Читать книгу Dr. Laurin Staffel 17 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 9

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Patrick Heym drückte dem Taxifahrer einen Fünfzigeuroschein in die Hand. »Der Rest ist für Sie«, sagte er mit etwas schwerer Stimme, die verriet, dass er wieder einmal zu viel getrunken hatte. Aus diesem Grund hatte er für die Heimfahrt ein Taxi genommen.

»Vielen Dank, der Herr, kann ich gut gebrauchen. Morgen geht es nämlich in Urlaub.«

Dass die Leute immer so viel reden müssen, dachte Patrick. Sein Kopf schmerzte. Es war mal wieder eine lange Nacht gewesen, dazu nicht mal eine besonders amüsante.

Der Morgen dämmerte. Langsam ging Patrick den Weg zu seinem Bungalow, um dann wie erstarrt stehen zu bleiben. Fast wäre er über ein Paar Beine gestolpert. Er glaubte an Halluzinationen zu leiden.

So betrunken kann ich doch gar nicht sein, dachte er. Als er sich niederbeugte, wurde ihm schwarz vor Augen, denn zu den Beinen gehörte eine schlanke, weibliche Gestalt, deren Gesicht von Blut verkrustet und kaum erkennbar war. Panik ergriff Patrick, und sein Herz klopfte so heftig, dass er den Puls des Mädchens nicht fühlen konnte. Erst ein leises, gequältes Stöhnen verriet ihm, dass noch Leben in dem Findling war.

Er lief zum Haus und schloss die Tür auf. Er rief nach seiner Hausgefährtin Lena, die ihn mütterlich betreute, aber dann fiel ihm ein, dass sie für zwei Tage zu ihrer Schwester gefahren war.

Er hastete zurück und hob das Mädchen auf. Es musste ein junges Mädchen sein, denn die Gestalt war leicht und zierlich. Vielleicht hätte ich zuerst die Polizei rufen sollen, ging es ihm durch den Sinn, als er die Verletzte auf das Sofa bettete. Nein, zuerst einen Arzt, dachte er dann.

Sein nächster Nachbar war Arzt, nämlich Dr. Eckart Sternberg, der Chefarzt der Chirurgischen Abteilung der Prof.-Kayser-Klinik. Patrick Heym hatte schon einmal seine Hilfe in Anspruch genommen, als er bei einem Autounfall einige Verletzungen davongetragen hatte.

Es war jetzt zehn Minuten nach fünf Uhr, wie er mit einem Blick auf die Uhr feststellen konnte. Er sah klar, obwohl seine Hand, die nun zum Telefon griff, zitterte. Dr. Sternbergs Telefonnummer hatte er deshalb im Kopf, weil sie sich nur durch die Endziffer von seiner unterschied.

Ein paar Sekunden später klingelte bei Dr. Sternberg das Telefon. Er schlief schon nicht mehr fest, weil er mit einem Anruf aus der Klinik rechnete, da dort ein Frischoperierter lag, bei dem man mit schwersten Komplikationen rechnen musste.

»Was? Herr Heym? – Ja, ich komme sofort.«

Eckart Sternberg lief im Eilschritt die fünfzig Meter zum Haus von Patrick Heym, das inmitten eines parkähnlichen Grundstücks lag. Ein solches Grundstück konnten sich nur sehr reiche Leute leisten, aber Patrick Heym hatte es geerbt, wie vieles andere auch. Noch keine dreißig Jahre alt, war er ein schwerreicher Mann, der sich alles leisten und seine Tage im süßen Nichtstun verbringen konnte.

Und das tat er auch. Patrick Heym war als Playboy stadtbekannt. Dr. Eckart Sternberg hatte für solche Typen nicht viel übrig, und gerade deshalb hatte er sich gewundert, dass er schon bei der ersten Begegnung Sympathie für Patrick empfunden hatte.

Als Dr. Sternberg ihn nun an diesem Morgen wiedersah, erkannte er ihn fast nicht wieder. Wie ein Geist stand Patrick da und brachte kein Wort über die Lippen. Er deutete nur auf das Sofa.

Dem Arzt bot sich ein erbarmungswürdiger Anblick. Er sagte auch nicht viel, sondern griff gleich zum Telefon und bestellte einen Krankenwagen.

»Es ist besser, wenn das in der Klinik erledigt wird«, sagte er zu Patrick.

»Sie wird doch am Leben bleiben? Mein Gott, es wäre furchtbar …« Er unterbrach sich und fuhr dann stockend fort: »Ich bin eben erst nach Hause gekommen. Wer weiß, wie lange sie schon vor meiner Haustür gelegen hat.«

Dr. Sternberg konnte über den Zustand des Mädchens noch gar nichts sagen – außer, dass sie übel dran war.

»Kennen Sie die junge Dame?«, fragte er.

Patrick schüttelte benommen den Kopf. »Man kann ja gar nichts erkennen«, stammelte er. »Es ist entsetzlich. Bitte, tun Sie, was möglich ist, Herr Doktor. Ich übernehme alle Kosten.«

Später musste Dr. Sternberg daran denken, dass er nicht einen Augenblick lang misstrauisch gegenüber Patrick Heym gewesen war.

Eine Stunde später stand auch Dr. Leon Laurin am Krankenlager der Fremden. Das Gesicht war inzwischen vom Blut gereinigt worden. Die beiden Platzwunden, die von Schlägen oder einem Sturz herrühren konnten, waren geklammert.

Eine Gehirnerschütterung hatte Dr. Sternberg auch diagnostiziert, aber das Schlimmere war die Tatsache, dass das Mädchen vergewaltigt worden war, und das hatte Dr. Laurin festgestellt.

Das Kleid war zerfetzt, ein gewiss nicht billiges Modell.

»Eine merkwürdige Geschichte«, sagte Dr. Laurin nachdenklich. »Heym genießt keinen besonders guten Ruf.«

»Aber so etwas traue ich ihm nicht zu«, widersprach Dr. Sternberg. »Und was heißt guter Ruf? Er hat mehr Geld, als er ausgeben kann, und das macht schnell leichtsinnig. Jedenfalls werden wir mal wieder die Polizei am Hals haben.«

»Wäre auch zu schön, wenn es mal so ginge, aber eine solche brutale Tat kann man nicht ungesühnt lassen.«

»Hoffentlich wird der Täter bald gefasst, sonst habe ich auch keine Ruhe mehr«, meinte Dr. Sternberg.

»Hoffen wir auch, dass Heym nicht doch in die Sache verwickelt ist«, fügte Dr. Laurin hinzu. »Ein sehr apartes Mädchen, wenn man sich die Wunden wegdenkt.«

Ein solches Unglück konnte die Ärzte der Prof.-Kayser-Klinik nicht kalt lassen. Sie wussten ja auch um die psychischen Folgen, die ein junges Menschenkind durchmachen musste – selbst wenn es organisch geheilt werden konnte.

Inzwischen würde das Mädchen wohl auch von besorgten Eltern vermisst werden, von einem Freund oder Verlobten, denn am linken Ringfinger steckte ein schmaler Weißgoldring, der eine Bindung bedeuten konnte. Ein Ehering konnte es kaum sein, denn aus den Verletzungen, die das Mädchen erlitten hatte, konnte man schließen, dass sie vorher keine intimen Beziehungen zu einem Mann gehabt hatte.

*

Im Haus des Industriellen Arnold Heltcamp herrschte gewaltige Aufregung. Agnes Heltcamp konnte nicht schlafen, wenn ihre Tochter nicht zu Hause war, zumindest nicht ruhig schlafen. Immer wieder hatte sie in dieser Nacht zur Tür gelauscht, mehrmals war sie aufgestanden und hatte zu Anja ins Zimmer geschaut, aber als dieses gegen fünf Uhr noch immer leer war, hatte sie ihren Mann geweckt.

»Anja ist noch nicht daheim«, berichtete sie nervös. »André sollte doch wissen, dass es sich nicht gehört, mit ihr so lange auf einer Party zu bleiben.« Erregung und Empörung machten ihre sonst so angenehme Stimme ein wenig schrill.

Arnold Heltcamp, aus tiefem Schlummer gerissen, starrte seine Frau erst mal betroffen an.

»Das ist gar nicht Anjas Art«, bemerkte er heiser. »Es wird doch nichts passiert sein? Wo wollten sie doch gleich hingehen?«

»Zu Bekannten von André. Ich komme nicht gleich auf den Namen.«

»Frag Uwe, oder ist er auch nicht zu Hause?«

Uwe Heltcamp, der Sohn, war daheim. Er brauchte viel Schlaf, denn er stand kurz vor seinem Examen. Da er sehr tüchtig war, brauchte er sich keine Sorgen zu machen und konnte tief und fest schlafen.

»Was, Anja ist noch nicht zu Hause?«, entfuhr es ihm, als er von der Mutter geweckt wurde. »Da stimmt was nicht.«

Dieser Ausruf trug gewiss nicht dazu bei, Agnes Heltcamp zu beruhigen. Jetzt brach sie in Tränen aus.

»Weine doch nicht gleich, Mama«, sagte Uwe, »ich ziehe mich an und fahre zu André. Und wehe, wenn er Anja vernascht hat.«

Agnes war entsetzt, aber die Angst um ihre Tochter war noch größer als das Entsetzen. In ihrer Familie wurde recht frei gesprochen, und man war auch nicht prüde. Man hatte nur gewisse Grundsätze, wie sie eben zum Stil eines Hanseaten gehörten, auch wenn er nach München verschlagen worden war. In München hatte er seine Agnes kennengelernt, die Tochter eines kleinen Unternehmers, der Arnold eine Stellung bot. Sie hatten bald geheiratet, und Arnold hatte aus dem kleinen Unternehmen eine Weltfirma gemacht. Die Kinder waren ersehnt worden. Uwe war jetzt vierundzwanzig, Anja hatte gerade ihren zwanzigsten Geburtstag gefeiert. Gleichzeitig war ihre Verlobung mit André Malten bekannt gegeben worden. André studierte zwar noch, obwohl er älter war als Uwe, aber er stammte aus bester Familie, und man hatte nichts gegen ihn einzuwenden. Nur Uwe meckerte an ihm herum, weil er so lange mit dem Studium trödelte.

Dafür wiederum hatte Agnes eine Entschuldigung gehabt, denn Andrés Vater war früh gestorben, und seine Mutter hatte ihnen erklärt, wie sehr der Junge darunter gelitten und wie lieb er sich dann um sie gekümmert hätte. André entsprach so ganz dem Bild, das man sich von einem lieben, wohlerzogenen, sensiblen Jungen machte.

Uwe hatte sich schnell angekleidet und war losgefahren. Eine gute Viertelstunde war er unterwegs, bis er das Haus der Maltens erreichte. Da war es noch nicht sieben Uhr. Er musste mehrmals läuten, bis sich ein Fenster öffnete.

»Verzeihung, Frau Malten«, sagte Uwe, »ist André zu Hause?«

»Natürlich«, kam die Antwort. »Was ist denn los, Uwe?«

»Anja ist noch nicht daheim«, erklärte er, »ich muss André sprechen.«

Frau Malten öffnete ihm endlich die Tür. Und sie klopfte dann auch lautstark an Andrés Tür, den selbst das Läuten und Rufen anscheinend nicht hatte wecken können.

»Was ist denn nur los, Uwe?«, fragte er besorgt.

»Wo ist Anja?«, erkundigte sich Uwe knapp.

»Woher soll ich das wissen? Hier ist sie nicht.«

»Hast du sie denn nicht heimgebracht?«, fragte Uwe verwirrt.

»Pass mal auf, es war so: Anja hat auf der Party mit einem anderen geflirtet, da hatten wir Differenzen. Du weißt ja, wie bockig sie sein kann. Sie wollte allein nach Hause fahren. Wir waren mit ihrem Wagen gekommen, weil meiner doch in Reparatur ist. Ich habe mir dann ein Taxi genommen. Aber es ist doch nicht möglich, dass sie noch nicht zu Hause ist. Zum Teufel, hätte ich sie doch nur festgehalten.«

»Mit wem hat sie geflirtet?«, fragte Uwe.

»Mit Patrick Heym, das hat mich ja gerade so in Rage gebracht. Ich fahre gleich zu ihm und stelle ihn zur Rede.«

»Ja, komm mit«, sagte Uwe.

Dann wurde er ungeduldig, weil André seiner Meinung nach zu lange brauchte, um sich anzukleiden. Draußen jammerte Thea Malten, was denn das alles nur zu bedeuten hätte. Anja sei doch ein so solides Mädchen.

»Das ist sie auch«, sagte Uwe, »und wehe dem, der daran zweifelt.« Uwe hatte einiges von dem Temperament seiner Mutter geerbt, während Anja ganz dem Bild entsprach, das man sich von einer stolzen, reservierten Hanseatentochter machte.

Als André endlich neben Uwe im Wagen saß, sagte er: »Weißt du, Uwe, es ist besser, wir benachrichtigen die Polizei. Wir können nicht einfach bei Heym eindringen. Er könnte uns etwas anhängen, und vielleicht ist Anja tatsächlich mit dem Wagen verunglückt, was Gott verhüten möge. Aber es kann ja sein. So schrecklich mir der Gedanke ist, man muss ihn in Betracht ziehen.«

»Man kann Heym ja höflich fragen«, meinte Uwe.

»Aber er ist ein Typ, der sich nichts gefallen lässt. Ich glaube nicht, dass deine Eltern einen Skandal heraufbeschwören wollen, wenn sich im Nachhinein alles als harmlos herausstellt.«

»Nennst du es harmlos, wenn meine Schwester die ganze Nacht nicht heimkommt? Du hast wohl einen Schatten. Aber gut, fahren wir zur Polizei.«

Und so geschah es, dass zehn Minuten nach acht Uhr der Funkstreifenwagen vor Patrick Heyms Haus hielt.

*

Patrick Heym war kein weicher Bursche, aber durch sein schreckliches Erlebnis war er so durcheinandergebracht, dass er noch fahler wurde, als plötzlich zwei Polizisten vor ihm standen und ein ihm unbekannter junger Mann erregt auf ihn einsprach.

»Wo ist meine Schwester, Herr Heym?«

»Wer sind Sie überhaupt?«, fragte Patrick bestürzt zurück. »Und was wollen Sie? Handelt es sich etwa um das Mädchen, das ich heute Morgen verletzt in meinem Garten gefunden habe?«

»Gefunden? Verletzt?« Uwe zitterte vor Angst und Entsetzen.

»Ich kenne das Mädchen nicht«, sagte Patrick Heym. »Ich habe Dr. Sternberg angerufen, und er hat sie in die Prof.-Kayser-Klinik bringen lassen. Ich wollte mich gerade nach ihr erkundigen.«

»Es handelt sich wahrscheinlich um meine Verlobte«, sagte André aus dem Hintergrund. Ihn hatte Patrick bisher noch gar nicht gesehen.

»Woher wollen Sie das wissen?«, stieß er hervor.

»Sie waren doch mit Anja zusammen«, sagte André laut.

»Mit wem?«, fragte Patrick.

»Mit Anja Heltcamp, meiner Schwester!«, schrie Uwe.

»Ich weiß nicht, was man von mir will«, sagte Patrick leise. »Aber es wird sich ja alles aufklären.«

»Sie kennen Anja Heltcamp?«, fragte einer der Beamten.

»Ich kann mich erinnern, ihr einmal vorgestellt worden zu sein«, erwiderte Patrick, »aber heute Morgen, als sie in meinem Garten lag – als dieses Mädchen in meinem Garten lag, wollte ich sagen –, konnte ich niemanden erkennen. Es war ein Schock für mich, denn das Mädchen war blutverschmiert.«

Plötzlich sah ihn Patrick wachsam an. »Sie kommen mir tatsächlich bekannt vor«, murmelte er, nicht ahnend, dass er sich mit dieser Bemerkung in arge Bedrängnis brachte.

»Das ist ja selbstverständlich«, erwiderte André, »wir sind uns ja erst in dieser Nacht begegnet. Bei den Perlaus.«

»Waren Sie dort?«, fragte der Beamte.

»Ja, ich war kurz dort«, erwiderte Patrick verwirrt. »Nach Mitternacht. Aber ich weiß nicht, was das alles bedeuten soll.«

»Das werden wir schon feststellen. Würden Sie bitte mitkommen, Herr Heym?«, sagte der Beamte.

»In die Prof.-Kayser-Klinik? Selbstverständlich«, erwiderte Patrick.

»Zum Polizeipräsidium«, wurde er korrigiert.

»Wir fahren zur Klinik«, sagte André.

»Gnade Ihnen Gott, wenn Sie meiner Schwester etwas angetan haben«, stieß Uwe hervor.

»Ich verstehe nichts mehr«, murmelte Patrick heiser. »Überhaupt nichts. Ich habe doch gleich den Arzt gerufen, als ich das Mädchen fand. Ich weiß nicht mal, ob es Anja Heltcamp war.«

Obwohl er völlig übermüdet war, wurde ihm klar, dass er jetzt in einem schlimmen Verdacht stand.

»Ich hoffe nur, dass das Mädchen sagen kann, wie es in meinen Garten gekommen ist und was in dieser Nacht geschehen ist«, fügte er hinzu.

*

Das Mädchen lag still und regungslos in dem weißen Bett. »Ja, das ist meine Schwester«, sagte Uwe mit unsicherer Stimme.

»Anja«, murmelte André klanglos, »oh, Anja!«

»Er wird es büßen«, stieß Uwe hervor, als Dr. Sternberg ihm vorsichtig klargemacht hatte, was Anja widerfahren war. »Ich weiß nur noch nicht, wie ich es meinen Eltern beibringen soll.«

»Ich werde es tun«, bot sich André an.

»Du? Du hast Anja doch allein gelassen. Du hast den Beleidigten gespielt, weil sie mal mit einem anderen Mann gesprochen hat«, fuhr Uwe ihn an.

Dr. Sternberg horchte auf. Er war Zeuge dieses Zwiegespräches, und wenn er auch noch nicht wusste, worum es genau ging, so prägten sich ihm diese Worte doch ein.

»Ich konnte doch nicht ahnen, was passieren würde«, verteidigte sich André. »Sei nicht ungerecht, Uwe. Ich halte zu Anja, was immer auch geschehen ist.«

»Das ist jetzt erst einmal eine Familienangelegenheit«, erklärte Uwe. »Und wir müssen warten, was Anja zu sagen hat.«

»Und wenn sie nichts mehr sagen kann, was geschieht dann mit Heym? Gar nichts. Er hat ja Geld genug, sich die besten Anwälte zu nehmen.«

Auch das hörte Dr. Sternberg noch. War es tatsächlich so? Konnte Heym sich reinwaschen, falls er es doch gewesen war? Auch dieser Gedanke ging dem Arzt flüchtig durch den Sinn, aber dann kam gleich der andere. Nein, er ist es nicht gewesen. Er hätte mich dann nicht gerufen, nicht mich. Vielleicht einen anderen Arzt, aber nicht mich!

Er ertappte sich dabei, dass er sich mechanisch ein paar Notizen über den Dialog machte, den Uwe Heltcamp und André Malten geführt hatten. Vor allem, dass Uwe dem anderen vorgeworfen hatte, den Beleidigten gespielt zu haben, weil Anja mit einem anderen Mann gesprochen hatte.

Konnte dieser andere Mann tatsächlich Patrick Heym gewesen sein?

*

»Ich kann mich nicht erinnern, Anja Heltcamp bei den Perlaus gesehen zu haben«, erklärte Patrick indessen so ruhig wie nur möglich, da ihm nun ganz bewusst war, in welcher Klemme er steckte. »Es waren eine Menge Leute dort, viele hübsche Mädchen. Ich hatte vielleicht schon etwas viel getrunken, als ich dorthin kam. Wenn man sich langweilt, trinkt man mehr, als einem guttut. Aber ich bin nicht lange geblieben. Ich habe mich auch dort gelangweilt. Ich bin zu einem Spielclub gefahren.«

»Alkoholisiert?«, fragte der Inspektor, der ihn jetzt verhörte.

»Sie können mir deswegen meinen Führerschein abnehmen und mir auch noch eine Strafe aufbrummen, aber Sie können mich nicht wegen eines versuchten Totschlags anklagen. So nennt man das ja wohl.«

»Sittlichkeitsdelikt, Vergewaltigung«, sagte der Beamte knallhart.

»Und ich soll so etwas getan haben? Sie sind ja allesamt verrückt!« Patrick war erschöpft, völlig fertig mit den Nerven, und er verlor sie nun vollends.

»Ich kann mich dieser Weiber nicht erwehren. Ich habe sie satt bis obenhin. Ich verspiele mein Geld lieber, als es mit ihnen zu vergeuden. Aber ich gewinne auch beim Spiel.«

»Frau Heltcamp hat sich also auch an Sie gehängt. Sie ist eines von diesen Weibern?«, meinte der Inspektor fragend.

»Das wollte ich nicht sagen. Ich habe sie nur flüchtig kennengelernt. Sie machte einen reservierten Eindruck, ein wohlerzogenes Mädchen, wie man so sagt. Ich wollte sie keineswegs beleidigen.«

Auch das wurde wieder missverstanden. »Aber gerade das hat Sie gereizt«, vermutete der Inspektor.

Patrick kniff die Augen zusammen. Sie fielen ihm ohnehin fast zu.

»Mich kann keine Frau mehr reizen«, murmelte er noch, dann sackte er zusammen.

*

Im Haus Heltcamp herrschte nun Stille. Agnes’ Tränen waren versiegt, Arnold Heltcamps Zornausbruch war abrupt abgebrochen.

»Unser armes Kind«, sagte er leise. »Agnes, nimm dich jetzt zusammen. Anja wird uns brauchen. Ich will gleich mit dem Arzt sprechen, und dann fahre ich zum Präsidium. Sie sollen es ja nicht wagen, Heym auf Kaution freizulassen.«

»Dies alles darf nicht an die Öffentlichkeit gezerrt werden«, sagte Agnes leise, »das könnte Anja noch mehr schaden.« Sie dachte jetzt nur als Mutter. Sie war besorgt um ihr Kind.

»Ich weiß nicht«, murmelte Uwe, »wenn ich es mir genau überlege, dann machte Heym keinen schuldbewussten Eindruck. Er wollte in die Klinik fahren. Er hat ja auch einen Arzt gerufen, einen guten Arzt. Und wie ich weiß, hat er Dr. Sternberg nicht um Stillschweigen gebeten. Pa, ich bin ja nun bald Jurist, und ich sage dir, man kann einen Menschen nicht auf Verdacht verurteilen.«

»Willst du ihn etwa in Schutz nehmen?«, fauchte der Ältere.

»Gewiss nicht, wenn ihm die Schuld nachgewiesen werden kann. Aber ich denke jetzt wieder klar. Erst muss man seine Schuld beweisen. Man kann ihn nicht nur deswegen verurteilen, weil er in dem Ruf steht, ein Playboy zu sein.«

»Er ist einer. Er ist ein Nichtsnutz, der nicht arbeitet.«

Arnold Heltcamps Stimme klang hassvoll. Es war die Stimme eines Mannes, der in seinem Leben stets hart gearbeitet hatte. Und dazu waren all die Unternehmen, die Patrick Heym gehörten, seine schärfste Konkurrenz, wenn Patrick selbst dazu auch nichts tat.

»Man muss objektiv bleiben, Pa«, mahnte Uwe.

»Ich möchte dich daran erinnern, dass es um deine Schwester geht«, stieß Arnold Heltcamp hervor.

»Ich vergesse es nicht, und ich werde alles tun, um den Verlauf dieses Abends zu rekonstruieren. Aber Anja kann selbst noch nicht Stellung nehmen. Ihre Aussage aber wird entscheidend sein.«

»Und wenn sie durch den Schock alles vergessen hat?«, fragte Agnes. »Soll man es ihr dann wieder in die Erinnerung zurückrufen? Willst du so unbarmherzig sein, Uwe?«

»Unbarmherzig? Wäre es nicht genauso unbarmherzig, einen Unschuldigen zu verurteilen und den Schuldigen laufen zu lassen? Das kann ich mit meinem Eid auch nicht vereinbaren. Nein, ich könnte es nicht.«

»Und wenn Heym schuldig ist, wird er sich freikaufen. Er wird eine Kaution stellen und abhauen. Er hat überall Besitz«, sagte Arnold Heltcamp hasserfüllt.

»Bitte urteile nicht voreilig, Pa«, mahnte Uwe.

»Ach, du meinst, weil du studiert hast, kannst du mir Vorschriften machen? Du bist mein Sohn, du bist Anjas Bruder. Du hast die verdammte Pflicht, unsere Interessen zu vertreten.«

»Dann wollen wir erst einmal nachforschen, warum es zu einem Krach zwischen Anja und André gekommen ist«, sagte Uwe. »Wenn er sie nicht allein gelassen hätte, wäre es nicht zu diesem Überfall gekommen. Und wo ist überhaupt ihr Wagen, mit dem sie ja angeblich allein weggefahren sein soll, wie André sagte? Ja, er hat gesagt, sie wollte allein fahren.«

»Was aber nicht beweist, dass sie allein gefahren ist«, sagte Arnold Heltcamp.

»Und wenn sie nicht allein gefahren ist – mit wem ist sie gefahren und warum?«, fragte Uwe.

Seine Mutter starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Du wirst Anja doch nicht verdächtigen wollen, mit einem anderen Mann mitgegangen zu sein – einfach so?«

»Nicht einfach so, aber vielleicht mit einem, der sich mehr als Gentleman benahm als André, und doch kein Gentleman war«, erwiderte Uwe.

»Wir fahren jetzt in die Klinik, Agnes«, beendete Arnold Heltcamp die Unterhaltung. »Wir sind alle überreizt. Uwe will sich als Jurist bewähren, wir müssen es als Eltern unserer Tochter. Und das erscheint mir wichtiger.«

»Es ist beides wichtig, Pa«, sagte Uwe. »Du wirst noch einmal an meine Worte denken.«

*

Was Dr. Laurin ebenso wenig wie Dr. Sternberg wusste war die Tatsache, dass Dr. Friedrich Brink Patrick Heym schon mehrere Jahre lang juristisch beriet. Friedrich sprach nicht über seine Klienten, Dr. Laurin nicht über seine Patienten, wenn es nicht die Umstände manchmal doch erforderten.

Dr. Leon Laurin war demzufolge sehr überrascht, als der Schwager seiner Schwester Sandra anrief.

»Was, du bist Heyms Anwalt?«, rief Leon überrascht aus, als Friedrich Brink ihm eine kurze Erklärung gegeben hatte.

»Er sitzt arg in der Klemme, aber ich glaube ihm. Wir sprechen noch darüber, Leon. Es geht jetzt um die Patientin, um Anja Heltcamp. Wie geht es ihr?«

»Nicht ansprechbar. Sie ist kurz bei Bewusstsein gewesen, als ihre Eltern bei ihr waren, aber sie hat sie nicht erkannt.«

»Es muss alles notiert werden, was sie möglicherweise sagt«, erklärte Friedrich. »Mühe und Kosten sind nicht zu scheuen. Es muss ständig jemand bei ihr sein.«

»Bist du auch schon bestechlich, Friedrich?«, fragte Leon.

»Unsinn! Aber Patrick hat mit der Geschichte nichts zu tun. Er mag ein Filou gewesen sein, jetzt ist er ein gebrochener Mann. Er ist mein Klient. Ich werde ihn da rausboxen, Leon. Kann ich dich heute Abend persönlich sprechen?«

»Du bist uns immer willkommen, das weißt du doch.«

»Der Bruder des Mädchens ist Jurist, macht gerade sein Examen. Vielleicht kann man mal mit dem reden.«

»Er ist auf Heym nicht gut zu sprechen, Friedrich.«

»Ich kann verstehen, dass er den Mann hasst, der seiner Schwester das angetan hat, aber Heym ist nicht dieser Mann. Wir reden heute Abend darüber. Ich habe gleich einen Gerichtstermin.«

Arnold Heltcamp hatte indessen Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um zu erreichen, dass Patrick Heym ja nicht gegen Kaution entlassen wurde. Das jedoch hatte Heym selbst abgelehnt.

Diese Tatsache setzte Arnold Heltcamp in Erstaunen, und er sprach mit seinem Sohn darüber.

»Das kann ein geschickter Schachzug sein, aber auch ein Manöver«, meinte Uwe. »Wer ist sein Anwalt?«

»Dr. Brink.«

Uwe runzelte die Stirn. »Der würde ihn wohl nicht vertreten, wenn er nicht von seiner Unschuld überzeugt wäre. Er hat in einem ähnlichen Fall die Verteidigung niedergelegt, als die Schuld des Beklagten erwiesen war, und das war auch ein betuchter Geschäftsmann, der unbedingt auf verminderte Zurechnungsfähigkeit hinaus wollte, als die Glaubwürdigkeit des Opfers erwiesen war.«

»Vielleicht legt er in diesem Fall auch die Verteidigung nieder«, knurrte der Ältere.

Uwe wollte sich dazu nicht mehr äußern. Er dachte wieder über André nach. Er wollte herausbringen, weshalb sich Anja und André gestritten hatten und warum der Mann keinen Einlenkungsversuch gemacht hatte. Oder hatte den Anja nicht gewollt? War sie tatsächlich freiwillig mit einem anderen Mann weggefahren? Einiges kam Uwe da doch merkwürdig vor.

*

»Ich war in diesem Spielsalon«, erklärte Patrick. »Ich glaube allerdings nicht, dass er lizensiert ist. Wenn ich ihn preisgebe, bekomme ich diese Burschen auf den Hals.«

»Was ist Ihnen lieber«, fragte Dr. Brink, der sehr schnell gekommen war, »eine Anklage wegen eines Sittlichkeitsverbrechens oder eine Auseinandersetzung mit ein paar Spielern, die Sie ja namentlich gar nicht gekannt zu haben brauchen?«

»Okay, aber da wäre doch noch der Taxifahrer, der mich heimbrachte. Er war ein redseliger älterer Mann. Allerdings sagte er mir, dass er anderntags in Urlaub fahren wolle. Er bemerkte es, als ich nicht knauserig war mit dem Trinkgeld. Er muss doch zu finden sein.«

»Beschreiben Sie ihn«, forderte Friedrich. »Ich kann einen Privatdetektiv einschalten.«

»Tun Sie alles, damit ich aus dieser Sache rasch herauskomme. Wenn alles vorbei ist, werde ich nie wieder auf eine Party gehen, nie wieder einen Spielsalon betreten und höchstens eine Flasche Wein trinken. Und außerdem werde ich mich irgendwo aufs Land zurückziehen.«

Das waren eine ganze Menge guter Vorsätze, doch in dieser Stunde war Dr. Brink bereit, sie für bare Münze zu nehmen, denn Patrick Heym sah wenigstens zehn Jahre älter aus, als er war, und ein bitterer Zug lag um seinen Mund.

Man hatte ihm auch vorgehalten, dass er seine Haushälterin eigens deshalb beurlaubt hatte, um ungestört zu sein, und nun dachte er daran, was Lena sagen würde, wenn sie erfuhr, wessen man ihn beschuldigte. Er wagte gar nicht daran zu denken, denn er hing an Lena.

Sie hatte ihn aufgezogen, sie hatte ihm auch manches Mal Vorhaltungen über seinen leichtsinnigen Lebenswandel gemacht. Es war ein schrecklicher Gedanke, dass der einzige Mensch, der ihm wirklich etwas bedeutete, sich nun auch von ihm abwenden könnte.

*

Blass, verweint und sehr erschöpft saß Agnes Heltcamp dem Klinikchef gegenüber.

»Nein, Ihre Tochter wird kein Kind bekommen, Frau Heltcamp«, sagte er tröstend.

»Ich muss Ihnen danken, wenn Anja wenigstens das erspart bleibt«, sagte sie mit einem unterdrückten Aufschluchzen. »Schauen Sie sie doch an. Es gibt so wenige Mädchen in diesem Alter, die noch so sind wie sie. Aber sie war vielleicht auch zu unbefangen. Dieser Heym soll ja ein sehr gut aussehender Mann sein.«

»Es ist noch nicht erwiesen, dass Patrick Heym der Täter war«, sagte Dr. Laurin warnend. »Es spricht vieles dagegen, vor allem die Tatsache, dass er sofort Dr. Sternberg gerufen hat. Er könnte zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht gewusst haben, dass eine Vergewaltigung vorlag.«

»Aber Anjas Kleid war doch völlig zerfetzt.«

»Wir haben hier in der Klinik schon mal ein Unfallopfer gehabt, das ähnlich zugerichtet war. Ein Mädchen, das überfahren und in den nächsten Garten gelegt wurde. Allerdings ist ja erwiesen, dass ein solcher Unfall bei Ihrer Tochter nicht vorlag.«

»Und wenn sie erst nachträglich in den Garten gebracht wurde?«

»Dann wäre Herr Heym erst recht entlastet, denn er selbst hätte sie gewiss nicht dorthin gebracht.«

Agnes Heltcamp sah den Arzt nachdenklich an. »Ja, das sehe ich ein. Aber es müssen doch Spuren gefunden werden.«

Die waren tatsächlich inzwischen gefunden worden. Schleifspuren, die davon herrühren konnten, dass Anja auf einer Decke dort hingeschleift worden war, und man fand dann auch einen Fußabdruck, der nicht von Patrick Heym stammen konnte, da er keine großen Füße hatte. Man hatte auch das ganze Haus durchsucht, aber nur auf dem Sofa waren kleine Blutspuren gefunden worden.

Offizielle Verlautbarungen gab es nicht. Dafür hatten Arnold Heltcamp, aber auch Dr. Brink gesorgt. Man wollte warten, bis Anja vernehmungsfähig war, denn ohne ihre Aussage würde man sowieso nicht viel weiterkommen.

Ihr Wagen war seltsamerweise nahe dem Haus der Perlaus gefunden worden, es war kein Benzin mehr im Tank. Anja hatte vergessen zu tanken, und dadurch kam man nun zu anderen Überlegungen. Vielleicht hatte sie versucht, per Anhalter heimzugelangen. Aber warum war sie dann ausgerechnet in Patrick Heyms Garten gefunden worden?

Es gab so viele Rätsel, dass man nicht wusste, wo man ansetzen sollte. Lena konnte noch nicht befragt werden. Sie feierte, nicht ahnend, was geschehen war, fröhlich den Geburtstag mit ihrer Schwester.

*

Uwe Heltcamp kam zu dieser Zeit von den Perlaus zurück. Viel konnte er seinen Eltern nicht berichten.

»Ich verstehe nicht, dass André Anja überhaupt auf eine solche Party mitgenommen hat, wo einer den anderen kaum kennt«, sagte er. »Notiz wird von irgendwelchen Ausfällen – sei es nun Flirt oder Streit – überhaupt nicht genommen.«

»Die Polizei wird schon mehr erfahren«, sagte Arnold Heltcamp zornig.

»Die wird auch nicht mehr erfahren. Eine Gästeliste gibt es nicht. Man kommt und geht. Man trinkt und isst, was man will, soweit vorhanden. Man verschwindet, mit wem man will. Ich könnte mir vorstellen, dass Anja ein solches Milieu nicht behagt hat und sie deshalb gehen wollte. Ich kann mir aber nicht recht vorstellen, warum André sie dorthin mitgenommen hat.«

»Er hat es sich vielleicht anders vorgestellt«, meinte der alte Heltcamp.

»Dann hätte er sie keinesfalls allein gehen lassen dürfen. Mit ihrem Wagen ist sie übrigens, wie ihr ja sicher schon wisst, nicht weit gekommen. Es war kein Benzin mehr im Tank.«

»Und was schließt du daraus?«, fragte Arnold Heltcamp. »Dass ihr jemand folgte und sie mitnahm? Angenehm ist es ja nicht, wenn man nachts so allein auf der Straße steht.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Anja mit einem Fremden mitgefahren wäre«, warf Agnes ein. »Nein, das kann ich mir einfach nicht vorstellen.«

»Und mir gefällt es durchaus nicht, dass André sie allein hat fahren lassen«, sagte nun Arnold Heltcamp hart. »Jedenfalls werde ich dafür sorgen, dass er nicht zu Anja vorgelassen wird, bevor nicht geklärt ist, warum sie gestritten haben.«

Wenig später sagte Anja in der Prof.-Kayser-Klinik das erste Wort: »André!«

Es klang tonlos, aber Schwester Marion, die an ihrem Bett saß, lauschte wachsam und notierte.

Es dauerte lange, bis sie die nächsten Worte vernahm: »Nein, ich will nicht!« Aber das war alles, was sie aufschreiben konnte.

Dr. Sternberg deutete es so, dass Anja nach ihrem Verlobten gerufen hätte. Umso mehr wunderte er sich, als Arnold Heltcamp am Morgen kam und ihm sagte, dass man André Malten keinesfalls zu Anja lassen solle.

»Sie hat seinen Namen gerufen«, erklärte der Arzt.

»Dennoch. Sie hatten einen Streit, und ich will erst wissen, wodurch dieser verursacht wurde. Malten hat sich nicht als Kavalier benommen. Er hat Anja allein fahren lassen. Letztendlich ist er mitschuldig, dass dieses Unglück passierte.«

Gut, das war der Standpunkt des Vaters. Dr. Sternberg konnte dagegen nichts einwenden, und als er später mit Leon Laurin darüber sprach, meinte der, dass dieser Standpunkt verständlich sei.

»Sie hat doch nicht nur ›André‹ gesagt, sondern auch ›Ich will nicht‹«, fügte er hinzu. »Es könnte bedeuten, dass sie keine Versöhnung will. Wir müssen warten, Eckart.«

*

»Was ist nun eigentlich mit Anja?«, fragte Thea Malten ihren Sohn. »Du sagst überhaupt nichts.«

»Es ist eine schreckliche Geschichte, Mama«, murmelte er. »Steht nichts in der Zeitung?«

Er wusste, dass sie sehr genau die Zeitung las. Besonders Dinge, die eine Sensation versprachen.

»Nein, was sollte da stehen? Mein Gott, sag doch endlich etwas. Ist sie entführt worden?«

»Nein, vergewaltigt«, erwiderte André knapp. »Sie ist in der Prof.-Kayser-Klinik. Ich wollte dich nicht aufregen. Es ist auch für mich nicht einfach, damit fertig zu werden.«

Thea starrte ihren Sohn aus trüben Augen an. »Du willst die Verlobung lösen, André?«, fragte sie. »Du weißt, was das für uns bedeuten würde.«

»Ja, ich weiß, Mama, und ich will die Verlobung auch nicht lösen. Aber vielleicht will Anja es. Nach diesem Vorfall wäre es möglich. Vielleicht bleibt sie auch gar nicht am Leben. Man weiß ja noch nichts.«

»Es wäre schlimm, wenn sie sterben würde«, murmelte Thea, »aber wenn sie am Leben bleibt, müssten die Heltcamps froh sein, wenn du zu ihr hältst und sie trotzdem heiratest. Ja, sie müssten dir dankbar sein. Wie soll es sonst weitergehen, André?«

»Verzweifle doch nicht gleich, Mama«, beruhigte er sie. »Wie es scheint, hat man den Schuldigen schon gefunden, und der ist sehr reich. Er würde sich gewiss dankbar erweisen, wenn man ihm ein Alibi verschaffte. Es war dumm von mir, den Verdacht auf ihn zu lenken.«

»Wieso?«, fragte seine Mutter verwirrt.

»Weil ich Uwe gesagt habe, dass Anja mit Heym geflirtet hat. Vielleicht wollte sie mich nur eifersüchtig machen. Aber ich werde das schon in Ordnung bringen, so oder so.«

»Du hättest eben nicht alles Geld in diesen Aktien anlegen sollen, André«, klagte Thea Malten resigniert, »dann könntest du heiraten, wen du willst.«

»Aber, liebe Mama, ich wollte Anja doch heiraten. Ich liebe sie.«

»Und warum hat gestern wieder diese Marina angerufen?«, fragte Thea. »Kaum, dass du aus dem Haus warst, hing sie schon wieder am Telefon.«

»Ich kann auch nichts dafür. Die Affäre ist vorbei, Mama. Ich schwöre es dir. Es gibt nur noch Anja für mich.«

»Wenn du es sagst, wird es schon stimmen«, murmelte sie, »aber mir gefällt diese Geschichte nicht. Hast du Anja denn nicht nach Hause gebracht?«

»Doch, aber sie kann ja noch mal weggefahren sein. Bring mich jetzt bloß nicht auch noch in Schwierigkeiten, Mama. Ich war gekränkt durch ihre Vorwürfe.«

»Sie hat dir Vorwürfe gemacht? Ich denke, du warst beleidigt, weil sie mit einem anderen geflirtet hat.«

»Natürlich fing es so an, aber dann machte sie mir Vorwürfe und sagte, dass verlobt noch nicht verheiratet sei und sie machen könne, was sie wolle.«

Thea Malten starrte vor sich hin. »Aber jetzt, da das geschehen ist, werden die Heltcamps froh sein, wenn du sie heiratest.«

»Bestimmt werden sie das.«

»Willst du Anja nicht besuchen?«

»Doch, ich fahre gleich in die Klinik. Zuerst spreche ich mit Herrn Heltcamp. Mach dir nur keine Gedanken, Mama, ich bringe das in Ordnung. Du behältst dein Haus.«

»Dein Vater hätte nicht gutgeheißen, dass du dich auf solche Spekulationen einlässt«, murmelte sie.

»Heym ist damit immer reicher geworden«, stieß André hervor, »und er hat diese Aktien auch gekauft. Es ist ja auch gar nicht gesagt, dass sie nichts bringen. Man muss nur warten können.«

»Aber wir können nicht mehr warten, André. Ich habe nicht mal mehr das Geld für die Kur, die ich so nötig brauche.«

»Das werde ich dir beschaffen, Mama«, erwiderte er. »Bitte, reg dich nicht auf. Du weißt doch, dass ich alles für dich tue, und ich wollte dich doch absichern. Heym hat immer Glück mit seinen Geschäften gehabt. Nur diesmal nicht. Aber auch er wird mir dankbar sein müssen.«

Thea Malten blickte ihm nach. André war ihr einziger Sohn, sie hing sehr an ihm. Und sie hatte sich so auf die Hochzeit gefreut, die doch bald stattfinden sollte. Anja war ein so nettes Mädchen, ein bisschen kühl, aber doch sehr höflich. Sie hatte ihr angeboten, doch auch Mama zu ihr zu sagen, aber Anja hatte es nie gesagt.

Als das Telefon läutete, schrak sie zusammen. Wieder war Marina am Apparat. Den Nachnamen dieser Frau kannte Thea Malten nicht.

»Bitte, rufen Sie nicht mehr an«, sagte Andrés Mutter hart. »Mein Sohn will nichts mehr mit Ihnen zu tun haben.«

Sie musste das einfach sagen. Sie hatte Angst vor der Zukunft. Angst, dass ihr die letzte Hoffnung genommen werden könnte.

*

Marina Cerny, zweiunddreißig, Schauspielerin und mit einer Figur ausgestattet, dass den Beamten die Augen übergingen, hatte eine Stunde zuvor ihre Aussage auf dem Polizeipräsidium gemacht. Sie hätte von Bekannten gehört, dass man wissen wolle, wer bei den Perlaus gewesen sei, und da hätte sie sich doch verpflichtet gefühlt, hier vorzusprechen, meinte sie.

Wer ihr denn den Hinweis gegeben hätte, wurde sie gefragt.

»Die Perlaus selbst«, erwiderte sie zögernd. »Wir sind befreundet. Ich weiß zwar nicht genau, worum es geht, ich habe nur gehört, dass Anja Heltcamp einen Unfall hatte und man wissen wolle, warum es zu Differenzen zwischen Herrn Malten und seiner Verlobten gekommen sei.«

»Das ist ja interessant«, sagte Kommissar Holzhauer, der sich inzwischen selbst mit diesem Fall beschäftigte. »Warum kam es zu diesem Streit? Können Sie uns das sagen?«

Marina lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. »Es war eine diffizile Situation für mich«, begann sie zögernd. »Ich kenne Herrn Malten recht gut. Wir waren einmal befreundet, aber dann fand er seine große Liebe. Ich wusste nicht, dass ich ihn an diesem Abend bei den Perlaus treffen würde. Ich wusste auch nicht, dass ich Patrick Heym treffen würde. Jedenfalls schien es so, dass er Anja Heltcamp mit seinem umwerfenden Charme einwickelte. Und da kam es zu dem Streit. André kann sehr eifersüchtig sein. Ich wollte mich da allerdings nicht einmischen. Sie verstehen das hoffentlich. Jedenfalls war Anja Heltcamp plötzlich verschwunden.«

»Herr Heym auch?«, fragte der Kommissar.

»Darauf habe ich nicht geachtet.«

»Haben Sie von Herrn Malten erfahren, was in dieser Nacht geschah?«, fragte Kommissar Holzhauer ruhig.

»Aber nein. Ich weiß ja eigentlich gar nicht, was geschehen ist. Es ist nur so merkwürdig, dass jeder, der auf dieser Party war, gesucht wird, und deshalb wollte ich mich gleich melden, weil ich morgen ein Engagement antrete.«

»Wo?«, fragte der Kommissar.

»In Wien«, erwiderte Marina. »Würden Sie mir bitte sagen, was nun eigentlich geschehen ist? Man hat es ja nicht gern, irgendwie verdächtigt zu werden.«

»Niemand verdächtigt Sie«, erwiderte er freundlich. »Hinterlassen Sie aber bitte Ihre Adresse.«

Marina tänzelte hinaus. Kommissar Holzhauer ließ seinen Assistenten kommen.

»Besorgen Sie mir Informationen über diese Person!«, ordnete er ruhig an.

*

Arnold Heltcamp hatte André in sein Arbeitszimmer gebeten. »Es ist gut, dass Sie kommen, André«, sagte er. Das Du hatte er bisher dem Jüngeren nicht angeboten. »Ich hätte Sie sonst zu mir gebeten.«

»Ich bin völlig durcheinander und so erschüttert, dass ich immer noch keinen klaren Gedanken fassen kann«, erklärte André.

»Wir sind auch nicht gerade in der besten Verfassung«, erwiderte Arnold Heltcamp. »Würden Sie mir jetzt bitte sagen, was zwischen Ihnen und Anja vorgefallen ist?«

»Im Nachhinein besehen, ist es läppisch«, erwiderte André. »Eine Kabbelei, nichts weiter. Anja gefielen die Leute auf dieser Party nicht, mir auch nicht. Es verliert alles an Stil. Dann trat da auch noch eine frühere Bekannte von mir in Erscheinung, eine Schauspielerin, die leicht aus der Rolle fällt. Sie umarmte mich. Anja war pikiert und verschwand plötzlich. Und dann sah ich sie wenig später mit Patrick Heym an der Bar. Ich habe das wohl auch zu tragisch genommen, aber Heym ist schließlich als Playboy bekannt. Ich sagte zu Anja, dass es besser wäre, wir würden heimfahren, aber sie widersprach mir. Ihr schien es plötzlich zu gefallen. Sie erklärte, dass sie allein heimfahren würde. Ich weiß, dass ich mich falsch verhalten habe, als ich sie gehen ließ. Ich kann es nicht wiedergutmachen, aber was immer auch geschehen ist, Herr Heltcamp, ich halte zu Anja und werde bemüht sein, dass sie diese schreckliche Nacht vergisst.«

Arnold Heltcamp durchbohrte den Jüngeren förmlich mit seinem Blick. »Wir werden abwarten, was Anja dazu zu sagen hat«, antwortete er kühl. »Es ist allein Anjas Entscheidung, wie ihr künftiges Leben verläuft. Selbstverständlich möchten auch wir, dass sie dieses schreckliche Geschehen vergisst.«

»Ich darf Anja doch besuchen?«, fragte André.

»Davon sehen Sie bitte ab. Vorerst darf sie überhaupt keine Besuche empfangen, uns ausgenommen. Sollte Anja Sie sehen wollen, werden wir Sie benachrichtigen.«

André hatte die Hände ineinander verschlungen und drehte die Daumen umeinander.

»Ich denke, dass es gut für ihr seelisches Gleichgewicht wäre, möglichst bald mit dem Mann verheiratet zu sein, der sie aufrichtig liebt«, sagte er leise. »Ich möchte ihr helfen.«

»Wie dem auch sei, wir wollen abwarten, was die Ärzte für richtig halten, und auch, was Anja möglicherweise zu sagen hat.«

»Möglicherweise?«, fragte André erregt.

»Sie hat eine schwere Gehirnerschütterung, und es ist fraglich, ob sie sich überhaupt an alles erinnern kann, was in dieser Nacht geschah. Aber an eine baldige Hochzeit denken wir jetzt nicht, André, das werden Sie verstehen.«

»Ich habe mir den Kopf zerbrochen, wie Anja am besten zu helfen wäre. Eine Weltreise, andere Eindrücke möchte ich ihr schenken. So würde sie meiner Ansicht nach am schnellsten genesen.«

»Ich werde mit den Ärzten darüber sprechen. Wir bleiben in Verbindung«, erwiderte Arnold Heltcamp, immer noch zurückhaltend, dann verabschiedeten sie sich.

Eine Stunde später betrat André Malten die Wohnung von Marina Cerny. Mit einem ironischen Lächeln begrüßte sie ihn.

»Deine Mutter sagte mir am Telefon, dass du mit mir nichts mehr zu tun haben willst«, warf sie ihm zynisch vor.

»Warum rufst du auch immer an, Marina? Du weißt doch, worum es für mich geht.«

»Das hast du mir ja auch erklärt, André, und ich war heute auf dem Präsidium und habe eine entsprechende Aussage gemacht. Das wollte ich dir sagen, da ich morgen nach Wien muss. Man könnte fast meinen, du säßest in der Klemme und nicht Patrick.«

»Hast du gesagt, dass du mal was mit ihm hattest?«, fragte André.

»Nein. Er ist diskret. Und das hätte doch nur Misstrauen erregt. Aber ich mache mir Gedanken, was in dieser Nacht wirklich passiert ist.«

»Ich auch«, sagte er.

»Aber du weißt mehr als ich. Ich habe dir einen Gefallen getan, André, und du weißt sehr gut, warum ich das für dich getan habe. Ich weiß auch, dass du Anja nur wegen des Geldes heiraten wolltest. Eine Scheidung hattest du ja auch bereits einkalkuliert. Du brauchst mir jetzt nicht wieder zu beteuern, dass ich die einzige Frau bin, die du wirklich liebst. Bei mir darfst du erst wieder aufkreuzen, wenn deine Finanzen in Ordnung sind.«

Ihre Augen verengten sich. »Hast du etwa so einen gemeinen Kerl auf sie gehetzt, André?«

»Wie kannst du nur so etwas denken, Marina?«, begehrte er auf.

»Irgendetwas stimmt nicht, André. Ich spüre es«, sagte sie. »Du hast Angst.«

»Weil es mit den Aktien schiefgegangen und Mama so verzweifelt ist.«

»Die liebe Mama«, höhnte Marina. »Wenn du nach Wien kommst, will ich von ihr nichts mehr hören. Es stört mich nicht, wenn du mit Anja verheiratet bist und dafür eine volle Brieftasche hast, aber bei mir geht die Liebe nicht durch den knurrenden Magen, und ich bin auch nicht bereit, einen Mann zu ernähren. War ich deutlich genug?«

»Sehr deutlich. Du wirst mich erst wiedersehen, wenn ich mit Anja verheiratet bin.«

»Wenn du es bist«, spottete sie. »Wenn es jemals so weit kommt. Vielleicht will die eiserne Jungfrau von Männern nun überhaupt nichts mehr wissen. Bisher konntest du doch auch nicht bei ihr landen, oder?«

»Es stimmt, Marina. Und du weißt, dass ich auch kein Interesse daran hatte.«

Ein frivoles Lächeln legte sich um ihren Mund. »Du wärest in der Hochzeitsnacht zu mir gekommen?«, fragte sie.

»Das habe ich dir doch versprochen.«

»Dann schau zu, dass du sie schnell heiratest und die Finanzen in Ordnung bringst. Aber die liebe Mama will ich niemals sehen.« Sie schnippte mit den Fingern. »Und jetzt verschwinde. In Wien darfst du mich besuchen.«

*

André ahnte nicht, dass Marinas Wohnung bereits überwacht wurde, und Patrick Heym war leicht aus der Fassung gebracht, als ihm die Frage gestellt wurde, ob er Marina Cerny kenne.

Er war ruhiger geworden. Er hatte viel Zeit zum Nachdenken gehabt.

»Muss man alle alten Affären aufwärmen?«, fragte er nach einer kurzen Gedankenpause.

»Waren Sie mit ihr liiert, Herr Heym?«, fragte Kommissar Holzhauer.

»Liiert? Ich war mit keiner Frau liiert. Ich hatte Bekanntschaften, und vor etwa einem Jahr lernte ich Marina Cerny kennen. Sie ist eine clevere Frau, zu clever, wenn man sich nur amüsieren will. Klingt das frivol, Herr Kommissar? Aber mein bisheriges Leben war frivol.«

»Würden Sie sich über Marina Cerny näher äußern?«

»Das liegt mir nicht.«

»Begreifen Sie nicht, dass es um Ihre Haut geht? Die Frau behauptet, dass Sie mit Anja Heltcamp bei den Perlaus zusammen waren.«

»Marina? Ich habe sie dort überhaupt nicht gesehen.«

»Dort hat anscheinend niemand jemanden gesehen. Was sind das für Leute?«

»Snobs, wie ich. So bezeichnet man das«, sagte Patrick sarkastisch.

»Und Sie waren nicht mit Marina Cerny liiert?«

»Nein. Sie wollte gleich zu mir ziehen, doch so weit geht es bei mir denn doch nicht. Lena würde es niemals zulassen. Sie können sie fragen.«

»Sie können sich also doch recht gut an Anja Heltcamp erinnern?«

»Ich habe es versucht«, erwiderte Patrick. »Ich kann nicht sagen, dass sie mich fasziniert hat, aber mich hat keine Frau je so fasziniert, dass ich mich genau an sie erinnern könnte – meine Mutter und meine Tante ausgenommen. Ich kann mich nur insoweit an Frau Heltcamp erinnern, als dass sie aus dem Rahmen fiel. Apart, sehr kühl und unnahbar. Und nach meinen Erfahrungen mit Frauen kann man ein solches Mädchen nur mit sehr viel Liebe oder mit Gewalt bekommen. Aber Gewalt liegt mir nun mal nicht, und zur Liebe bin ich wohl nicht fähig. Um es noch deutlicher zu sagen, ich hätte mich niemals einer Frau genähert, von der ich erwarten musste, einen Korb zu bekommen. Ist das klar?«

»Ich habe es gehört, Herr Heym. Möchten Sie noch immer kein Essen nach Ihrem Geschmack bestellen?«

»Danke, mir bekommt die Gefängniskost recht gut. Ich kann klar denken, Herr Kommissar. Ich bin nicht mehr übersättigt. Ich kann mich endlich in die Lage jener Menschen versetzen, die nicht mal genug zu essen haben. Und jetzt kann ich mir sehr gut vorstellen, warum manche kriminell werden, um nur überleben zu können. Da wurde vorhin so ein junger Bursche gebracht. Er hat geweint. Wäre es möglich, dass Sie veranlassen könnten, dass er zu mir in die Zelle kommt? Ich möchte mit einem Menschen reden, der traurig ist.«

»Er hat seinen Vater erstochen«, erklärte der Kommissar.

»Warum?«

»Das wissen wir noch nicht.«

»Wie alt ist er?«

»Sie stellen viele Fragen, Herr Heym.«

»Ich habe eine Bitte geäußert. Kann ich mit diesem Jungen sprechen?«

»Wenn Sie wollen. Wir wissen sowieso nicht, zu wem wir ihn stecken sollen. Aber Ihr Anwalt hat doch erreicht, dass Sie allein bleiben.«

»Wie lange ich allein bleiben will, ist immer noch meine Entscheidung«, erwiderte Patrick. Dann lächelte er wieder spöttisch. »In meinem Zimmer ist noch ein Bett frei.«

»Aus diesem Menschen soll man klug werden«, sagte Kommissar Holzhauer später zu seinem Assistenten, als dieser sein Büro betrat. »Haben Sie was über die Cerny rausgebracht?«

»Sie wurde von André Malten besucht, sonst nichts weiter.«

»Oh, lá, lá«, sagte da der Kommissar. »Ein Silberstreifen am Horizont.«

*

Lena war zurückgekommen. Dagmar Sternberg sah, wie Lena dem Taxi entstieg. Und sie sah, wie die grauhaarige rüstige Frau die Hände vor das Gesicht schlug, als ein Polizist auf sie einsprach.

Lena, zuerst fassungslos, fing sich schnell, als man ihr sagte, dass und weswegen sich Patrick Heym in Untersuchungshaft befand.

»Das ist ja wohl das Letzte!«, brauste sie auf. »Ich will zu ihm, sofort!«

Lenas blauen Augen sprühten Blitze.

»Dieses Haus ist sauber«, rief sie im höchsten Diskant. »Patrick würde mir niemals so was antun. Aber ihr kennt den Jungen ja nicht. Niemand kennt ihn, außer mir. Ich möchte nur wissen, wer ihm das anhängen will.«

Patrick hatte Lena unterschätzt. So viel stand fest: Sie dachte jetzt nicht an die Moral, die sie ihm gepredigt hatte. Sie verteidigte ihn wie eine Löwin ihr Junges, und sie war nicht mehr zu bremsen. Kommissar Holzhauer hatte allerhand auszustehen, als Lena ihm dann gegenübersaß.

Gegen Lena kam man nicht an, auch ein Kommissar nicht.

Er entschloss sich, Patrick Heym holen zu lassen. Es würde noch einige Zeit dauern, bis er kommen würde, und nun fand der Kommissar Lena freundlicher gestimmt.

»Wie lange sind Sie schon bei Herrn Heym?«, fragte er.

»Ich habe ihn aufgezogen«, erwiderte sie. »Seine Mutter hatte ja keine Kraft dazu. Aber gute Eltern hat er gehabt, und auch die Tante Hanna hat ihn sehr geliebt. Und dann war plötzlich nur noch ich da, und er war ein Mann, der mit dem Geld gar nichts anzufangen wusste. Ich meine, nichts Vernünftiges. Ihm ist doch immer alles abgenommen worden. Aber großzügig ist er, da könnte sich so manch einer eine Scheibe abschneiden, der noch mehr hat.«

Patrick konnte es erleben, wie Lena für ihn kämpfte. Als er müde und eingefallen zur Tür hereinkam, wurde sie ganz blass. Und dann nahm sie ihn in ihre Arme. Ein vielfacher Millionär, der als Playboy verschrien war, und seine Haushälterin? Da wurde es dem Kommissar doch ganz eigen zumute.

»Es wird ja alles wieder gut, Lena«, sagte Patrick gerührt. »Ich will aber erst wieder heim, wenn ich reingewaschen bin. Das musst du schon verstehen. Sie sollen nicht sagen, dass ich nur rauskomme, weil ich Geld habe. Dieses verdammte Geld.«

Ja, so entstand doch ein ganz anderes Bild von Patrick Heym als das, das sich die meisten Menschen von ihm machten. Und Lena war bereit, noch mehr für Patrick zu tun.

Sie fuhr zu den Heltcamps. Die Adresse hatte sie sich aus dem Telefonbuch herausgesucht, und ein Taxi hatte sie auch bald gefunden.

»Ich bin Lena Burgbauer«, sagte sie, als ihr die Tür von Uwe geöffnet wurde. »Die Haushälterin und langjährige Freundin der Familie von Herrn Heym, und ich möchte gern mit denen sprechen, die Patrick ins Gefängnis gebracht haben.«

Ihre Stimme tönte durch das ganze Haus, und das war ja auch Lenas Absicht.

»Ich bin Uwe Heltcamp«, stellte Anjas Bruder sich vor. »Was wünschen Sie?« Er war in Verlegenheit gebracht, denn Lena hatte eine kämpferische Haltung eingenommen.

»Bitte, treten Sie doch ein, Frau Burgbauer«, sagte Uwe. »Wir können uns darüber drinnen besser unterhalten.«

»Unterhalten möchte ich mich nicht«, sagte Lena energisch. »Meine Meinung wollte ich sagen. Und ein Haus, in dem Leute wohnen, die dem Patrick so übel mitspielen wollen, betrete ich nicht. Aber vielleicht war der Schuft, der der jungen Dame das angetan hat, hier oft zu Gast. Vielleicht geht er jetzt gar noch ein und aus. Solche gibt es auch, das möchte ich gesagt haben. Außen hui und innen pfui. Und das wär’s dann.«

Damit eilte Lena wieder zu ihrem Taxi.

Agnes und Arnold Heltcamp standen sprachlos in der Wohnzimmertür. Eben hatten sie sich einmischen wollen, aber da war Lena schon auf und davon.

»Das stimmt wirklich nachdenklich, meinst du nicht auch, Pa?«, fragte Uwe. »Die ist nicht gekauft. Überlegen wir mal, wer bei uns ein und aus geht.«

»Aber das hat sie doch im Zorn gesagt«, murmelte Agnes.

»Was Anja anbetrifft, ist nur André ein und aus gegangen, und den wirst du doch nicht verdächtigen, Uwe?«, sagte Arnold Heltcamp.

»Und wenn nun einer aus seinem seltsamen Bekanntenkreis ihm eins auswischen wollte?«

»Warum sollte er sich dafür Heyms Garten aussuchen? Jetzt denk du mal logisch, Uwe.«

»Dann sollte man doch André mal näher unter die Lupe nehmen«, sagte Uwe kalt.

»Um Gottes willen, steigert euch doch nicht in so etwas hinein!«, rief Agnes aus.

»Einen merkwürdigen Umgang hat er, das steht fest«, beharrte Uwe. »Okay, ich will ihn nicht verdächtigen, aber ich werde schon herausbringen, welche Rolle er an diesem Abend und auf dieser Party spielte. Ich müsste ein schlechter Jurist werden, wenn ich von einem falschen Verdacht in den anderen geriete.«

»Ich fahre jetzt in die Klinik«, sagte Agnes matt und beendete so die Diskussion.

*

Sie saß dann stundenlang an Anjas Bett. Es zerriss ihr Mutterherz fast, wie elend und klein Anjas Gesicht geworden war.

Dr. Sternberg hatte ihr gesagt, dass sie keine Fragen stellen dürfe, wenn Anja erwachen sollte, und dass sie überhaupt an nichts rühren solle.

Sie wollte das auch nicht, sie wollte nur, dass Anja die Augen aufschlug und sie erkannte. Das geschah dann gegen acht Uhr.

Gedämpftes Licht erhellte den Raum, der so freundlich eingerichtet war, dass man ihn nicht gleich als Krankenzimmer erkennen konnte.

Agnes Heltcamps Herz begann schmerzhaft zu klopfen, als die grauen Augen sie plötzlich anblickten.

»Mami«, flüsterte Anja.

»Ja, mein Liebes, ich bin bei dir«, erwiderte sie leise.

»Was ist denn? Wo bin ich?«, fragte Anja schleppend.

»In der Klinik, mein Kleines. Du hattest einen Unfall.«

»Einen Unfall«, murmelte Anja. »Was für einen Unfall?«

»Mit dem Wagen«, sagte Agnes rasch.

»Ich kann mich nicht erinnern.«

»Du brauchst dich auch nicht zu erinnern, mein Mädchen. Du sollst nur bald ganz gesund werden.«

»Ist es schlimm?«, fragte Anja. »Mein Kopf tut weh.«

»Eine Gehirnerschütterung«, erklärte Agnes Heltcamp.

»Und was ist mit meinem Gesicht? Es schmerzt.«

»Das sind nur Platzwunden, Liebling. Sie heilen schnell. Du wirst bald wieder genauso hübsch wie früher aussehen.«

»Ich will nicht hübsch sein«, flüsterte Anja, dann schloss sie die Augen. Leise sagte sie wenig später: »Ich gehöre nicht dahin, das hat er gesagt.«

»Wer hat es gesagt?«, fragte Agnes.

»Ein Mann.« Sie schlief ein.

Auch zu Agnes Heltcamp hatte Dr. Sternberg gesagt, dass sie alles notieren solle, was Anja sagte. Aber ihre Hand zitterte so stark, dass sie kaum den Stift halten konnte. Ihre Augen brannten. Tränen hatte sie jedoch keine mehr.

»Du musst gesund werden, mein Liebling«, flüsterte sie. »Du musst gesund werden. Wir lieben dich doch so sehr.«

*

Mit Friedrich Brink, dem Schwager seiner Schwester Sandra, hatte Leon Laurin an diesem Abend nicht mehr sprechen können, aber etwas Interessantes erfuhr er dennoch, denn Antonia hatte mit Sandra telefoniert, und die hatte ihr gesagt, dass sich Friedrich an diesem Abend mit Uwe Heltcamp treffen wollte.

Antonia wunderte sich, dass Sandra so gut informiert war, aber sie bekam bereitwillig Auskunft darüber.

»Du ahnst nicht, was man im Club so nebenbei alles hört, Antonia. Es ist hochinteressant.«

Dass Sandra die Augen und Ohren überall hatte, wusste Antonia. Heute hatte die Schwägerin tatsächlich interessante Neuigkeiten zu berichten.

»Ich hatte ja keine Ahnung, was mit Anja Heltcamp passiert ist«, erklärte Sandra. »Aber als sich ein paar Leute über die Party bei Perlaus unterhielten, wurde ich aufmerksam, besonders, als jemand sagte, dass Anja jetzt in der Prof.-Kayser-Klinik liegen solle. Es wurden so ein paar dumme Bemerkungen gemacht, von wegen Fehlgeburt und vertuschen wollen. Du kennst ja diesen Tratsch. Aber dann sagte die kleine Pichler, dass Anja und André Malten wegen einer gewissen Marina in Streit geraten wären. Die Pichler wurde daraufhin von einer anderen Frau, die ich nur vom Sehen kenne, angefaucht, dass sie lieber den Mund halten solle. Ja, das war es. Als dann Heltcamp bei uns anrief und Friedrich sprechen wollte, habe ich meinen lieben Schwager natürlich angebohrt. Aber von ihm erfährt man ja nichts.«

»Hast du ihm wenigstens gesagt, was du gehört hast?«

»Natürlich, und dann hat er mir sogar ein Bussi gegeben, wo er sonst doch immer meckert, wenn ich ihm Tratsch wiedererzähle. Er hat mir sogar gesagt, worum es geht. Es ist schrecklich.«

»Aber du wirst es für dich behalten, Sandra«, sagte Antonia mahnend.

»Ist doch selbstverständlich. Wie geht es Anja Heltcamp denn?«

»Ich glaube, etwas besser.«

»Sie ist ein entzückendes Mädchen, so natürlich. Die kleine Pichler ist eine kesse Person. Anja passt gar nicht in diese Gesellschaft.«

An diese Worte sollte sich Antonia erinnern, als Leon erwähnte, was Anja im Halbschlaf gesagt hatte.

»Wahrscheinlich wollte jemand Anja zu verstehen geben, dass sie nicht in diese Gesellschaft passt«, erklärte Antonia ihrem Mann, um ihm dann zu berichten, was sie von Sandra erfahren hatte.

»Das ist wirklich interessant. Aber wenn ein Mann diese Worte ehrlich meint, nimmt er sie doch nicht mit, um ihr dann so etwas anzutun.«

»Es muss sich ganz anders verhalten haben«, sagte Antonia gedankenvoll. »Von wem wissen diese Leute überhaupt, dass Anja in der Prof.-Kayser-Klinik ist? Es wissen angeblich doch nur die nächsten Angehörigen, und es ist nicht publik gemacht worden. Eine undichte Stelle beim Personal?«

»Das glaube ich nicht. Ich tippe auf den Verlobten. Also scheint nicht nur ein anderer Mann im Spiel zu sein, sondern auch eine andere Frau.«

*

Dr. Friedrich Brink gab sich zuerst sehr reserviert, aber Uwe Heltcamp machte einen guten Eindruck auf ihn, und was er vorzubringen hatte, klang auch dem gewieften Juristen sehr logisch.

»Ich bin für meinen Klienten sehr froh, dass Sie bereit sind, die Situation objektiv zu betrachten, Herr Heltcamp«, erklärte Friedrich nach einer Weile. »Jedenfalls sprechen mehr Argumente für Herrn Heyms Unschuld als für seine Schuld. Er ist selbst sehr interessiert, den Schuldigen vor Gericht zu bringen.«

Uwe berichtete, dass Lena bei ihnen gewesen sei. Friedrich erklärte ihm darauf, dass Patrick mehr positive Eigenschaften hätte, als ihm gemeinhin zugetraut würde.

»Dürfte ich Ihnen einige Fragen stellen, Herr Heltcamp?«, fragte Friedrich dann.

»Jede, wenn ich sie beantworten kann. Wir möchten alles tun, um schnellstens Klarheit zu bekommen.«

»Herr Malten ist auch nach dem Vorfall entschlossen, Ihre Schwester zu heiraten?«

»Er hat sich meinem Vater gegenüber entsprechend geäußert.«

»Und was meint Ihr Vater dazu?«

»Er will abwarten, was Anja über den Streit zu sagen hat. Er hat André untersagt, sie zu besuchen, bis Anja Auskunft geben kann.«

»Sie verstehen sich gut mit Herrn Malten?«

Uwe sah den Anwalt irritiert an. »Ich will ihn nicht heiraten«, meinte er sarkastisch. »Ich bin ein Pedant, Herr Dr. Brink. Ich habe etwas gegen Leute, die ihr Studium verbummeln. Das habe ich im Familienkreis auch deutlich gesagt. Anja hat sich meiner Ansicht nach mit der schnellen Verlobung ein bisschen überrumpeln lassen. Sie ist ein eigenartiges Mädchen. Sie hat überhaupt keine Erfahrung mit Männern. Der erste Freund sollte anscheinend auch gleich der einzige Mann bleiben. Es wird für sie ein schreckliches Erwachen geben, wenn ihr bewusst wird, was in dieser Nacht geschah.«

»Sie hat liebevolle, verstehende Eltern und einen sehr vernünftigen Bruder«, sagte Friedrich.

»Wird ihr das helfen können? Ich habe noch kein Mädchen kennengelernt, das so ist wie meine Schwester. Ihre Welt muss zerstört sein.«

»Wir wollen hoffen, dass es nicht so ist, Herr Heltcamp. Wir sind uns jetzt schon etwas nähergekommen. Ich würde nicht die Verteidigung von Herrn Heym übernehmen, wenn ich auch nur den geringsten Zweifel an seiner Schuldlosigkeit hegen würde.«

»Das habe ich auch zu meinen Eltern gesagt«, erklärte Uwe.

»Wieso?«, fragte Friedrich erstaunt.

»Weil ich mich mit dem Fall befasst habe, bei dem Sie damals die Verteidigung niederlegten. Ich wäre auch nicht zu Ihnen gekommen, wenn ich Sie nicht als ein Vorbild unseres Berufes betrachten würde.«

Friedrich lächelte. »Ja, dann wollen wir mal wie Kollegen miteinander reden. Nehmen wir mal an, Sie wären der Verteidiger von Herrn Malten. Er hat Ihrer Ansicht nach ja eine gewisse Mitschuld, weil er Ihre Schwester nicht heimbegleitet hat, was sich – ungeachtet der angeblichen Differenzen – doch gehört hätte.«

»Ich würde seine Verteidigung nicht übernehmen. Ich bin befangen«, sagte Uwe.

»Und misstrauisch.«

»Genau. Ich verstehe wirklich nicht, warum er Anja nicht heimbegleitet hat.«

»Gut, diesbezüglich sind Sie subjektiv eingestellt. Kennen Sie eine Frau Pichler?«

Uwe war völlig überrascht. »Was hat Bessi mit der Sache zu tun?«

»Sie kennen Frau Pichler also«, stellte Dr. Brink fest. »Nun, ich habe eine Information, dass sie auch auf dieser Party war.«

»Das hat mir André nicht gesagt. Ich habe ihn ausgefragt, wer alles dort gewesen sei. Ich war bei den Perlaus. Sie haben mir auch keine Auskünfte gegeben. Ich kenne Frau Pichler auch nur flüchtig, sie ist im gleichen Club Mitglied wie wir. Sie ist ganz anders als Anja. Sie ist auf jeder Hundehochzeit dabei, wie man so sagt.«

»Aber Malten kennt sie?«

»Natürlich. Er war doch oft mit uns im Club, obwohl er kein Mitglied ist.«

»Es gibt nicht viele, die es sich leisten können, Mitglied in diesem Club zu sein«, sagte Friedrich.

Uwe wurde verlegen. »Mein Vater gehört zu den Mitbegründern«, erwiderte er. »Er hat auch nicht geahnt, dass es sich mal so entwickeln würde.«

»War Patrick Heym auch Mitglied? Vielmehr – ist er es?«

»Ja, aber er war ganz selten dort.«

»Aber er könnte Anja dort kennengelernt haben.«

»Möglich wäre es, aber warum wollen Sie da einhaken?«

»Einmal, um Patrick Heyms Gedächtnis nachzuhelfen, zum anderen, um allen Eventualitäten vorzubeugen, dass sich dort schon etwas zwischen Anja und Patrick angesponnen haben könnte.«

»Das niemals! Davon wüsste ich.«

»Wie lange kennen sich Malten und Ihre Schwester?«

»Drei Monate.«

»Und sind schon verlobt?«

»Er gab sich sehr konservativ. Er drängte darauf. Anja hatte vor drei Wochen Geburtstag, da brachte er gleich den Ring mit. Wir haben halt mitgemacht. Pa meinte ja auch, dass verlobt nicht verheiratet sei. Er kann Anja sowieso keinen Wunsch abschlagen.«

»Er hat sich nicht nach den Finanzen von Herrn Malten erkundigt?«

»André stammt aus einer sehr angemessenen Familie. Die Maltens sind vermögend, sie haben Grundbesitz. Das wissen wir. Außerdem sollte das keine Rolle spielen. Mein Vater war arm, als er meine Mutter geheiratet hat. Durch sie bekam er eine Existenz, und was er aus dem Unternehmen meines Großvaters gemacht hat, weiß jeder.«

»Aber Malten hat sich verspekuliert. Er hat nichts als Schulden, so viel habe ich in Erfahrung bringen können. Das Haus der Familie steht vor der Pfändung. Nur eine reiche Partie kann Malten noch retten. Er wird also Ihre Schwester um jeden Preis heiraten wollen.«

»Sie wollen damit andeuten, dass es von seiner Seite aus nur Berechnung war?«, fragte Uwe bestürzt.

»Nun, das will ich nicht sagen, denn Ihre Schwester ist ja ein attraktives Mädchen, aber …« Friedrich Brink unterbrach sich und sah Uwe forschend an, als erwarte er von ihm, dass er diesen Satz vollende, und Uwe tat das.

Schreckensweit waren seine Augen. »Sie meinen, dass Anja dahinterkam? Sie meinen, dass André eine Heirat tatsächlich um jeden Preis erzwingen wollte?«

»Ich meine, dass es so sein könnte, aber wir haben auch dafür keine Beweise. Was mich stutzig macht an dieser üblen Angelegenheit ist die Tatsache, dass Anja in Patrick Heyms Garten gefunden wurde und dass zumindest zwei Menschen aussagen, sie hätte mit Patrick Heym geflirtet. Diese beiden sind André Malten und Marina Cerny, und die beiden kennen sich sehr gut. Außerdem hat die Cerny einmal versucht, bei Patrick Heym zu landen, was ihr jedoch misslang. Ja, nun habe ich Ihnen eigentlich mehr gesagt, als ich sagen dürfte, aber wir vertreten ja eigentlich auch die gleichen Interessen.«

»Sie dürfen meiner Diskretion versichert sein, Herr Dr. Brink«, sagte Uwe. »Ich werde auch mit aller Diskretion einige Nachforschungen anstellen, da Sie mir einen Tipp gaben.«

»Im Club«, riet Friedrich. »Sie werden mich doch auf dem Laufenden halten?«

»Selbstverständlich. Wäre es möglich, dass ich mit Herrn Heym sprechen könnte?«

»Wollen Sie das?«

»Ja.«

»Es wird sich ermöglichen lassen, wenn er einverstanden ist.«

»Ich muss mich sehr herzlich bei Ihnen bedanken, Herr Dr. Brink«, sagte Uwe, als er sich verabschiedete.

»Sie werden mal ein guter Jurist, Herr Heltcamp. Man darf sich in unserem Beruf niemals von Emotionen leiten lassen. Sie haben das bewiesen, obwohl es wirklich verständlich wäre. Ich hoffe, dass wir bald Licht in dieses Dunkel bringen können.«

»Es ist ja schon heller geworden«, sagte Uwe. »Hoffentlich wird das Leben für Anja auch wieder hell.«

*

Die Zeit und die Gerechtigkeit arbeiteten für Patrick Heym, aber noch nicht für Anja Heltcamp. Am dritten Tag verschlechterte sich ihr Zustand. Wilde Fieberfantasien quälten sie, und Schwester Marion kam gar nicht dazu, alles aufzuschreiben, was sie sagte. Manches war auch gar nicht verständlich.

Nicht viel anders erging es Agnes Heltcamp, die sich nun doch ganz darauf konzentrierte, konkrete Angaben von Anja zu erfahren. Aber einen rechten Sinn konnte man aus diesen unzusammenhängenden Worten nicht gewinnen.

Manchmal rief Anja um Hilfe, dann wieder flüsterte sie unverständliche Worte. Und so blieb es auch an den nächsten beiden Tagen.

Doch Dr. Brinks Detektive arbeiteten ebenso eifrig wie Uwe Heltcamp. Abgeschirmt von der Umwelt war Anja inzwischen in das schönste Zimmer der Station verlegt worden, in dem ein prominenter Patient vier Wochen verbracht hatte, doch nun genesen nach Hause entlassen werden konnte.

Nach der Krise, die Dr. Sternberg ebenso wie Dr. Laurin sehr ernst nahm, trat eine schnelle Besserung in Anjas Befinden ein, aber an die Geschehnisse jener Nacht schien sie sich nicht zu erinnern.

Agnes Heltcamp wünschte mit heißem Herzen, dass diese Erinnerungen für immer ausgelöscht werden könnten, aber nun begann Anja Fragen zu stellen. Seltsamerweise erwähnte sie den Namen André nicht mehr. Sie wollte nur wissen, wie es zu dem Autounfall gekommen sei, denn sie hatte sich diese Erklärung ihrer Mutter gemerkt.

Agnes Heltcamp geriet in Bedrängnis. »Denk doch nicht daran, mein Kleines«, versuchte sie sich herauszureden. »Jetzt musst du dich erholen, und dann werden wir eine schöne Reise machen.«

Doch gerade diese vage Antwort regte Anja zum Nachdenken an. »Eine Reise, eine weite Reise«, murmelte sie. »Nein, ich will nicht. Mami, es geht etwas in meinem Kopf vor sich. Bitte, hilf mir. Es ist etwas geschehen, was mit einem Unfall nichts zu tun hat.«

»Wir wissen doch nicht, was in jener Nacht geschehen ist, Anja«, sagte Agnes Heltcamp beklommen.

»In jener Nacht«, flüsterte Anja sinnend, doch da kam zur Erleichterung ihrer Mutter Uwe.

»Na, jetzt geht es ja schon wieder«, sagte er munter. »Du wirst daheim gebraucht, Mama. Frau Albrecht kommt nicht mit dem Haushalt zurecht. Sie weiß nicht, was bestellt werden und wann die Wäsche abgeholt werden soll.«

Agnes Heltcamp begriff, dass Uwe allein mit seiner Schwester sein wollte, als er dann auch noch rasch hinzufügte: »Pa kommt nachher auch noch, da hat Anja genug Gesellschaft.«

Sie gab ihrer Tochter einen zärtliche Kuss und versprach ihr, am nächsten Morgen wiederzukommen.

»Ich werde doch hoffentlich bald wieder zu Hause sein, Mami?«, meinte Anja.

»Ja, wir hoffen es sehr«, erwiderte Agnes, und für sich dachte sie, dass Uwe hoffentlich auch recht behutsam mit seiner Schwester umgehen würde.

Aber das bedurfte keiner besonderen Ermahnung. Einmal hatte es Uwe im Gefühl, was er sagen durfte und was nicht, zum anderen hielt er sich an Dr. Brinks Ermahnungen, Anja lieber selbst reden zu lassen, als ihr Fragen zu stellen.

»Mami weicht mir aus«, sagte Anja. »Sag du mir, was passiert ist, Uwe.«

»Ich kann nichts sagen, Anja. Wir wissen es nicht. Wir wissen nichts von dem Augenblick an, als du das Haus verlassen hast, um André abzuholen.«

»André abzuholen«, wiederholte sie schleppend. »André?«

»Sein Wagen war gerade in der Reparatur. Ihr wolltet auf eine Party gehen, Anja.«

»Auf eine Party«, wiederholte sie wieder. »Auf welche Party?«

»Das hattest du auch nicht gesagt. Wir wissen es nicht genau«, sagte er vorsichtig.

»Wenn ich mich doch erinnern könnte«, murmelte sie.

»Du sollst dich nicht quälen. Die Hauptsache ist, dass du wieder ganz gesund wirst, und du bist ja in den allerbesten Händen.«

»Was ist mit André?«, fragte sie.

»Ihm geht es recht gut. Willst du ihn sehen, Anja?«

Sie schloss die Augen und hob abwehrend die Hände. »Nein, nein, ich will ihn nie mehr sehen«, stöhnte sie auf, »nie mehr.«

Ich muss mich beherrschen, dachte Uwe. Ich darf sie nicht erschrecken.

»Warum denn nicht, Anja?«, fragte er sanft.

»Sie hat es gesagt, diese Frau.«

»Was hat sie denn gesagt, Anja? Und von welcher Frau sprichst du?«, fragte Uwe.

Sie sah ihn blicklos an. »Habe ich das vielleicht nur geträumt, Uwe?«

»Ich weiß nicht, was du geträumt hast, Schwesterlein«, sagte er behutsam.

»Ich auch nicht, Uwe, ich habe André abgeholt. Wir sind zu den Perlaus gefahren. Ja, zu den Perlaus. Stimmt das?«

»Ja, das ist möglich. Wart ihr vorher oder hinterher noch anderswo?«, fragte er.

»Vorher? Nein. Als wir hinkamen, waren schon viele Leute dort, komische Leute, stimmt das?«

»Ich weiß es doch nicht, Kleine. Ich war nicht dort. Wen hast du denn getroffen?«

»Ich kannte nur ein paar Leute. Bessi, Rena und Carlo. Ich kann mich nicht so genau erinnern.«

»Carlo? Wer ist Carlo?«, erkundigte sich Uwe.

»Ach, der vom Club, der jedes Turnier gewinnt. Er spielt besser Tennis als Patrick Heym.«

»Du kennst Patrick Heym?«, hakte Uwe beklommen nach.

»Flüchtig. Er war sehr höflich. Er sagte jedoch, dass ich da nicht hinpasse. Das war schon, nachdem diese Marina zu André gesagt hatte, dass er erst mal Geld beschaffen sollte – o nein, das muss ich geträumt haben.«

»Sei ruhig, Anja, man träumt manchmal dummes Zeug«, sagte Uwe tröstend.

»Aber es ist so deutlich. Ja, es war wirklich so. Sie sprach mit André. Ich hörte es. Er sagte …« Wieder unterbrach sie sich.

Uwe hielt ihre Hände. Er stellte keine Fragen.

Anjas Gesicht war voller Angst und wieder erschreckend bleich. Sie schloss die Augen und flüsterte: »André sagte: ›Du weißt, dass ich nur dich liebe, Marina. Aber es geht nur weiter, wenn ich Anja heirate, nur dann‹.«

Als sie das gesagt hatte – Uwe hatte jedes Wort verstanden –, versank sie wieder im Schlaf des Vergessens.

Uwe blieb am Bett der Schwester sitzen. Seine Gedanken arbeiteten fieberhaft, und er wartete darauf, dass sein Vater kommen würde. Doch gleichzeitig musste er daran denken, wie sein Vater reagieren würde, wenn Anja solche Worte zu ihm sprach.

Aber den jungen Mann drängte es, jetzt etwas zu unternehmen, was mehr Licht in diese rätselhaften Geschehnisse bringen könnte.

Während er noch von widersprüchlichen Empfindungen zerrissen, so grübelte, trat Arnold Heltcamp leise ein.

Uwe schrak zusammen. »Da bist du ja, Pa«, sagte er rau.

»Ja, da bin ich. Übrigens, du sollst Dr. Brink dringend anrufen. Was soll das bedeuten, Uwe? Er ist Heyms Anwalt.«

»Er ist genauso bemüht wie ich, diese Angelegenheit schnellstens zu klären, Pa«, erwiderte Uwe. »Aber eines steht jetzt schon fest: Anja will André nicht mehr sehen, nie mehr. Und es geht dabei um eine andere Frau.«

»Und sonst?«

»Ich werde mal einen gewissen Carlo unter die Lupe nehmen, mehr weiß ich bisher nicht, aber vielleicht hat Anja manches wirklich nur geträumt. Pass auf, wenn sie etwas sagt, und merke es dir, aber stelle keine Fragen, die sie erschrecken könnten.«

»Das weiß ich schon. Dr. Sternberg hat es mir eindringlich gesagt.«

»Und sag Mama nicht zu viel. Sie ist sowieso schon fertig mit den Nerven«, fügte der junge Mann noch besorgt hinzu.

*

Aber nicht nur Agnes Heltcamp, auch Thea Malten war fertig mit den Nerven. André war seit dem Vormittag nicht mehr nach Hause gekommen, und als dann die Polizei vor der Tür stand, war ihr erster Gedanke, dass auch ihm etwas zugestoßen sein könnte.

Doch dann wurden ihr so merkwürdige Fragen gestellt, dass sie gar nicht mehr aus noch ein wusste. Fragen, die sie seit Wochen fürchtete und die ihr nachts den Schlaf raubten.

Ein Pfändungsverfahren sei anhängig, und wie es dazu gekommen sei, wollte der Beamte wissen.

»Mein Sohn bringt das in Ordnung«, erwiderte sie.

»Wo ist Ihr Sohn denn?«

»Geschäftlich unterwegs«, erklärte Thea Malten. »Es ist wegen der Aktien. Aber Heym hat sie doch auch gekauft, und er hat meinem Sohn dazu geraten«, fügte sie verstört hinzu.

»Was für Aktien sind das?«

»Ich weiß es nicht. Ich verstehe nichts davon. Warum ist André nicht da? Mich dürfen Sie dies alles nicht fragen. Ich habe ihm immer gesagt, dass er vorsichtig sein soll. Sein Vater war auch vorsichtig. Aber André lässt sich so viel einreden. Er ist so gutgläubig.«

Schließlich kam es dann so weit, dass sie zusammenbrach, dass sie nur noch schluchzte und sogar um sich zu schlagen begann. Das Ende war, dass man sie in eine Nervenklinik bringen ließ. Da schrie sie immer nur: »André wird Anja heiraten, und alles wird gut! Er will sie ja heiraten!«

Das war schon Stunden zuvor geschehen, und Dr. Brink hatte davon Kenntnis erhalten. Als Uwe Heltcamp ihn anrief, berichtete er ihm kurz davon, erzählte aber keine Details.

»Kommen Sie zum Untersuchungsgefängnis. Wir besprechen alles Weitere mündlich«, sagte Dr. Brink.

»Bin schon unterwegs. Ich war bei meiner Schwester. Mein Vater hat mir gerade erst gesagt, dass Sie angerufen hätten«, erwiderte Uwe entschuldigend.

Dr. Brink hatte schon vorher mit Patrick gesprochen. Der hatte sich sofort bereit erklärt, sich auch mit Uwe zu unterhalten. Er wunderte sich nur, als Dr. Brink ihn dann fragte, ob er in letzter Zeit ein Verlustgeschäft mit Aktien gemacht hätte.

»Nicht, dass ich wüsste«, erwiderte Patrick. »Meine Leute sind da viel zu gewieft. Im letzten Jahr haben wir immer nur Gewinn gemacht, soviel weiß ich.«

»Haben Sie André Malten geraten, Aktien irgendwelcher Art zu kaufen?«, fragte Dr. Brink.

»Ich kenne den Mann doch gar nicht. Wie kommen Sie darauf? Ich weiß erst durch diese Geschichte, dass er mit Anja Heltcamp verlobt ist. Außerdem rate ich niemandem zu etwas. Jeder muss allein entscheiden, was er mit seinem Geld macht.«

»Sie überlassen es auch anderen«, wandte Dr. Brink ein.

»Weil sie mehr davon verstehen als ich. Ich habe es nur ausgegeben, ohne dass es weniger wurde. Ich habe nicht mal beim Spiel verloren.« Er blickte auf. »Ist Malten ein Spieler? Einer von den anonymen, die ich irgendwo mal getroffen habe?«

»Es kann sein. Ich weiß es nicht, aber das werden wir auch schon noch herausbringen.«

»Ich merke mir keine Gesichter«, sagte Patrick deprimiert, »mir waren die Mitmenschen immer viel zu gleichgültig. Auch das wird anders werden.«

Aber als Uwe den Raum betrat, bekam Patricks Gesicht einen nachdenklichen Ausdruck.

»Wir sind uns schon einmal begegnet«, stellte er leise fest.

»Ja, im Club«, erwiderte Uwe. »Carlo Thieß stellte uns vor. Meine Schwester war dabei.«

»Carlo Thieß? Ja, ich erinnere mich. Er hat mich mal im Tennis geschlagen.« Er lächelte flüchtig. »Für mich ist das mehr Spiel als Sport. Ich verliere gern.«

»Sie sind geradezu versessen aufs Verlieren, das hat mir Dr. Brink erklärt«, meinte Uwe. »Aber diesmal geht es nicht um ein Spiel, Herr Heym.«

»Sie kommen nicht als Feind?«, fragte Patrick.

»Ich möchte nur mit Ihnen sprechen.«

»Über Ihre Schwester?«

»Ja, über Anja.«

»Aber ich habe sie nur ein oder zwei Mal gesehen. Mir ist dies alles schrecklich, Herr Heltcamp. Ich grüble Tag und Nacht darüber nach, warum man dieses Verbrechen mir in die Schuhe schieben will.«

»Darüber denke ich jetzt auch schon ein paar Tage nach.«

Patricks Augen weiteten sich. »Soll das bedeuten, dass Sie mir Glauben schenken?«, fragte er.

»Ich möchte Ihnen erst einige Fragen stellen. Dr. Brink sagte mir, dass Sie bereit sind, mit mir zu sprechen.«

Patrick nickte zustimmend.

»Sie haben Anja im Club zum ersten Mal gesehen?«, fragte Uwe.

»So weit ich mich erinnere. Ich sagte Dr. Brink schon, dass ich ein schlechtes Personengedächtnis habe. Zu wenig Interesse vielleicht an der Umgebung. Es tut mir leid. Aber ich kann mich erinnern, dass mir Ihre Schwester irgendwo auffiel, weil sie nicht in den Rahmen passte.«

»Vielleicht doch auf der Party bei Perlaus?«, fragte Uwe.

Patrick wich seinem Blick nicht aus. »Auch auf die Gefahr hin, Ihr erneutes Misstrauen zu wecken, Herr Heltcamp, muss ich mit ja antworten, nachdem ich alles gründlich überlegt habe. Ich war an dem Abend schon ziemlich benebelt, als ich dorthin kam. Und es war tatsächlich Carlo Thieß, der mich dazu überredete. Ich habe ihn dann später gar nicht mehr gesehen.«

»Aber meine Schwester haben Sie gesehen?«

»Das Mädchen stand an der Bar«, sagte Patrick gedankenverloren. »Sie zitterte. Sie ließ ihre Tasche fallen, ich hob sie auf.« Er machte eine Pause. »Hoffentlich schildere ich den Ablauf richtig. Ich war nicht mehr nüchtern, Herr Heltcamp.«

»Sagen Sie nur alles so, wie es Ihnen jetzt in den Sinn kommt.«

»Ich habe schon lange darüber nachgegrübelt. Ich kann mich an das Gesicht erinnern. An das Oval, an das dunkle Haar, das bläulich schimmerte, an die hellen Augen, die so zornig funkelten.«

»Zornig?«, fragte Uwe.

»Ja, zornig. Vielleicht habe ich läppisch gefragt, ob wir uns nicht schon mal irgendwo begegnet wären, aber ich wusste, dass ich dieses Gesicht schon mal gesehen hatte.«

»Und was sagte sie?«

»›Die dumme Tour‹, oder so etwas Ähnliches. Dann fügte sie hinzu, das sei die Tour, die man von Patrick Heym erwarte. Sie kenne aber meinen Ruf und wolle mit mir genauso wenig zu tun haben wie mit einem anderen Mann. Ja, so was Ähnliches hat sie gesagt. Und dann kam der andere und griff nach ihrem Arm. ›Ich bringe dich jetzt heim, Anja‹, sagte er.«

Patrick schlug sich an die Stirn. »Zum Teufel, ja, so war es.«

»Mein Gott, erinnern Sie sich doch, was dann geschah«, stieß Uwe hervor.

»Sie wollte ihn erst abwehren. Wieso kann ich mich plötzlich daran erinnern?«

»Weil ich Ihnen ein Stichwort gegeben habe«, erwiderte Uwe ruhig. »Es ist ungeheuer wichtig, dass Sie sich erinnern, Herr Heym. Für uns, für Sie – und vor allem für Anja.«

»Sie war nicht eines von den Mädchen, das man einfach am Arm packen darf. Ich fragte sie, ob der Mann Rechte bei ihr hätte. Vielleicht habe ich mich falsch ausgedrückt, vielleicht andere Worte gebraucht, die sie gekränkt haben könnten. Sie sagte, er wäre ihr Verlobter – nein, sie sagte es anders: ›Das war einmal mein Verlobter, aber es ist besser, wenn wir uns jetzt allein darüber auseinandersetzen.‹«

»Oh, mein Gott«, stöhnte Uwe. »War das wirklich so?«

»Ja, so ähnlich war der Dialog. Ich mische mich nie in Privatangelegenheiten anderer Leute ein. Vielleicht bin ich tatsächlich an allem schuld, weil ich es nicht tat.« Dann sprang er auf. »Aber er kann es doch nicht gewesen sein, Herr Heltcamp. Nicht der Mann, der mit ihr verlobt war.«

»Wollen Sie seine Partei ergreifen?«, fragte Uwe ruhig. »Bisher ist ihm ja nichts nachzuweisen. Vielleicht war es Carlo Thieß?«

»Niemals. Er hat es nicht mit Mädchen, überhaupt nicht. Glauben Sie nur, ich könnte den Kerl erwürgen, der Ihrer Schwester das angetan hat. Ich habe ihr doch gesagt, dass sie nicht in diesen Rahmen passt.«

»Das haben Sie gesagt?«

»Vielleicht glauben Sie es mir nicht, aber ich habe es gesagt. Ich erinnere mich jetzt genau. Ich wollte ihr sagen, dass ich sie wegbringen will aus dieser widerlichen Umgebung. Ja, widerlich war alles. Aber dann ging sie ja mit ihm.«

»Mit ihrem Verlobten?«

»Sie sagte, dass er das wäre. Und ich dachte …«

»Was dachten Sie?«

»Dass es ihr genauso geht wie mir. Dass sie an den falschen Mann geraten war, wie ich immer an diese falschen Weiber geraten bin, die nur nach meinem Geld lechzten.«

»Es kann ja sein, dass er auch nur ihr Geld wollte.«

»Hat sie Geld?«, fragte Patrick.

»Sagt Ihnen der Name Heltcamp nichts? Ich meine geschäftlich.«

»Ich habe mich nie darum gekümmert, wer und was hinter einem Namen steht. Ich wollte nicht reich sein, Herr Heltcamp. Ich wollte einmal einen ehrlichen Freund haben, aber in meiner Situation findet man keinen.«

Uwe streckte ihm die Hand entgegen. »Jetzt haben Sie einen, Patrick«, sagte er heiser. »Mich.«

»Sie? Anja Heltcamps Bruder?«

»Ja, denn ich glaube Ihnen.«

»Ich habe doch Zeit genug gehabt, mir eine hübsche Geschichte auszudenken«, warnte ihn Patrick.

»Aber nicht eine, die ganz logisch die Bruchstücke ergänzt, die wir kennen.«

»Sie glauben jetzt tatsächlich, dass es Malten war?«

»Wenn er es nicht selber war, hat er dafür einen anderen gekauft. So viel ist mir klar, Patrick.«

»Aber warum?«

»Um sicher zu gehen, dass er Anja heiraten darf.«

»Darf?«

»Die Heltcamps sind schließlich eine ehrbare Familie, und wenn die Tochter schon Opfer einer solchen Affäre wird, muss man ja schließlich froh sein, wenn sich noch ein Mann findet, der sie heiraten will. Welch ein Beweis der Liebe«, spottete Uwe. »Dafür kann man ja allerhand Gegenleistung verlangen.«

»Das kann nicht wahr sein«, stöhnte Patrick. »Nein, dazu kann er doch nicht fähig sein. Verstehen Sie mich bitte, Uwe. Ich sitze selbst in der Klemme und weiß jetzt, wie schnell man da hineingeraten kann. Ich möchte nicht Grund dazu liefern, einen anderen in die gleiche Situation zu bringen.«

»Ich ziehe nur logische Schlussfolgerungen. Ich bin jetzt fast fertiger Jurist, und ich nehme meinen selbsterwählten Beruf sehr ernst. Es fehlen uns einige Glieder in einer Kette. Ich bin Dr. Brink sehr dankbar, dass er mich so weit eingeweiht hat, dass ich nun klar sehe. Anja hat nur wenige Worte gesagt. Einmal ›André‹, und das wurde sicher falsch gedeutet. Dann ›Nein, ich will nicht!‹ Da wussten wir auch noch nicht, was sie sagen wollte. Dann sprach sie von einem Mann, der zu ihr gesagt hätte, sie passe nicht dorthin oder dahin, aber sie sagte nicht seinen Namen. Sie erzählten vorhin, dass Sie so etwas Ähnliches zu ihr gesagt hätten. Langsam schließt sich ein Teilchen ans andere. Und dann kam der Verlobte, der Anja am Arm packte und sagte, er wolle sie heimbringen. Wann verließen Sie die Party, Patrick?«

»Gleich danach. Ich rief ein Taxi, weil … Nein, das stimmt nicht, zuerst fuhr ich noch selbst zum Spielclub. Mit meinem Wagen. Wenn man mich geschnappt hätte, wäre ich meinen Führerschein los gewesen. Aber vom Spielclub aus fuhr ich mit einem Taxi. Man muss den Mann finden.«

»Sie werden auch ohne ihn freikommen. Morgen sind Sie hier raus. Ich verspreche es Ihnen.«

»Ich muss mich hier noch um einen Jungen kümmern, der seinen Vater erstochen hat. Er ist siebzehn, und er wollte seine Mutter schützen. Aber wenn ich so leicht aus dieser Geschichte herauskomme, kann ja Dr. Brink seine Verteidigung übernehmen.« Patrick lächelte flüchtig. »Aber wichtig ist ja auch noch, dass Ihre Schwester den Schock überwindet.«

»Wir können ja zusammenarbeiten. Ich helfe, dass Sie bald frei sind, und Sie helfen mir dann, dass Anja nicht alle Männer in einen Topf wirft.«

»Ausgerechnet ich mit meinem Image?«

»Sie braucht einen Freund, nicht nur ihren Bruder. Einfach einen Mann, der ihr beweist, dass nicht alle Männer nur das Eine wollen. Sie haben zu ihr gesagt, dass sie nicht in diese Gesellschaft passt, das ist ihr im Gedächtnis haften geblieben, und ich meine, auch das Gesicht des Mannes wird sie wiedererkennen, der diese Worte sagte. Anja braucht seelische Hilfe, Patrick.«

»Wenn ich ihr die geben kann, will ich alles tun«, erwiderte Patrick. »Danke, dass Sie mit mir gesprochen haben, Uwe.«

*

Thea Malten fand ihren Sohn André völlig verändert. Sie empfand plötzlich Furcht vor ihm, als sie ihm weinend erzählte, dass die Polizei dagewesen war und sie so merkwürdige Dinge gefragt hatte.

»Und du alte Klatschbase hast natürlich fleißig geplaudert«, fauchte er sie an.

»Ich war so fertig, André. Ich konnte nicht mehr klar denken.«

»Und jetzt sitzt du hier in der Nervenklinik, und ich kann zusehen, wie ich dich hier wieder herausbringe. Meinst du, dass ich noch eine Chance habe, Anja zu heiraten, wenn du in einer Klapsmühle bist?«

Gerade hatte sich Thea Malten durch den Einsatz der Ärzte halbwegs wieder beruhigt gehabt, jetzt drehte sie völlig durch.

»Ich werde dich nie mehr in Schutz nehmen«, keifte sie los. »Ich bin es überdrüssig, dich immer als den lieben netten Jungen hinzustellen.« Sie sagte noch viel mehr. Sie schrie so laut, dass man es weit hören konnte, bis André versuchte, ihr den Mund zuzuhalten. Aber die magere Frau entwickelte übernatürliche Kräfte in ihrem Tobsuchtsanfall. Bis die Ärzte und Pflegerinnen zur Stelle waren, hatte sie Andrés Gesicht so zerkratzt, dass er einen schrecklichen Anblick bot.

»Sie ist tatsächlich unzurechnungsfähig«, brachte er mühsam über die geschwollenen Lippen. »Sie weiß nicht, was sie redet. Es scheint fast so, als hätte sie mich gar nicht mehr erkannt. Sie hätten mich nicht mit ihr allein lassen dürfen.«

»Sie war ganz ruhig, als Sie kamen«, verteidigte sich der Stationsarzt. »Sie wollte wieder nach Hause und Sie sehen.«

»Und Sie sehen, was dabei herausgekommen ist. Aber ich ahnte ja schon lange, dass sie nicht alle Tassen im Schrank hat«, meinte André herzlos.

Seine Gedanken arbeiteten fieberhaft. Er überlegte schon, wie er aus dieser Situation das Bestmögliche für sich machen könnte. Jedenfalls konnte man das, was seine Mutter gegen ihn vorbrachte, unter den Tisch fallen lassen. Sie war unzurechnungsfähig.

In erneute Bedrängnis geriet André Malten, als er heimkam und vor dem Haus Carlo Thieß auf und ab ging.

»Was willst du denn?«, zischte er. »Wir hatten doch verabredet, uns vorerst nicht zu treffen.«

»Bessi und ich sind verhört worden, André. Du kannst nicht verlangen, dass wir die Kastanien für dich aus dem Feuer holen. Und jetzt möchte ich von dir wissen, was wirklich passiert ist. Hast du Anja …«

»Halt den Mund! Ich lasse mir diese Sache nicht anhängen. Ich war mit Marina zusammen, aber das kann ich doch nicht sagen.«

»Mit Marina?« Carlo lachte blechern auf. »Sie ist mein Alibi.«

»Das ist nicht wahr. Sag, dass das eine Lüge ist«, schrie ihn André an, doch als er den anderen an der Kehle packte, waren plötzlich zwei Männer in Uniform zur Stelle. Polizisten!

Aber André nahm das gar nicht mehr wahr. Er sah nur noch rot.

*

Dr. Laurin hatte gegen sechs Uhr abends das Krankenzimmer von Anja Heltcamp betreten. Vorher hatte er ein langes Telefongespräch mit Friedrich Brink geführt.

Daraufhin hatte der Klinikchef seinen Freund Dr. Sternberg veranlasst, Frau Heltcamp unter einem Vorwand aus dem Zimmer zu holen. Er wollte allein mit Anja sprechen, da er von Dr. Sternberg erfahren hatte, dass sie bei Bewusstsein und in recht ordentlicher Verfassung war.

Die Platzwunden im Gesicht hatten sich auch schon recht gut zusammengezogen. Das Spezialpflaster war bereits entfernt worden. Das Gesicht der jungen Anja Heltcamp würde so schön sein wie vorher, wenigstens diesen beruhigenden Gedanken konnte Dr. Laurin hegen.

Anja sah ihn zum ersten Mal bewusst. Er nannte seinen Namen und lächelte aufmunternd.

»Sie sind also der Gynäkologe«, sagte Anja. »Ich habe schon von Ihnen gehört. Penny hat ihr Kind hier in der Klinik zur Welt gebracht.«

»Penny Fryman?«, fragte Leon Laurin, froh, dass Anja selbst die Brücke zu einem Gespräch geschlagen hatte.

»Ja, Penny Fryman. Jetzt heißt sie Porter. Sie hat ihren Bill doch geheiratet. Und bei ihnen scheint es gut zu gehen.«

»Es geht nicht immer gut, meinen Sie?«, sagte Dr. Laurin einfühlsam.

»Nein, immer gewiss nicht. Selten genug, kann man sogar sagen. Aber man muss erst aller Illusionen beraubt werden.«

Das klang bedeutsam. Dr. Laurin las in den Augen seiner jungen Patientin noch mehr. Er war, wie Friedrich gesagt hatte, ein sehr guter Psychologe. Vor allem in die Seele einer Frau konnte er sich hineinversetzen.

»Sind Sie auch gewisser Illusionen beraubt worden, Frau Heltcamp?«, fragte er wie beiläufig.

»Aller«, erwiderte sie seltsam ruhig. »Und da jetzt der Gynäkologe zu mir kommt, werde ich wohl einige Fragen beantworten müssen.«

»Sie müssen nicht«, sagte Dr. Laurin. »Nicht, wenn Sie nicht wollen.«

Ein schmerzliches Lächeln legte sich um ihren Mund. »Jeder vermeidet Fragen«, sagte sie leise. »Das gab mir zu denken. Und über die Schmerzen, die ich habe, wollte ich mit meinen Eltern nicht sprechen. Wir reden aneinander vorbei. Wissen Sie, was geschehen ist?«

»Wissen Sie es?«, fragte Dr. Laurin ausweichend.

Anja schloss die Augen und drehte ihr Gesicht zur Wand. »Man will die Erinnerungen auslöschen. Man will mich schonen«, flüsterte sie, »aber man kann das Geschehen nicht wegwischen, Herr Dr. Laurin. Eigentlich habe ich es wohl letztlich selbst verschuldet.«

»Inwiefern?«, fragte er.

»Wer wird mir glauben?«, fragte sie zurück.

»Jeder, der Sie kennt.«

»Sind Sie davon überzeugt?«

»Ganz gewiss.« Er machte eine kleine Pause. »Patrick Heym sitzt seit fast einer Woche im Untersuchungsgefängnis, weil man ihn beschuldigt, Sie so misshandelt zu haben.« Das zu sagen, gab ihm ein Gefühl ein.

Anja starrte ihn an. »Patrick Heym?«, fragte sie. »Aber wieso er?«

»Weil Herr Malten erklärte, dass Ihr Flirt mit Herrn Heym den Streit zwischen Ihnen ausgelöst hätte.«

»Dazu war er auch noch fähig?«, flüsterte Anja, dann schlug sie die Hände vors Gesicht und schluchzte hemmungslos.

Dr. Laurin versuchte gar nicht, sie zu beruhigen. Sie sollte weinen, alles herausschluchzen, was sie quälte. Er legte den Arm um sie und bettete ihren Kopf an seine Schulter. Er streichelte ihr Haar und fühlte sich wie befreit, weil sie ihn nicht von sich stieß.

Plötzlich versiegten ihre Tränen. »Zuerst konnte ich mich nicht erinnern«, sagte sie fast entschuldigend, »aber wenn ich dann allein war, reihten sich die Bilder aneinander. Warum verdächtigt man Patrick Heym? Wissen Sie es?«

»Ich weiß ziemlich viel. Dr. Brink ist Heyms Anwalt. Sie wurden in Heyms Garten gefunden, Anja.«

»In seinem Garten?«

»Ja, Patrick fand Sie dort, als er im Morgengrauen heimkam. Er rief meinen Kollegen Sternberg an, und so kamen Sie in die Prof.-Kayser-Klinik.«

»Und trotzdem verdächtigt man ihn?«, fragte sie nach einer langen Gedankenpause.

»Er hatte kein Alibi, und sein Ruf ist etwas anrüchig.«

»Unsinn! Es gibt doch viel schlimmere Typen als ihn. Jetzt weiß ich es genau.«

Diese Bemerkung gab Dr. Laurin Hoffnung, dass sie die Probleme bewältigen könnte, aber dann musst er doch feststellen, dass Anja alles schilderte, als spräche sie nicht über sich, sondern über einen anderen Menschen.

»Ich bin nicht mehr ich«, sagte sie. »Die Anja von früher gibt es nicht mehr und wird es niemals mehr geben, Herr Dr. Laurin. Ich war mir nicht sicher, ob ich überhaupt zu jemandem über diesen Abend sprechen könnte, aber jetzt muss ich es wohl. Die Sache kann doch nicht an Patrick Heym hängen bleiben.«

»Sie brauchen es nicht heute zu sagen, Anja. Ich will Sie nicht drängen«, meinte Dr. Laurin behutsam.

»Ich will nicht noch länger darüber grübeln«, flüsterte sie. »Ich will nicht, dass sich André bei meinen Eltern einnistet. Vielleicht hat er gedacht, dass ich es nicht überlebe, oder …« Sie unterbrach sich.

»Was denken Sie, Anja?«, fragte Dr. Laurin leise.

»Dass er sich als moralischer Retter aufspielen könnte. Werde ich jetzt ein Kind bekommen?« Ihre Stimme zitterte.

Dr. Laurin nahm ihre Hände. »Nein, Anja, das bestimmt nicht«, erwiderte er. Nun wusste er genau, dass sie ihr Erinnerungsvermögen zurückgewonnen hatte.

Mit schleppender fremder Stimme erzählte sie dann, was sich an dem bewussten Abend und in der Nacht abgespielt hatte.

»André rief mich an, dass er seinen Wagen in die Werkstatt geben müsste. Ich holte ihn deshalb ab. Seine Mutter war so eigenartig. Sie fragte mich, ob wir bald heiraten würden. Sie fühlte sich so elend und würde die Hochzeit doch noch gern erleben. André gestand mir dann, dass er sich um ihre Gesundheit wirklich sorge. Ich bemerkte, dass es vielleicht besser wäre, Frau Malten nicht allein zu lassen. Ich mochte sie nicht besonders gern, aber André hatte immer wieder betont, wie sehr er seine Mutter liebe. Er meinte aber, sie würde ein solches Opfer nicht wollen. Vor allem sollte ich nicht das Gefühl haben, auf sie Rücksicht nehmen zu müssen. Sie sei bereit, in ein Altersheim zu gehen, wenn wir erst verheiratet wären. Ich war wohl schon in einer sehr zwiespältigen Stimmung, als wir auf diese Party kamen.«

Wieder versank sie in Schweigen.

Dr. Laurin half ihr behutsam weiter. »Ihnen gefielen die Leute nicht, Anja?«, fragte er.

»Ja, das stimmt. Es wurde sehr viel getrunken. Ich bat André, mich heimzubringen, aber er sagte, dass ich kein Spielverderber sein solle. Wir würden dann noch in den Club gehen. Wenig später verwickelten mich ein paar Bekannte aus dem Club in ein Gespräch. Ich hatte nur ein Glas getrunken, aber mir war plötzlich nicht gut. Ich ging hinaus. Da hörte ich auf einmal Andrés Stimme und die einer Frau. Er sagte zu ihr, dass er nur sie liebe, dass er mich aber schnellstens heiraten müsse, weil sonst alles aus sei. Es war so ernüchternd. So genau weiß ich nicht mehr, was ich dann tat. Ich merkte, dass ich meine Handtasche an der Bar vergessen hatte und ging zurück. Ja, so war es. Und dann ließ ich die Tasche fallen. Sie entglitt einfach meinen Händen. Ein Mann hob sie auf, und er sagte dabei, dass ich nicht in diesen Rahmen passe. Es war Patrick Heym. Er fragte, ob er mich heimbringen könne oder ob er mir ein Taxi bestellen solle. Aber dann kam André und zog mich fort. Ich kann mich nicht erinnern, was die beiden Männer miteinander sprachen. Ich bin mit André zu meinem Wagen gegangen. Er setzte sich ans Steuer. Ich bat ihn, mich unverzüglich heimzubringen. Wir würden noch in den Club fahren, erwiderte er jedoch. Aber ich wollte nach Hause. Ich zog den Verlobungsring von meinem Finger und sagte, dass es besser sei, wenn wir uns trennten.«

Dr. Laurin blickte auf ihre linke Hand. Erst jetzt bemerkte er, dass sie den Ring nicht mehr trug. Aber sie hatte ihn am Finger gehabt, als sie in die Klinik gebracht wurde, und die Schwester in der Ambulanz hatte ihn nicht abziehen können, weil der Finger geschwollen gewesen war.

Anja atmete schneller. »Ja, mir wurde alles klar, als ich bemerkte, dass der Ring wieder an meinem Finger steckte«, flüsterte sie. »Ich habe ihn nicht selbst wieder angesteckt. – Ich bekam plötzlich einen Schlag an die Stirn, dann noch einen zweiten. Ich muss wohl das Bewusstsein verloren haben. Aber irgendwann kam ich doch noch einmal zu mir, als ich über einen Boden geschleift wurde. Ich sah eine Hand, einen Siegelring. Es war die Hand von André. Aber gleich darauf, noch ehe ich etwas sagen konnte, bekam ich einen weiteren Stoß. Von da an weiß ich nichts mehr. Aber ich habe das nicht nur geträumt.«

Sekundenlang zögerte Leon Laurin. Sollte er sagen, dass sie es doch geträumt hatte? Nein, das konnte er nicht, denn André Malten sollte büßen für das, was er getan hatte.

*

Aber André Malten hatte seine Strafe schon erhalten. Als er alles verloren sah, entwickelte auch er, wie zuvor seine Mutter, ungeahnte Kräfte. Er riss sich los und rannte die Straße hinunter.

Weg, nur weg, war sein einziger Gedanke. Er blickte nicht rechts noch links, er hörte nur die schnellen Schritte, die ihm folgten. Er bemerkte nicht den roten Lieferwagen, der aus einer Seitenstraße kam. Er sah sowieso nur noch rot und wusste seine Verfolger dicht hinter sich.

Dann wurde er von dem Wagen erfasst und durch die Luft geschleudert.

Passanten blieben erstarrt stehen. Entsetzensschreie ertönten. André Malten hörte nichts mehr. Schrecklich zugerichtet blieb er zehn Meter entfernt liegen, ein lebloses Bündel Mensch.

Dr. Brink erfuhr es erst ein paar Stunden später. Uwe war gerade bei ihm, denn er sollte von dem unterrichtet werden, was Dr. Laurin von Anja erfahren hatte.

»Keiner weint ihm nach«, sagte Uwe hart. »Es ist gut so, wie es geschehen ist. Anja wird nie mehr Gefahr laufen, ihm früher oder später doch zu begegnen.«

Nun blieb eigentlich nur noch zu klären, wieso Anjas Wagen so weit entfernt von Patrick Heyms Haus aufgefunden wurde, so nahe bei den Perlaus, bei denen die Party stattgefunden hatte. Carlo Thieß konnte dafür eine Erklärung geben.

»Ich habe André getroffen, als er gegen fünf Uhr dort aus dem Wagen stieg. Es war in der Nähe von Marinas Wohnung. Er wollte zu ihr. Ich sagte ihm, dass ich sie gerade heimgebracht hätte, aber das stimmte nicht. Ich war schon ein paar Stunden bei Marina gewesen und wollte heimfahren. Das konnte ich ihm aber nicht sagen. Ich wusste, dass er Marina nur für sich haben wollte. Aber Marina hatte ihn satt, denn er hatte kein Geld mehr. Sie kennen doch diese Frauen.«

Er sah Kommissar Holzhauer aus rot geränderten Augen an. »Ich ahnte doch nicht, dass André einer solchen Gemeinheit fähig wäre«, fuhr er stockend fort. »Ich habe auch viel Blödsinn in meinem Leben gemacht, aber doch nicht so was. Ich schwöre, dass ich keine Ahnung hatte.«

»Was hat Malten Ihnen denn gesagt? Welche Erklärung gab er Ihnen, dass er am Morgen mit Frau Heltcamps Wagen herumfuhr?«

»Es hätte mich stutzig machen müssen, jetzt weiß ich es«, gab Carlo Thieß zu. »Aber ich wollte nicht, dass er dahinterkommt, dass ich bei Marina gewesen war. Ich weiß, dass er sehr jähzornig werden konnte.«

»Welche Erklärung gab er Ihnen?«, drängte der Kommissar.

»Er sagte, dass er mit Anja noch einen Bummel durch die Nachtlokale gemacht hätte. Schließlich müsse sie so was auch kennenlernen, und dann, in der Schwarzen Katze, hätten sie wieder Patrick Heym getroffen. Er selbst hätte vorher schon einen Streit mit Anja gehabt, und sie hätte ihm dann die kalte Schulter gezeigt und wäre mit Heym weggefahren.

André wollte nun zu Marina, aber sie schlief schon. Sie hat ihm die Tür nicht geöffnet. Am nächsten Tag hat er mir dann erzählt, was mit Anja passiert war und dass Heym schon verhaftet sei. Aber ich sollte nichts davon sagen, dass ich ihn gesehen hätte. Nun ja, ich hatte ja selber etwas zu verbergen, und Marina hatte mich schon gebeten, ja nichts André zu sagen. Ich habe nicht geahnt, dass er solcher Tat fähig war, sonst hätte ich nicht geschwiegen.«

»Es hätte auch für Sie recht böse aussehen können, Herr Thieß, wenn er vorher schon geflohen wäre. Sie gehörten zu den Tatverdächtigen«, sagte der Kommissar ruhig.

»Ich? Mein Gott, das darf doch nicht wahr sein!«

»Man soll eben nicht lügen in einem solchen Fall.«

»Ich habe nicht gelogen, ich habe nur geschwiegen. Es tut mir leid. Ich weiß, es klingt billig, aber es tut mir wirklich entsetzlich leid – wegen Anja. Sie ist doch ein Mädchen, das man respektieren muss, und sie war sehr verliebt in André. Es muss schrecklich sein, wenn die erste Liebe so ein Ende nimmt.«

»Darüber sollten Sie nachdenken und es nicht vergessen.«

*

Im Haus Heltcamp hatte man überhaupt keinen Appetit, seit man wusste, dass André dieses Unheil über sie gebracht hatte.

Arnold und Agnes Heltcamp warteten auf ihren Sohn. Uwe war noch zur Klinik gefahren, aber er hatte nicht mehr mit Anja sprechen können. Dr. Sternberg hatte ihr ein Schlafmittel gegeben und Uwe gesagt, dass es am besten für sie wäre, sie würde jetzt vierundzwanzig Stunden durchschlafen. Das war auch schon den Eltern gesagt worden.

Da saßen die beiden und starrten sich an. »Wie stehen wir jetzt da, Agnes? Das heißt, wie stehe ich da, denn ich habe Heym das ja eingebrockt.«

»Es waren die Umstände, Arnold«, erwiderte seine Frau leise. »Wir können uns bei ihm entschuldigen.«

Da stand plötzlich Uwe in der Tür. »Das braucht ihr nicht. Ich soll es euch von ihm ausrichten. Er versteht euch. Ich habe Patrick heimgebracht. Er ist frei.«

»Patrick? Seit wann duzt du diesen Mann?«

»Wir sind Freunde geworden, Pa. Ich wusste gleich, dass er es nicht gewesen sein konnte, als ich zum ersten Mal mit ihm sprach. Jetzt haben sich die Ereignisse überstürzt. Ich konnte nicht mehr mit euch sprechen. André ist tot.«

»Tot?«, wiederholte Agnes fragend.

»Hat er die Konsequenzen gezogen?«, fragte Arnold Heltcamp. »Hat er wenigstens das noch getan?«

Uwe fiel es nicht leicht zu erklären, wie alles wirklich geschehen war. Erst das Unglück mit Frau Malten, dann Andrés Fluchtversuch mit dem grauenvollen Ende.

»Ich habe Durst«, sagte er zwischendurch erschöpft.

»Entschuldige, mein Junge, ich hole dir gleich Cola«, sagte Agnes.

»Eigentlich wäre mir mehr nach einem Gläschen Sekt«, sagte Uwe. »Mein Kreislauf ist ein bisschen durcheinander.«

»Kannst du haben«, sagte Arnold Heltcamp und ging schon zur Bar. Die gab es im Haus Heltcamp auch, wenn sie auch nur mäßig oder mit Maßen in Anspruch genommen wurde.

»Soll ich den Arzt rufen?«, erkundigte sich Agnes indessen besorgt.

»So schlimm ist es nun auch wieder nicht, Mama«, beruhigte Uwe die besorgte Mutter. »Es war nur eine schreckliche Hetze den ganzen Tag. Ich war jetzt noch in der Klinik, aber Anja schläft.«

»Sie hat Dr. Laurin alles erzählt«, sagte Arnold, »und dann ist sie wieder zusammengeklappt. Wir werden uns überlegen müssen, wohin wir sie bringen, damit sie wieder in ein normales Leben zurückfindet.«

»Ich wüsste vielleicht einen besseren Weg, Pa«, sagte Uwe. »Ich werde sie mit einem Mann zusammenbringen, der das Gegenteil von André ist.«

»Sie wird keinen Mann mehr sehen wollen«, warf Agnes ein.

»Sie wird ihn sehen wollen, weil sie ihm sehr viel zu verdanken hat. Es ist Patrick Heym, und nun sagt bitte nicht: ›Der Playboy!‹ Er ist ein feiner Kerl. In meinen Augen nicht nur deshalb, weil er nicht der Täter war. Er ist reich, sieht gut aus, wurde von Frauen geradezu belagert, aber er ist ein Gentleman, und er hat Herz und Seele. Ja, er ist in allem genau das Gegenteil von André. Jetzt sitzt ihm der Schock noch in den Gliedern, aber mit Lenas Hilfe werde ich ihn schon wieder auf die Beine bringen.«

»Du redest wirklich so, als wäre er dein bester Freund, Uwe«, sagte Arnold Heltcamp erstaunt.

»Das ist er, und er wird es bleiben. Und solltet ihr noch Bedenken haben, will ich euch nur sagen, dass ihr es ihm letztendlich zu verdanken habt, dass Anja noch lebt. Er hätte anders handeln können. Er hätte, aus Angst oder irgendwelchen anderen Überlegungen, einfach abhauen können und sie liegen lassen. Er hätte ins Ausland fahren können, und man hätte Anja erst viel später gefunden. Dann hätte sie vielleicht nicht mehr gelebt.«

»Sag das doch nicht, Uwe«, schluchzte Agnes auf.

»Es geschah ja nicht, Mama. Wir wollen doch den Tatsachen ins Auge sehen. Patrick hat Anja das Leben gerettet. Er hat nicht einen Augenblick an sich gedacht, auch später nicht. Er wollte nur, dass der Täter gefasst wird. Und das hat ihn auch eine Menge Geld gekostet, um es nicht zu verschweigen. Er hat die besten Privatdetektive einsetzen lassen.«

»Ich übernehme die Kosten«, warf Arnold Heltcamp ein.

»Rede jetzt keinen Unsinn, Pa, beleidige Patrick nicht. Ich wollte damit doch nur sagen, dass er am meisten daran interessiert war, den Täter dingfest zu machen.«

»Das darfst du nicht behaupten, Uwe. Wir wollten das ebenso«, sagte Arnold Heltcamp.

»Aber ihr hattet euch schon auf Patrick versteift. Ihr habt nicht den geringsten Verdacht gegen André gehegt.«

»Du etwa?«, fragte sein Vater.

»Ich hatte so ein Gefühl, ein scheußliches Gefühl, seit ich wusste, dass ihm der Gerichtsvollzieher im Nacken saß. Und er hatte es doch auch so eilig, sich auf jeden Fall als Ehemann anzubieten. Ja, Pa, ich bin nun mal Jurist, und Dr. Brink hat gesagt, dass ich ein guter Jurist werde. Mir hat das viel gebracht, so schlimm auch alles war. Aber ich glaube fest daran, dass wir auch Anja helfen können, wenn ihr euch jetzt von euren Komplexen frei macht.«

»Ich habe keine Komplexe«, widersprach Arnold Heltcamp. »Ich habe gesagt, dass ich mich bei Herrn Heym entschuldigen werde.«

»Das ist zu wenig, Pa. Gib ihm bitte das Gefühl, dass du ihn akzeptierst. So seltsam es auch klingen mag, aber auch er braucht Hilfe. Er hatte bisher keinen Menschen, außer Lena, dem er volles Vertrauen schenkte. Er hatte keine Freunde. Um ihn herum waren immer nur Schmarotzer, und er hat mit vollen Händen gegeben.«

»Und all die Frauengeschichten?«, fragte Agnes.

»Weißt du, ob alles stimmt, was in den Klatschblättern geschrieben wurde, Mama? Jedenfalls war er der Mann, der zu Anja sagte, dass sie in diesem Milieu fehl am Platz sei. Er hat es erkannt, obwohl er nicht mehr nüchtern war. Aber von ihrem Verlobten wurde sie in dieses Milieu geschleppt, und André habt ihr die Tür unseres Hauses geöffnet.«

»Wir konnten nicht ahnen, wie das enden würde, Uwe«, stöhnte Arnold Heltcamp.

»Ich mache euch deshalb doch keinen Vorwurf«, sagte der junge Mann, »und Anja wird sich selbst noch die schwersten Vorwürfe machen, dass sie ihn ins Haus gebracht hat. Auch das müssen wir bedenken. Man kann eben in keinen Menschen hineinschauen. Aber manch einer ist ganz anders, als er sich darstellt.«

»Wie Patrick Heym, meinst du?«, sagte Agnes leise.

»Ja, das wollte ich sagen.«

»Ich werde ihn gern willkommen heißen«, sagte sie darauf.

»Ich meine, ihr solltet zu ihm gehen«, erklärte Uwe.

»Ich kann nicht in dieses Haus, durch diesen Garten gehen«, gestand Agnes Heltcamp da. »Er wird das verstehen, wenn er so ist, wie du ihn schilderst.«

»Ja, das wird er verstehen«, erwiderte Uwe, und für sich dachte er, wie wohl Patrick zumute war, wenn er durch seinen Garten ging. Vorhin hatte er nur Lena gesehen und gar nicht auf die Umgebung geachtet. Und ich selbst?, ging es Uwe durch den Sinn. Ist es nicht seltsam, dass ich nicht daran dachte? Nur deshalb nicht, weil an diesem Tag so vieles geschehen ist? Oder kann man tatsächlich vergessen? Würde auch Anja vergessen können?

Dr. Laurin hegte diese Hoffnung, weil Anja das Allerschlimmste nicht bewusst durchlebt hatte. Sie war ja bewusstlos gewesen, und es gab eine zwingende Erklärung dafür, dass André Malten Grund gehabt hatte, sie durch den Schlag zu betäuben.

Friedrich Brink erklärte das mit nüchternen Worten. »An alle Konsequenzen hat Malten nicht gedacht. Geplant war diese Tat nicht, möchte ich sagen. Wir können natürlich nur vermuten, was in ihm vor sich ging, als Anja den Ring abstreifte. Er sah das Nichts vor sich, und er wusste, dass er auch Marina verlieren würde, wenn er erst mittellos war. Erst hinterher muss er sich dann überlegt haben, dass Anja aus Scham wohl nicht schweigen würde und er seine Lage eher noch verschlimmert hatte.«

»Und du meinst, dass ihm da erst der Gedanke kam, Patrick Heym die Schuld zuzuschieben?«

Friedrich nickte. »Freilich sieht alles, wenn man es im Nachhinein und mit Abstand betrachtet, ganz anders aus. Ich möchte sagen dilettantisch. Aber anfangs schien es doch so, als würde Maltens Rechnung aufgehen. Was wirklich in dieser Nacht in Malten vor sich ging, werden wir nie erfahren, und ich bezweifle auch, dass er seine Gedanken bloßgelegt hätte. Vielleicht war er tatsächlich nicht zurechnungsfähig. Jedenfalls ist es besser, dass er tot ist, als dass er vor Gericht gestellt würde.«

»Vor allem für Anja und die Familie Heltcamp ist es besser.«

»Für Patrick Heym auch, Leon«, sagte Friedrich nachdenklich. »Du weißt ja, was in solchen Prozessen alles aufgewühlt und ans Tageslicht gezerrt wird, und die Skandalblätter warten doch nur auf Sensationen, die sie dann breitwalzen können. Man kennt ja die Schlagzeilen. Ich will gar nicht darüber nachdenken.«

»Das ist auch besser.«

*

Patrick Heym schlief auch in dieser Nacht nicht gut, aber endlich, gegen Morgen, überkam ihn dann doch ein tiefer, erlösender Schlummer. Lena ging nur auf Zehenspitzen durch das Haus. Das Telefon war leise gestellt. Sie hörte nicht, wie es läutete.

Arnold Heltcamp versuchte mehrmals, anzurufen, dann gab er es auf.

Uwe machte sich allerdings Sorgen. Er fuhr zu Patrick. Diesmal betrat er den Garten nicht unbefangen, aber dann schritt er schnell auf das Haus zu, als Lena in der Tür erschien.

»Mein Vater wollte Patrick anrufen«, erklärte er. »Er hat sich nicht gemeldet.«

»Er schläft«, flüsterte Lena.

»Jetzt schläft er nicht mehr«, ertönte Patricks Stimme. »Er muss nur noch unter die Dusche. Hast du ein bisschen Zeit, Uwe?«

»Für dich immer«, erwiderte der junge Mann.

Dafür erntete er von Lena einen dankbaren Blick. Sie servierte ihm gleich einen guten Kaffee und fragte ihn nach weiteren Wünschen.

»Ich wollte Patrick eigentlich zum Essen zu uns einladen, Lena«, sagte Uwe.

»Lasst ihm ein bisschen Zeit«, murmelte sie. »Ein Jegliches braucht seine Zeit.«

»Sie sind eine kluge Frau.«

»Ach was, ich sage alles, wie ich es denke. Ich muss Ihnen auch noch etwas sagen, Herr Heltcamp«, flüsterte sie. »Ich will Patrick nicht gleich damit kommen, aber irgendjemand sollte es doch wissen.«

»Worum geht es, Lena?«

»Um den Manschettenknopf.« Sie griff in ihre Schürzentasche. »Ich habe ihn heute Morgen im Gebüsch gefunden, neben der Gartentür. Er gehört nicht Patrick.«

Uwe betrachtete den Manschettenknopf und erkannte ihn sofort. Es war, als schnüre ihm etwas die Kehle zusammen. Dies war einer von den Manschettenknöpfen, die Anja André geschenkt hatte. Die Initialen AM waren eingraviert.

»Vielleicht ist es besser, wenn Patrick davon gar nichts erfährt«, meinte Lena. »Wenn man den Knopf gleich gefunden hätte, wäre alles vielleicht doch anders gekommen.«

Uwe blickte zu Boden. Hatte Anja nicht von einem Siegelring gesprochen, den sie gesehen hatte? Ja, einen Ring, der zu den Manschettenknöpfen passte, hatte André auch von ihr bekommen, aber in ihrem getrübten Bewusstsein konnte es auch dieser Manschettenknopf gewesen sein, den sie wahrgenommen, nach dem sie vielleicht gegriffen hatte, ohne dass André es merkte.

Ein Beweisstück, das man jetzt nicht mehr brauchte und das doch ein stummer Zeuge war.

»Es ist nichts so fein gesponnen, es kommt doch an das Licht der Sonnen«, murmelte Lena.

Uwe legte den Finger auf den Mund. »Pst«, machte er, »Patrick soll jetzt nicht gleich wieder damit konfrontiert werden.«

Lena gab ihm den goldenen Knopf. »Ich möchte ihn los sein«, sagte sie, »aber es hat mir keine Ruhe gelassen. Ich habe immer gedacht, dass man etwas finden müsste.«

»Wir brauchen keine Beweise mehr, Lena«, raunte ihr Uwe zu.

Und dann kam Patrick. Er sah jetzt frischer aus, nicht mehr so grau, aber die Falten, die sich in seinem schmalen Gesicht eingegraben hatten, würden sich wohl nicht so rasch glätten.

Sein dunkles Haar fiel noch feucht in die hohe Stirn. »Ich bin ein freier Mensch, Uwe«, sagte er. »Wie schön, dass du der Erste bist, dem ich nach diesem Erwachen die Hand drücken darf.«

»Lena ist ja auch noch da«, sagte Uwe verlegen.

»Sie bekommt einen Kuss. Frauen, die man liebt, küsst man. Klingt das sehr nach dem alten Patrick Heym?«

»Nein«, erwiderte Uwe. »Ich glaube nicht, dass du früher schon zu einer Frau gesagt hast, dass du sie liebst.«

Patricks Augen waren schwarz wie die Nacht. »Nicht mal zu Lena«, sagte er. »Aber ihr werde ich es nun jeden Tag sagen.« Er sah Uwe forschend an. »Du hast mir sicher noch allerlei zu berichten.«

»Eigentlich wollte ich dich zum Essen zu uns einladen – im Namen meiner Eltern.«

»Vielleicht wäre das deiner Schwester nicht recht«, wandte Patrick ein. »Ich möchte erst sie besuchen, und wenn sie mich empfängt, werde ich auch deinen Eltern einen Besuch machen. Aber diese Reihenfolge möchte ich einhalten.«

»Diese Reihenfolge«, wiederholte Uwe nachdenklich.

»Ich hoffe, du verstehst mich. Deine Eltern sind mir nichts schuldig, das habe ich schon gesagt. Du hast für mich viel getan, und das werde ich niemals vergessen. Mein Leben ist in andere Bahnen gelenkt worden. Ich kann dieses Haus nicht behalten. Ich kann diesen Weg durch den Garten nicht mehr gehen, ohne an jenen Morgen zu denken. Es tut mir leid für Lena. Sie hat das Haus so geliebt. Aber für mich hat sich alles verändert. Ich muss noch einmal ganz von vorn anfangen. Und ich möchte – das ist mein größter Wunsch –, dass Anja auch einen neuen Anfang findet. Wenn sie mir die Hand reicht, ist alles gut.« Er sah Uwe an. »Bin ich ein Fantast oder ein Traumtänzer, wie mich Dr. Brink einmal nannte?«

Es vergingen einige Sekunden, bis Uwe antwortete: »Für mich bist du mein Freund, Patrick. Und das gilt.«

»Auch dann, wenn Anja mir nicht die Hand reicht?«

»Auch dann.«

»Dann werde ich mich jetzt anziehen. Bringst du mich zur Prof.-Kayser-Klinik?«

»Gern, aber darf ich vorher meine Eltern anrufen?«

»Du darfst alles. Mein Haus ist dein Haus, wenn es auch nicht mehr lange mein Haus sein wird.«

»Was hast du vor, Patrick?«

»Darüber sprechen wir später.«

*

Dr. Sternberg musste gleich zwei Mal schauen, als Patrick Heym an Uwe Heltcamps Seite aus dem Lift stieg. Er sprach gerade mit einem jungen Mädchen, das auch des Trostes bedurfte, denn Cornelia Wolters Vater war an diesem Morgen operiert worden, und es hatte sich herausgestellt, dass es sich nicht um Magengeschwüre, sondern um Krebs handelte.

Uwe Heltcamp kannte das Mädchen vom Club. Sie hatte sich in der Gaststätte manchmal ein Taschengeld verdient. Sie ging noch zur Schule.

Während Dr. Sternberg sich noch von seiner Überraschung erholen musste, Patrick Heym hier zu sehen, ging Uwe auf das Mädchen zu.

»Nele, was machst du denn hier?«, fragte er. »Was ist los?«

»Mein Vater ist operiert worden«, erwiderte sie leise. »Es sieht nicht gut aus. Ich möchte aber jetzt nicht darüber sprechen.«

»Was ist mit dem Mädchen?«, fragte Patrick indessen Dr. Sternberg.

»Ein trauriger Fall. Sie hat nur noch ihren Vater, doch wir können ihm nicht mehr helfen.« Dr. Sternberg blickte auf die Rosen, die Patrick in der Hand hielt. »Ich freue mich, dass Sie frei sind«, sagte er.

»Ich wollte Frau Heltcamp besuchen. Ist das möglich?«, erkundigte sich Patrick.

»Wenn es die Familie erlaubt.«

»Die Familie hat nichts dagegen. Ich weiß nur nicht, ob Frau Heltcamp es gestattet. Aber ich wollte es auf einen Versuch ankommen lassen. Uwe hat mir Mut gemacht.«

Uwe war jetzt jedoch anderweitig beschäftigt. Er sprach tröstend auf Cornelia ein.

»Kann man da irgendwie helfen?«, fragte Patrick den Arzt. »Die Kleine ist doch Bedienung im Club, wenn ich mich nicht irre.« An manche Gesichter konnte er sich also doch erinnern. »Braucht sie eine Stellung?«

»Nein, Herr Heym, sie geht noch zur Schule. Sie hat sich im Club nur ein Taschengeld verdient. Der Vater ist schon lange krank, und von dem Krankengeld kommen sie kaum zurecht.«

»Ich muss noch viel lernen«, sagte Patrick leise. »Wir sprechen später über diesen Fall. Vielleicht stehe ich schneller wieder hier auf dem Gang, als ich denken kann.«

»Frau Heltcamp geht es so weit ganz gut«, bemerkte Dr. Sternberg.

»Geh du doch schon zu Anja, ich komme nach, Patrick«, rief Uwe leise.

Nanu, dachte Dr. Sternberg, sie sind per du? Dann ging er Patrick voraus zum Krankenzimmer.

Leise öffnete er die Tür. Anja saß im Bett und las in einem Buch.

»Sie bekommen Besuch, Frau Heltcamp«, sagte Dr. Sternberg.

Anja blickte auf. Sie sah einen schlanken Mann im grauen Anzug, den sie nicht gleich erkannte, so sehr hatte sich Patrick während dieser Tage verändert. Er war blass und hielt momentan die Luft an. Dann griff er an seine Krawatte und rückte sie zurecht.

»Ein hübsches Zimmer«, sagte er, noch halb zu Dr. Sternberg gewandt, aber keineswegs mit der an ihm gewohnten weltmännischen Sicherheit.

Die Stimme erkannte Anja, und unwillkürlich vermeinte sie, die Worte zu hören, die er damals sagte, in jener Nacht, die so unendlich ferngerückt war.

Auch sie hatte sich verändert. Selbst ihre Angehörigen sah sie mit anderen Augen, und als Patrick nähertrat, sah sie auch ihn anders als früher. Und doch schien er ihr vertraut.

»Sie passen nicht in dieses Milieu.« Seine Worte von damals tönten in ihren Ohren.

Seine linke Hand, in der er herrliche zartrosa Rosen hielt, hob sich leicht.

»Darf ich näher kommen?«, fragte er, während sich Dr. Sternberg entfernte.

»Bitte, Herr Heym«, erwiderte Anja leise, und dann streckte sie ihm die Hand entgegen.

Er atmete hörbar auf, und nun legte sich sogar ein flüchtiges Lächeln um seinen schmalen Mund, der den spöttischen, halb verächtlichen Ausdruck ganz verloren hatte.

Er ergriff ihre schmale Hand ganz behutsam, als wäre sie zerbrechlich, und so erschien es ihm auch, als er sich darüber neigte, und dann tat er etwas, was er nie zuvor im Leben getan hatte: Er legte leicht seine Lippen auf diese blasse zarte Hand.

Anja war das Blut in die Wangen geschossen. Ihre Blicke trafen sich, und verlegen sagte sie: »Es sind wunderschöne Rosen.«

»Uwe meinte, dass ich Sie besuchen dürfte«, sagte er stockend. »Er ist auch mitgekommen, aber er hat draußen jemanden getroffen.«

»Wen denn?«, fragte Anja, genauso verlegen wie Patrick.

»Ein Mädchen, das im Club mal gearbeitet hat. Wolter heißt sie wohl. Ihr Vater ist operiert worden.«

»Die Nele?«, fragte Anja erschrocken. »O Gott, immer trifft es doch die Falschen.« Aber das sagte sie so, als würde sie sich selbst gar nicht einbeziehen.

»Könnte ich etwas für das Mädchen tun?«, fragte Patrick Heym. »Sagen Sie es mir. Bisher bin ich ja wohl mit Scheuklappen herumgelaufen.«

Anja sah ihn forschend an, nun nicht mehr so unsicher. »Ich auch«, sagte sie leise. »Ich denke, Uwe wird sich um Nele kümmern.«

»Er hat sich auch sehr um mich gekümmert«, berichtete Patrick. »Haben Sie etwas dagegen, dass wir Freunde geworden sind?«

»Was sollte ich dagegen haben? Sie haben mir das Leben gerettet.« Sie senkte den Blick. »Zuerst dachte ich, dass es vielleicht besser gewesen wäre, ich wäre nicht mehr aufgewacht, aber dann dachte ich an meine Eltern und an meinen Bruder. Wir haben uns sehr lieb.«

»Ich weiß. Ich bin auch sehr froh, dass Sie leben, Anja. Aber wir wollen nicht mehr zurückdenken, nicht mehr daran rühren.«

»Und nicht darüber sprechen? Aber ich lese gerade ein Buch, dass man schreckliche Erlebnisse, welcher Art auch immer, nur bewältigen kann, wenn man zu gegebener Zeit darüber spricht. Jetzt ist dafür noch nicht die Zeit«, fuhr sie nachdenklich fort. »Aber ich bin sehr froh, dass Sie mich besuchen, Herr Heym, und dass ich Ihnen danken kann. Ich weiß, dass Sie meinetwegen sehr viel durchstehen mussten.«

»Nicht Ihretwegen«, widersprach Patrick. »Ich will da nichts beschönigen. Mein Lebenswandel machte mich zu einem willkommenen Objekt. Mein bisheriger Lebenswandel. Für mich war es eine gute Lehre, tatsächlich einmal in Schwierigkeiten zu kommen.«

»Das klingt gerade so, als wollten Sie in Schwierigkeiten kommen.«

Sein Blick ruhte auf ihrem Gesicht. Es tat ihm weh, körperlich und seelisch weh, die Wunden auf Stirn und Wangen zu sehen, die ihr zugefügt worden waren. Und irgendwie musste das wohl sein Gesichtsausdruck verraten.

Sie fuhr mit der Hand über die vernarbenden Wunden. »Das tut nicht mehr so weh«, sagte sie leise.

»Mir tut es weh«, sagte Patrick rau. »Ich hätte doch die Möglichkeit gehabt, Sie an diesem Abend heimzubringen. Aber vielleicht hätten Sie es abgelehnt.«

»Darüber will ich jetzt nicht nachdenken«, meinte Anja, »aber ich habe Ihre Worte in der Erinnerung behalten. Sie sagten zu mir, dass ich nicht in dieses Milieu gehöre. Sinngemäß.«

»Ich habe Sie vorher nur einmal gesehen. Wir wurden uns im Club vorgestellt, erinnern Sie sich?«

Anja nickte. Ihre Hände verschlangen sich ineinander. Sie lehnte sich zurück.

»Sie waren sehr hoheitsvoll«, sagte Patrick.

Diese Bemerkung zauberte tatsächlich ein Lächeln in ihr Gesicht. Er musste sie ansehen, er brachte kein Wort über die Lippen, weil nun ihr Blick aus einer weit entfernten Welt zurückzukehren schien.

»Wenn ich nur so sicher gewesen wäre, wie ich immer erscheinen wollte«, sagte Anja, »und wenn Sie sich doch nur so menschlich gegeben hätten, wie Sie sind, Patrick Heym – wir wären beide nicht in eine so fatale Lage geraten.«

»Aber wir sind es«, sagte er. »Und es wäre gut, wenn wir die Folgen irgendwie gemeinsam bewältigen könnten, Anja. Uwe wurde sehr schnell mein Freund, und darüber bin ich glücklich und dankbar. Vielleicht könnten auch wir Freunde werden?«

»Gibt es wirklich eine echte Freundschaft zwischen Mann und Frau, Patrick?«, fragte Anja.

»Ich glaube schon, wenn man immer ehrlich zueinander ist.«

»In diesem Buch steht, dass Freundschaft nur auf gegenseitigem Verstehen basieren kann. Dass echte Freundschaft jeden Zweifel ausschließen muss, dass sie eine dauernde Aufgabe ist, einem anderen Menschen in jeglicher Bedrängnis beizustehen. Aber Worte gibt es so viele, und sie werden so leicht dahingeredet. Aber Dr. Laurin hat ein paar Worte zu mir gesagt, die ich nie vergessen werde: ›Ein treuer Freund trägt mehr zu unserem Glück bei als tausend Feinde zu unserem Unglück.‹ Ich muss darüber immerzu nachdenken. Wenn Uwe Sie seinen Freund nennt, möchte ich auch gern, dass Sie mein Freund werden, Patrick. Aber, bitte, verzeihen Sie es mir, wenn mir jetzt noch der Glaube fehlt, dass es wirklich möglich ist.«

»Ich möchte es Ihnen gern beweisen, Anja. Ich habe viele Enttäuschungen hinnehmen müssen, aber keine so schlimme Erfahrung gemacht wie Sie. Jedoch haben mir einige Erlebnisse auch ganz hübsch zugesetzt, aber gerade in diesem Unheil habe ich positive Erfahrungen gemacht. Auch die, dass ich die Kraft habe, aus meinem Leben mehr zu machen, und das fällt leichter, wenn man Freunde hat.«

»Haben Sie niemals eine Frau wirklich geliebt?«, fragte Anja nach einem längeren Schweigen.

»Doch, meine Mutter und meine Tante. Jetzt liebe ich nur noch Lena. Sie müssen Lena kennenlernen, Anja. Sie ist die Güte selbst. Es war nur so, dass es mir so selbstverständlich war, dass sie für mich sorgte. Ich habe sie dafür entlohnt. Erst als sie so entschieden für mich eintrat, wurde mir bewusst, dass ich ihr auch als Mensch etwas bedeutete, trotz meiner Fehler.«

»Ich weiß, dass Ihre Lena sehr für Sie eingetreten ist. Uwe hat mir alles erzählt. Ich habe viel nachgedacht.«

»Sie sollen nicht gar so viel nachdenken«, sagte er verhalten.

»Früher habe ich zu wenig nachgedacht«, meinte Anja. »Es gab ja auch keine Probleme in meinem Leben. Unsere Familie erschien mir einfach perfekt, und sie ist es wohl auch. Bei meinen Eltern gab es nie Streit. Es ging uns immer gut, sehr gut sogar. Ich dachte nie daran, dass es für mich anders kommen könnte.« Ihre Stimme bebte, aber tapfer fuhr sie dann fort: »Jetzt habe ich keine Illusionen mehr.«

Patrick Heym hatte sich nie welche gemacht. Er hatte nie an die große, die alles verstehende Liebe geglaubt. Er hatte immer in einer Konfliktsituation gelebt, weil er Glück nur in materiellen Dingen hatte, aber konnte man das als Glück bezeichnen?

Jetzt empfand er ein Glücksgefühl, als Anja wieder seine Hand ergriff und leise sagte: »Es ist gut, dass wir miteinander sprechen können. Ihnen ist auch ein Unrecht zugefügt worden.«

*

Draußen, auf dem Korridor, standen Uwe und Nele am Fenster. Das Mädchen weinte nicht mehr, doch in seinem Blick lag Traurigkeit. Es blickte auf die Uhr.

»Ich muss jetzt in den Club.«

»Das geht doch nicht. Du kannst in dieser Verfassung …«

»Ich muss«, unterbrach Nele ihn. »Ich brauche das Geld. Ich muss doch wenigstens noch bis zum Schulabschluss zurechtkommen, sonst bekomme ich überhaupt keine anständige Stellung.«

»Lass dir doch helfen, Nele«, bat er eindringlich. »Du kommst nachher mit zu uns. Ich rufe im Club an, dass du dort nicht mehr arbeiten kannst. Du wirst bei uns im Geschäft eine Stelle bekommen, das verspreche ich dir.«

Sie sah ihn verwundert an. »Warum kümmerst du dich um mich? Uns trennen Welten, Uwe.« Ein bitterer Zug bog ihre Mundwinkel abwärts. »Deine Eltern werden nicht erbaut sein, wenn du mich mitbringst. Du warst immer nett zu mir, okay, aber …«

Nun unterbrach er sie. »Kein Aber. Schätze meine Eltern nicht falsch ein.«

»Es sind nicht nur deine Eltern, es gibt ja auch noch André Malten, und der ist nicht so großmütig wie du.«

»Es gibt ihn nicht mehr. Er ist tot«, erklärte Uwe knapp.

Ihre Augen weiteten sich. »Tot?«, murmelte sie. »Wieso das? Ist er verunglückt? Ist deine Schwester deshalb hier in der Klinik?«

»Nein, deshalb nicht. Vielleicht erfährst du es später einmal. Ich dachte, du hättest schon gehört, dass Malten tot ist.«

»Ich habe mit niemandem gesprochen, außer mit den Ärzten hier. Ich war die letzten beiden Tage auch nicht im Club, und Malten war auch schon längere Zeit nicht mehr da. Die ganze Woche nicht, so weit ich mich erinnere.«

»Hat niemand über ihn gesprochen?«, fragte Uwe.

Sie schüttelte den Kopf. »Wie ist er ums Leben gekommen?«

»Er wurde von einem Lieferwagen überfahren.«

»War er gleich tot?«

»Ja.«

»Warum müssen gute Menschen langsam und unter Qualen sterben?«, murmelte Nele da, und Uwe kroch ein Frösteln über den Rücken. »Er hätte einen langsamen, schmerzhaften Tod verdient.«

»Kanntest du ihn so gut, dass du das sagen kannst?«, fragte Uwe heiser.

Nele drehte sich zu ihm um und blickte ihm in die Augen. »Ich hatte mal eine Schwester. Sie war sechs Jahre älter als ich und sehr hübsch. Sie war unter dem Namen Annabel ein gut verdienendes Fotomodell, als sie André Malten kennenlernte. Bis dahin war bei uns daheim auch alles in Ordnung. Dann nahm sie sich eine eigene Wohnung, und ein Jahr später war sie tot. Sie erwartete ein Kind von Malten und ließ es abtreiben. Sie starb daran, er aber leugnete, der Vater des Kindes gewesen zu sein. Er hatte die Stirn, meinem Vater gegenüber zu behaupten, dass er Annabel – eigentlich hießt sie ja nur Anna – geheiratet hätte, wenn er tatsächlich der Vater des Kindes gewesen wäre.«

»Warum habt ihr ihn nicht angezeigt?«, fragte Uwe voller Entsetzen.

»Was hatten wir denn für eine Chance? Die Maltens waren reich. Mein Vater war ein kleiner Angestellter, und Beweise hatten wir nicht. Ein Fotomodell lernt ja viele Männer kennen. Nun weißt du, warum ich ihm einen langen und schmerzvollen Tod gewünscht hätte.«

»Seltsam, dass wir uns hier und heute getroffen haben«, bemerkte Uwe. »Aber irgendwie musste das wohl so sein. Jedenfalls wirst du meinen Eltern bestimmt willkommen sein, Nele. Und du wirst auch erfahren, welches Unheil Malten über uns gebracht hat. Jetzt aber noch nicht.«

Dazu war auch keine Zeit. Nele Wolter wurde zu ihrem Vater gerufen. Er sei bei Bewusstsein, sagte der junge Dr. Hillenberg.

Uwe hielt ihn dann zurück, bevor er nach Nele das Krankenzimmer betreten konnte.

»Besteht Hoffnung?«, fragte er leise.

Dr. Hillenberg schüttelte den Kopf.

»Dann werde ich hierbleiben. Sie soll nicht allein sein«, sagte Uwe entschlossen.

Anja und Patrick verstummten, als er das Krankenzimmer seiner Schwester betrat.

»Was ist mit Neles Vater?«, fragte Anja sofort.

»Es geht ihm ziemlich schlecht«, erwiderte Uwe ausweichend. »Ich werde sie nachher mit zu uns nehmen.«

»Herr Wolter war mal beim alten Malten beschäftigt«, berichtete Anja leise.

»Und du hast sicher einmal erfahren, dass es da zu Unstimmigkeiten gekommen war.«

»Woher weißt du das?«, fragte Anja.

»Weil ich eben von Nele erfahren habe, was wirklich geschehen war. Ich möchte ungern darüber sprechen, Anja.«

»Aber ich will es wissen«, beharrte sie.

»Es rundet das Bild ab, das wir uns über einen gewissen André Malten gemacht haben«, sagte Uwe sehr bitter.

»Anja sollte sich nicht mit diesen Dingen belasten«, warf Patrick ein.

»Es kann nicht mehr schlimmer kommen«, sagte Anja seltsam ruhig.

Aber als Uwe dann erzählte, was er eben von Nele erfahren hatte, war es doch um ihre Fassung geschehen. Sie wurde von einem haltlosen Schluchzen geschüttelt.

»Das habe ich befürchtet«, sagte Patrick mit erstickter Stimme.

»Es tut mir leid«, murmelte Uwe, »aber auch andere leiden, und manche haben niemanden, der mit ihnen fühlt.«

»Warum hat mir früher niemand etwas gesagt?«, fragte Anja schluchzend.

»Warum wohl? Hättest du es geglaubt? Hätten wir es für möglich gehalten? Wir wurden doch alle einer Clique zugerechnet. Die Privilegierten, die einander nichts zuleide tun.«

»Bitte, schweig jetzt, Uwe«, fiel ihm Patrick mahnend ins Wort. »Anja war doch so arglos.«

»Es tut mir leid«, lenkte Uwe ein, »mir ist der Gaul durchgegangen. Bitte sei mir nicht böse, Anja.«

»Ich bin nicht böse. Es soll ja alles gesagt werden, wenn es jetzt auch zu spät ist, und wenn es auch gewiss kein Trost ist, dass andere auch leiden mussten. Kümmere dich um Nele, Uwe. Sag ihr, dass es auch die sogenannten Privilegierten treffen kann. Vielleicht ist es ein Trost für sie.«

*

Für Nele gab es jedoch jetzt keinen Trost.

»Nele, meine Kleine«, hatte ihr Vater geflüstert, als sie seine Hand ergriff.

Sie wusste im Augenblick nichts anderes zu sagen als: »Malten ist tot, Vati. Er wurde totgefahren. Hörst du mich?«

»Er ist tot, das ist gut«, flüsterte er. »Ich bin müde.«

Die Worte hatten ihn die letzte Kraft gekostet, es war ein letztes Aufflackern gewesen, aber sein Gesicht entspannte sich. Sein Leidensweg war zu Ende.

Als Dr. Hillenberg aus dem Zimmer kam, ging Uwe schon auf dem Gang auf und ab. Es genügte nur ein Blick des Arztes, und er verstand.

»Wir wollen ihr noch ein wenig Zeit lassen«, sagte Dr. Hillenberg leise. »Wollen Sie tatsächlich warten, Herr Heltcamp?«

»Selbstverständlich. Ich habe meine Eltern schon angerufen. Wir haben Platz genug im Haus. Nele kann bei uns bleiben. Sie braucht sich auch nicht um die Formalitäten zu kümmern.«

Ob ihr wohl solche Hilfe zuteil geworden wäre, wenn die Heltcamps noch ihr sorgloses Leben führen würden?, ging es Dr. Hillenberg durch den Sinn.

»Kennt ihr diese Nele näher?«, fragte Patrick indessen Anja, um sie auf andere Gedanken zu bringen.

»Wie man sich so kennt vom Club. Und dann haben wir sie mal beim Baden getroffen. Papa ist eigentlich dagegen, dass Schulfreundinnen im Club einen Job bekommen, aber bei Nele machte er damals eine Ausnahme, weil sie sich nicht nur für die Ferien verdingen wollte. Sie brauchte das Geld nötig. Wir wussten aber nicht, dass ihr Vater so krank ist. Wir wussten auch nichts von ihrer Schwester. So traurig es ist – aber wir haben uns nicht darum gekümmert, warum ein junges Mädchen neben der Schule auch noch Geld verdienen muss. Sie war ja auch immer so still, und erst jetzt denke ich darüber nach, dass sie von den anderen Angestellten ausgenutzt worden ist. Sie war jeden Tag von sechzehn bis zwanzig Uhr im Club.«

»Und wie viel hat sie da verdient?«

»Ich weiß es nicht. Im vorigen Jahr, als sie dort angefangen hat, war sie immer zu einem Lächeln bereit, aber dann …« Anja unterbrach sich. »Jetzt weiß ich, warum sie mir aus dem Weg ging, als ich mit Malten dort aufkreuzte. Aber allzu oft waren wir ja nicht dort. Ihm war das Publikum zu gemischt.«

»Er hat aber eine abfällige Bemerkung über Herrn Wolter gemacht, nicht wahr?«

»Ja, einmal, als er Nele angeschnauzt hat, weil sie unsere Getränke nicht sofort brachte. Da sagte ich, er solle doch nicht so ungehalten sein. Schließlich war sie noch ein Schulmädchen und keine gelernte Bedienung. Da sagte er, dass ihr Vater mehr aus seinem Leben hätte machen können, es ihm aber wohl gleichgültig sei, womit seine Töchter ihr Geld verdienten. Es sieht alles anders aus, wenn man die Hintergründe kennt. André hat dann auch so eine Bemerkung fallen lassen, dass Nele möglicherweise Gerüchte über ihn verbreiten würde, weil ihr Vater von seinem Vater unter recht denkwürdigen Umständen entlassen worden sei. Einer näheren Erklärung ist er dann ausgewichen.«

»Als diese denkwürdigen Umstände eintraten, waren Sie noch ein kleines Mädchen, Anja«, sagte Patrick nachdenklich.

»Nele ist noch jünger als ich«, erwiderte Anja. »Es ist traurig zu denken, dass ihre ganze Jugend überschattet war. Aber Uwe findet bestimmt den richtigen Ton, er war nie oberflächlich.«

»Ganz anders als ich«, warf Patrick ein.

»Ich halte Sie nicht für oberflächlich, Sie haben ja auch das Gegenteil bewiesen. Wären Sie so, wie man Sie einschätzte, hätten Sie sich ganz anders verhalten.«

»Wie denn?«

»Sie hätten Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um den Heltcamps eins auszuwischen. Sie würden jetzt nicht hier an meinem Bett sitzen, sondern mit den besten Anwälten beraten, wie man die ganze Geschichte aufrollen könnte, um Ihren Namen im besten Licht erscheinen zu lassen.«

»Mein Image hat mich nie interessiert«, antwortete er. »Meinen Sie, ich hätte Ihnen noch mehr schaden können oder wollen?«

»Sie hätten es sicher gekonnt, wenn Sie es gewollt hätten.«

»Ich hatte jedenfalls die besten Anwälte – Dr. Brink und Uwe. Und ich sitze hier, weil ich wissen wollte, ob Sie einem so verrufenen Mannsbild wie mir wohl die Hand reichen würden, Anja.«

»Nur deshalb?«, fragte sie.

»Nun, wenn ich ganz ehrlich sein will, dann auch deshalb, weil ich beweisen wollte, dass manch einer doch besser sein kann als sein Ruf. Und auch deshalb, weil das, was ich an jenem Abend sagte, meine ehrliche Überzeugung war. Ich werde mir nie verzeihen, dass ich Sie mit diesem Kerl gehen ließ.«

»Und ich werde mir nie verzeihen, dass ich zu André sagte, dass Sie mehr Anstand hätten als er. Das muss ihn erst recht wütend gemacht haben.«

»Das haben Sie gesagt, Anja?«, fragte er bestürzt.

»Mir waren die Augen aufgegangen. Ich hatte ja gehört, dass Marina nicht nur die flüchtige Bekanntschaft war, als die er sie hinstellen wollte. Und ich hatte an diesem Abend noch einiges aufgefangen, was nicht für meine Ohren bestimmt war. Zum Beispiel solche Worte wie: ›Wann wird er das goldene Kalb endlich schlachten?‹ Und ›Kann denn ein Mädchen in dem Alter noch so naiv sein wie Anja?‹ Das habe ich weder Dr. Laurin noch Uwe gesagt. Und meine Eltern sollen es nie erfahren.«

Sie machte eine kleine Pause und fügte dann hinzu: »Er wollte mich heiraten, um Marina Cerny aushalten zu können. Warum kehren Sie mir nicht den Rücken zu? Bin ich nicht naiv und dumm?«

»Anja, Sie waren für ihn zu schade. Sie sollten sich jetzt nicht damit quälen, dass Sie sich in den Falschen verliebt haben. Man unterliegt den seltsamsten, unverständlichsten Täuschungen. Und wir lernen nur aus bitteren Erfahrungen. Das ist eine alte Weisheit. Lena hat mir so oft gesagt, dass kein Mensch ändern kann, was das Schicksal für ihn bestimmt hat. Ich habe stets darüber gelächelt, jetzt lache ich nicht mehr. Aber ich habe auch erkannt, dass es an uns selbst liegt, aus unserem Leben das zu machen, was uns wert dünkt, es wenigstens zu versuchen. Vielleicht wird uns dann doch mancher Wunsch erfüllt.«

»Was wünschen Sie sich, Patrick?«, fragte Anja nachdenklich.

»Dass wir Freunde bleiben, Anja. Ich bin so vermessen zu glauben, dass wir Freunde geworden sind.«

»Ich möchte für eine lange Zeit irgendwohin gehen, wo mich niemand kennt«, sagte Anja gedankenvoll.

»Die selbst gewählte Einsamkeit? Meinen Sie, das wäre eine Lösung? Vielleicht dann, wenn man ein langes Leben hinter sich hat, wenn man in der Einsamkeit von Erinnerungen zehren kann, aber doch nicht, wenn man mit solchen fertig werden muss. Ich habe ein wunderschönes Haus in der Provence, und selbst dort hielt ich es nie lange aus. Aber vielleicht können Sie dort eine Zeit verbringen – gemeinsam mit dieser kleinen Nele. Geteilter Schmerz ist halber Schmerz, sagt man doch. Ich werde Ihnen morgen Fotos bringen von dem Haus und der Umgebung – das heißt, wenn ich Sie wieder besuchen darf, Anja.«

Sie nickte stumm. Ein Kloß schien ihr in der Kehle zu sitzen. Sie wollte ihm noch ein paar nette Worte sagen, aber sie brachte keines über die Lippen. Als er zum Abschied dann wieder so behutsam ihre Hand küsste, zog Ruhe in ihre Seele ein.

»Vergessen Sie die Fotos nicht«, sagte sie leise, um überhaupt etwas zu sagen.

»Bestimmt nicht«, erwiderte er mit einem Lächeln, das ihr in der Erinnerung blieb. Dann lag sie in ihrem Klinikbett und grübelte. Aber sie dachte nicht über sich nach, sondern über Patrick Heym, bis Dr. Laurin ihr seinen täglichen Besuch machte.

Er hatte schon erfahren, dass Patrick bei ihr gewesen war, und es interessierte ihn ungemein, was sie darüber sagen würde.

»Wunderschöne Rosen«, stellte er mit einem hintergründigen Lächeln fest.

»Ja, wunderschön«, stimmte Anja zu. »Ich hatte netten Besuch. Herr Heym war hier.«

Das klang recht erfreulich, aber Dr. Laurin wollte ihr noch mehr entlocken.

»Für einen sogenannten Playboy scheint er recht gute Manieren zu haben«, stellte er wie beiläufig fest.

»Er wird verkannt«, erklärte Anja so bestimmt, dass Dr. Laurin nur staunen konnte. »Auf dem Boden von Neid und Missgunst gedeihen viele Gerüchte. Er leidet nicht an Überheblichkeit.«

»Sie brauchen ihn nicht zu verteidigen, Anja. Ich gebe nichts auf Klatsch, und ich weiß, wie unsicher gerade die allzu Reichen oft sind. Wenn es ihnen an Härte fehlt, werden sie nur ausgenutzt.«

Anja nickte. »Ich habe gelernt, gründlich nachzudenken. Ich höre nicht nur die Worte, ich lausche auf die Stimme, lese in den Augen und betrachte die Hände. Wie Sie sehen, lese ich sehr gründlich in dem Buch, das Sie mir mitgebracht haben.«

Dr. Laurin war es jetzt schon bedeutend wohler. Seine Sorgenpatientin wollte das Erlebte nicht verdrängen, sondern bewältigen, und nur so konnte sie in ein normales Leben zurückfinden. Jedenfalls schien auch Patrick Heym einiges dazu beigetragen zu haben.

Anja sprach dann von Cornelia Wolter. Auch davon, dass Patrick ihr den Vorschlag gemacht hatte, einige Zeit mit Nele in seinem Haus in der Provence zu verbringen.

»Eine gute Idee«, meinte der Klinikchef.

»Kann man das annehmen?«, fragte Anja nachdenklich.

»Warum nicht? Es ist wunderschön dort, und die kleine Wolter ist noch nicht weit über Münchens Grenzen hinausgekommen.«

»Ich möchte Sie gern etwas fragen, Herr Dr. Laurin.«

»Fragen Sie nur.«

»Wie kann ein Mensch nur so gewissenlos sein, wie es André Malten war? Haben Sie als Arzt dafür eine Erklärung? Sind Ihnen schon öfter solche Männer begegnet?«

»Leider ja, Anja, aber man darf sich nicht dazu hinreißen lassen, allen mit Misstrauen zu begegnen.«

»Das könnte ich gar nicht. Jetzt nicht mehr, nachdem ich all die Männer vor meinem geistigen Auge Revue passieren ließ, die anständig sind. Es wäre sehr ungerecht. Ich muss mir selber auch Schuld geben. Ich habe nicht auf die warnende Stimme in meinem Innern gehört. Ich war zu selbstsicher und in meinem Stolz gekränkt. Ja, so ist es. Ich wollte mich rächen für die Demütigung, die ich erfahren hatte. Unser Lateinlehrer hat uns ein Sprichwort eingeprägt: Quidquid agis, prudenter agas …«

Sie geriet ins Stocken, und Dr. Laurin vollendete: »Et respice finem! – Was du auch tust, tue es klug und bedenke das Ende«, übersetzte er dann auch gleich. »Ja, Anja, wir haben es auch gelernt, und man vergisst es nicht.«

»Aber ich habe nicht darüber nachgedacht«, klagte sie. »Man merkt sich die Worte und versteht doch nicht, ihren Sinn im richtigen Augenblick anzuwenden.«

»Dafür gibt es auch eine Weisheit«, sagte Dr. Laurin. »Am Abend wird man klug für den vergangenen Tag, doch niemals klug genug für den, der kommen mag.«

»Aber man wird vorsichtig«, erwiderte das Mädchen. »Ich bin froh, dass ich lebe. Ich bin Patrick dankbar, dass er mir das Leben gerettet hat und dass ich hier in die Prof.-Kayser-Klinik kam.«

»Dann werden Sie keine schlechte Erinnerung an uns mitnehmen, Anja?«

»Wie sollte ich?«

»Sie sind ein sehr kluges Mädchen«, lächelte Dr. Laurin.

Das Schicksal war doch so gnädig mit ihr, dass sie das Schlimmste nicht bewusst erleben musste, dachte er, als er wieder hinüberging zur Frauenstation. Aber vielleicht würde sie nicht mehr leben, wenn sie sich hätte zur Wehr setzen können. Vielleicht wäre André Malten auch eines Mordes fähig gewesen. Es war ein abscheulicher Gedanke, und der Arzt hoffte, dass Anja nicht auch so weit denken würde.

Aber auch solche Gedanken verdrängte Anja nicht, und wenn sie dann die Verzweiflung packte, zwang ihr ein fremder Wille den Gedanken an Cornelias Schwester Annabel auf, die mit ihrem Leben dafür bezahlt hatte, André Malten geliebt zu haben und von ihm verraten worden zu sein.

*

Was Annabel widerfahren war, wussten nun auch Arnold und Agnes Heltcamp. Während Nele, erschöpft und leergeweint, in dem freundlichen Gästezimmer eingeschlafen war, saßen sie im Wohnzimmer und gaben sich ihren sorgenvollen Gedanken hin. Man konnte es nicht einfach vom Tisch wischen, dass André Malten in diesem Haus ein und aus gegangen war.

»Es ist nicht auszudenken, dass es auch zu einer Heirat hätte kommen können«, sagte Agnes deprimiert.

»Aber wir können den Kopf nicht in den Sand stecken, meine liebe Agnes«, meinte Arnold. »Wir können an Nele etwas gutmachen. Es ist gut, dass Uwe sie zu uns brachte.«

»Und Anja? Wie wird sich Anjas künftiges Leben gestalten?«

»Das kommt wohl auch auf uns an. Für uns ist sie unser Kind, das wir genauso lieben wie zuvor. Wir werden ihr nicht vorjammern, welche Gedanken uns quälen. Wir werden ihr keinen Vorwurf machen.«

»Den müssten wir uns machen«, sagte Agnes.

»Nein, da muss ich dir widersprechen.«

»Aber wir waren mit dieser Verlobung nicht einverstanden.«

»Und was wäre geschehen, wenn wir widersprochen hätten? Sie hätte sich vielleicht gefügt, aber wäre sie nicht auch der Überzeugung gewesen, dass man Malten Unrecht getan hätte? Wir wollen nicht alle die Wenn und Aber durchdenken, Agnes. Ich müsste dann damit anfangen, dass ich, wenn ich nicht nach München verschlagen worden wäre, dich niemals kennengelernt hätte. Vielleicht wäre ich dann auch an eine Frau geraten, mit der ich todunglücklich geworden wäre, oder ich wäre irgendwo unter die Räder gekommen. Es ist unsinnig, über all das nachzudenken, was geschehen kann, wenn …«

»Ist schon gut, Arnold«, fiel sie ihm ins Wort. »Uwe hat ja auch gesagt, dass Anja alles bewältigen würde. So ganz gefällt es mir nur nicht, dass er Patrick Heym als seinen besten Freund bezeichnet.«

»Uwe hat Charakter, und vielleicht hat Patrick Heym auch viel mehr Charakter, als man ihm zutraut. Wir werden ihn ja kennenlernen. Ich finde, dass er sich großartig benommen hat, und was andere über ihn sagen, soll uns nicht tangieren. Ich habe mich bei ihm zu entschuldigen, und das werde ich tun. Man muss seine Fehler eingestehen können, mein Liebes.«

»Warum konnte Anja nicht einen Mann finden wie dich?«, sagte Agnes leise.

»Mach mich nicht besser, als ich bin. Und was Eltern sich für ihre Kinder wünschen, geht halt nicht immer in Erfüllung.«

»Wenn Uwe nun sein Herz an Nele verloren hat?«

»Na, und wenn schon? Wir können uns doch eine arme Schwiegertochter leisten. Aber Uwe hatte immer einen sozialen Tick. Das ist kein Vorwurf«, fügte er rasch hinzu. »Dein Vater hatte ihn ja auch. Ihm kam es verwerflich vor, mehr zu besitzen als andere, aber schließlich muss es doch einige geben, die den anderen wiederum die Möglichkeit geben, ein annehmbares Leben zu führen. Wir sind deshalb keine Privilegierten, wir haben eine sehr ernst zu nehmende Verpflichtung.«

»Ich widerspreche dir ja gar nicht«, warf Agnes schüchtern ein. »Du machst alles richtig.«

»Nein, so ist es auch nicht. Ich mache manches falsch, aber wir sind Menschen, und wenn man jeden Menschen in Gut und Böse halbieren würde, könnten wir unser blaues Wunder erleben.«

»Ich verstehe nicht, wie du das meinst«, sagte sie verwirrt.

»Wie ich das meine? Darüber habe ich auch lange nachgedacht während dieser Tage. Nehmen wir mal an, es wäre möglich, die guten und die schlechten Anlagen eines Menschen zu trennen und diese in die gleiche Haut zu projizieren. Es würde einen guten und einen bösen Arnold Heltcamp geben.«

Agnes blickte ihn an, dann sagte sie lächelnd: »Der böse Anwalt würde aber sehr mickrig ausschauen.«

»Meinst du? Da bin ich mir nicht sicher. Wenn ich allein bedenke, dass ich, ohne auch nur einen Augenblick zu überlegen, bereit war, einen unschuldigen Menschen in Grund und Boden zu verdammen, wenn ich genau abwäge, was ich in meinem Leben richtig und was ich falsch gemacht habe, dann bleibt am Ende als das Unantastbare nur, dass ich auf Anhieb die richtige Frau gefunden habe.«

Agnes stiegen Tränen in die Augen. »Das ist wohl das schönste Kompliment, das du mir je gemacht hast«, sagte sie leise.

»Es ist viel mehr, Liebste. Du bist das Beste in meinem Leben. Ohne dich wäre ich nicht der Arnold Heltcamp, der ich heute bin. Schau, mein Liebes, bevor ich dich kennenlernte, war so viel Böses auf mich eingestürmt, dass ich selbst nicht mehr wusste, ob es wirkliche Liebe gibt. Hoffen wir also, dass auch unsere Anja mal zu dieser Erkenntnis gelangt.«

»Du bist so gescheit«, sagte Agnes leise. »Wie konntest du nur an eine so dumme Frau geraten?«

»Das will ich nicht noch einmal hören. Sag mir lieber, ob ich dich jemals enttäuscht habe.«

»Nie«, erwiderte sie.

»Dann ist meine böse Hälfte vielleicht doch mickrig«, lächelte er. »Und darüber muss ich froh sein. So leicht war dein Leben mit mir doch gar nicht, Agnes. Hat mich nicht manchmal der Ehrgeiz aufgefressen?«

»Ich wusste immer, dass du beweisen wolltest, dass du mich nicht nur deshalb geheiratet hast, weil Vater dir eine Existenz verschaffte. Und das hast du bewiesen. Viele Männer gehen ihren eigenen Weg, wenn sie den Weg nach oben geschafft haben, aber du bist nicht einen Schritt von deinem Weg abgewichen.«

»Bist du ganz sicher?«, fragte er mit einem verschmitzten Lächeln.

»Wenn es doch gewesen wäre, hätte ich davon nichts bemerkt«, erwiderte Agnes.

»Dann musst du aber auch sagen, dass ich nicht einen Schritt von unserem Weg abgewichen bin. Nein, Agnes, ich bin es nicht. Seit wir uns das Jawort gaben, bist du die einzige Frau in meinem Leben. Ich schwöre es dir beim Leben unserer Kinder, die wir beide lieben.«

»Und ich glaube dir«, antwortete sie zärtlich. »Uns kann nichts und niemand trennen, und so werden wir auch diese Prüfung bestehen.«

»Das wollte ich hören«, sagte Arnold Heltcamp, und dann nahm er seine Frau in die Arme. »Bis dass der Tod euch scheidet, hat damals der Pastor gesagt. Warum sagt man es jetzt nicht mehr, oder nur, wenn es gewünscht wird? Es ist doch eine Mahnung.«

»Ja, darüber habe ich mir auch schon Gedanken gemacht. Aber die Zeiten haben sich geändert, und eigentlich soll man nichts versprechen, was man letztlich doch nicht halten kann. Mit uns hat es das Schicksal halt besonders gut gemeint. Ich bin dafür sehr dankbar.«

*

Am nächsten Tag kam Patrick. Sehr gemischte Gefühle bewegten ihn, als er das Haus der Heltcamps betrat, denn so sicher wie Uwe war er nicht, dass alles glattgehen würde.

Aber als dann Arnold Heltcamp sich nicht in aller Form entschuldigte, warf Patrick seine Hemmungen ab.

Arnold hatte nämlich so angefangen: »Uwe hat mir schon gesagt, dass ich mich nicht bei Ihnen entschuldigen soll, Herr Heym, aber bedanken darf ich mich doch bei Ihnen.«

»Für etwas Selbstverständliches?«, fragte Patrick darauf. »Ich bin glücklich, dass Anja gesund wird und so tapfer ist.«

Der Bann war gebrochen. »Glücklich, sagen Sie?«, fragte Arnold Heltcamp.

»Ja, ich bin glücklich darüber. Anja ist ein wundervolles Mädchen. Es muss mich doch glücklich machen, dass nicht nur Uwe, sondern auch sie mich als Freund akzeptiert.«

»Dann«, sagte Arnold Heltcamp bewegt, »möchte ich in dem Bunde der Dritte sein. Aber meine Frau wird sich auch anschließen wollen.«

»Also habe ich zu danken«, sagte Patrick.

Wenig später berichtete er, dass er Anja angeboten hätte, mit Nele eine Zeit in seinem Haus zu verbringen. »Selbstverständlich können Sie sich ebenfalls jederzeit als meine Gäste betrachten, während Uwe mir behilflich ist, die richtige Betätigung für mich zu finden.«

»Für Sie dürfte das doch wahrhaftig nicht schwer sein«, sagte Arnold Heltcamp erstaunt.

»In einem Betrieb, der zum Heym-Konzern gehört? Da würden doch alle nur wieder um mich herumschleichen und sich gar fragen, ob ich nicht einem den Posten wegnehmen wolle. Außerdem traut man mir doch nichts zu. Man würde höchstens denken, dass ich mich wichtig machen wolle.«

»Es darf doch nicht wahr sein, Sie haben tatsächlich Komplexe«, sagte Arnold Heltcamp verblüfft. »Ich habe das nicht glauben wollen, als Uwe es andeutete. Es ist höchste Zeit, dass Sie von Ihrem Mitspracherecht Gebrauch machen, junger Mann. Die zuverlässigen, treuen Mitarbeiter werden älter. Sie werden eines nicht mehr fernen Tages auch ihre Ruhe haben wollen, und dann kommen junge, fremde Leute nach – oder alles geht zu Bruch. Sie werden doch eines Tages Kinder haben, Söhne, die Achtung vor ihrem Vater haben sollen. Jedenfalls habe ich immer so gedacht.«

»Ich habe noch nicht daran gedacht«, gab Patrick zu. »Bis vor Kurzem jedenfalls noch nicht, und ich werde erst daran denken, wenn Sie mich für würdig befinden, bei Ihnen um Anjas Hand anhalten zu dürfen.«

Arnold Heltcamp war starr vor Staunen. »Sie wollen Anja heiraten? Habe ich das richtig verstanden?«, fragte er konsterniert.

»Ich will Anja nicht bedrängen. Es können vielleicht Jahre vergehen, bis sie sich entscheiden kann. Aber ich möchte, dass zwischen uns Klarheit herrscht. Vielleicht habe ich in jener Nacht, als ich sie in dieser seltsamen Gesellschaft traf, schon gewusst, dass sie die Frau ist, mit der ich mein Leben verbringen möchte. Es mag sein, dass sie mich nur als Freund betrachten will, aber auch damit wäre ich schon zufrieden.«

»Geht Ihr Opfermut nicht etwas zu weit, Herr Heym?«, fragte Arnold Heltcamp gedankenvoll.

»Ich liebe Anja«, erwiderte Patrick.

»Habe Sie das Anja auch schon gesagt?«, fragte der Ältere.

»Nein, ich werde mich hüten. Dazu ist die Zeit noch nicht gekommen. Aber ich habe viele Jahre vertrödelt, ohne Ziel, ohne zu wissen, was ich eigentlich wünsche – ich kann warten. Und Sie brauchen erst ja zu sagen, wenn Sie sich von der Aufrichtigkeit meiner Worte überzeugt haben.«

»Sie werden Anja von diesen Wünschen nichts sagen?«

»Nein. Ich werde mir einen anderen Wohnsitz suchen. Vielleicht können Sie mir dabei behilflich sein, indem Sie mir sagen, wo Anja gern leben würde.«

»Nein, das kann ich leider nicht. So gut kennt man selbst seine Tochter nicht. Aber Sie werden das sicher von ihr erfahren. Als ich heute Morgen bei ihr war, sagte sie mir, wie gern sie in die Provence fahren würde – mit Nele. Das haben Sie ihr doch auch eingeredet.«

»Ich habe es vorgeschlagen. Ich rede ihr nichts ein, Herr Heltcamp. Sie soll ganz frei entscheiden. Sie dürfen sicher sein, dass ich sie nicht überfallen werde, auch nicht mit Worten und Versprechungen. Ich gebe es Ihnen schriftlich. Sie können mich vor Gericht zitieren, wenn ich mein Wort nicht halte. Ich habe Ihnen diese Erklärung mitgebracht, unterschrieben und von meinem Anwalt gegengezeichnet.«

»Und was hat Dr. Brink gesagt?«, fragte Arnold Heltcamp.

»Dass ihm so was noch nie unter die Finger gekommen ist«, erwiderte Patrick mit einem flüchtigen Lächeln. »Aber es ist ja auch ein ganz besonderer Fall.«

*

Es war wohl ein ganz besonderer Fall. Schwarz auf weiß konnte Arnold Heltcamp lesen, dass im Fall von Patricks Tod sein gesamtes Vermögen an Anja fallen sollte. Dasselbe sollte auch geschehen, falls er Anja heiraten und die Verbindung aus irgendeinem Grund nicht gutgehen würde. Patrick machte nur zur Bedingung, dass darüber Stillschweigen bewahrt werden sollte, und Arnold Heltcamps Wort darauf war ihm Garantie genug. Ein fester Händedruck besiegelte dies.

Patrick besuchte Anja jeden Tag in der Klinik, und die Heltcamps waren darauf bedacht, dass sie ungestört blieben.

Neles Vater war im Familiengrab beigesetzt worden. Auch diesen schweren Weg musste Nele nicht allein gehen. Sie konnte es noch immer nicht begreifen, dass sie in all dem Unglück Menschen gefunden hatte, die mit ihr fühlten. Sie brauchte sich um nichts zu kümmern, und später hätte sie nicht mehr zu sagen gewusst, wie sie alles allein hätte bewältigen sollen, denn auch die Wohnung, die ihnen längst gekündigt worden war, musste geräumt werden. Bei dem Hausbesitzer hätte sie nicht das geringste Verständnis gefunden, obwohl der einlenken wollte, als Arnold Heltcamp in Erscheinung trat. Aber da war längst beschlossen, dass Nele mit Anja einige Wochen in der Provence verbringen und dann im Haus Heltcamp ein neues Zuhause finden sollte.

Was zwischen Arnold Heltcamp und Patrick Heym gesprochen worden war, erfuhr Anja nicht. Arnold und Agnes Heltcamp spürten jedoch, dass Anja der Abschied von Patrick genauso schwerfiel wie Uwe der Abschied von Nele, als sie mit den beiden Mädchen die Reise in die Provence antraten. Doch auch darüber verloren sie kein Wort.

Das Haus in der Provence war märchenhaft schön. Und am allerschönsten war es, dass sie von Lena empfangen wurden, die von Patrick einige Tage zuvor dorthin gebracht worden war, damit es ihnen wirklich an nichts fehlen sollte. Allerdings hatte er Lena reinen Wein einschenken müssen, denn sonst wäre sie um nichts in der Welt in das fremde Land gefahren, dessen Sprache sie nicht verstand.

Vierzehn Tage ließen sich Arnold und Agnes Heltcamp auch von Lena verwöhnen, bevor sie die Heimreise antraten. Es war der schönste Urlaub in ihrem bisherigen Leben gewesen, wie sie der treuen Seele beim Abschied versicherten.

»Das könnte oft so sein«, versicherte Lena verschmitzt. »Es ist doch schade, wenn das Haus leer steht. Mir kann es nur recht sein, wenn alles Leben bekommt.«

»Passen Sie gut auf die Mädchen auf«, bat Agnes.

»Mach dir keine Sorgen, Mami«, beruhigte Anja die besorgte Mutter, »wir ziehen uns gegenseitig empor. Schön wäre es gewesen, wenn du noch geblieben wärest, aber du kannst Papa ja nicht allein lassen, ihr haltet es ja ohne einander nicht aus.«

»Und was soll ich Uwe und Patrick berichten?«

»Dass es wunderschön ist«, erwiderten Anja und Nele wie aus einem Mund, »aber sie rufen ja sowieso jeden Tag an.«

Aber dann, nach weiteren vier Wochen, kam ein Tag, an dem die jungen Männer nicht anriefen.

Abwechselnd gingen die Mädchen zum Telefon, während Lena mit unergründlichem Lächeln in der Küche herumwirtschaftete.

»Die Leitung ist nicht gestört«, sagte Anja.

»Vielleicht ist sie überlastet, das passiert manchmal. Es ist jetzt Urlaubszeit, da telefonieren die Leute mehr ins Ausland«, meinte Nele.

»Ich rufe jetzt zu Hause an«, meinte Anja. »Es wird doch nichts passiert sein?«

»Es ist nichts passiert«, rief Lena aus der Küche. »Sie kommen!«

»Sie kommen!«, rief Anja jubelnd aus, als sie hörte, dass draußen ein Wagen bremste. Und dann liefen sie beide hinaus, so jung, so voller Freude, dass Lena gleich die Tränen kamen.

»Uwe!«, rief Nele, und schon lief sie ihm entgegen.

Anjas Herz klopfte so stürmisch, dass sie keinen Laut über die Lippen brachte, als Patrick ihr mit ausgestreckten Händen entgegenkam.

»Anja«, sagte er zärtlich, »meine Anja!«

Sie umarmten sich lange, während Uwe und Nele schon bei Lena in der Küche waren. Dann legte Patrick seine Hände um Anjas Gesicht.

»Ich liebe dich«, flüsterte er.

»Ich weiß es, und ich glaube an unsere Liebe«, erwiderte sie. Und als er sie küsste, dachte sie an nichts mehr als an diesen Mann.

»Was hast du aus dem Spatzen gemacht, Lena?«, fragte Uwe indessen mit strahlendem Lächeln. »Jetzt wagt man ja, sie richtig in den Arm zu nehmen.« Damit meinte er Nele, die sich gern in den Arm nehmen ließ.

»Ich habe nur fürs Essen gesorgt«, sagte Lena schmunzelnd. »Was sonst dazu beigetragen hat, dass sie beide so schön sind, weiß ich nicht.«

»Ich bin nicht schön, und ich will auch nie schön sein«, widersprach Nele.

»O doch, du bist schön«, sagte Uwe, »für mich bist du die Schönste, Nele.« Und dann küsste er sie vor Lenas Augen.

»Sag lieber, die Liebste«, flüsterte Nele.

»Die Einzige«, fügte er hinzu.

Gar zu gern hätte Lena ja gewusst, was Patrick und Anja sich zu sagen hatten, aber sie ahnte es, da sich die beiden so lange nicht blicken ließen.

»Was habt ihr denn die ganze Zeit getrieben, Uwe?«, fragte sie.

»Gearbeitet haben wir, Lena. Was meinst du denn? Und Patrick hat ein anderes Haus eingerichtet.«

»Hat er? Na, wenn nur in der Küche alles am gleichen Platz steht«, brummelte sie in sich hinein.

»Darauf hat er schon geachtet«, meinte Uwe lächelnd. »Mit dir will er es sich ja nicht verderben.«

»Wird schon recht sein. Aber jetzt könntet ihr euch zu Tisch setzen. Die Mädchen haben ja nichts gegessen, weil ihr nicht zur rechten Zeit angerufen habt.«

*

Einige Monate später, als in heimatlichen Gefilden schon der erste Schnee gefallen war, saßen sie an einer noch weitaus festlicheren Tafel.

An diesem Tag hatte Lena nicht kochen müssen. Doch sie hatte überhaupt keinen Hunger, so glücklich war sie, denn es war der Tag, an dem Anja Patrick Heyms Frau geworden war und Uwe Verlobung mit Nele feierte.

»Bis dass der Tod euch scheidet«, hatte der Pfarrer gesagt, wie Patrick es gewünscht hatte, und für Lena war dies das höchste aller Gefühle.

Agnes ließ ihres Mannes Hand nicht los. »Ich werde erst ganz glücklich sein, wenn wir ein Enkelchen im Arm halten können, Arnold«, flüsterte sie. »Patrick behandelt Anja wie ein rohes Ei.«

»Bin ich nicht so mit dir umgegangen?«, fragte Arnold Heltcamp.

»Ich kann mich erinnern, dass du ziemlich stürmisch warst. Genauso, wie Uwe mit Nele umgeht.«

»Das ist auch was anderes«, erwiderte er. »Bei den beiden ist es genauso wie bei uns. Wir haben noch eine Tochter bekommen.«

»Als Ausgleich, denn von Anja werden wir nicht mehr viel haben. Patrick will sie ganz für sich.«

»Bis sich alles eingependelt hat«, meinte Arnold gelassen. »Bis wir Großeltern sind. Er ist viel zu gutmütig, als dass er uns an diesem Glück nicht teilhaben lassen würde.«

Lange brauchen sie darauf nicht zu warten. Nur achtzehn Monate, aber die Hälfte davon war schon freudige Erwartung. Und vorher hatten auch Uwe und Nele schon geheiratet. Bei ihnen kündigte sich schon sehr bald Nachwuchs an.

Dr. Laurin wurde ganz hübsch in Atem gehalten, aber mehr von Patrick und den Großeltern als von den werdenden Müttern.

Dennoch atmeten alle auf, als Anja an einem drückend heißen Julitag einem gesunden Sohn das Leben schenkte. Schwester Marie machte gleich drei rote Sternchen hinter diesem Datum. Patrick Heym junior, der mehr als sieben Pfund auf die Waage brachte, ließ seine kräftige Stimme ertönen, und er beruhigte sich erst, als er seinem Vater in den Arm gelegt wurde.

Lena stand daneben, starr vor Staunen, als Patrick mit zärtlicher Stimme auf das Baby einredete.

»Du weißt, dass ich dein Vater bin, mein Sohn, und ich liebe dich. Aber deine Mutter liebe ich noch mehr, und das wird so bleiben fürs ganze Leben. Und jetzt bist du brav, damit deine Mami schlafen kann.«

Der kleine Patrick gab nur ein zufriedenes Tönchen von sich, als er auch ein Weilchen in Anjas Arm ruhen durfte. Der große Patrick betrachtete beide mit unendlich zärtlichen Blicken, und die gute Lena zerdrückte draußen vor der Tür ein paar Tränen der Rührung, wie auch Agnes Heltcamp.

Arnold machte die Tür leise wieder zu, als Patrick seine Anja in die Arme nahm und innig küsste.

»Nun ist alles gut, Liebste«, sagte Arnold Heltcamp mit bewegter Stimme zu seiner Frau. »Wir werden gewiss noch einige Enkelkinder bekommen.«

Dr. Laurin Staffel 17 – Arztroman

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