, der auch in Erlenried wohnte, recht gut und konnte sicher sein, bei ihm die Auskünfte zu erhalten, die er haben wollte. Lienau war immer bestens informiert.

»Nett, daß Sie mich mal wieder besuchen, Herr Jaleck«, freute sich Klaus Lienau. »Hoffentlich müssen Sie nicht schon wieder eine Annonce aufgeben. Ich hörte doch von meiner Frau, daß Sie jetzt eine Haushälterin gefunden hätten.«

»Ja, das haben wir«, erwiderte Till, »und wir sind sehr zufrieden.«

Unwillkürlich mußte er daran denken, daß Viktoria jetzt mit dem Bohneneintopf auf ihn warten würde, und aus diesem Grund wollte er sich nicht lange aufhalten.

»Ich hätte heute eine Frage«, begann er stockend. »Könnten Sie mir etwas Genaueres über den Unfall sagen, den Viktoria Lindberg vor ein paar Monaten hatte?«

Klaus Lienau starrte ihn verblüfft an.

»Das darf doch nicht wahr sein! Sie sind heute schon der zweite, der danach fragt. Ist sie etwa heimgekehrt nach Hohenborn?«

»Nicht, daß ich wüßte«, entgegnete Till ausweichend. »Ich wollte mich schon immer mal erkundigen, da ich sie von der Schulzeit her kannte, aber bis jetzt hatte ich ja nie Zeit.«

Seine Stimme war unsicher, denn er war sehr erschrocken, daß sich noch jemand nach Viktoria erkundigt hatte. War sie etwa schon erkannt worden?

Seltsam, dachte Klaus Lienau, er war doch schon ein paarmal bei mir, da hätte er mich doch nach der Lindberg fragen können.

»Darf ich fragen, wer sich noch für Viktoria interessiert?« kam es zögernd über Tills Lippen.

»Der Korbinian Gruber. Ich habe gedacht, ich sehe nicht recht, als er hier hereinspaziert kam.«

»Er ist Viktorias Onkel«, erklärte Till leise.

»Ja, das habe ich inzwischen erfahren. Aber ein komisches Zusammentreffen ist es schon, daß Sie nun auch nach ihr fragen. Und jetzt brauche ich nicht mal zu kramen. Die Unterlagen liegen noch auf meinem Schreibtisch. Ja, das muß eine ganz üble Geschichte gewesen sein«, fuhr er nach einer kleinen Pause fort. »Ihre Verletzungen sollen so schwer gewesen sein, daß sie ihren Beruf nicht mehr ausüben kann. Und das Gesicht soll völlig entstellt sein. Nun, da gibt es heutzutage ja Möglichkeiten, dies zu beheben. Aber wenn ein Arm nicht mehr mitspielt, ist es tatsächlich aus mit der Karriere. Dem alten Gruber ist es mächtig an die Nieren gegangen. Er scheint ja nicht mehr mit ihr in Verbindung gestanden zu haben.«

»Ihn hat es sehr getroffen, daß sie damals weggegangen ist. Er hat es ihr nicht verziehen«, sagte Till.

»Es ist ein Jammer um die Frau. Hoffentlich hält ihr Mann zu ihr.«

»Ihr Mann?« Till war fahl geworden, und Klaus Lienau brauchte nicht mehr viel zu kombinieren.

»Es hieß jedenfalls, daß sie kurz vor der Hochzeit stünde. Irgendwo habe ich doch was darüber gelesen.«

Er blätterte in den Ausschnitten und zog einen hervor.

»Laut United Press sollte die Hochzeit im Juni vorigen Jahres stattfinden. Gary Gorden heißt der Mann, Werbemanager oder so was Ähnliches. Das ist alles, was ich anzubieten habe.«

»Vielen Dank. Ich muß mich jetzt beeilen.«

»Die Perle nur nicht warten lassen«, spottete Klaus Lienau, »sonst geht sie wieder auf und davon. Man muß sie heutzutage ja mit Glacéhandschuhen anfassen.«

Vicky ist verheiratet, bohrte es in Tills Kopf. Aber es mußte wohl schiefgegangen sein, wenn sie sich hier verkroch. Doch warum gerade bei ihm? Warum nicht bei ihrem Onkel? Mußte er sie nicht einfach fragen?

Nein, Vicky sollte es ihm selbst sagen. Ewig konnte sie doch nicht Versteck spielen.

Wieso hatte der Gruber-Bauer gerade heute nach ihr gefragt? Hatte er sie etwa gesehen? Aber auf den ersten Blick würde auch er sie nicht erkennen.

*

Doch darin täuschte sich Till. Der Gruber-Bauer hatte scharfe Augen, trotz seines Alters, und einen wachen Geist. Außerdem achtete er bei den Menschen nicht so sehr auf die Gesichter, sondern mehr auf ihre Art, sich zu bewegen, auf die Stimme und die Augen.

Der Gruber-Bauer kam jetzt oft nach Erlenried, nachdem in seinem Wald, der nun der Gemeinde gehörte, wieder Ruhe eingekehrt war.

Das dramatische Geschehen um den vermeintlichen Wilderer, der sich als Hasso von Süllberg entpuppt hatte, gehörte schon der Vergangenheit an. Im Interesse aller Betroffenen wurde darüber geschwiegen.

Doch die Freundschaft, die der Gruber-Bauer mit der kleinen Bambi geschlossen hatte, wirkte sich auch auf seinen Umgang mit den Bewohnern von Erlenried aus, die sich an die Eigenarten des alten Mannes gewöhnt hatten und ihm nicht mehr aus dem Weg gingen.

Korbinian Gruber war es zur lieben Gewohnheit geworden, Bambi zu einem Spaziergang abzuholen und danach im »Seeblick« mit ihr einzukehren.

So auch an diesem Tag, der klar und trocken war.

Viktoria hatte Corri warm angezogen und in den Kinderwagen gesetzt, denn sie mußte die grünen Bohnen für die Mittagsmahlzeit besorgen.

Christoph war ganz begeistert, daß er seiner Ria Erlenried zeigen konnte. Corri hatte ihre Erkältung schon fast überwunden, und frische Luft konnte ihr nicht schaden.

Lange konnten sie ohnehin nicht ausbleiben, denn die Bohnen mußten noch zubereitet werden. Christoph wußte genau, wo man welche bekommen konnte.

Aber sie hatten Pech. Leider wäre die ganze Ration heute an den »Seeblick« verkauft worden, wurde ihr gesagt.

Doch Till hatte sich grüne Bohnen gewünscht, und sie wollte ihm den ersten Wunsch, den er geäußert hatte, erfüllen. Carla Richter hatte ihr doch so nett angeboten, sie aufzusuchen, wenn sie mal einen Rat brauchte. Sicher würde sie ihr auch eine kleine Menge Bohnen überlassen.

»Wir wollen doch den Papi nicht enttäuschen«, bemerkte sie, als sie den Weg zum »Seeblick« einschlugen.

»Du bist ganz mächtig lieb«, flüsterte Christoph.

Von Carla, die ihren kleinen Toni auf dem Arm hielt, wurden sie freudig begrüßt.

»Na, jetzt geht es euch wohl gut?« fragte Carla lächelnd.

»Sehr gut«, erwiderte Christoph und nickte bekräftigend.

Viktoria trug ihre Bitte vor. Carla lachte.

»Wenn es weiter nichts ist. Würden Sie Toni bitte mal einen Augenblick nehmen, dann hole ich die Bohnen gleich.«

Corri zog einen Schmollmund, als Viktoria den Kleinen auf den Arm nahm.

»Ist meine Ria!« murrte sie.

»Unsere Ria!« sagte auch Christoph eifersüchtig.

Aber Toni schien das nicht zu stören. Ihn interessierte Viktorias Brille, und ehe sie es sich versah, hatte er sie auch schon von der Nase gezogen.

Im gleichen Augenblick ging die Tür auf, und der Gruber-Bauer und Bambi traten ein.

Viktoria war so überrascht und erschrocken, daß sie völlig vergaß, daß sie die Brille nicht aufhatte.

Sie starrte ihren Onkel fassungslos an, fassungslos vor allem deswegen, daß er das kleine Mädchen bei sich hatte, das sie an jenem ersten Abend vor dem Haus von Dr. Rückert gesehen hatte.

Sie merkte auch nicht, daß Bambi sie ebenfalls staunend anblickte.

»Deine Brille, Ria«, erinnerte Christoph sie. »Toni macht sie kaputt. Tag, Bambi, guten Tag, Gruber-Bauer«, sagte er dann.

Corri klatschte in die Hände und rief: »Bambi!«

»Auch Bambi!« schrie Toni ungehalten.

Und der Gruber stand wie zur Bildsäule erstarrt und wandte keinen Blick von Viktoria.

Sie schob ihre Brille wieder auf die Nase und bemühte sich, ihrer Verwirrung Herr zu werden.

Carla kam mit den Bohnen, nahm ihr Toni ab und begrüßte Korbinian Gruber.

»Wir müssen uns jetzt beeilen«, äußerte Viktoria überstürzt. »Sonst wird das Essen nicht fertig.«

»Kommen Sie bald wieder«, rief Carla ihnen nach.

»Du kannst jetzt auch mal zu uns kommen, Bambi«, sagte Christoph noch. Dann waren sie glücklich wieder draußen, und Viktoria atmete auf.

»Das war Dr. Jalecks Haushälterin«, erklärte Carla arglos.

»Wie heißt sie?« fragte der Gruber-Bauer.

»Burg«, erwiderte Carla unbefangen.

»Sie ist eine Dame«, stellte Bambi fest. »Und ich habe sie schon mal gesehen.«

»Wir werden sie jetzt öfter sehen«, lächelte Carla Richter. »Ich hoffe wenigstens, daß sie Dr. Jaleck recht lange erhalten bleibt. Mit den Kindern versteht sie sich sehr gut.«

Der Gruber-Bauer ließ sich an seinem Stammtisch nieder. Bambi setzte sich neben ihn.

»Wo hast du sie denn gesehen, Bambi?« fragte er, als Carla gegangen war, um die Schinkenbrote zu holen.

»In Hohenborn. An dem Abend, als wir von Tante Rosemarie und Onkel Heinz kamen. Ich habe sie genau erkannt.«

Seine Hand lag zur Faust geballt auf dem Tisch. Ganz weiß traten die Knöchel hervor.

»Heute muß ich mich beeilen, Bambi«, sagte er plötzlich. »Ich hätte beinahe vergessen, daß ich in Hohenborn etwas zu erledigen habe.«

»Nach Hohenborn müssen Sie, Herr Gruber?« fragte Carla, die eben mit den Broten kam. »Da können Sie gleich mit meinem Mann fahren. Ihr Brot können Sie schon noch essen.«

Aber zu ihrer Verwunderung schien er heute gar keinen Appetit zu haben.

*

Viktorias Herzklopfen hatte sich gelegt. Er kann mich doch gar nicht erkannt haben, beschwichtigte sie sich, doch der Schreck saß ihr noch immer in den Gliedern.

»Du kennst das kleine Mädchen?« fragte sie beiläufig.

»Freilich, das ist Bambi Auerbach, die kennt jeder. Der Gruber-Bauer geht oft mit ihr spazieren. Früher hatten alle Angst vor ihm, nur Bambi nicht. Aber jetzt braucht keiner mehr Angst vor ihm zu haben. Er hat uns seinen ganzen Wald geschenkt.«

»Seinen Wald?« fragte Viktoria atemlos. »Euch?«

»Erlenried hat er ihn geschenkt, weil jetzt Ruhe ist, weil Jonny den Wilderer geschnappt hat.«

»Einen Wilderer? Wer ist Jonny?«

»Bambis Hund. Das ist ein schöner Hund.«

»Söner Hund«, echote Corri.

»Der Wilderer hat immer geschossen«, erzählte Christoph eifrig, »bis Jonny ihn geschnappt hat. Nun ist wieder Ruhe, und der Gruber-Bauer geht in Erlenried spazieren.«

»Er geht in Erlenried spazieren?« wiederholte sie gedankenverloren.

»Wir müssen noch Fleisch holen, Ria«, bemerkte Christian, und er erinnerte sie damit auch an ihre Pflichten.

Sie mußte sich jetzt beeilen, wenn das Essen pünktlich fertig sein sollte.

So war es ganz gut, daß Till nicht so früh wie erwartet kam. Viktoria war so erhitzt, daß ihre Brillengläser beschlugen, und zum zweitenmal an diesem Tag sah jemand ihre Augen unverhüllt.

Ausgerechnet in dem Moment, als sie die Gläser putzte, war Till eingetreten.

Verwirrt und hilflos schlug sie die Augen nieder.

»Das Essen ist fertig«, flüsterte sie.

»Wir mußten erst Bohnen holen, Papi«, erzählte Christoph aufgeregt. »Und dann hatten sie alle an den ›Seeblick‹ verkauft. Da hat Ria gesagt, wir holen dort welche, damit du nicht enttäuscht bist. Ist das nicht lieb?«

»Ja, das ist lieb.«

»Und dann haben wir Bambi und den Gruber-Bauern getroffen«, berichtete Christoph weiter.

»Was hat er gesagt?« fragte Till überstürzt.

»Was soll er denn gesagt haben?« wunderte sich Christoph. »Wir hatten doch auch keine Zeit, wir sind gleich gegangen.«

Und danach muß er nach Hohenborn gefahren sein, um sich nach Vicky zu erkundigen, dachte Till. Er hat sie erkannt. Was würde die Folge davon sein? War es nicht doch besser, er sprach mit Viktoria, wenn sie selbst schon nicht den Mut dazu fand?

*

»Es war ein Genuß«, sagte Till. »Vielen Dank, Ria. Es ist eine Ewigkeit her, daß es mir so geschmeckt hat. Genaugenommen schon zehn Jahre.«

Er wollte ihr eine Brücke bauen, aber es war ein Schlag ins Wasser. Sie erwiderte nichts darauf.

»Wir müssen mal einen Küchenzettel zusammenstellen«, äußerte sie nur. »Ich kaufe dann immer gleich für ein paar Tage ein.«

»Gehen wir heute spazieren?« fragte Christoph. »Es ist so schönes Wetter.«

»Zuerst wird ein Stündchen geschlafen«, erklärte sie. »Sie sollten sich mittags auch ein bißchen hinlegen, Herr Doktor.«

Formeller geht’s wirklich nicht mehr, dachte Till. Wann wird sie sich endlich mal verplappern?

Bevor er noch etwas sagen konnte, war er schon wieder allein.

*

Der Gruber-Bauer war in Hohenborn geblieben. Vom Hohenborner Tageblatt hatte sein Weg zu Dr. Rückert geführt. Er war noch auf dem Gericht. Seine Frau teilte es ihm mit und fragte ihn, ob er am frühen Nachmittag noch einmal kommen könnte.

Nun war er schon mal in der Stadt und wollte auch nicht unverrichteter Dinge wieder heimfahren. Ungewohnt war es schon für ihn, hier herumzuwandern. Wenn er sich auch nicht mehr gar so von allen Menschen abschloß, Hohenborn hatte er doch immer noch gemieden.

Die alten Beine wollten nicht mehr so recht. Zum Pflastertreten hatten sie noch nie getaugt. Er lenkte seine müden Schritte zum Hotel »Zur Post«.

Maria Dosch, die Heli an der Rezeption abgelöst hatte, damit sie essen konnte, starrte ihn an wie einen Geist, als er die Halle betrat.

»Bekomme ich bei euch was zu essen, Maria?« fragte er rauh.

»Aber gewiß doch«, stammelte sie. »Der Gruber-Korbinian! Das ist doch nicht zu glauben, daß man dich hier auch mal zu sehen bekommt.«

»Herausgemacht habt ihr euch. Hast dich tapfer gehalten, Maria. Helfen die Kinder?«

»Freilich, sonst ginge es doch gar nicht. Nimm schon Platz, Korbinian. Wenn die Heli kommt, setz ich mich zu dir. Ist schon lange her, daß wir miteinander geredet haben.«

»Es findet ja keiner den Weg zu mir«, brummte er. »Aber das wird wohl meine Schuld sein.«

Maria Dosch kam aus dem Staunen nicht heraus. Es gab doch noch Wunder. Ein Korbinian Gruber, der sich selbst an etwas die Schuld gab, war eines.

*

Sie saßen dann in einer stillen Ecke. Er hatte das Essen gelobt und sich wohlwollend über Kurt und Heli geäußert.

Er war sanft wie ein Lamm.

»Hast mal was von der Vicky gehört?« fragte er heiser.

Maria sah sich in die Enge getrieben. Sie schüttelte verlegen den Kopf.

»Was von dem Unfall?« fragte er weiter.

»Muß recht schlimm gewesen sein«, erwiderte sie ausweichend.

Er starrte an ihr vorbei.

»Ich hab sie gesehen«, bemerkte er tonlos. »Ich hab die Vicky gesehen.«

Maria wurde blaß. Ihre Stimme zitterte, als sie sagte: »Hast dich nicht getäuscht?«

»Ich hab ihre Augen gesehen und ihre Stimme gehört, das genügt mir.«

»Aber sie trägt doch eine dunkle Brille«, entfuhr es ihr.

»Jetzt hab ich dich! Siehst du, du hast sie auch gesehen! Ich hab es mir doch gedacht. Wenn einer sie gleich erkennt, dann sind es wir zwei. Jetzt frage ich mich nur, ob der Till blind ist oder ob sie es nur für die Leute tun, daß sie unter einem andern Namen bei ihm ist.«

»Du weißt sehr viel, Korbinian«, murmelte Maria.

»Ich sitze nicht immer nur in meinem Bau. Ich habe die Vicky mit den Kindern von Till gesehen. Warum ist sie nicht zu mir gekommen, Maria?«

Diese gequälte Frage erschütterte sie. Sie legte ihre Hand auf seine knochigen Finger.

»Hast du nicht gesagt, daß sie dir nicht mehr unter die Augen kommen soll, Korbinian?« fragte sie sanft.

»Es ist lange her. Zu lange. Kennst mich doch, Maria. Bei mir ist schnell was gesagt.«

»Und lange nicht vergessen«, warf sie ein. »Früher war es jedenfalls so, und Vicky wird nicht glauben, daß sich etwas geändert hat.«

»Was hat sie dir gesagt?«

Maria zögerte. »Ich habe ihr versprechen müssen, niemandem zu verraten, daß sie hier ist. Ich habe es auch meinen Kindern nicht gesagt, Korbinian.«

»Ich habe selbst herausgefunden, daß sie hier ist. Jetzt rede nicht herum!«

»Sie hat sich bei uns ein Zimmer genommen, und daß sie beim Till ist, hat sich wohl ganz zufällig ergeben. Sie meint, daß man sie mit dem veränderten Gesicht nicht erkennt. Ich habe sie ja auch nur an dem Zahn erkannt. Sie muß viel mitgemacht haben. Laß ihr Zeit, Korbinian. Es hängt ihr auch nach, daß sie alle Brücken abgebrochen hat.«

»Ich habe nicht mehr viel Zeit. Ich bin zu alt, um noch lange zu warten. Ich habe gewußt, daß ihr dies Leben kein Glück bringt. Hat sie nichts gesagt, daß sie geheiratet hat?«

»Hat sie das?« fragte Maria bestürzt.

»Geschrieben hat man darüber. Aber im Unglück lassen einen alle allein. Ich muß jetzt noch zum Dr. Rückert. Hab was Wichtiges zu besprechen. Hast du viel aufnehmen müssen, um das Haus herrichten zu lassen, Maria?«

»Eine ganze Menge, aber wir schaffen es schon. Durch Herrn Münster kommen viele Gäste, und er hat uns auch die Hypothek gegeben.«

»Hättest ja auch zu mir kommen können«, brummte er.

»Oh Korbinian, was hast du dich verändert«, sagte sie staunend.

*

Auch bei den Auerbachs war die Rede von Viktoria, denn Bambi mußte ihre Neuigkeit loswerden.

»Die nette Dame, die jetzt bei Christoph und Corri ist, ist die gleiche, die ich neulich abend gesehen habe«, verkündete sie. »Bei Ihnen hat’s heute auch grüne Bohnen gegeben, die hat sie vom ›Seeblick‹ geholt. Und er Gruber-Bauer hatte es heute mächtig eilig. Er mußte noch nach Hohenborn. Ich kann jetzt auch mal zu ihnen kommen, hat Christoph gesagt.«

»Nicht gleich so eilig. Frau Burg muß sich doch erst eingewöhnen.«

»Das hat sie schon. Die Kinder sagen Ria zu ihr. Die Sorge sind wir jetzt auch los, Mami.«

»Da bin ich aber wirklich froh«, bemerkte Inge lächelnd.

»Toni ist ein ganz schöner Wildfang. Er hat Frau Burg gleich die Brille weggenommen. Sie hat ganz große Augen. Können denn große Augen auch schlecht gucken, Mami?«

»Das hängt nicht von der Größe ab, Bambi.«

»Das verstehe ich nicht. Große Augen müssen doch mehr sehen können als kleine Augen«, meinte Bambi tiefsinnig. »Sie sieht sehr hübsch aus ohne Brille. Der Gruber-Bauer hat sie auch angestarrt.«

Es gab doch nichts, was Bambi entging. Werner Auerbach, der ihre letzte Äußerung gerade noch gehört hatte, lachte. »Er wird doch auf seine alten Tage nicht noch auf Freiersfüßen gehen wollen?«

Mit solchen Scherzen war Bambi wenig einverstanden. Mißbilligend schüttelte sie den Kopf.

»Was du immer für Witze machst, Papi!« rügte sie ihren Vater.

»Na, der Gruber-Bauer hat ganz schön was im Rücken. Da gibt es schon etwas zu erben.«

»Werner, jetzt ist es aber genug!« schaltete sich nun auch Inge ein.

»Wo steckt unser Herr Sohn?« lenkte er ab.

»Er lernt.«

»Das darf doch nicht wahr sein! Er sollte mir Tabak holen.«

»Ist der schon wieder alle?« wunderte sich Inge.

»Ich muß ihn irgendwo liegengelassen haben.«

»Zerstreuter Professor«, neckte sie ihn.

»Ich kann ja welchen holen, Papi«, bot sich Bambi an. »Laß Hannes lieber lernen.«

»Ist es nicht schon ein bißchen dunkel?« überlegte er.

»Dann gehe ich halt mit und mache gleich noch ein paar Besorgungen«, sagte Inge.

»Dann werde ich ja ganz schön lange auf meinen Tabak warten müssen«, seufzte er.

»Ist gut für deine Gesundheit«, erwiderte sie.

*

Viktoria war mit den Kindern spazierengegangen, durch den Wald, bis zu dem Aussichtspunkt, von dem aus man auf den Gruber-Hof schauen konnte.

Er lag da wie vor zehn Jahren, unverändert, das Haus von Efeu umrankt.

»Bis hierhin sind wir noch nie gegangen«, sagte Christoph leise. »Findest du dich wieder zurück, Ria?«

»Aber freilich, du Angsthase. Hier kann man sich doch gar nicht verlaufen, wenn man…« Sie unterbrach sich erschrocken.

Wenn man alles so genau kennt, hatte sie sagen wollen.

»Wir müssen jetzt wieder heimgehen«, erklärte sie hastig. »Es dämmert schon. Corri ist müde.«

»Corri nicht müde«, protestierte die Kleine.

Als sie heimkamen, hörte Viktoria das Telefon läuten. Es war zum erstenmal der Fall, seit sie hier war.

»Augenblick, Frau Richter«, vernahm sie Tills Stimme, »ich glaube, sie kommen eben zurück.« Er erschien in der Tür. »Frau Richter möchte Sie sprechen«, sagte er.

Viktoria wich seinem forschenden Blick aus.

Er nahm ihr Corri ab, und zwischen dem Geplapper der Kinder hörte er ab und zu ein paar Worte, die Viktoria sprach.

»Nein, das geht nicht. Ich kann nicht weg. Was soll ich denn sagen?« Pause. »Gut, vielen Dank einstweilen.«

Sie war totenblaß, und er sah, daß sie zitterte. Er hätte ihr so gern geholfen, aber jetzt waren die Kinder dabei.

»Frau Richter hat frisches Gemüse für uns«, erzählte Viktoria stockend. »Kann ich es schnell holen?«

Sie hat einen ganz anderen Grund, um hinzugehen, dachte er. Das ist nur eine Ausrede. Aber was für einen Grund?

»Es dauert bestimmt nicht lange«, flüsterte Viktoria.

»Lassen Sie sich nur Zeit«, erklärte er. »Aber fällt Ihnen das Tragen nicht schwer? Soll ich nicht schnell fahren?«

»Nein, nein!« stieß sie hervor.

»Nehmen Sie wenigstens eine Tasche mit«, sagte er sanft, als sie an ihm vorbeihastete.

Sie ist völlig verstört, ging es ihm durch den Sinn. Sie muß etwas erfahren haben, was sie in Panik versetzt. Warum nur hatte sie kein Vertrauen zu ihm?

Er nahm sich vor, gleich heute abend mit ihr zu sprechen. Eine jähe Angst überfiel ihn, daß sie wieder weggehen könnte, weit weg, um nicht wiederzukommen.

*

»Ich rufe im Auftrag von Dr. Rückert an«, hatte Carla am Telefon gesagt. »Es sei sehr wichtig. Bitte, kommen Sie gleich?« Und dann hatte sie als Ausrede das Gemüse vorgeschlagen.

Was wußte sie? Wieviel wußten schon, daß sie hier war? Was wollte Dr. Rückert von ihr? Von wem hatte er erfahren, daß sie bei Till war?

Während Viktoria all diese Fragen durch den Kopf gingen, stand Korbinian Grober unweit vom Gasthof Seeblick und schaute unverwandt auf die Straße.

Er hatte Dr. Rückert gebeten, Carla Richter anzurufen, um Viktoria unauffällig treffen zu können.

Nein, er wollte nicht einen einzigen Tag warten. Jede Stunde seines Lebens erschien ihm plötzlich kostbar. Das müde, alte Herz konnte plötzlich aufhören zu schlagen. Er spürte es heute, wie es schmerzte! Oder war es die Sehnsucht nach Vicky, die es so schmerzhaft schlagen ließ?

Er sah sie kommen. Er wollte ihr entgegengehen, aber er war unfähig, einen Schritt zu tun.

Er stand im Schatten eines großen Baumes.

»Vicky!« rief er, als sie nahe herangekommen war.

Sie verhielt den Schritt, blieb bewegungslos stehen.

»Du bist es also«, bemerkte sie mit erstickter Stimme. »Du hast mich doch erkannt. Was willst du von mir, Onkel Korbinian? Mir sagen, daß du recht behalten hast, daß mir das Leben, dieses Leben, kein Glück bringen würde? Hast du es mir gewünscht, daß es so kommt?«

»Vicky, ich bitte dich!« Er machte nun doch einen Schritt auf sie zu und streckte die Hände nach ihr aus. »Ich habe mir immer nur gewünscht, dich noch einmal zu sehen, dich in die Arme nehmen zu können, um dir zu sagen, wie sehr ich dich vermißt habe. Du warst doch alles, was ich im Leben besaß!«

Das sagte er, der reiche Korbinian Gruber, den die Leute einen Geizkragen nannten, weil er sich selbst nichts gönnte.

»Ich kann nicht lange bleiben«, flüsterte Viktoria. »Till weiß nicht, wer ich bin. Er soll es auch nicht erfahren. Ich habe es nicht so gewollt. Das Schicksal wollte es, Onkel Korbinian. Sobald ich Zeit habe, komme ich einmal zu dir. Ja, ich wäre auch von selbst gekommen. Vielleicht kann ich kommen, wenn ich mit den Kindern spazierengehe. Du darfst mich dann nur nicht Vicky nennen.«

»Ich bin alt und müde, Vicky. Mein Leben kann heute nacht zu Ende sein oder morgen. Laß mich doch nicht warten. Ich habe dir so viel zu sagen. Wir müssen uns doch jetzt aussprechen. Ich habe dich doch so sehr entbehrt.«

Es trieb ihr die Tränen in die Augen, wie demütig er sprach.

»Ich werde versuchen, heute abend zu kommen. Ich weiß noch nicht, wie ich es anstellen soll, aber versuchen will ich es. Jetzt muß ich das Gemüse von Frau Richter holen. Die Kinder müssen essen und zu Bett gebracht werden. Weiß Frau Richter, wer ich bin?«

»Nein, sie wird jetzt wohl denken, daß ich dich abwerben will als Haushälterin. Weiß der Himmel, was sie alles über mich denken wird, aber mir ist es gleich. Ich habe dich gesehen.«

Er legte den Arm um ihre Schultern und ging ein paar Schritte mit ihr.

Der Zufall wollte es, daß Inge Auerbach sie gerade in diesem Augenblick sah.

*

Sie hatten ihre Besorgungen gemacht, und dann war es Bambi plötzlich eingefallen, daß sie am Vormittag ihr Täschchen im »Seeblick« vergessen hatte.

»Können wir es gleich noch holen, Mami?« wurde sie gebeten. »Ich habe vom Gruber-Bauern wieder ein Geschenklein bekommen.«

Immer brachte er ihr irgend etwas mit, und meistens waren es recht wertvolle Dinge, wenn Bambi dies auch noch nicht begriff.

Bambi war vorausgelaufen, und jetzt war Inge froh darüber, denn Bambi hätte sich wohl sehr den Kopf darüber zerbrochen, wieso der Gruber-Bauer und diese junge Frau sich hier trafen.

Natürlich zerbrach sich auch Inge den Kopf, und sie ahnte schon, daß es sich um Frau Burg handeln müsse. Sie erinnerte sich auch der spöttischen Bemerkung ihres Mannes und dachte bestürzt, ob er nicht doch ausnahmsweise einmal recht behalten würde.

Schnell und so, als hätte sie nichts gesehen, betrat nun auch sie den Gasthof Seeblick.

Bambi hielt ihr Täschchen schon in der Hand.

»Bei uns geht doch nichts verloren«, meinte Carla Richter.

Sie kam Inge heute merkwürdig unruhig vor. Immer wieder sah sie zur Tür, zerstreut, fast ängstlich.

Und da trat Viktoria ein. Mit einer Unsicherheit, die man nicht an ihr gewohnt war, stellte Carla die beiden Damen einander vor.

»Ich wollte nur schnell das Gemüse holen, Frau Richter«, erklärte Viktoria stockend.

Einerseits der Gruber-Bauer, andererseits Gemüse, wie vertrug sich das? Und dann dieser gehetzte Ausdruck in dem Gesicht von Frau Burg, die Unruhe bei Carla Richter?

»Komm, Bambi, Papi wartet auf den Tabak«, bemerkte Inge. »Vergessen Sie den Tisch am Sonntag nicht, Frau Richter.«

»Bestimmt nicht«, versicherte Carla, aber sie sagte es so, als wäre sie mit ihren Gedanken weit entfernt.

»Auf Wiedersehen, Frau Burg«, sagte inzwischen Bambi.

Inge Auerbach warf der jungen Frau noch einen Blick zu.

»Entschuldigen Sie bitte, daß ich so in Eile bin«, flüsterte Viktoria.

Sie brauchte sich doch bei ihr nicht zu entschuldigen. Das klang fast nach einem schlechten Gewissen. Aber so erschien es Inge nur, nach dem, was sie gesehen hatte. Sie wollte sich nicht zu Vermutungen hinreißen lassen, aber sehr merkwürdig war das schon.

»Warum holt denn Frau Burg das Gemüse immer bei Richters?« fragte Bambi.

»Das weiß ich doch nicht. Vermutlich haben sie sich angefreundet, und Frau Richter hat es ihr angeboten.«

»Sie waren beide ein bißchen komisch, findest du nicht, Mami?«

»Sie haben beide nur viel zu tun«, lenkte Inge ab.

»Vielen Dank für Ihre Unterstützung«, sagte Viktoria zu Carla. »Bitte, denken Sie nichts Falsches. Ich werde es Ihnen später einmal erklären. Ich bin sehr in Ihrer Schuld.«

Carla wagte nicht, eine Frage zu stellen, obgleich es ihr auf der Zunge brannte. Ihr war das alles recht fatal. Aber zum Trost sagte sie sich, daß Dr. Rückert sich nicht eingeschaltet hätte, wenn es um undurchsichtige Dinge ginge.

Sie gab sich ihren Gedanken hin und rief sich in die Erinnerung zurück, wie es gewesen war, als Ria Burg zum erstenmal den »Seeblick« betrat.

Sie hatte nach der Adresse von Till Jaleck gefragt, so nebenbei eigentlich, und sie selbst hatte vermutet, daß sie sich um diese Stellung bewerben wollte. Ja, so war es gewesen. Angefangen hatte sie, nicht Ria.

Un nun dieses merkwürdige Interesse von Korbinian Gruber. Er war doch nie nach Hohenborn gefahren, erst heute, nachdem er Frau Burg kennengelernt hatte. Oder kannte er sie schon von früher?

Sosehr Carla auch darüber nachgrübelte, sie kam zu keiner Erkenntnis.

Doch dann wurde sie abgelenkt, denn eine ganze Gruppe von Gästen traf ein.

*

Abgehetzt kam Viktoria daheim an. Daheim…! Ja, das dachte sie, als sie die Tür aufschloß, und es war ein eigentümliches Gefühl.

Schwer atmend lehnte sie sich an die Wand. Ihr Herz jagte. Sie schloß die Augen, und als sie sie wieder aufschlug, stand Till vor ihr.

Er hatte die Tasche in der Hand.

»Sie ist ziemlich schwer«, stellte er fest. Ein merkwürdiger Unterton war in seiner Stimme, als könnte er es nicht glauben, daß sie wirklich Gemüse heimbrachte.

»Frau Richter setzt halt einen guten Appetit bei uns voraus«, sagte Viktoria. »Sind die Kinder brav?«

»Das möchte ich ihnen doch geraten haben«, lächelte er. »Ich konnte sie nicht so verwöhnen wie Sie.«

»Ich konnte nicht schneller da sein«, erklärte sie entschuldigend. »Frau Richter hatte noch Besuch.«

»Ich habe doch gesagt, daß Sie sich Zeit lassen können. Und ganz bestimmt wäre es besser gewesen, wenn wir das Gemüse mit dem Wagen geholt hätten. Sie sind ja ganz erschöpft, Ria.«

Es fiel ihm nicht mehr schwer, sie Ria zu nennen, obgleich er sehr viel lieber Vicky gesagt hätte. Und jetzt hätte er sie noch viel lieber in die Arme genommen, so abgehetzt sah sie aus.

Augenblicklich dachte er wirklich, daß sie nur wegen des Gemüses zum »Seeblick« gegangen war. Andere Vermutungen schwiegen.

Es mochte schon möglich sein, daß sie einen Übereifer zeigte, um als Haushälterin überzeugend zu wirken. Er traute ihr jetzt alles zu.

Aber seine Gefühle für Viktoria waren so unverändert stark, daß er diese Komödie mit tragischem Anklang nicht weiterspielen wollte.

Und doch ergab sich wieder keine Gelegenheit, mit ihr zu sprechen. Das konnte man ja nicht im Vorübergehen tun, in wenigen Minuten. Dazu gehörten Zeit, Besinnlichkeit, Abstand vom Alltag.

Die Kinder riefen nach ihr, sehr ungeduldig, wie zu hören war. Wie sehr die beiden schon an ihr hingen!

Er beobachtete sie durch die offenstehende Tür, wie sie Corri in die Arme nahm, wie Christoph sich an sie klammerte.

»Ich habe immer Angst, daß du nicht wiederkommst, Ria«, jammerte er. »Versprich mir, daß du bei uns bleibst!«

»Ich möchte ja so gern bei euch bleiben«, flüsterte sie. Doch Till konnte es hören.

Das war die Wahrheit, das sagte sie nicht oberflächlich hin. Und er wäre vollends glücklich gewesen, wenn er sie jetzt in die Arme hätte nehmen können.

*

Sie hatte mit ihm am Tisch gesessen, nachdem die Kinder eingeschlafen waren. Er hatte sie darum gebeten, und Viktoria hatte nicht widersprochen.

Wenn es nur nicht so entsetzlich schwer gewesen wäre, einen Anfang zu finden. Gerade hatte er sich dazu aufgerafft, als sie sich erhob.

»Entschuldigen Sie mich bitte«, sagte sie leise. »Ich habe etwas Kopfweh und möchte mich hinlegen. Gute Nacht.«

Sie sagte es mit einer Stimme, die ihm den Atem stocken ließ, und er war unfähig, etwas darauf zu erwidern.

Er lauschte auf ihre Schritte, die so leicht und leise waren, daß er sie nur ahnen konnte. Ihm war zumute wie an jenem Tag, als sie erst stundenlang Hand in Hand am See entlanggegangen waren und er sich so heiß gewünscht hatte, sie einmal küssen zu dürfen.

Er hatte keinerlei Erfahrungen mit Mädchen gehabt. Viktoria war die erste, die ihm etwas bedeutete, die er liebte. Ja, liebte, denn jedes andere Wort war dafür zu gering.

Und dann hatte er sie geküßt, und sie hatte ihn wieder geküßt. Sie waren jung und glücklich gewesen und hatten an nichts anderes gedacht. Nur an den Augenblick, diese Stunde.

Wie war es dann später gewesen in dieser trostlosen Zeit des Wartens, der nicht ermüdenden Hoffnung?

Er war mit dem Gedanken an Viktoria eingeschlafen und wieder aufgewacht, bis dann die schlaflosen Nächte der Verzweiflung kamen, die ihm deutlich machten, daß er sie verloren hatte.

Sechs Jahre hatte es gedauert, bis er sich gewaltsam aus der Verstrickung lösen wollte, und dabei hatte ihm dann Gerda geholfen.

Sie hatte ihn verstanden, sie hatte alles gewußt, auch daß er ihr nicht sein ganzes Herz schenken konnte. Sie hatte sich damit zufriedengegeben, was für sie blieb. Kameradschaft, Vertrauen und die Bereitschaft, ihr ein guter Mann zu sein.

Gerda hatte damit gerechnet, daß sie ihn eines Tages wieder verlieren würde, wenn Viktoria zurückkäme. Aber sie kam nicht zurück.

Erst jetzt, nachdem Gerdas Leben verlöscht war wie eine müde Flamme, die nicht genügend mit Sauerstoff genährt wurde, war sie gekommen, als wäre es vorausbestimmt gewesen.

Aber was wußte er denn von Viktorias Gefühlen, ihren Gedanken?

Er hob lauschend den Kopf. Da waren doch wieder Schritte, und nun wurde die Tür geschlossen!

Er sprang auf und ging in die Küche, ohne Licht zu machen. Von diesem Fenster aus konnte er auf die Straße blicken, und er sah Viktoria, wie sie leicht und flink über die Straße lief und vom Schatten der Bäume verschluckt wurde. Und ganz plötzlich wußte er, wohin sie ging, zu wem sie schon vorhin gegangen war.

Angst erfaßte ihn, als er sich vorstellte, wie sie allein durch den dunklen Wald lief zum Gruber-Hof, und am liebsten wäre er ihr nachgelaufen. Aber er fühlte auch, daß sie das, was sie nun vorhatte, mit sich selbst ausmachen mußte.

Nicht ihm allein hatte sie Leid zugefügt, als sie die Heimat verließ, auch dem Onkel Korbinian.

Und vielleicht begriff Viktoria erst jetzt, da sie selbst durch Leid geprüft worden war, was zehn lange Jahre bedeuten konnten in einem Menschenleben.

*

»Was denkst du nur so ausdauernd, Ingelein?« fragte Werner Auerbach seine Frau. »Du schaust ja ganz düster drein. Hast du dich geärgert?«

»Leid täte es mir für Till Jaleck«, sagte Inge geistesabwesend.

»Was täte dir leid?«

»Wenn er auch diesmal enttäuscht würde.«

»Du mußt nicht soviel auf meine dumme Rederei geben«, erklärte Werner Auerbach entschuldigend. »Es war eine Blödelei.«

»Es war keine. Du kannst recht haben«, erwiderte sie nachdenklich. »Ich habe den Gruber-Bauern und Frau Burg beisammen gesehen. Zum Glück hat es Bambi nicht spitzgekriegt. Jedenfalls schienen sich die beiden ziemlich einig zu sein, und dabei sieht sie wirklich nicht aus, als würde sie nur auf ihren finanziellen Vorteil bedacht sein.«

»Das sieht man den Leuten nicht an der Nasenspitze an, mein Schatz. Die Raffiniertesten haben die größten Unschuldsmienen. Aber ich muß schon sagen, daß es allerhand ist, wenn sie im Eiltempo ihre Chancen sucht und auch findet, und der Gruber ist dann für mich doch ein alter Depp. Zerbrich dir nicht den Kopf, Inge. Es geht uns nichts an.«

»Ich denke doch nur an Till Jaleck«, bemerkte sie kleinlaut. »Es wäre schon eine Gemeinheit, wenn sie ihn so rücksichtslos im Stich ließe.«

»Wer sagt denn immer, man solle das Kind nicht mit dem Bade ausschütten?« entgegnete er nachsichtig. »Abwarten und Tee trinken. Und jetzt mach ein anderes Gesicht.«

»Mami, darf ich noch mal stören?« rief Bambi.

»Komm nur herein, Schatz«, sagte Werner Auerbach, ganz froh über die Ablenkung. »Was willst du denn?«

»Ich möchte gern wissen, ob helle Augen besser gucken können als dunkle.«

»Das kommt doch nicht auf die Farbe an«, belehrte sie ihr Vater.

»Nicht auf die Größe und auch nicht auf die Farbe«, meinte sie kopfschüttelnd, »worauf denn?«

»Auf die Nerven«, erwiderte er. »Was hat das denn mit den Nerven zu tun?« wunderte sie sich.

»Das laß dir lieber mal von einem Mediziner erklären, sonst bringe ich noch einen Wurm rein! Bei deiner Gründlichkeit muß man vorsichtig sein. Wie kommst du denn überhaupt darauf?«

»Weil Frau Burg doch ganz große helle Augen hat und eine dunkle Brille trägt. Keine Sonnenbrille, aber eine mit ziemlich dunklen Gläsern.«

»Sie kann auch mit großen hellen Augen kurzsichtig sein«, stellte er mit anzüglichem Unterton fest, »oder auch weitsichtig. Das letztere halte ich für wahrscheinlicher.«

Das verstand Bambi nun nicht. Aber Inge wußte, was er damit sagen wollte. Sie kannte seinen Sarkasmus in bestimmten Fällen.

»Wie ist das nun?« wollte Bambi jetzt wissen. »Wenn man kurzsichtig ist, braucht man da eine Brille, mit der man weiter gucken kann?«

»Vor allem deutlicher«, erklärte Werner geduldig.

»Du brauchst deine Brille bloß zum Arbeiten. Auf der Straße brauchst du keine, und Mami braucht gar keine.«

»Sie sieht auch Dinge, die sie besser nicht sehen sollte«, meinte Werner Auerbach. »Aber jetzt wird geschlafen. Schätzchen. Deine Äuglein sind ganz müde.«

»Und warum werden Augen müde, wenn man selber gar nicht müde ist?«

»Weil das die Augen besser wissen als unser Fräulein Schlaumeier«, neckte er sie.

*

Ich brauche mich nicht zu fürchten, dachte Viktoria, als sie durch den dunklen Wald lief.

Die Bäume waren so dicht, daß sie den Himmel nicht sehen konnte, und auch das Licht des Mondes konnte dieses Dickicht nicht durchdringen.

Sie fürchtete nun doch, daß sie sich verlaufen könnte, und atmete auf, als sie die Lichtung erreichte, an der sie heute schon einmal mit Christoph und Corri gestanden hatte.

Nur die Fenster von Onkel Korbinians Arbeitszimmer waren erleuchtet. Aber entgegen seiner früheren Gewohnheit hatte er die Fensterläden nicht geschlossen, so, als wolle er ihr den Weg weisen.

Ein Stechen war in ihrer Brust von dem schnellen Lauf. Was sie heute schon alles gelaufen war! Mehr, als in den letzten Monaten zusammen.

Aber nun war sie bald am Ziel, und leise klopfte sie an das eine Fenster.

Onkel Korbinian war schnell an der Tür. »Vicky!« flüsterte er. Es klang fast wie ein Schluchzen. Und nun umarmte sie ihn.

Ganz still lag ihr Kopf an seiner Schulter. Seine knochigen Finger streichelten sanft und behutsam ihr Haar.

»Nun bist du wieder daheim«, sagte er andächtig. »Komm, mein Kind! Ich habe den besten Wein bereitgestellt.«

»Steigt er auch nicht zu sehr in den Kopf? Ich muß doch wieder zurück.«

»Mußt du das?« Seine Stimme klang bekümmert. »Wie denkst du dir dein Leben, Vicky?«

»Ich denke gar nicht. Ich will nicht denken. Ich werde nur noch nach meinem Gefühl handeln.«

»Und meinst du, daß es dir das Richtige eingibt?«

»Diesmal ja. Ich weiß, wie vergänglich das bißchen Ruhm ist. Ich bin heute schon vergessen.«

»Auch von dem Mann?«

»Von welchem Mann?«

»Den du heiraten wolltest oder geheiratet hast.«

»Ich habe ihn nicht geheiratet, oder ich sollte besser sagen, er hat mich nicht geheiratet, nachdem der Unfall passiert war. Ich habe schrecklich ausgesehen, Onkel Korbinian.«

»Hat es sehr weh getan?«

»Ich habe viele Operationen hinter mich bringen müssen, um wenigstens wieder einigermaßen menschlich auszusehen.«

»Ich meine, ob es weh getan hat, daß er dich nicht heiratete, dieser Mann«, stieß er feindselig hervor.

»Ich habe herausgefunden, daß es so besser war. Für ihn war ich wohl nur ein Objekt, das sein Prestige stärken sollte. Es ist erledigt. Wir brauchen darüber nicht mehr zu sprechen.«

»Aber über Till«, sagte er leise.

»Er wird kaum vergessen haben, was ich ihm antat«, entgegnete Viktoria verhalten. »Wunden, die man einem Herzen schlägt, kann man nicht mit Operationen schließen. Wie heißt es doch, Onkel Korbinian! Die tiefste Wunde heilet, schmerzt sie auch noch so sehr. Ein Riß doch, der zerteilet das Herz auf einmal gänzlich, der heilet nimmermehr.«

»Du weißt ja nicht, ob es ein solcher Riß war.«

Er hatte eine Frau, die ihm zwei Kinder geschenkt hat, zwei reizende Kinder. Du wirst es vielleicht nicht begreifen, aber ich liebe diese Kinder, als wären es meine eigenen. Nach dieser kurzen Zeit ist das schon so. Und alles, was gewesen ist, konnte mich nicht so schmerzhaft treffen, als wenn ich mich von diesen Kindern trennen müßte.«

Er sah sie gedankenvoll an.

»Von ihnen oder von ihrem Vater?« fragte er heiser.

»Von ihnen und ihrem Vater«, erwiderte sie nach einem kurzen Zögern. »Till war meine erste Liebe und er wird meine letzte sein. Ich war so verrückt, zu denken, daß ich in dieser Enge nicht leben könnte. Jetzt weiß ich, wie eingeengt man ist in der großen Welt, in den gewaltigen Städten, in denen der Mensch ein Nichts ist. Man kann nur existieren, solange man etwas darstellt. Alle anderen stehen im Schatten, vegetieren dahin, bemühen sich verzweifelt, ein Stück von der Speckseite abzuschneiden, und werden von denen, die kein Gefühl haben, verlacht. Oh, ich kenne die Menschen, Onkel Korbinian, ich habe sie kennengelernt und habe auch begriffen, warum du immer allein sein wolltest.«

»Jetzt aber habe ich andere Menschen kennengelernt, drüben in Erlenried«, sagte er. »Man darf nicht nur die eine Seite sehen, Vicky. Man muß nur den richtigen Platz finden, um glücklich zu sein. Das Gute zieht das Gute an. Nimm deine Brille ab. Laß mich dein Gesicht in Ruhe betrachten. Ich weiß, daß manches von meiner kleinen Vicky geblieben ist oder daß es zurückkehren wird.«

»Es ist eine Maske«, äußerte sie bitter.

»Weil du sie tragen willst!«

»Vielleicht hast du recht.«

»Warum bist du zurückgekommen?« fragte er, während er sich vorbeugte und ihr Gesicht mit seinen Händen umschloß.

Sie wich seinem Blick nicht aus.

»Ich wollte wissen, was geblieben ist oder was ich wiederfinden kann. In mir war eine so schreckliche Leere, Onkel Korbinian. Ich wünschte mir, wieder die Vicky von früher zu sein. Ich hatte einfach Sehnsucht nach allem, was ich weggeworfen hatte«, schluchzte sie auf.

»Weine nur, meine Kleine«, sagte er weich. »Wein dir deinen Schmerz von der Seele. Danach wird alles leichter sein.«

*

Später dann begleitete er sie durch den Wald zurück. Schweigend gingen sie, nachdem sie sich so viel gesagt hatten. Und dann, nicht weit vom Haus, nahm er sie nochmals in die Arme.

»Ich bin alt, Vicky, und meine Tage sind gezählt«, flüsterte er. »Aber vor dir liegt das Leben, und ich wünsche so sehr, daß es nun voller Glück sein wird. Sprich mit Till. Es schadet nichts, wenn man das erste Wort sagt. Ich möchte dich oft sehen können, ohne Heimlichkeiten. So oft es noch möglich ist.«

»Ich werde jeden Tag mit den Kindern zu dir kommen«, versprach sie, und dann umarmte sie ihn noch einmal ungestüm.

Till stand an der Gartentür. Ihre Augen, die noch blind von Tränen waren, nahmen ihn nicht wahr. Seine Hand legte sich auf ihre Schulter.

Er brauchte nicht mehr lange nach Worten zu suchen. Sie drängten sich ihm, aus der Angst um sie geboren, von selbst auf die Lippen.

»Ich bin froh, daß du wieder da bist, Vicky!«

Der Boden schwankte unter ihren Füßen. Ein buntes Feuerwerk flimmerte vor ihren Augen. Till fühlte, wie sie schwankte, und hob sie empor.

Er trug sie ins Haus, setzte sie in einen Sessel und drückte seine Lippen in ihr Haar.

»Du weißt es? Du hast es die ganze Zeit gewußt!« stammelte sie.

»Nicht von Anfang an«, erklärte er ruhig.

»Seit wann?« fragte sie flüsternd.

»Du sagtest: Es macht alles leichter. Es bezog sich darauf, daß ich keine Fragen stelle. Da wußte ich es genau, daß du es bist. Vorher hatte mich die winzige fehlende Ecke am Schneidezahn irritiert. Oder auch irgend etwas anderes. Ich habe viele Ähnlichkeiten zwischen Ria und Vicky gefunden, aber ich glaubte, mir diese einzureden. Man wartet manchmal so lange auf einen Menschen, daß man ihn in einem anderen zu suchen beginnt. Onkel Korbinian hat dich wohl sofort erkannt.«

»Er sah mich gleich ohne Brille. Ich wollte es dir morgen sagen, Till. Du bist mir zuvorgekommen.«

»Ich wollte schon den ganzen Tag mit dir sprechen, aber du bist mir ausgewichen, Vicky.«

Sie schüttelte heftig den Kopf.

»Nein, ich bin dir nicht ausgewichen. Ich hatte Angst.«

»Wovor?«

»Muß ich denn keine Angst haben, Till? Ich habe euch doch so tief enttäuscht, Onkel Korbinian und dich. Ich komme als ein zerstörtes Wesen zurück. Sollte ich erwarten, daß ihr mich mit offenen Armen aufnehmt?«

»Ein zerstörtes Wesen?« wiederholte er leise. »Du bist die mutigste Vicky, die mir je begegnet ist. Sei jetzt still! Sei ganz still, Vicky! Wir werden noch viel Zeit haben, miteinander zu sprechen.«

Seine Lippen legten sich auf ihren Mund, zärtlich und voll ungestümer Sehnsucht.

Es war so, wie sie es zu Onkel Korbinian gesagt hatte. Sie konnte nicht mehr denken, sie konnte nur noch fühlen, und sie war jung wie damals in jener warmen Sommernacht, als Till sie zum erstenmal küßte, so jung, daß sie seinen Kuß erwiderte, als lägen nicht zehn Jahre dazwischen.

*

Im Hotel »Zur Post« ging es an diesem Abend hoch her.

»Diese Amerikaner«, sagte Maria Dosch grimmig. »Brauchen die denn gar keinen Schlaf?«

»Reg dich nicht auf, Mutti«, meinte Kurt beruhigend. Sie bringen doch Geld.«

»Und uns und unsere anderen Gäste um die Nachtruhe«, seufzte sie. »Davon abgesehen, daß sie unsere Stammgäste schon vertrieben haben.«

»Die werden schon wiederkommen. Mit unserm Hasenrücken locken wir sie bestimmt zurück.«

»Mir paßt es nicht, daß sie Heli wie ein Amüsiermädchen behandeln«, fuhr Maria Dosch ungehalten fort.

»Ach was, du siehst da viel zu schwarz. Sie haben halt gern weibliche Gesellschaft. Heli kann sich ihrer Haut schon wehren, wenn einer zu stürmisch ist. Geh schlafen, Mutti.«

»Schlafen soll ich, wenn sie grölen?«

»Sie sind halt lustig und meinen, daß man in Deutschland singen muß, wenn man fröhlich ist.«

»Ich will doch schauen, was sie da mit der Heli treiben«, beharrte sie.

Kurt lächelte nachsichtig, denn da gab es wirklich nicht viel zu sehen als einige sehr vergnügte Männer, die sich wohl gar nicht bewußt waren, welchen Lärm sie machten.

Heli bemerkte nicht, daß ihre Mutter sich näher herangeschoben hatte, nun doch sehr stolz, daß ihre Tochter sich so gut in der englischen Sprache verständigen konnte. Aber da horchte Maria Dosch plötzlich auf, denn ein Name fiel, der in dieser Runde mehr als ungewöhnlich klingen mußte.

Der Mann, der ihn ausgesprochen hatte, war mittleren Alters und sah sehr gut aus, weit attraktiver als die beiden anderen.

»Viktoria Lindberg?« wiederholte Heli fragend.

»Was will er wissen?« fragte jetzt Maria Dosch rasch.

Vier Köpfe fuhren herum, und vier Augenpaare sahen sie erstaunt an. Heli ein wenig peinlich berührt.

»Der Herr hat nach Viktoria Lindberg gefragt.«

»Ja, das habe ich«, erklärte er in recht gutem Deutsch und auch für Maria verständlich. »Sie stammte doch aus dieser Stadt Hohenborn.«

»Ja«, entgegnete Maria wortkarg. »Lebt sie jetzt wirklich hier?« fragte er nun.

»Nein. Sie hat Hohenborn vor zehn Jahren verlassen und ist nicht zurückgekehrt«, antwortete Maria wortkarg.

»Es ist möglich, daß Sie noch nicht Kenntnis haben davon«, bemerkte der Fremde, »oder sie ist nicht erkannt worden. Sie könnten mir nicht sagen, welche Freunde sie hier hat oder Verwandte?«

»Sie hat keine Freunde mehr und keine Verwandten«, sagte Maria scharf und warf Heli einen warnenden Blick zu. »Sie hat die Brücken abgebrochen, und niemand baut sie wieder auf. Heli, ich denke, du solltest jetzt zu Bett gehen.«

*

Maria hatte auf Heli gewartet. Sie kam bald. Unwillen drückte sich in ihrem Mienenspiel aus.

»Du warst nicht gerade höflich, Mutter«, sagte sie vorwurfsvoll. »Es sind alles sehr gebildete Männer. Und da Mr. Gorden Viktoria sehr gut gekannt hat, brauchtest du ihn nicht so unfreundlich abzuspeisen. Er ist sehr interessiert, sie zu finden, und vielleicht hätte ihm der Gruber-Bauer weiterhelfen können.«

»Hast du seinen Namen erwähnt?« fuhr Maria ihre Tochter an.

»Nein, nach deinen vernichtenden Blick ist mir ja die Spucke weggeblieben. Was hast du eigentlich? Warum tust du so, als wäre Viktoria für uns erledigt?«

»Fremde geht das gar nichts an. Und wenn sie hier ist oder hierher käme«, schwächte sie ihre Bemerkung schnell ab, »so wird sie unbehelligt bleiben wollen. Von uns erfährt niemand etwas. Hast du verstanden?«

»Ich könnte doch gar nichts sagen«, murrte Heli. »Ich würde sie nicht mal erkennen. Schließlich war ich ein Kind, als sie weggegangen ist. Aber sie hatte einen schweren Unfall, und sicher hat sie Freunde, die ihr gern helfen möchten. Mr. Gorden gehört dazu. Er ist ein ganz bekannter Werbemanager. Und außerdem ist er gescheit genug, sie auch ohne unsere Hilfe zu finden.«

Ich muß es Viktoria sagen, dachte Maria. Ich muß sie warnen. Vielleicht weiß er sogar, daß sie den Namen Burg benutzt.

*

Irgendwann war Viktoria ganz plötzlich eingeschlafen. Vielleicht mitten im Gespräch.

Till hatte ihre Hände gehalten und gestreichelt, und sie war ganz ruhig geworden.

Als sie nun die Augen aufschlug, war er noch immer bei ihr und hielt ihre Hände. Sein Gesicht war ihr ganz nahe. Seine Lippen berührten ihre Stirn an der Stelle, wo sich die Narbe befand.

»Till«, sagte sie glücklich, »liebster Till!«

Er nahm sie in die Arme und küßte sie zärtlich.

»Nun wird doch noch alles gut werden, Vicky«, flüsterte er.

Sie brauchte sich nicht mehr zu verbergen, sie brauchte nicht mehr zu lügen, und vor allem ihn brauchte sie nicht mehr zu täuschen.

»Guter Gott, wie spät ist es eigentlich?« fragte sie erschrocken. »Hast du gar nicht geschlafen?«

»Es ist gerade erst Mitternacht«, erwiderte er lächelnd. »Du warst so müde. Du bist heute so viel herumgerannt. Du hast gar nicht lange geschlafen.«

»Aber du mußt jetzt schlafen. Morgen mußt du wieder früh heraus.«

Sanft wollte sie sich aus seinen Armen befreien, aber er hielt sie fest.

Er war so voller Glück, sie im Arm halten zu dürfen, daß er nicht müde wurde.

»Ich laufe dir doch nicht mehr davon, Till«, erklärte sie mit einem leisen, weichen Lachen.

»Nie mehr«, sagte er bittend, »nie mehr, Vicky! Versprich es mir!«

Sie schmiegte sich an ihn und küßte ihn ungestüm, sehnsüchtig und voller Hingabe, und Till fühlte, daß er eine Vicky im Arm hielt, die ihm ganz gehörte.

*

Es war ein wundervoller neuer Tag. Mit einem Lied auf den Lippen ging Viktoria in die Küche, und sie lächelte, als sie hörte, daß Till im Bad pfiff.

Sie hatte ihr Haar heute nicht straff zurückgekämmt. Es fiel in weichen Wellen auf die Schultern herab. Und sie hatte auch nicht die Brille aufgesetzt.

»Es gehört eine gewisse seelische Einstellung dazu, dem veränderten Gesicht wieder ihre persönliche Note aufzudrücken«, hatte der Arzt zu ihr gesagt. »Sie dürfen sich nicht selbst ablehnen.«

Nun hatte sie die seelische Einstellung. Till liebte sie auch jetzt noch oder aufs neue.

Sie hörte seine Schritte, und im nächsten Moment lag sie an seiner Brust.

»Liebstes!« sagte er innig. Er küßte ihre Augen, ihren Mund und nacheinander ihre Fingerspitzen. Seine Augen leuchteten, sein Gesicht war gelöst und jung. »Es ist ein wundervoller Morgen.«

»Ich glaube, daß es Regen geben wird«, lächelte sie.

»Er ist dennoch wundervoll.«

»Darf ich dich daran erinnern, daß um acht Uhr die Schule beginnt, Herr Lehrer?« bemerkte sie neckend.

»Leider«, meinte er seufzend. »Aber morgen ist Samstag.«

»Kannst du da schwänzen?«

»Schulfreier Samstag. So was gibt es jetzt Gott sei Dank auch. Da werden wir uns etwas Hübsches einfallen lassen. Die Kinder werden staunen, wenn sie…«

Er kam nicht weiter, denn Christoph stand in der Tür und staunte schon jetzt.

»Is’n heute los?« fragte er. »Papi pfeift und Ria…«

Er riß die Augen weit auf und sah sie bewundernd an. »Du bist aber hübsch heute. Ganz toll hübsch. Was sagst du, Papi?«

»Das gleiche, mein Sohn. Aber jetzt muß ich leider gehen.«

Fast hätte er Viktoria auch jetzt geküßt. Aber sie hob, dies ahnend, Christoph schnell empor, und so bekam der den Kuß. Aber ihr blieb noch ein langer, zärtlicher Blick.

»Papi ist ganz anders«, äußerte Christoph sinnend. »Er hat gelacht. Das kommt bestimmt, weil du da bist, Ria.«

Sie strich ihm schnell durch das Haar.

»Ich bin sehr glücklich, daß ihr mich liebhabt, Christoph.«

Und das sagte sie aus vollem Herzen, denn die Kinder gehörten zu Till.

*

Viktoria warf einen skeptischen Blick aus dem Fenster. Der Himmel war bewölkt. Hoffentlich regnete es nicht schon vormittags, denn sie wollte doch mit den Kindern zu Onkel Korbinian gehen.

Würde sie mit der Zeit überhaupt zurechtkommen und früh genug zurück sein, um das Mittagessen noch fertigzubringen?

Es war schon ein seltsames Gefühl, wenn man für eine Familie zu sorgen hatte, aber ein schönes, befriedigendes Gefühl.

Sie war dabei, ihr Haar wieder zu einem Knoten zu schlingen, was Christoph mißbilligend zur Kenntnis nahm.

»Anders gefällst du mir viel besser«, bemerkte er.

»Aber den anderen brauche ich doch nicht zu gefallen«, entgegnete sie leichthin, »nur euch.«

Das war ein überzeugendes Argument, das er akzeptierte.

»Jetzt tröpfelt es aber schon«, sagte er bedauernd.

Es stimmte, und damit wurde der Ausflug hinfällig, denn sie konnte mit den Kindern den weiten Weg nicht im Regen zurücklegen. Onkel Korbinian mußte dafür Verständnis haben, aber vielleicht sollte sie ihn doch lieber anrufen.

Natürlich würde Christoph sich wundern, mit wem sie da telefonierte, aber nachher konnte sie es ihm ja erklären. Sie brauchte jetzt doch nichts mehr zu verheimlichen. Daran mußte sie sich auch erst gewöhnen.

Sie wollte eben den Hörer in die Hand nehmen, als das Telefon läutete.

Es kam so plötzlich, daß ihr Herz ängstlich zu klopfen begann, und sie zögerte nun, den Hörer aufzunehmen.

Aber vielleicht war es Carla Richter oder auch Onkel Korbinian, der ja den Regen auch bemerken würde.

Aber es war Maria Doschs Stimme, die an ihr Ohr tönte, nachdem sie sich gemeldet hatte.

Hastig erklärte sie Viktoria den Grund ihres Anrufs. Viktorias Kehle war ganz trocken. Ihre Stimme wollte ihr nicht mehr gehorchen.

»Sag nichts! Um Himmels willen, Maria, sag ja nicht, wo ich bin!«

Christoph sah mit ängstlichem Blick zu ihr empor.

»Was hast du denn, Ria? Mit wem hast du telefoniert? Warum soll niemand wissen, wo du bist?«

»Ich erkläre es dir später, Christoph«, erwiderte sie. Aber wie sie es ihm erklären sollte, wußte sie noch nicht. Auf jeden Fall mußte sie jetzt Onkel Korbinian anrufen.

Sie konnte nicht ahnen, daß dieser Anruf schon zu spät kam.

*

Korbinian Gruber spürte an diesem Morgen sein altes, müdes Herz nicht. Er war frisch und munter wie schon lange nicht mehr.

Er hatte die treue Thekla schon ganz hübsch in Trab gebracht, ohne ihr jedoch zu verraten, für wen sie das lukullische Frühstück bereiten sollte.

»Du wirst staunen«, hatte er nur gesagt.

Nun hatte Thekla während der letzten Wochen wahrhaftig schon Anlaß genug gehabt zu staunen. Dieser alte Brummbär, wie sie ihn im stillen respektlos bezeichnete, hatte ihr genügend Rätsel aufgegeben.

Er verließ öfter den Hof als in all den Jahren zuvor, es kam Besuch, und immer mußten Schmankerl im Haus sein, um diesen zu bewirten.

»Kommt Bambi?« fragt Thekla. »Nein. Es gibt auch noch andere Kinder«, erwiderte er.

Thekla fragte lieber nichts mehr. Es war ihr ja nur recht, wenn Kinder ins Haus kamen. Einsam war es lange genug gewesen.

Aber daß der Korbinian erst auf seine alten Tage Freude am Leben gewann, ärgerte sie schon ein wenig. Es hätte längst anders sein können.

Nun stand er schon am Fenster und hielt Ausschau nach Viktoria und den Kindern. Unwillig bemerkte er, daß es zu regnen begann.

Doch da vernahm er Motorengeräusch, und sein Unwille schwand. Er war fest überzeugt, daß Till Viktoria den Wagen überlassen hatte.

Doch dem Wagen, der jetzt vor der Tür hielt, entstieg nicht Viktoria, sondern ein fremder Mann. Korbinians Stirn legte sich in Falten.

»Ich bin jetzt für niemanden zu sprechen«, sagte er zu Thekla.

Sie war gewohnt, sich an solche Befehle zu halten. Aber diesmal kam sie nach wenigen Minuten zurück, mit hochroten Wangen und sehr aufgeregt.

»Das ist ein Ausländer«, berichtete sie. »Er fragt nach unserer Viktoria. Es sei sehr dringend. Ich habe gesagt, daß sie schon lange nicht mehr hier ist, aber er will sie selber sprechen.«

Korbinian Gruber witterte Gefahr. Wenn er den Fremden abwies, würde dieser wohl weiter nach Viktoria suchen. Da war es wohl doch besser, wenn er mit ihm sprach.

Der Mann war sehr elegant gekleidet, zu auffällig für Korbian Grubers Begriff, und er machte einen sehr selbstbewußten Eindruck.

»Mein Name ist Gary Gorden«, sagte er.

Korbinian kniff die Augen zusammen. Gary Gordon, so hieß doch der Mann, den Viktoria hatte heiraten wollen.

»Sie wünschen?« fragte er aggressiv.

»Ich konnte in Erfahrung bringen, daß Sie Viktorias Onkel sind, und ich hege die Hoffnung, sie bei Ihnen zu finden.«

»Da hegen Sie eine falsche Hoffnung«, stieß Korbinian hervor.

»Aber vielleicht könnten Sie mir doch einen Hinweis geben?« fragte Gordon. »Es ist ungeheuer wichtig für Viktoria. Ich bin ihr Vermögensverwalter.«

Viktorias Vermögensverwalter? Korbinian horchte auf. Was mit Geld zusammenhing, machte ihn wachsam, auch jetzt noch, obgleich er sich auch diesbezüglich umgestellt hatte. Aber jetzt ging es nicht um sein Geld, sondern um Viktorias, und es schien ihm doch angebracht, sich da näher informieren zu lassen.

Er konnte nicht ahnen, daß Gary Gorden sehr schnell in Erfahrung gebracht hatte, wo Korbinian Gruber eine empfindliche Stelle hatte, an der man ihn packen konnte.

»So, ihr Vermögensverwalter sind Sie also«, sagte Korbinian. »Habe ich da nicht mal gehört, daß Sie meine Nichte heiraten wollten?«

»Es ist wirklich Viktorias Schuld, daß es dazu nicht gekommen ist«, erklärte Gary Gordon.

»Ihre Schuld, daß dieser Unfall passierte und sie soviel durchmachen mußte? Daß sie jetzt mit einem fremden Gesicht herumlaufen muß und man sie längst abgeschrieben hat? Sie doch auch, Herr Gordon!«

Korbinian Gruber ging mal wieder der Gaul durch, und darum sagte er mehr, als er hatte sagen wollen.

Gary Gordon lächelte sarkastisch.

»Sie haben Viktoria also gesprochen«, stellte er fest. »Nun, ich denke, sie sieht alles von ihrem Standpunkt, und es ist ja auch verständlich, daß sie überempfindlich und verbittert ist.«

»Sie ist nicht verbittert. Hier ist sie glücklich. Hier kann sie wieder sie selbst sein, und ich will nicht, daß jemand etwas daran zu ändern versucht.«

In Gordons Augen blitzte es auf. Er war vorerst durchaus zufrieden. Seine Taktik hatte sich als nützlich erwiesen.

Es wäre ja auch gelacht gewesen, wenn er diesem alten Bauern nicht überlegen gewesen wäre.

»Es geht um Viktorias Vermögen«, sagte er schlau. »Ich kann nur mit ihr verhandeln. Selbstverständlich werde ich ihre Entscheidung respektieren…«

Doch da läutete das Telefon, und nun mußte Korbinian Gruber von Viktoria erfahren, daß er einen Fehler gemacht hatte.

In ihm kroch Wut hoch, als ihm dieses bewußt wurde.

»Er ist schon hier, aber ich werde ihn zum Teufel schicken«, erklärte er. Gary Gordon konnte es deutlich hören, und er spitzte die Ohren, als Korbinian seine Stimme nun dämpfte.

Einen Namen fing er noch auf… Till! Und das genügte ihm.

Korbinian machte keine großen Worte.

»Verschwinden Sie!« fauchte er seinen Besucher an. »Kommen Sie mir nicht mehr unter die Augen!«

Gary Gordon ging. Er wußte ja, an wen er sich jetzt zu wenden hatte.

*

»Heute morgen warst du so lustig, Ria«, sagte Christoph betrübt. »Warum bist du jetzt traurig?«

»Ich wollte einen schönen Spaziergang mit euch machen«, entgegnete sie ausweichend. »Wir wollten jemanden besuchen, der sich sehr auf uns gefreut hat.«

»Wen denn?« fragte Christoph.

»Meinen Onkel Korbinian«, erwiderte Viktoria. »Der Gruber-Bauer ist mein Onkel, Christoph.«

Das war nicht leicht für ihn zu begreifen.

»Wir haben ihn doch im ›Seeblick‹ gesehen, und da hast du nichts davon gesagt«, überlegte er.

»Es ist eine lange Geschichte. Ich werde sie erzählen«

»Zählen«, rief Corri. »Bitte, bitte, zählen, Ria!«

»Jetzt nicht, später«, sagte Viktoria. »Wir machen jetzt ein gutes Essen.«

»Und wann gehen wir zu dem Onkel Korbinian?« fragte Christoph.

»Vielleicht kommt er am Nachmittag hierher.«

»Er hat immer nur Bambi besucht«, meinte Christoph nachdenklich.

»Nun wird er auch uns besuchen und wir ihn«, erklärte Viktoria, um ihr banges Herzklopfen zu übertönen, denn sie hörte, daß Bremsen kreischten. »Wenn es läutet, rühren wir uns nicht«, flüsterte sie. »Ihr seid jetzt ganz leise.«

Da läutete es auch schon.

»Kann ich nicht mal gucken, wer es ist?« wisperte Christoph.

Sie legte ihm den Finger auf den Mund, während Corri sich ganz verschüchtert an ihrer Schulter verkroch.

Es läutete noch ein paarmal, aber die Kinder waren mucksmäuschenstill, und dann hörten sie endlich den Wagen wieder davonfahren.

»Wer kann denn das gewesen sein?« fragte Christoph noch immer flüsternd.

»Jemand, der mich von hier wegholen will«, erwiderte sie, weil ihr nichts anderes einfiel.

»Nein, den lassen wir nicht rein«, versicherte Christoph. »Da machen wir die Tür lieber nie mehr auf. Und dann sind wir auch ganz leise, Ria.«

»Danz leise«, flüsterte Corri.

Sie hielt die Kinder fest an sich gedrückt, und ihr Herzklopfen legte sich.

Holen wollte Gary sie bestimmt nicht, aber sie ahnte schon, worum es ihm ging, daß er nichts unversucht ließ, sie zu finden.

*

Daß Gary Gordon ein tüchtiger Geschäftsmann war, war unbestreitbar. Er nützte seine Chance, wo es nur möglich war, und man sagte ihm nach, daß er Unmögliches möglich machen könne. Er war schon auf allen Gebieten der Werbung tätig gewesen und hatte weitreichende Verbindungen.

Durch diese war es ihm möglich gewesen, diesen Besuch von Technikern aus allen Teilen Amerikas bei der Firma Felix Münster zu arrangieren, ohne daß ihn selbst eine Reise einen Cent kostete. Im Gegenteil, er verdiente noch sehr gut daran.

Geld in ein aussichtsloses Unternehmen zu investieren, lag Gary Gordon nicht. Zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, um so mehr. Aber Zeit war Geld, und er gedachte nicht, zuviel Zeit in diesem Kaff zu verbringen, wie er Hohenborn bezeichnete.

Er war auch nicht interessiert, seine Verbindung zu Viktoria in alle Welt zu posaunen. Er wollte sich auf einen kleinen Kreis beschränken.

So war es ihm recht willkommen, die hübsche Heli allein im Hotel anzutreffen, nachdem er vergeblich bei Till Jaleck angeläutet hatte.

Er setzte seinen ganzen Charme ein, und Helis Reserviertheit schmolz dahin. Sie verstand es sowieso nicht, daß ihre Mutter so abweisend zu diesem Mann war. Allerdings fühlte sie sich doch verpflichtet, sich an ihre Ermahnungen zu halten.

Aber heute fragte Gary Gordon nicht nach Viktoria, sondern nach Till Jaleck, und Heli sah keine Veranlassung, sich auch diesbezüglich hinter Schweigen zu verschanzen.

Und weil Garys Blick sie sehr verwirrte, wunderte sie sich auch gar nicht über diese Fragen.

Sie erzählte, daß er Oberstudienrat sei und ein Haus in Erlenried bewohne, daß seine Frau vor eineinhalb Jahren gestorben sei und er zwei Kinder hätte. Und noch einiges andere, was ihr gerade einfiel, nämlich, daß er jetzt bald Schulschluß hätte, falls Mr. Gordon ihn erreichen wolle.

Manches wußte Gary Gordon, manches war ihm neu, und als Heli dann erwähnte, daß Dr. Jaleck vor ein paar Tagen endlich eine Haushälterin gefunden hätte, verstummte er.

»Ich werde doch mal versuchen, ob ich Dr. Jaleck treffen kann«, sagte er geistesabwesend. »Wissen Sie, Heli, ich befinde mich da in einer recht verzwickten Situation. Niemand scheint hier etwas mit Viktoria Lindberg zu tun haben zu wollen. Ich stoße auf eine Mauer des Schweigens. Ihre Mutter wurde gestern ja richtig aggressiv. Ihnen kann ich wohl reinen Wein einschenken.«

Heli war nun sehr gespannt. Es jagte ihr schon einen Schrecken ein, daß es doch um Viktoria ging, und sie hoffte nur, daß ihre Mutter nicht wieder dazwischenkam.

»Sie müssen wissen, daß ich Viktoria Lindbergs Vermögensverwalter bin«, erklärte er sehr betont. »Früher war ich auch ihr Manager. Der Unfall… Sie wissen doch, daß sie einen Unfall hatte?«

Er sah sie lauernd an, und Heli nickte mechanisch.

»Der Unfall muß ihr einen großen Schock versetzt haben«, fuhr er fort. »Verständlicherweise, denn ihr Gesicht war völlig entstellt. Solche Menschen sind sehr empfindlich, und sie fühlte sich von allen ihren Freunden verlassen, was mich besonders schmerzlich berührte. Da ich hierhergefunden habe und keine Schwierigkeiten scheute, werden Sie begreifen, daß Viktoria sich zu Unrecht verraten fühlte.«

Heli fand das alles ungeheuer dramatisch, denn wann passierte hier schon mal so was. Sie sah alles in ganz romantischem Licht.

»Ich kann mich an Viktoria kaum noch erinnern, aber sie tut mir entsetzlich leid«, äußerte sie bekümmert. »Es muß schrecklich sein, wenn man so berühmt ist und dann plötzlich ist alles vorbei. Aber finanzielle Sorgen wird Viktoria doch nicht haben. Sie brauchte doch nur zu ihrem Onkel zu gehen. Ich glaube nicht, daß er ihr seine Hilfe versagen würde.«

»Ist er vermögend?« fragte Gary beiläufig.

»Mehr als das. Niemand weiß, wieviel Geld er hat. Er braucht ja für sich kaum etwas. Er hat erst kürzlich ein riesiges Waldstück der Gemeinde Erlenried geschenkt.«

Sie biß sich auf die Lippen. Ihr Gewissen rührte sich.

»Meine Mutter würde es nicht gern sehen, daß ich darüber spreche«, bemerkte sie hastig.

»Es bleibt unter uns«, erklärte er. »Ich vertrete doch Viktorias Interessen. Wann, sagten Sie, sei die Schule aus?«

Sie blickte auf die Uhr.

»In fünf Minuten.«

»Und wie kann ich Dr. Jaleck am besten erkennen?«

Sie zögerte, aber nun konnte sie schlecht einen Rückzieher machen.

»Er hat einen grauen Volkswagen. Wenn Sie zum Parkplatz der Schule gehen wollen?«

Sie sah ihre Mutter kommen und wollte nichts mehr sagen, und Gary tat ihr den Gefallen und entfernte sich rasch.

»Was wollte er denn schon wieder?« fragte Maria gereizt. »Ich will nicht, daß du mit ihm redest!«

»Ich verstehe dich nicht, Mutti. Er hat uns doch nichts getan.«

Eine Debatte darüber konnte nicht stattfinden, denn es kamen Gäste, und darüber war Heli recht froh.

*

Ein durchdringendes Läuten verkündete das Ende des Schulunterrichts, als Gary Gordon gerade den Parkplatz erreichte.

Er sah den grauen Volkswagen und nur den einen dieser Art, so daß er sich ganz darauf konzentrieren konnte, ihn im Auge zu behalten.

Schulkinder drängten an ihm vorbei zum Fahrradstand, andere schlugen den Weg zum Bus ein.

Einige Buben unterhielten sich angeregt.

»Mensch, der Jaleck war heute dufte«, tönte es an Gary Gordens Ohr. »Die Schulaufgabe hat bestimmt keiner verbaut. Hoffentlich bleibt er uns auch im nächsten Jahr erhalten.«

Gordon hatte so intensiv zugehört, daß er nun den Erwarteten doch fast verpaßt hätte.

Till Jaleck hatte es eilig. Er saß schon am Steuer, als Gary Gordon auf ihn zutrat.

»Mein Name ist Gordon. Kann ich Sie ein paar Minuten sprechen, Dr. Jaleck?«

Till war mit seinen Gedanken schon ganz zu Hause, und augenblicklich sagte ihm der Name Gordon gar nichts.

»Es handelt sich um Viktoria Lindberg«, fuhr Gary Gordon schnell fort.

Da erinnerte sich Till dann doch dieses Namens. Ein Frösteln kroch über seinen Rücken.

»Warum wenden Sie sich an mich?« fragte er heiser.

»Ist das so schwer zu erraten?«

Gary Gordon hatte seine eigene Taktik und mit dieser meistens Erfolg, denn seine Miene drückte aus, daß ihm alles klar sei. Auch Till ließ sich davon irritieren.

»Lassen Sie Viktoria in Ruhe!« stieß er hervor.

»Wissen Sie denn so genau, daß sie in Ruhe gelassen werden will?« entgegnete Gary Gordon zynisch. »Es hat einige Mißverständnisse zwischen uns gegeben, die sie zu Fehlhandlungen veranlaßt haben. Aber Sie werden doch wohl nicht annehmen, daß eine Frau ihres Formats es in dieser spießigen Atmosphäre aushält. Ich glaube, daß sie sich da Illusionen hingeben. Viktoria hat öfter sentimentale Stimmungen. Sie sind dann schnell vorbei. Sagen Sie ihr, daß ich sie sprechen muß.«

»Ich werde ihr gar nichts sagen!« Gary Gordon lachte spöttisch.

»Aber sprechen werde ich sie doch! Darauf können Sie sich verlassen! Was können Sie ihr denn schon bieten?«

»Verschwinden Sie!« zischte Till wütend.

Es geschah selten, daß er die Beherrschung verlor, aber jetzt kochte er, und selbst Gary Gordon begriff, daß er es nicht auf die Spitze treiben durfte.

»Ich habe noch einige Trümpfe in der Hand«, erklärte er mit drohendem Unterton. »Viktoria kann mich im Hotel ›Zur Post‹ erreichen. Wenn Sie sich ihrer so sicher glauben, haben Sie doch nichts zu fürchten«, fügte er anzüglich hinzu.

Für Till war der Tag grau und trübe, und er hatte doch so wundervoll begonnen. Mußte dieser Gordon kommen, um alles zu zerstören? Aber wozu gleich so schwarz sehen, fragte er sich dann. War es nicht ein Beweis, daß er selbst noch Zweifel an Viktoria hegte?

Er fuhr plötzlich schneller, viel schneller als sonst. Er merkte gar nicht, daß Carla Richter ihm aufgeregt zuwinkte, als er am Gasthof Seeblick vorbeifuhr. Seine Gedanken waren schon vorausgeeilt, zu Viktoria.

Aber niemand öffnete ihm, als er läutete, und auch als er die Tür aufschloß, blieb alles still.

Eine panische Angst erfaßte ihn, und er lief wieder hinaus. Da kam Carla Richter angerannt, so schnell, daß sie erst Atem schöpfen mußte, bevor sie ein Wort hervorbrachte.

»Bitte, regen Sie sich nicht auf«, sagte sie stockend. »Christoph ist gefallen und hat sich die Lippen aufgeschlagen. Mein Mann hat ihn und Frau Burg zur Sternklinik gefahren. Corri ist bei uns, und der Gruber-Bauer auch. Ria ist ganz verzweifelt.«

»Ist es denn so schlimm?« fragte er beklommen.

»Es hat schrecklich geblutet, und sie nimmt es sich wahnsinnig zu Herzen. Vielleicht hat sie Angst, daß sie die Stellung jetzt wieder verlieren wird. Sie hängt doch so an den Kindern«, erklärte Carla Richter beinahe beschwörend.

»Ich fahre gleich zur Klinik. Kann Corri solange bei Ihnen bleiben?«

»Freilich. Sie ist schon ein Herz und eine Seele mit Herrn Gruber.«

Sie hatte sich ja gewundert, wieso der Gruber-Bauer auch gleich zur Stelle war. Aber Dr. Jaleck schien sich darüber nicht zu wundern, und das gab Carla wieder Anlaß zum Nachdenken.

*

Viktoria war zu Tode erschrocken gewesen, als sie Christophs Schmerzensschrei vernommen hatte. Und als sie ihn dann mit blutüberströmtem Gesicht am Gartenzaun fand, hatte sie nur noch instinktiv gehandelt und im »Seeblick« angerufen, weil sie niemanden wußte, an den sie sich sonst wenden konnte.

Sie hatte Blut noch nie sehen können, aber sie nahm alle Kraft zusammen, und als dann Anton Richter kam, stand auch Onkel Korbinian mit seinem Pferdewagen vor der Tür.

Sie konnte kaum eine Erklärung geben, so erregt war sie. Aber Onkel Korbinian handelte schnell und geistesgegenwärtig und nahm die kleine Corri, die herzzerreißend zu schreien begonnen hatte, als sie ihren blutenden Bruder sah, auf den Arm.

»Ich kümmere mich um sie«, sagte er, und es war erstaunlich, daß Corri zu weinen aufhörte, als er sie in den Wagen setzte.

Viktoria nahm dies alles nur im Unterbewußtsein wahr. Sie hatte Chris­tophs Kopf in ihren Schoß gebettet und drückte ihm das antiseptische Verbandspäckchen auf die blutende Wunde, das Anton Richter schnell dem Verbandskasten entnommen hatte.

»Ruhig bleiben, Frau Burg«, tröstete er. »So was passiert schon mal.«

Er fuhr schnell und sicher, und nach wenigen Minuten kamen sie bei der Sternsee-Klinik an, die von Carla schon telefonisch unterrichtet worden war.

Viktoria merkte nicht, daß sie selbst überall Blutflecken hatte, auch im Gesicht.

Christoph war ganz still.

Dr. Allard nahm Viktoria den Jungen ab und trug ihn in den Operationssaal.

»Ein paar kleine Stiche«, sagte er beruhigend, »dann kommt alles rasch wieder in Ordnung. Sie können wieder heimfahren, Herr Richter. Wir bringen den kleinen Patienten dann schon zurück. Eine halbe Stunde wird es doch dauern.«

Viktoria war auf einen Stuhl gesunken und schlug die blutbefleckten Hände vor ihr Gesicht.

Sie merkte gar nicht, daß sich eine Hand auf ihre Schulter legte.

»Sie brauchen keine Angst zu haben«, ertönte eine warme Frauenstimme. »Dr. Allard ist ein guter Arzt. Kommen Sie, waschen Sie sich. Sie sind ja voller Blut.«

»Er blutet so schrecklich«, flüsterte Viktoria. »Wie kann man nur so bluten.«

»Die Schleimhaut wird verletzt sein«, erklärte Sabine von Jostin, die sich nun schon einige medizinische Kenntnisse angeeignet hatte. »Aber das ist nicht so schlimm, wie es aussieht.«

Sie nahm Viktorias Arm und führte sie in den Waschraum.

»Ich werde Ihnen ein paar Sachen von mir bringen«, sagte sie fürsorglich. »Ihr hübsches Kleid wird wohl nicht mehr zu retten sein.«

»Ach, das Kleid«, murmelte Viktoria und dachte schon gar nicht mehr daran, daß sie ihr hübschestes angezogen hatte, um dem heutigen Tag einen festlichen Anstrich zu geben.

Als sie sich von den Blutspuren befreite, dachte sie dann aber doch daran, daß Till heimkommen und das Haus leer finden würde. Auch er würde einen schönen Schrecken bekommen.

Das Schicksal hat etwas gegen mich, dachte sie deprimiert. Ich darf einfach nicht glücklich sein. Aber da kam Sabine schon wieder zurück. Sie brachte Viktoria ein leichtes buntes Wollkleid.

»Ich glaube, wir haben ungefähr die gleiche Figur«, meinte sie aufmunternd. »Warten Sie mal einen Augenblick, da an der Stirn ist noch Blut.«

»Das ist eine Narbe«, flüsterte Viktoria. »Sind Sie Ärztin?«

»Nein, ich bin Sabine von Jostin. Und Sie? Ich kenne Sie noch nicht. Sie wohnen wohl noch nicht lange in Erlenried?«

»Ich bin erst ein paar Tage dort, und schon muß wieder etwas passieren«, murmelte Viktoria. Tränen drängten sich in ihre Augen. »Was wird Till sagen?«

Sie sprach mehr zu sich selbst, und Sabine schenkte ihren Worten auch keine Beachtung. Mitfühlend bemerkte sie, daß die junge Frau völlig verstört war.

»Es wird ein paar Tage dauern, dann ist alles wieder in Ordnung«, äußerte sie beruhigend.

Da kam Schwester Dorle, ein heiteres, noch junges Wesen mit rundlichem Gesicht und fröhlichen Augen.

»Ein Dr. Jaleck ist gekommen«, verkündete sie. »Es ist wohl der Vater von dem Kleinen.«

Viktoria hatte sich das Kleid schnell übergezogen, und schon eilte sie zur Tür.

Auf dem Gang stand Till, blaß und aufgeregt. Sie fiel ihm buchstäblich in die Arme.

»Ich weiß nicht, wie es passiert ist«, stammelte sie.

»Reg dich doch nicht so schrecklich auf, Vicky«, flüsterte er. »Mit Kindern ist ab und zu mal etwas los. Damit muß man sich abfinden.«

»Christoph muß auf den Zaun geklettert und abgerutscht sein. Anders kann ich es mir nicht erklären«, schluchzte sie. »Er hat ja so schrecklich geblutet, Till. Das arme Kerlchen! Er konnte gar nicht mehr sprechen.«

»Warum muß er auch herumklettern«, murmelte er geistesabwesend und augenblicklich mehr besorgt um sie.

»Ich habe ihm gesagt, daß Onkel Korbinian kommen würde, und da wollte er wohl Ausschau nach ihm halten. Oh, es ist ein schrecklicher Tag, Till!«

»Und er hat so schön begonnen«, meinte er gedankenverloren. Und für sich dachte er: Ein Unglück kommt selten allein. Davon hätte man in der Sternsee-Klinik auch ein Liedchen zu singen gewußt. Aber ganz gewiß gab es schlimmere Dinge, als wenn ein Junge sich die Lippen spaltete.

Christoph versuchte schon wieder zu lächeln, als er aus dem Operationssaal gefahren wurde. Verzeihungsheischend sah er Viktoria und seinen Papi an. Sagen konnte er noch nichts, nur ein paar krächzende Laute brachte er hervor.

»Ich habe ihm eine Tetanusspritze gegeben, und ein paar Tage wird er nur Süppchen essen können«, sagte Dr. Allard, »aber dann wird bald alles wieder vergessen sein. Ein richtiger Junge muß halt ein paar Narben davontragen. Zur Besorgnis besteht wirklich keine Veranlassung, gnädige Frau.«

Und da sah er Viktoria zum erstenmal richtig an. Seine Augen weiteten sich.

Es schien fast so, als wollte er etwas sagen, überlegte es sich aber im letzten Moment.

»Erholen Sie sich noch ein bißchen«, erklärte er freundlich. »Schwester Dorle wird Ihnen eine Erfrischung bringen.«

»Ich muß mich noch bei Frau von Jostin für das Kleid bedanken«, bemerkte Viktoria verlegen. »Meins war mächtig mitgenommen.«

»Nicht böse sein«, konnte Christoph schon wieder flüstern.

Sie beugte sich zu ihm hinab und küßte ihn auf die Stirn.

»Ich bin nicht böse, mein Liebling, ich hatte nur solche Angst um dich. Und Papi ist auch nicht böse«, fügte sie hinzu, als er ihm einen ängstlichen Blick zuwarf.

Nein, niemand wird uns jetzt noch auseinanderbringen, dachte Till. Ich darf nicht zweifeln. Vicky gehört zu uns.

*

»Warum hast du Frau Burg so eigenartig angeschaut, Nicolas?« fragte Sabine Dr. Allard.

»Ich sah sie nicht zum erstenmal«, erwiderte er sinnend. »Ich kenne sie allerdings unter einem anderen Namen. Viktoria Lindberg. Aber sprich bitte nicht darüber. Ich überlege angestrengt, wie sie ausgerechnet hierher kommt und warum sie einen anderen Namen angenommen hat.«

»Viktoria Lindberg, die Pianistin?« fragte Sabine staunend. »Mit ihr hat sie doch aber keine Ähnlichkeit. Du täuschst dich, Nicolas.«

»Ich täusche mich nicht. Andre würde es dir bestätigen können. Er war dabei, als sie ein anderes Gesicht bekam. Es ist jetzt neun Monate her, als man damit begann, und es kann noch gar nicht so lange her sein, daß der letzte Eingriff stattfand.«

Die Tür wurde aufgestoßen. Dr. Andre Fernand kam in sichtlicher Bestürzung herein.

»Leide ich an Halluzinationen, oder war das tatsächlich Viktoria Lindberg?« fragte er atemlos.

»Wir sind eben dabei, über sie zu sprechen«, warf Nicolas Allard ein.

»Nicolas hat sie auch erkannt«, erklärte Sabine.

»Dann ist die Welt wahrhaftig ein Dorf«, meinte Andre. »Es ist doch nicht zu fassen. Eine seltsame Frau. Sie sagte damals, daß sie ein Gesicht haben wolle, damit niemand sie mehr erkennt. Aber ich muß feststellen, daß sie sich wieder recht ähnlich geworden ist.«

»Findest du?« fragte Sabine. »Ich hätte sie nicht wiedererkannt.«

»Du hast sie wahrscheinlich nur auf Bildern oder auf dem Podium gesehen, zurechtgemacht für die Masse. Obgleich ich an der letzten Vollendung keinen Anteil mehr habe, muß ich zugeben, daß es ein gelungenes Werk ist, was da vollbracht wurde. Aber wieso war sie hier? Was hat sie mit dem Jungen zu schaffen, den wir eben verarztet haben?«

»Du hättest sie ja fragen können, Andre«, sagte Nicolas hintergründig.

»Sie hat mich gar nicht angeschaut. Sie hatte nur Augen für den Mann und das Kind. Deswegen war ich mir ja auch im Zweifel, ob sie es wäre.«

»Sie versteckt sich hinter einem anderen Namen, nicht nur hinter einem anderen Gesicht«, bemerkte Nicolas sinnend.

»Ich finde, daß das ihre Privatangelegenheit ist«, warf Sabine ein. »Aber ganz sicher werden wir eines Tages erfahren, warum sie das tut. Wir gehören ja schließlich zu Erlenried.«

*

Staunend betrachtete Carla Richter den alten Korbinian Gruber, der die kleine Corri auf seinem Knie reiten ließ. Sie lachte und jauchzte und hatte längst vergessen, was passiert war. Er war oft hier gewesen, aber mit Toni hatte er sich nie so befaßt. Das dachte sie zwar ohne Vorwurf, aber doch recht verwundert, denn bisher hatte er sich intensiv eigentlich nur mit Bambi befaßt.

Corri hüpfte jauchzend auf und nieder, und wenn sein Gesicht ihr nahe kam, griff sie in seinen Bart und kreischte vor Vergnügen. Und er wurde des Spiels nicht überdrüssig. Nur als Carla ihm eine Tasse Kaffee hinstellte, hielt er einen Augenblick inne.

»Hoffentlich ist es nicht zu schlimm beim Christoph«, sagte er besorgt. »Wie gut, daß wir die Klinik haben.«

Und wie hatte er ganz früher gegen diese Klinik gewettert!

Er rührte in seiner Tasse herum, und Corri sah ihm andächtig dabei zu.

»Vicky wird einen schönen Schrekken gekriegt haben«, murmelte er.

Carla sah ihn überrascht an. Vicky…? Wen meinte er. Es konnte doch nur Ria sein! Nun begann sie doch Zusammenhänge zu ahnen.

Noch wußte sie nichts Genaues, doch das eine stand für Carla Richter schon fest: Zwischen Ria Burg oder Vicky, wie er sie nannte, und Korbinian Gruber mußte eine Verbindung bestehen.

»Inzwischen wird Vicky sich schon beruhigt haben«, sagte sie ganz unbewußt.

Er hob jetzt seinen Kopf und sah sie wachsam an.

»Sie kennen ihren wahren Namen, Frau Richter?« fragte er leise.

Sie errötete. »Sie haben ihn eben genannt, Herr Gruber. Ich werde es für mich behalten. Ich habe Ria Burg gleich gemocht.«

»Viktoria Lindberg heißt sie und ist meine Nichte«, erklärte er. »Wir brauchen nicht mehr Versteck zu spielen. Sie wird auch froh sein, wenn sie es nicht mehr zu tun braucht. Aber es soll keiner kommen und wieder Unruhe in ihr Leben bringen. Keiner!« wiederholte er nachdrücklich.

Doch kaum hatte er es ausgesprochen, betrat derjenige, an den er eben gedacht hatte, den Gasthof Seeblick.

Gary Gordon war momentan verblüfft, sicher auch bestürzt, als er Korbinian Gruber bemerkte. Aber dies hinderte ihn nicht, an einem Tisch Platz zu nehmen.

Er bestellte sich einen Whisky. Am frühen Nachmittag! Carla Richter mußte gleich tief schnaufen. Das war sie denn doch nicht gewohnt, abgesehen davon, daß man Whisky hier nur ganz selten verlangte.

»Hoppe Reiter, Opapa«, rief Corri. Gary Gordon lächelte niederträchtig, als er es hörte.

»Wir gehen ein bißchen hinaus, Corri«, brummte Korbinian Gruber. Aber es fiel ihm halt arg schwer, sich zu erheben, nachdem er so lange gesessen hatte und Corri sich dazu noch an ihn klammerte.

Und gerade hatte er es geschafft, als sich die Tür auftat und Viktoria hereinkam.

Sie sah Gary Gordon nicht. Sie sah nur den alten Mann, der das Kind so liebevoll im Arm hielt.

»Danke, Onkel Korbinian«, sagte sie innig. »Es war alles ein bißchen aufregend. Aber Christoph geht es schon wieder viel besser.«

»Ria«, jauchzte Corri, »Ria wieder da!«

»Und ich bin auch da, Viktoria«, erklärte Gary Gordon, der sich nun erhoben hatte.

Viktoria wich einen Schritt zurück. Abwehrend hob sie die Hände. Sie merkte es wohl selbst nicht, und sie merkte auch nicht, daß Carla hinter ihr stand.

»Nimm das Kind und geh, Vicky«, sagte Korbinian Gruber. »Du brauchst nicht mit ihm zu reden. Das werde ich besorgen.«

Mechanisch schüttelte Viktoria den Kopf.

»Geh du, Onkel Korbinian, und nimm Corri mit. Till wartet draußen. Fahrt nach Hause. Christoph muß ins Bett. Ich muß das hier selbst erledigen.«

»Ria mitkommen«, verlangte Corri, als Korbinian langsam mit ihr zur Tür ging.

»Ich komme gleich nach, mein Kleines«, erwiderte Viktoria tonlos.

Nur Carla sah das triumphierende Lächeln auf Gary Gordons Gesicht.

*

»Findest du dich selbst nicht albern in dieser Rolle, Viktoria?« fragte Gordon zynisch, nachdem sich die Tür auch hinter Carla Richter geschlossen hatte.

»Ich fühle mich sehr wohl«, entgegnete sie, schon wieder ruhiger. »Was willst du? Fasse dich bitte kurz!«

»Wie kannst du das nur fragen! Ich habe dich gesucht!«

»Wie rührend«, höhnte sie. »Aber du wirst mich nicht mehr dazu bewegen können, zu spielen. Schau dir meinen Arm an, wenn du es nicht glauben willst. Er macht nicht mehr mit. Diese Quelle ist versiegt.«

»Warum gleich so aggressiv? Vergiß nicht, daß wir einen Vertrag geschlossen haben, Viktoria. Er besteht noch. Ich halte mich daran.«

»Wo nichts mehr ist, hat der Kaiser sein Recht verloren«, äußerte Viktoria spöttisch. »Genügt es dir nicht, was du behältst?«

»Gut, wenn du mir in diesem Ton kommst, reden wir also geschäftlich«, sagte er wütend. »Da wären noch die Einnahmen von den Schallplattenaufnahmen. Ich brauche dazu deine Unterschrift.«

Carla hatte jedes Wort verstehen können. Sie brauchte ihr Ohr gar nicht an die Tür zu pressen. Aber ihr Mann, der jetzt aus dem Keller kam, schüttelte den Kopf.

»Du lauschst doch nicht etwa?« fragte er erstaunt.

»Pst!« machte sie. »Das ist sehr wichtig.«

Sie hatte nichts verpaßt, denn Viktoria hatte auf Gary Gordons letzte Worte lange geschwiegen.

»Du brauchst also meine Unterschrift«, sagte sie nun. »Dachte ich es mir doch, daß es um Geld geht. Dir geht es doch nur um Geld. Und wenn ich sie dir nicht gebe?«

»Was soll das eigentlich?« fragte er. »Ich vertrete doch deine Interessen, und ich will sie auch weiterhin wahrnehmen. Wie gesagt, halte ich mich an unseren Vertrag.«

»Dann betrachte ihn als gekündigt, und setz dich mit meinem Anwalt auseinander.«

Sie wollte zur Tür gehen, aber er hielt sie fest.

»So nicht, Viktoria!« erklärte er drohend.

»Laß mich sofort los!« rief sie laut, und da hielt Carla doch den Zeitpunkt für ein Einschreiten gekommen.

Sie tat möglichst gleichmütig, als sie die Tür öffnete.

»Wünschen Sie etwas, Frau Lindberg?« fragte sie.

Viktoria war so erregt, daß ihr gar nicht auffiel, daß Carla sie mit ihrem richtigen Namen ansprach. Aber sie war doch geistesgegenwärtig genug, um zu erwidern: »Vielleicht möchte Mr. Gordon noch einen Whisky. Ich jedenfalls werde jetzt gehen.«

Sie fing von Carla einen verständnis­innigen Blick auf und entfernte sich rasch.

*

Mit sehr gemischten Gefühlen hatte Till seine kleine Gesellschaft nach Hause gefahren.

Korbinians gekünstelte Ruhe konnte ihn nicht darüber hinwegtäuschen, daß auch er sich sorgenvolle Gedanken machte.

Till hatte Christoph zu Bett gebracht. Die Lippe war so dick geschwollen, daß er den Mund kaum noch öffnen konnte. Er sah bejammernswert aus, und sein flehender Blick ging Till zu Herzen. Korbinian setzte sich zu ihm ans Bett.

»Vicky wird bald kommen«, bemerkte er tröstend.

Corri kam angetrippelt. »Ria soll kommen!« sagte sie kategorisch.

Christoph nickte dazu, und seine Augen füllten sich mit Tränen.

Ob sie jetzt an uns denkt, fragte sich Till, an die Kinder, an mich und auch an Onkel Korbinian? Oder wird es diesem Mann gelingen, sie wieder in jene Welt zurückzulocken?

Er ertrug das Warten fast nicht mehr. Die Minuten wurden ihm zur Ewigkeit. Ein Aufbegehren war plötzlich in ihm. Sollte er Viktoria wieder kampflos aufgeben, so wie vor zehn Jahren?

Damals war er selbst noch jung und unfertig gewesen. So verzweifelt er auch gewesen war, hatte er sich doch gesagt, daß er zurückstehen müsse, da ihr der Weg zu einer großen Karriere offenstand.

Nun aber war sie zurückgekommen, reif geworden – vom Leid geprüft, bereit zu einem neuen – eben mit ihm. Seit heute nacht glaubte er, solche Hoffnung hegen zu können. Und das sollte nun wieder zerstört werden? Nein! Er sagte es laut, und im nächsten Augenblick lief er aus dem Haus.

Er sah Viktoria kommen. Sein Herz begann zu hämmern, und er beschleunigte seine Schritte.

Aber auch sie lief schneller, und dann fielen sie sich in die Arme, mitten auf der Straße, ohne zu denken, daß jeder sie sehen könnte.

Sie hielten sich umschlungen, und es bedurfte keiner Worte. Sie wußten beide, daß sie für immer zueinandergehörten.

»Ria kommt und Papi!« jubelte Corri und stolperte vorwärts, so schnell ihre Füßchen sie tragen konnten.

Viktoria fing sie auf, hob sie empor und drückte sie an sich. Über ihr Köpfchen hinweg blickte sie in Onkel Korbinians Augen, die feucht geworden waren.

»Würdest du bitte Dr. Rückert anrufen, Onkel Korbinian?« sagte sie. »Wir werden ihn brauchen.«

Er tat es, ohne eine Frage zu stellen.

*

Hannes Auerbach fand es eines Jungen nicht würdig, sich um die Nachbarschaft zu kümmern. Wenn ihm schon mal etwas zu Ohren kam, sprach er nur in den seltensten Fällen darüber, um ja nicht in den Verdacht zu geraten, eine Klatschbase zu sein. An diesem Tag vergaß er seine Grundsätze. Er platzte fast vor Neuigkeiten.

»Hier tut sich ja wieder mal was!« sprudelte es über seine Lippen, als er viel früher als erwartet von seinem Freund Adrian zurückkam.

»So?« meinte Inge Auerbach, ohne sich beim Kuchenbacken stören zu lassen.

»Wo ist denn Bambi?« erkundigte er sich schnell.

»Bei Münsters. Heute ist doch Freitag.«

Dienstags und freitags war Bambi immer bei den Münsters.

»Der Gruber-Bauer ist ihr untreu geworden«, begann Hannes. »Er hat es jetzt mit der Corri vom Dr. Jaleck.«

Inge lachte hellauf.

»Wie das klingt«, amüsierte sie sich. Aber dann wurde sie doch nachdenklich. »Und das findest du so aufregend, daß du uns umgehend davon in Kenntnis setzen mußt?« fragte sie.

»Es ist ja noch mehr passiert, Mami. Christoph ist hingefallen und mußte in die Klinik gebracht werden. Ich war gerade auf dem Weg zu Adrian, als der Gruber-Bauer zu Dr. Jaleck ging. Und dann kam auch schon Herr Richter mit dem Wagen und hat Frau Burg und Christoph geholt. Und der Gruber-Bauer hat Corri genommen und ist mit ihr zum ›Seeblick‹ gefahren.«

»Nun mal langsam«, sagte Inge verwirrt, »das geht ganz hübsch durcheinander.«

»Aber genauso war es, Mami! Doch das Schönste kommt noch. Dr. Jaleck und Frau Burg haben sich mitten auf der Straße umarmt!«

»Ich denke, sie ist mit Christoph in die Klinik gefahren?« fragte Inge nachsichtig.

»Da waren sie doch schon wieder zurück. Und dann war sie im ›Seeblick‹ und er zu Hause, und auf der Straße sind sie sich dann entgegengegangen, richtig gerannt! Aufregend, was?«

»Besonders, wenn es sich um den Klassenlehrer handelt«, lächelte sie. »Aber er ist auch ein Mensch.«

»Ich habe ja nichts dagegen. Ich will auch nicht klatschen. Man macht sich eben seine Gedanken, und daß der Gruber-Bauer bei ihnen ist, ist doch merkwürdig. Findest du nicht?«

Es gab eine Unterbrechung, denn es läutete. Und da erschien Bambi, auch weit vor der Zeit und schrecklich aufgeregt.

»Ich muß euch ganz schnell was erzählen. Da werdet ihr vielleicht staunen. Frau Burg heißt gar nicht Burg, sondern Viktoria, und der Gruber-Bauer ist ihr Onkel! Was sagt ihr nun?«

Bambi hatte ein weitaus größeres Talent als Hannes, mit wenigen Worten die Geschehnisse verständlich zu machen. »Nun sagt ihr gar nichts mehr«, erklärte Bambi triumphierend. »Nun staunt ihr bloß noch. Aber es ist noch viel mehr passiert.«

»Ja, das wissen wir schon«, mischte sich Hannes ein. »Christoph ist gefallen und mußte in die Klinik.«

»Er ist schon wieder zu Hause. Er hat sich ganz doll die Lippe gespalten, und das mußte genäht werden«, fiel Bambi wieder ein. »Und ich glaube, daß Dr. Jaleck jetzt Viktoria heiratet.«

»Das glaubst du«, lächelte Inge.

»Sandra auch. Wir sind nämlich mit Sandra spazierengegangen, und da haben wir Frau Richter und Toni getroffen, und beide haben gesagt, daß es da eine Hochzeit geben wird. Viktoria heißt auch noch Lindberg und war mal ganz berühmt. Der Gruber-Bauer war sehr traurig, als sie von ihm fortgegangen ist. Sie war nämlich früher bei ihm. Aber nun vertragen sie sich wieder ganz gut. Ist das nicht schön, Mami?«

»Sehr schön ist das«, gab Inge ihr recht.

»Und wenn du nun beim Gruber-Bauern abgemeldet bist?« fragte Hannes.

»Du bist vielleicht komisch«, sagte Bambi. »Wir können uns doch auch so verstehen. Wir haben doch eine Omi und einen Opi, und ich bin doch froh, wenn der Gruber-Bauer auch eine Familie hat. Mir hat er so leid getan, weil er niemanden hatte.«

»Aber den Wald hat er der Gemeinde geschenkt, das kann er nicht mehr rückgängig machen«, erklärte Hannes.

»Was bist du doch für ein Materialist«, stellte Inge kopfschüttelnd fest.

»Geschenkt ist geschenkt, und verbrieft ist es auch schon.«

»Es hat geläutet«, bemerkte Inge. »Macht mal jemand die Tür auf?«

Bambi tat es, und sie staunte, als Rosemarie Rückert vor ihr stand.

»Tante Rosemarie!« rief sie.

»Welche Überraschung«, sagte Inge, sich schnell die Hände abtrocknend.

»Heinz hat in Erlenried zu tun«, erklärte Rosemarie Rückert. »Da dachte ich, daß ich euch schnell mal besuchen kann. Unsere Kinder sind nicht zu Hause.« Damit meinte sie ihren Sohn Fabian und Ricky.

»Sie sind mit Charly zum Tierarzt gefahren, müssen aber bald zurück sein«, berichtete Inge.

»Bei wem hat Onkel Heinz denn zu tun?« erkundigte sich Hannes. »Vielleicht beim Gruber-Bauern?«

Rosemarie Rückert sah ihn überrascht an.

»Wie kommst du denn darauf, Hannes?«

»Na, wenn der bloß nicht seinen Wald zurück haben will«, meinte Hannes skeptisch.

»Um den Wald geht es doch nicht«, entfuhr es Rosemarie Rückert. »Heinz ist zu Dr. Jaleck gefahren.«

»Nun kannst du dir den Kopf zerbrechen, Hannes«, sagte Inge neckend zu ihrem Sohn.

*

Eines stand für Dr. Rückert nach dem langen Gespräch mit Viktoria fest. Sie mochte eine große Künstlerin gewesen sein, aber von geschäftlichen Dingen hatte sie nicht das geringste verstanden. Im guten Glauben an Gary Gordons Loyalität, hatte sie alles ihm überlassen. Erst nach dem Unfall war es ihr bewußt geworden, wie sehr er ihr Vertrauen mißbraucht hatte.

»Du kannst ruhig mithören, wie töricht ich gewesen bin, Till«, erklärte sie, als er sich zurückziehen wollte. »Ich habe nicht mal gemerkt, daß er nur seine Vorteile im Auge hatte. Viel ist mir nicht geblieben.«

»Aber dafür bekomme ich dich«, sagte er weich.

Dr. Rückert machte sich seine Gedanken, ob es wirklich so wenig sei, was ihr bleiben würde. Denn nach dem, was er von Viktoria erfuhr, hegte er den Verdacht, daß Gary Gordon nicht nur wegen der Tantiemen aus den Schallplattenaufnahmen ihre Unterschrift haben wollte.

»Sie sprechen da noch von Aktien, Frau Lindberg«, bemerkte er.

»Die aber leider wertlos sind«, erwiderte sie resigniert. »Mr. Gordon hatte sich verspekuliert, und das hat er sogar zugegeben. Es geht mir jetzt auch gar nicht mehr darum, sondern, ich möchte ein für allemal meine Ruhe vor ihm haben. Meinetwegen soll er auch die Tantiemen einstreichen, aber damit soll dann endgültig ein Schlußstrich gezogen werden. Ich weiß doch über die Rechtslage gar nicht Bescheid.«

»Nun, das können Sie mir überlassen, aber ich möchte nochmals auf die Aktien zurückkommen. Haben Sie Belege in der Hand?«

Sie lächelte bitter. »Ich wollte sie mir zur ewigen Erinnerung aufbewahren, um künftig nicht noch mehr solche Dummheiten zu begehen. Mr. Gordon überreichte mir die Aktien mit dem Ausdruck seines tiefsten Bedauerns, als er mich ein letztes Mal im Krankenhaus aufsuchte. Er war sehr taktvoll, finden Sie nicht?«

»Um so verwunderlicher ist es allerdings, daß er Sie dann so intensiv gesucht hat, möchte ich meinen«, stellte Dr. Rückert nachdenklich fest. »Würden Sie mir diese Aktien bitte überlassen?«

»Aber gern. Ein Päckchen wertloses Papier. Was soll ich noch damit. Ich bin jetzt in reichem Maße entschädigt worden.«

Sie schenkte Till, der seinen Arm um sie gelegt hatte, einen zärtlichen Blick.

*

Dr. Rückert führte an diesem Abend noch ein paar lange Ferngespräche.

Seine Frau war sehr enttäuscht gewesen, daß er sich gar nicht im Sonnenwinkel aufhalten wollte, und so hatte er ihr vorgeschlagen, bei Fabian und Ricky zu bleiben und ihren kleinen Enkel Henrik einmal allein zu genießen, da er noch eine Menge zu erledigen hatte.

Für Hannes war es eine große Beruhigung, daß es nicht um den Wald ging.

Bambi war richtig böse mit ihm, was selten passierte, denn für sie stand fest, daß der Gruber-Bauer eine Schenkung niemals rückgängig machen würde. Daß Hannes Zweifel daran hegen konnte, betrübte sie sehr. Es gab jedenfalls genügend Gesprächsstoff im Sonnenwinkel und Erlenried. Aber in Dr. Jalecks Haus war Ruhe eingekehrt.

Corri hatte den Opapa nur gehen lassen, nachdem er fest versprochen hatte, morgen wiederzukommen. Christoph war endlich eingeschlafen, als Viktoria ihm versichert hatte, daß sie immer bei ihnen bleiben würde.

»Immer?« fragte er mühsam.

»Immer, als eure Mami«, antwortete sie liebevoll, und nun wich das Lächeln von seinem geschwollenen Gesichtchen nicht mehr.

Viktoria setzte sich neben Till und lehnte sich an ihn.

»Wir hatten uns diesen Tag ein bißchen anders vorgestellt«, sagte sie leise. »Es bleibt dir nichts erspart, Liebster.«

»Ich nehme es in Kauf, wenn ich dich nie mehr verliere, Vicky«, erwiderte er zärtlich.

»Verzeihst du mir, daß ich diesen Mann heiraten wollte?« fragte sie beklommen.

»Müssen wir denn darüber reden?«

»Doch, Till, das müssen wir. Es soll nichts Unausgesprochenes zwischen uns stehen.«

»Warum wolltest du ihn heiraten?«

»Das frage ich mich jetzt auch. Ich fand es so bequem, daß er mir alles abnahm. Er war immer da. Vielleicht war ich auch in ihn verliebt. Ich hatte so wenig Zeit für ein Privatleben. Da denkt man nicht viel über Gefühle nach. Und man gesteht sich ungern ein, etwas falsch gemacht zu haben. Ich wollte mir immer wieder beweisen, daß ich den richtigen Weg gegangen sei, und ich kam wirklich erst zur Besinnung, nachdem das Unglück geschehen war.«

»Aber dann kamst du zurück«, äußerte er gedankenvoll.

»Nicht reumütig, sondern… Ich weiß nicht recht, wie ich es ausdrücken soll. Auch da wollte ich mir etwas beweisen oder beweisen lassen.«

»Nämlich?«

»Daß ich auch hier nichts mehr zu erwarten hatte.«

»Du wolltest dich selbst demütigen?« fragte er verhalten.

»Habe ich nicht Strafe verdient? Alle Menschen, die mich liebten, habe ich enttäuscht.«

»So wollen wir es nicht sehen, Vicky«, entgegnete er leise. »Irgendwie ist der Weg, den wir gehen, uns vorgeschrieben, und oft kommt man erst auf Umwegen zu Erkenntnissen.«

»Manchmal ist es zu spät, und was bleibt dann?«

»Für uns ist es nicht zu spät«, sagte Till innig und küßte sie lange und zärtlich.

*

Korbinian Gruber war durchaus nicht der Meinung, daß man den Dingen ihren Lauf lassen solle, wie Till zu ihm gesagt hatte. Und so war er auch nicht heimgefahren auf seinen Hof, sondern machte sich auf den Weg nach Hohenborn. Er kam gerade noch rechtzeitig zum letzten Bus.

Darüber, wie er später heimkommen würde, machte er sich vorerst keine Gedanken. Auch um Thekla nicht, die mit den Hühnern zu Bett ging und der er beizeiten beigebracht hatte, daß er kein Kindermädchen brauchte.

Es war halb neun Uhr, als er das Hotel »Zur Post« betrat. Heli starrte ihn betroffen an, und sie war noch bestürzter, als er Gary Gordon zu sprechen verlangte.

»Dieser Mister aus Amerika«, erklärte er grimmig, als sie ihn verständnislos anblickte.

»Mr. Gordon hat Besuch«, erwiderte sie.

»Dann warte ich. Wer ist denn bei ihm?« erkundigte er sich neugierig. »Dr. Rückert.«

»So!« sagte er mit zufriedener Miene. »Um so besser. Was hat er denn so geredet, der Mr. Gordon?«

So langsam ging auch Heli schon ein Licht auf, daß nicht alles mit Mr. Gordon stimmen konnte.

Heute nachmittag war er mit düsterer Miene ins Hotel gekommen, und er hatte sie keines Blickes gewürdigt. Dann hatte Dr. Rückert angerufen und gesagt, daß er Mr. Gordon in einer dringenden Angelegenheit zu sprechen wünsche, und seit acht Uhr war er nun schon bei ihm auf dem Zimmer.

Ihr Bruder Kurt war vorhin heruntergekommen und hatte sich erkundigt, was denn bei dem Amerikaner los sei, da es ziemlich laut zugehe. Und nun kam auch noch Korbinian.

»Worum geht es denn?« fragte sie vorsichtig.

»Nichts für neugierige kleine Mädchen«, erwiderte er hintergründig.

*

»Sie mißverstehen mich gründlich, Herr Dr. Rückert«, sagte Gary Gordon sehr betont. »Wahrscheinlich hat Viktoria in einem mir unbegreiflichen Groll in Ihnen Vorurteile gegen mich geweckt. Ich habe doch Verständnis dafür, daß sie sich von aller Welt verraten fühlte. Wir leben nun mal in einer Epoche, in der man schnell vergißt und schnell vergessen wird, und dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze, sagt man doch wohl in Deutschland. Aber jetzt hat sie zurückgefunden in ihre Heimat und ist anscheinend glücklich. Ich mißgönne es ihr doch um Gottes willen nicht. Im Gegenteil fühlte ich mich verpflichtet, etwas auszugleichen, was ich verbockt habe.«

Nun schien er endlich zum Kernpunkt der Sache zu kommen. Geduldig hatte Dr. Rückert bisher darauf gewartet, denn seinen Trumpf wollte er zuletzt ausspielen.

Gewiß hatte es schon ein ziemlich hartes Wortgefecht zwischen ihnen gegeben, aber Gordon hatte doch verstanden, sich recht elegant aus der Affäre zu ziehen. Man konnte ihn einfach nicht festnageln, nicht mit Argumenten und auch nicht mit wohlgezielten Andeutungen. Er war wirklich mit allen Wassern gewaschen.

Gary Gordon sah den Anwalt lauernd an.

»Ja, bitte, fahren Sie fort, Mr. Gordon«, sagte Dr. Rückert gelassen.

»Es geht da um Aktien, die ich einmal für Viktoria gekauft habe. Leider wurde ich falsch beraten. Ich habe Viktoria wohl auch in einem sehr ungünstigen Augenblick davon in Kenntnis gesetzt, daß diese Aktien leider wertlos sind. Ich fürchte sogar, daß sie sich von mir betrogen fühlt, und um diesen Eindruck zu verwischen, möchte ich ihr den Betrag, den ich dafür eingesetzt habe, wenigstens zur Hälfte zurückerstatten.«

Erwartungsvoll blickte er Dr. Rückert an. Der lächelte sarkastisch.

»Sehr interessant, Mr. Gordon. Das würde Ihnen ja gewiß nicht schwerfallen, wenn Sie an diesen wertlosen Aktien etwa zweihundert Prozent verdienen. Ich habe mir so etwas Ähnliches gedacht.«

Gary Gordon war fahl geworden.

»Ich weiß nicht, was Sie damit andeuten wollen«, kam es mühsam über seine Lippen.

»Ich will gar nichts andeuten. Ich werde es Ihnen klipp und klar sagen. Sie haben die Aktien unter der Hand erworben, für ein Butterbrot. Nur um Viktoria um etwa hunderttausend Euro zu prellen. Natürlich hielten Sie die Aktien von Anfang an für wertlos, und deshalb übergaben Sie ihr die Papiere auch zu treuen Händen. Aber nun erfuhren Sie plötzlich, daß die Aktien doch nicht wertlos sind, sondern sozusagen eine Goldgrube darstellen, und Sie machten sich eilends auf den Weg, um Viktoria diese Aktien abzuluchsen, bevor sie etwas davon erfuhr.

Mir genügten einige Telefongespräche, um das in Erfahrung zu bringen, nachdem Viktoria mir diese Geschichte erzählt und mir die Aktien übergeben hatte. Sie brauchen sich nicht mehr zu bemühen, Mr. Gorden. Diese kostbaren Papierchen ruhen bereits wohlverwahrt in einem Banktresor. Ganz so hinterm Mond, wie Sie meinen, sind wir hier doch nicht. Ich denke, daß wir jetzt langsam zum Ende kommen. Frau Lindberg hat mich beauftragt, und ich habe die Vollmacht dafür, ihnen die Rechte an den Tantiemen zu übertragen.

Ich finde das mehr als großzügig für eine Tätigkeit, die Viktoria mehr Nachteile als Vorteile gebracht hat. Aber nun gleicht es sich ja dadurch aus, daß Sie mal der Hereingelegte sind, wenn ich mich so ausdrücken darf. Ich betrachte es als ausgleichende Gerechtigkeit. Immerhin haben Sie von den Aktien schon etwa achtzigtausend Euro profitiert, und es ist Ihnen wohl klar, daß ich Sie wegen Betruges belangen lassen könnte.«

»Jetzt, wo die Aktien ein Vielfaches wert sind?« fragte Gary Gordon aufgebracht. »Es war Weitblick meinerseits, das kann mir niemand widerlegen!«

Nein, es war ihm nicht beizukommen. Er würde immer wieder durch die Maschen schlüpfen, und immer wieder würde sich jemand finden, der sich von ihm übervorteilen ließ.

*

»Korbinian Gruber! Ja, was treibt Sie denn her?« fragte Dr. Rückert überrascht, als ihm der alte Mann den Weg vertrat.

»Das sollten Sie doch wissen. Ich werde dafür sorgen, daß dieser Kerl verschwindet!«

»Er verschwindet auch so. Immer mit der Ruhe. Kommen Sie, wir trinken einen Schoppen, und dann fahre ich Sie heim.«

»Und er?« fragte Korbinian.

»Er reist morgen ab. Keine Sorge, er wird froh sein, Hohenborn verlassen zu dürfen.«

»Den Schoppen könnten wir eigentlich bei mir trinken«, brummte Korbinian Grober. »Nichts gegen die Post und nichts gegen die brave Maria, aber ich habe halt doch einen besseren Wein«, fügte er verschmitzt hinzu.

Heli sah ihnen mit gemischten Gefühlen nach, als sie sich freundlich verabschiedeten.

Der Gruber-Bauer konnte sich nicht verkneifen zu sagen: »Fall nur nicht mal auf solchen Fremden rein, Heli! Wozu in der Ferne schweifen, wo das Gute oft so nah liegt.«

Ob er damit den Peter Breuer gemeint hatte, der eben zur Tür hereinkam?

Vielleicht hatte der Grober-Bauer recht. Die Fremden redeten viel und flirteten gern, aber sie gingen immer wieder weg, und die Mutti sah es sowieso nicht gern, wenn sie ihre Zeit mit ihnen vertrödelte.

Peter Breuer, ein frischer junger Bursche, freute sich sichtlich, daß Heli heute recht nett zu ihm war, gar nicht so schnippisch wie sonst. Und als dann Mr. Gordon die Treppe herunterkam, war sie gleich noch freundlicher zu Peter.

»Was ist denn das für einer?« raunte Peter Heli zu, als er den Blick bemerkte, den Gary Gordon Heli zuwarf.

»Ach, so ein Amerikaner«, entgegnete sie leichthin. »Er reist morgen ab.«

*

»Da hat die Vicky doch was von wertlosen Aktien erzählt«, sagte Korbinian Gruber zu Dr. Rückert, als sie schon ein Stück über Hohenborn hinaus waren. »Ich habe mir was ausgedacht, weil sie doch bestimmt kein Geld von mir nehmen will.«

»Na, dann schießen Sie mal los«, erwiderte Dr. Rückert munter, denn in etwa ahnte er schon, worauf Korbinian hinaus wollte.

»Man könnte ihr doch sagen, daß die Aktien gar nicht wertlos sind. Sie könnten sagen, daß Sie sie verkaufen konnten, und das Geld würde ich dann geben.«

»Da müßten Sie aber einen schönen Batzen auf den Tisch legen, Herr Gruber«, bemerkte Dr. Rückert schmunzelnd.

»Das will ich doch auch. So leicht tut Till sich doch nicht, und zwei Kinder sind auch schon da. Vielleicht kommen auch noch ein paar. Ich mag nicht, daß die Vicky warten muß, bis ich mal unter der Erde liege. Jetzt möchte ich schon noch ein paar Jährchen hinter mich bringen, aber gar so sehr sparen soll sie auch nicht.«

»Das braucht sie auch nicht«, entgegnete Dr. Rückert lächelnd.

»Dann machen Sie es so, wie ich’s gesagt habe?«

»Nein, das geht nicht. Die Aktien haben nämlich einen ganz beträchtlichen Wert, und da müßten Sie zuviel Haare lassen, wenn Sie sie kaufen wollten. Viktoria braucht nicht zu sparen. Sie ist eine reiche Frau, wenn Sie es auch noch nicht glauben können. Gordon wollte sie betrügen, aber diesmal kann er in den Mond gucken. Schauen Sie nicht so ungläubig, Herr Gruber. Ich werde es Ihnen erklären.«

Aber das mußte er recht ausführlich tun, bis es Korbinian Gruber endlich begriff. Und dann lachte er sich ins Fäustchen.

»Das gönn ich dem Schlawiner!« freute er sich. »Daran wird er noch lange knabbern. Man sieht es mal wieder, wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.«

Und diesmal traf es haarscharf zu.

*

Corri war sehr früh munter, und weil niemand auf ihr Rufen hörte, kletterte sie aus dem Bett und trippelte in Christophs Zimmer.

»Toffi, Toffi, bist munter?« wisperte sie.

Er rieb sich die Augen. Dann faßte er sich an den Mund, weil es da so stach und zog. Und dann erinnerte er sich, was am gestrigen Tage geschehen war. Aber er hatte gut geschlafen und den Schrecken schon wieder fast vergessen.

»Pst!« machte er. »Schlaf noch.«

So richtig deutlich konnte er noch nicht sprechen, aber Corri wollte auch nicht mehr schlafen.

»Ria gehe«, plapperte sie. »Tür aufmachen.«

Das konnte sie noch nicht allein. Dazu brauchte sie Christoph.

Aber er dachte plötzlich daran, was Ria ihm noch vor dem Einschlafen gesagt hatte. Daß sie immer bei ihnen bleiben würde, als ihre Mami.

»Nicht Ria, Mami heißt das«, erklärte er mühsam.

»Mami?« fragte Corri und kletterte zu ihm ins Bett. Er rutschte ein bißchen zur Wand und hielt die Kleine fest. »Ria«, wiederholte Corri.

»Sie ist jetzt unsere Mami«, sagte Christoph. »Meine Lippe tut weh, kann nicht soviel reden.«

»Wehweh, armer Toffi«, bedauerte ihn Corri. Sie tätschelte ihm die Wange und drückte ihm einen feuchten Kuß darauf. »Ria heileheile macht.«

»Mami, Ria heißt jetzt Mami! Sie ist unsere Mami, Corri!«

Wenn sie es doch bloß verstehen würde. Christoph war ganz verzweifelt, weil er es doch nicht dauernd sagen konnte. Zu blöd, daß er vom Zaun ausrutschen mußte, gerade jetzt, wo es soviel zu reden gäbe.

»Du bist halt noch so klein. Du verstehst nicht, was ich meine. Ria ist unsere Mami. Sie bleibt immer bei uns.«

»Mami, Mami!« wiederholte Corri und klatschte in die Hände.

»Siehste! Nun hast es kapiert!«

»Tür auf, Tür auf!« verlangte sie nun jedoch.

Christoph fühlte sich seltsam weich in den Knien, aber er tat ihr den Gefallen. Und er machte auch noch die Tür zu Viktorias Zimmer auf.

Viktoria vernahm ein Geräusch, aber sie wußte nicht, woher es kam. Sie war noch in ihren Träumen gefangen.

»Mami«, tönte ein leises Stimmchen an ihr Ohr. »Mami, Mami, Mami!«

Eine winzig kleine Hand tastete sich über ihren Arm, und dann war Viktoria plötzlich ganz munter.

»Corri!« rief sie glücklich, das Kind mit ihren Armen umschließend.

»Nicht Ria, Mami«, sagte Corri wichtig. »Liebe Mami!«

Weiche, feuchte Lippen lagen an Viktorias Wange, und ein heißes Glücksgefühl durchströmte sie.

»Will auch zu dir«, flüsterte Christoph.

»Mein armer Kleiner! Geht es dir besser?« erkundigte sich Viktoria besorgt.

»Bißchen weh tut’s noch, aber es geschieht mir recht. War ja selber schuld.«

»Heile, heile Miesekatz«, sagte Corri.

Und wie schnell konnte eine weiche, liebevolle Hand Schmerzen vergessen lassen!

Christoph kuschelte sich in Viktorias Arm, Corri in den andern, und für Viktoria begann dieser Tag in dem glücklichen Bewußtsein, Tills Kindern nun wahrhaftig Mutter sein zu können.

Corri kostete es aus, sie immer wieder »Mami« zu nennen, und Christoph drückte seine geschwollene Lippe an ihre Hand.

Dann stand Till in der Tür.

»Da kann ich euch ja lange suchen«, bemerkte er, und seine Stimme klang sehr bewegt.

»Mami aufweckt«, erklärte Corri. »Is meine Mami!«

»Meine Mami auch«, schloß Christoph sich an.

»Und meine Vicky«, sagte Till zärtlich, und die Kinder fanden es durchaus richtig, daß er ihr einen Kuß gab.

*

Keine Schatten trübten ihr Glück. Nichts geschah an diesem Tag, was sie beunruhigen konnte.

Onkel Korbinian rief schon früh an. Er konnte es gar nicht mehr erwarten, wieder mit ihnen beisammen zu sein. Das konnten sie ihm nicht übelnehmen. Er gehörte zu ihnen, und ihr Glück war groß genug, um seinen Schein auch auf sein Leben zu werfen.

»Opapa, Opapa«, empfing ihn Corri jauchzend, und man sah es ihm an, daß es für ihn nichts Schöneres mehr geben konnte, als so genannt zu werden.

»Ich müßte Dr. Rückert anrufen«, sagte Viktoria.

»Das hat Zeit. Nachher erzähle ich dir alles. Wir haben gestern noch lange beieinandergesessen.«

»Wer?«

»Dr. Rückert und ich. Ich bin nicht gleich heimgefahren. Wir haben uns in Hohenborn ganz zufällig getroffen, und dann haben wir halt noch ein paar Fläschchen auf eine glückliche Zukunft geleert. Grund genug hatten wir dafür.«

»Gleich ein paar?« fragte Viktoria staunend.

»Es war mein bester Wein. Er hat Dr. Rückert auch geschmeckt. Aber für uns haben wir noch genug, da braucht euch nicht bange zu sein.«

»Dr. Rückert war bei dir?« wunderte sich Viktoria.

»Er hat mich heimgebracht. Es fuhr doch kein Bus mehr.«

»Warum bist du nach Hohenborn gefahren, Onkel Korbinian?« fragte Viktoria.

»Ach Gott, bloß so. Aber dann hatte es sich schon erledigt. Jetzt steckst du deinen alten Onkel auch noch in die Tasche, Vicky.«

»Was soll das nun wieder heißen?«

»Daß du Teilhaberin einer Erdölgesellschaft bist.«

»Du, für solche Späße bin ich heute aber nicht zu haben«, entgegnete sie unwillig. »Du brauchst mich jetzt nicht immer daran zu erinnern, wie töricht ich war.«

»Ein blindes Huhn findet auch mal ein Korn«, sagte er neckend. »Du hast gleich ein paar Millionen gefunden, und ein gewisser Mister guckt dumm.«

»Ich glaube, die paar Flaschen waren zuviel für dich, Onkel Korbinian«, bemerkte Viktoria kopfschüttelnd.

»Ach was! Aber du hast ja einen Anwalt, der dir alles ganz genau erklären wird. Es fragt sich nur, ob Till eine so reiche Frau überhaupt heiraten will.«

Viktoria begriff, daß das kein Spaß mehr war, aber ein Grund zum Jubeln war es für sie nicht.

»Wenn es so ist, sagen wir ihm lieber nichts davon, bis wir verheiratet sind, Onkel Korbinian«, flüsterte sie. »Ich bin so glücklich, daß er mich liebt, auch wenn ich nichts besitze.«

»Na, daran gibt es doch wohl keine Zweifel, du Dummchen«, meinte Onkel Korbinian gerührt.

Aber Till erfuhr es doch erst am Tag der Hochzeit.

An diesem Tag, an dem die Kirche in Erlenried wieder dicht gefüllt war und zum erstenmal auch Korbinian Gruber in der vordersten Reihe saß, war Till Jaleck viel zu glücklich, um noch an etwas anderes zu denken, als daß Viktoria nun seine Frau war.

Was sollte sich an ihrem Leben ändern? Sie hatten alles, was sie brauchten zu ihrem Glück, nämlich sich selbst, und die Kinder ihre heißgeliebte Mami, einen fürsorglichen Opapa und die Freundschaft vieler Menschen, die ohne Falsch waren.

Ein Gary Gordon hatte keinen Platz in ihrer Mitte.

Im Sonnenwinkel Staffel 3 – Familienroman

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