Читать книгу Chefarzt Dr. Norden Staffel 5 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 6

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»Was hältst du davon, Enzo heute Mittag wieder einmal einen Besuch abzustatten? Das haben wir schon ewig nicht mehr gemacht.« Gemeinsam mit seiner Frau stand Dr. Daniel Norden am Tresen in der Lobby der Behnisch-Klinik und wartete auf seine Post.

Sofort hatte Felicitas ein Bild vor Augen. Glückliche Menschen, die sich über Teller mit Spaghetti beugten.

Enzo, der mit glühenden Wangen am Pizzaofen stand und seine Gäste mit seiner guten Laune unterhielt. Ein Glas Wein, das im Kerzenlicht schimmerte. Ein Besuch bei Enzo war immer ein bisschen so wie Urlaub.

Sie seufzte.

»Verlockender Gedanke. Wenn mir meine kleinen Patienten keinen Strich durch die Rechnung machen, bin ich dabei.«

Ein Quietschen hinter ihr ließ sie herumfahren.

»Sorry.« Der Kollege Aydin hatte seinen Rollstuhl nur wenige Zentimeter hinter ihr zum Stehen gebracht. »Ich habe Sie nicht gesehen.«

Daniel zog Fee zu sich.

»Ich weiß, dass meine Frau schlank ist. Aber so dünn ist sie nun auch wieder nicht.«

Ein prüfender Blick.

»Was ist los mit Ihnen? So grimmig habe ich Sie noch nie gesehen.« Seine Mitarbeiter waren das wichtigste Kapital des Klinikchefs. Ihr Wohlergehen stand weit oben auf der Prioritätenliste. »Ist etwas passiert?«

»Wie man es nimmt.« Dr. Aydin streckte sich nach den Unterlagen, die die Schwester ihm ungefragt, dafür aber mit einem süßen Lächeln, reichte.

Wieder einmal konnte Dr. Norden nur staunen. Was hatte dieser Mann nur an sich, dass die Frauen in seiner Nähe dahinschmolzen wie Eis in der Sonne? Sogar dann, wenn er schlechte Laune hatte.

»Mein Wecker hat nicht geklingelt. Die Heizung in meiner Wohnung streikt und die Kaffeemaschine ist explodiert. Alles in allem also ein gelungener Start in den Tag.« Achtlos warf Aydin die Akten in den Schoß und wendete den Rollstuhl.

Mit einem Kuss verabschiedete sich Daniel von seiner Frau. Dann nahm er die Verfolgung seines Mitarbeiters auf.

»Warum nehmen Sie nicht ein paar Tage frei und erholen sich? Wenn ich das im Dienstplan richtig gesehen habe, wird es höchste Zeit für eine Auszeit.«

Milan drosselte das Tempo. Sein Gesicht wirkte schon nicht mehr ganz so verkniffen.

»Ein freier Abend? Ist das Ihr Ernst?«

»Lieber zwei.«

»Noch besser.« Die feine Haut um Milan Aydins Augen kräuselte sich. »Das schreit förmlich nach einem romantischen Dinner zu zweit. Ich könnte Laura einladen. Oder wie wäre es mit Katja? Silvie habe ich auch schon lange nicht mehr gesehen.«

Die beiden Ärzte machten vor dem Aufzug Halt. Daniel lachte.

»Wer die Wahl hat, hat die Qual.«

»Was würden Sie denn an meiner Stelle tun?« Milan schickte einen schrägen Blick hinauf. »Die rassige Laura? Katja aus dem Labor? Oder der Schöngeist Silvie?«

»An Ihrer Stelle würde ich eine Pizza vom Lieferservice kommen lassen, die Füße hochlegen und einen Krimi im Fernsehen anschauen. Dazu eine Flasche Bier. Oder ein schönes Glas Wein …«

Die Aufzugtüren schoben sich auf. Milan ließ dem Chef den Vortritt.

»Ich sehe schon, wir haben sehr unterschiedliche Vorstellungen von einem entspannten Abend.« Die Aussicht auf ein paar freie Tage hatte die Falten gänzlich aus seinem Gesicht getilgt. Übrig blieb das spitzbübische Grinsen, mit dem er seine Umwelt im Normalfall beglückte. Der beste Beweis für Daniel, dass er mit seinem Vorschlag ins Schwarze getroffen hatte.

»Jedem das Seine«, erwiderte er belustigt. »Hauptsache, Sie kommen auf andere Gedanken und kehren gut erholt an Ihren Arbeitsplatz zurück.« Er nickte zum Gruß und trat aus dem Fahrstuhl.

»Darauf können Sie Gift nehmen«, rief Milan ihm nach. »Ach ja, und danke, Chef!«

*

Nach einem Kälteeinbruch vor ein paar Wochen hatte sich der Winter wieder zurückgezogen. Auch an diesem Vormittag herrschten Pullovertemperaturen. Am Himmel spielte die Sonne mit den Wolken Verstecken. Perfekte Bedingungen, um den Junggesellenabschied draußen zu begehen.

»Vorsichtig!« Moritz Loibl hielt seinen besten Freund Vincent am Arm fest. »Gleich hast du es geschafft.« Sehr zur Freude der Zuschauer führte er den Bräutigam Stufe um Stufe die schräg gestellte Leiter hinauf.

Immer mehr Zaungäste versammelten sich rund um die Mariensäule auf dem Münchner Marienplatz. Eine willkommene Abwechslung auf dem Weg zum Einkaufen oder zu einem Kundentermin. Touristen zückten Fotoapparate, um das ungewöhnliche Schauspiel festzuhalten.

»Wie weit ist es noch?«

Das Sprungtuch flatterte leise im Wind. Alle ahnten, was gleich passieren würde. Nur nicht der Mann mit den verbundenen Augen.

»Noch eine Stufe, dann bist du oben.« Moritz kletterte zuerst auf die Balustrade.

»Und wo ist oben?« Vincents Stimme klang dumpf unter dem Tuch, das die Hälfte seines Gesichts bedeckte. Mit der rechten Hand klammerte er sich an seinem Freund fest. Den linken Arm streckte er von sich, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Er schwankte wie eine Tanne im Wind.

Moritz blickte hinab in die erwartungsvollen Gesichter. Aber was war das? Warum wurde ihm plötzlich schlecht? Er hatte doch sonst kein Problem mit Höhe. Mal abgesehen davon, dass die Balustrade höchstens einen Meter hoch war. Er atmete ein paar Mal ein und aus. Nur jetzt nicht schwach werden! Dieser Tag gehörte seinem besten Freund. Nur ihm allein. Er legte den Arm um Vincents Schultern.

»Wir befinden uns auf dem Bungee Kran der Olympia Ruderregattastrecke. Gleich wirst du dich 50 Meter tief ins Wasser stürzen.«

»Bei diesen Temperaturen?« Vincents Ton ließ keinen Zweifel daran, was er von der Aktion hielt. »Seid ihr völlig übergeschnappt? Ihr habt mir versprochen, dass ihr es nicht zu bunt treibt.«

»Worüber regst du dich auf? Das ist nur ein kleiner Vorgeschmack auf die Gräuel, die dich in deiner Ehe mit Fabienne erwarten«, prophezeite Moritz, sehr zum Vergnügen seiner Freunde. »Auf drei wirst du springen. Bist du bereit?«

»Nein.« Mit verbundenen Augen starrte Vince hinab in die vermeintliche Tiefe. »Aber ich fürchte, ich habe keine Wahl.«

Moritz presste die Hand auf den Brustkorb.

»Stimmt auffallend«, keuchte er. »Machs gut, alter Junge.« Nur jetzt nicht schlapp machen! »Drei, zwei, eins!«

Mit einem Schrei stürzte sich Vincent in die Tiefe. Moritz stand oben. Sah, wie die Freunde den Bräutigam auffingen. Hörte das Kreischen und Johlen. Plötzlich wurden die Geräusche leiser. Das Bild vor seinen Augen verschwamm, bis es ganz erlosch. Als hätte jemand den Stecker aus einem Fernsehgerät gezogen.

*

Elena Rauch, Pflegedienstleitung an der Behnisch-Klinik, saß im Schwesternzimmer und brütete über dem Therapieplan eines Patienten, als ihre Freundin Fee gut gelaunt herein wirbelte. Sie hatte extra einen Umweg in Kauf genommen, um Elena zu überraschen.

»Schau mal, was ich uns Schönes aus Tatjanas Bäckerei mitgebracht habe!« Sie trat hinter Elena und hielt ihr eine Tüte unter die Nase. »Drei Mal darfst du raten, was drin ist.«

»Bienenstich. Bienenstich. Bienenstich.«

»Huh.« Fee richtete sich auf. Das Lächeln auf ihren Lippen verblasste. »Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?«

»Eine Laus namens Eric.« Ein Schubs mit den Füßen und der Stuhl drehte sich herum.

Felicitas erschrak.

»Du siehst aus wie ein Gespenst.«

»Ich fühle mich auch so.« Elena seufzte. »Eric sei Dank.«

Die Tüte mit den Leckereien landete auf dem Tisch. Fee zog sich einen Stuhl heran.

»Ich dachte, ihr hättet eine Lösung für euer Problem gefunden.«

»Das dachte ich auch.« Elena kratzte an einem unsichtbaren Fleck auf ihrem Kittel. »Aber als ich gestern – wohlgemerkt pünktlich – nach Hause gekommen bin, ging es schon wieder los. Er wolle keine Geschichten aus der Klinik mehr hören. Außerdem warf er mir vor, dass ich ihm nicht zuhören, mich nicht mehr für ihn interessieren würde.«

»Und? Stimmt das?«

Elena sah nicht hoch. Mit gesenktem Kopf saß sie da und starrte Löcher in den Kittel.

»Nur, weil ich nicht weiß, an welchem Gebäude sie gerade arbeiten, heißt das doch noch lange nicht, dass er mir egal ist«, platzte sie heraus. »Oder findest du auch, dass das ein Grund ist, unsere komplette Ehe in Frage zu stellen?«

Fee zog es vor, sich in eine Gegenfrage zu retten.

»Was ist denn deiner Ansicht nach wichtig in einer Beziehung?«

»Liebe« erwiderte Elena ohne Zögern. »Aber selbst darin sind Eric und ich uns nicht mehr einig. Ich verstehe überhaupt nicht …«

Auf dem Flur näherten sich Schritte. Fee wartete, bis sie vorüber waren. Doch sie gingen nicht etwa vorbei.

»Wow, noch mehr krasse Bräute!« Ein Mann steckte den Kopf durch die Tür. Schwarze Locken, griechisches Profil, glühende Kohleaugen. Er wirbelte herein. Verbeugte sich, als wollte er mit seinem bunten Schal den Boden wischen. »Kein Wunder, dass mein Bruderherz quasi in der Klinik wohnt.«

»Ihr Bruder?«, platzte Fee heraus. Das konnte eigentlich nur einer sein.

Obwohl sie Milan Aydin noch nie in zerrissener Jeans, ausgeleiertem Pullover und buntem Schal gesehen hatte, stach die Ähnlichkeit ins Auge.

»Sie meinen nicht etwa Dr. Aydin?« Elena schien den gleichen Gedanken gehabt zu haben.

Der Fremde strahlte sie an, als wäre sie die Frau seines Lebens.

»Deniz Aydin«, stellte er sich vor. »Milan ist mein älterer Bruder. Aber pssst.« Er legte den Zeigefinger auf die vollen Lippen. Seine Augen blitzten vor Vergnügen. »Ich will ihn überraschen. Wissen Sie, wo er steckt? Ich habe schon die halbe Klinik abgeklappert.«

Elena und Felicitas konnten die Augen nicht von Deniz wenden. Er bemerkte es und lachte.

»Oh, ich weiß, was Sie jetzt denken. Aber glauben Sie mir: Milan war nicht immer so ein Schnösel wie jetzt.« Sein Blick fiel auf die Tüte auf dem Schreibtisch. Eine Quarktasche lugte heraus. »Darf ich? Ich habe seit gestern nichts gegessen.« Zeit für eine Antwort ließ er den beiden Frauen nicht. Papier raschelte. Im nächsten Moment regneten Brösel auf den Boden. »Hmmm. Lecker.« Deniz leckte sich einen Klecks Zuckerguss aus dem Mundwinkel. »Früher war mein Bruderherz ein richtiger Hippie. Glaubt ihr mir nicht, was?«

Die beiden Freundinnen tauschten Blicke.

»Schwer vorstellbar«, sprach Elena das laut aus, was Fee dachte.

»Hat er euch nie von seiner Zeit als Straßenkünstler erzählt? Aber ich weiß schon.« Er winkte ab. »Die Feuerspucker-Nummer macht er nur, wenn er vier, fünf Bier intus hat.«

Ein schrilles Quietschen zerriss die Luft. Milan rollte durch die Tür. Er war auf dem Weg zu einem Patienten gewesen, als die Wortfetzen über den Flur wehten.

»Deniz? Was machst du denn hier?« Freude sah anders aus.

»Bruderherz! Da bist du ja!« Deniz stopfte den Rest der Quarktasche in den Mund, beugte sich hinunter und presste Milan an sich. »If wollte den Füfen hier gerade erfählen, wie …«

»Man spricht nicht mit vollem Mund!« Mit Gewalt befreite sich Milan aus der Umarmung.

Deniz schluckte brav.

»Ich wollte den beiden Süßen hier gerade erzählen, wie wir splitterfasernackt im Freibad …«

»Das interessiert die beiden Damen mit Sicherheit nicht«, fiel Milan seinem kleinen Bruder wütend ins Wort.

Fee überlegte nicht lange.

»Also, ich würde die Geschichte schon gern hören«, erwiderte sie. Sie stieß Elena in die Seite. Wenn das nicht genau die richtige Therapie gegen Liebeskummer war!

»Das kommt überhaupt nicht in Frage.« Milan packte seinen Bruder am Arm. »Komm! Wir gehen!«

»Tut mir leid, Schatzis.« Deniz konnte gerade noch winken, ehe Milan ihn aus dem Schwesternzimmer zerrte.

»Bist du total übergeschnappt?«, zischte der Neurochirurg auf der Suche nach einem Zimmer, in dem sie ihre Ruhe hatten.

Mit einem Ruck machte sich Deniz los und blieb stehen.

»Meine Güte! Immer noch derselbe Spießer!« Er machte ein Gesicht, als litte sein Bruder an einer unheilbaren Krankheit. »Hallo erst einmal. Ich freue mich auch, dich zu sehen.«

»Ja, ja, schon gut.« Milan Aydin packte die Greifräder und schob an.

Kurz bevor er um die Ecke verschwand, nahm Deniz die Verfolgung auf. Sein Blick glitt über die großformatigen Fotos an den Wänden. Die indirekte Beleuchtung. Den Vinylboden in Schiffsoptik.

»Cooler Schuppen hier«, keuchte er.

»Stimmt. Eine angenehme Arbeitsatmosphäre.« Ein Handgriff, und der Rollstuhl driftete um die Ecke.

»Jetzt bleib doch mal stehen!«, rief Deniz seinem Bruder nach. »Ich habe dir auch was mitgebracht.« Wieder holte er Milan ein. Seine Hand verschwand in der Tasche. Zog und zerrte, ehe er ein T-Shirt ans Tageslicht beförderte. »Na, wie gefällt’s dir? Selbstgemacht. Das ist gar nicht so schwer«, erklärte er atemlos. »Du brauchst nur Computer und Drucker, ein Transferpapier und ein Bügeleisen. Wenn du willst, zeige ich es dir.«

Endlich tat Milan ihm den Gefallen und hielt an. Er betrachtete die weiße Silhouette eines Cannabisblattes auf dem schwarzen Stoff.

»Bist du völlig übergeschnappt?« Er riss Deniz das Shirt aus der Hand und stopfte es sich in den Rücken. »Was sollen die Kollegen von mir denken, wenn sie das sehen?«

Statt einer Antwort legte Deniz den Kopf in den Nacken und lachte los.

»Dich zu besuchen, war die beste Idee seit Jahren. Wir werden eine Menge Spaß haben.«

Dasselbe befürchtete Milan auch. Er presste die Lippen aufeinander und fuhr weiter.

*

Das Martinshorn verhallte im Hof der Behnisch-Klinik. Bremsen quietschten. Wenige Augenblicke später sprang Dr. Erwin Huber aus dem Rettungswagen. Er lief um das Fahrzeug herum und riss die Türen auf.

»Moritz Loibl, 32 Jahre alt. Sturz nach Bewusstlosigkeit. Verdacht auf Unterschenkelfraktur. Seit er wieder zu sich gekommen ist, kämpft er zudem mit Atemnot.« Während er seinen Kollegen Dr. Matthias Weigand mit den nötigen Informationen versorgte, schoss ein schwarzer Wagen haarscharf um die Ecke der Notaufnahme. Einen Moment lang waren die beiden Ärzte abgelenkt. Sie starrten den Fahrer an, der aus dem Auto sprang.

»Wie geht es Moritz? Ist er wieder bei Bewusstsein? Was ist mit seinem Bein?«

»Parken Sie den Wagen erst einmal anständig auf dem Besucherparkplatz und stellen Sie den Motor ab. Dann reden wir weiter.« Matthias wandte sich ab und verschwand mit dem Kollegen Huber und der Transportliege in der Ambulanz.

»Ich krieg keine Luft«, japste Moritz auf dem Weg in die Schockbox. Die Sauerstoffmaske war verrutscht.

Dr. Huber rückte sie wieder an ihren Platz.

»Atmen Sie ruhig und gleichmäßig.« Dr. Weigand signierte das Protokoll, das der Kollege ihm hinhielt. Dann gehörte seine ganze Aufmerksamkeit dem Patienten. »So ist es gut.«

Ledersohlen klapperten auf dem Boden.

»Moritz ist in der Fußgängerzone zusammengebrochen und von der Balustrade gestürzt«, keuchte die Stimme von vorhin. So schnell hatte Matthias den Besucher nicht zurückerwartet.

»Wer sind Sie?«

»Wie? Was?« Vincent stemmte die Hände in die Hüften. Seine Brust hob und senkte sich stoßweise. Es dauerte einen Moment, bis er weitersprechen konnte. »Ach so. Ja. Natürlich. Vincent Trautmann. Moritz ist mein bester Freund. Mein Trauzeuge.« Er starrte auf Moritz, der noch immer verzweifelt nach Luft rang. »Was ist mit ihm?«

Ein schneller Blick auf das Protokoll.

»Vermutlich ein Herzinfarkt.« Dr. Weigand trat an die Seite seines Patienten und machte sich an die Arbeit.

Vince riss die Augen auf.

»Wie? Ein Herzinfarkt? Aber er ist doch noch so jung.«

»Trotzdem ist es möglich, schon im zarten Alter von 20 Jahren einen Herzinfarkt zu erleiden.« Eine Elektrode nach der anderen fand ihren Platz auf Moritz’ Brust. »Ein Grund dafür kann die frühzeitige Entstehung einer Arteriosklerose sein.«

»Aha.«

»Bevor wir uns aber irgendwelchen Spekulationen hingeben, schreiben wir ein EKG. Danach wissen wir mehr.« Matthias schaltete das Gerät ein.

Matthias erinnerte sich gut daran, als er zum ersten Mal bei einem EKG zugesehen hatte. Besonders fasziniert hatte ihn die Nadel, die leise ratternd über den Streifen Papier gesaust und die Ausschläge aufgezeichnet hatte. Damals war er noch ein Kind gewesen. Heute ratterte nichts mehr. Und auch die Nadel gehörte längst der Vergangenheit an.

Lautlos schob sich der Streifen Papier aus dem Drucker. Das einzige Geräusch war Vincents Schuhspitze, die unablässig auf den Boden tappte.

»Und? Sehen Sie schon was?«, fragte er nach einer Weile.

Dr. Weigand sah hinüber zu seinem Patienten. Die Sauerstoffgabe zeigte Wirkung. Moritz hatte sich inzwischen beruhigt. Er verstand die stumme Frage des Arztes und blinzelte eine stumme Zustimmung. Matthias betrachtete die Aufzeichnungen. Er wiegte den Kopf.

»Das EKG zeigt nur eine dezente ST-Hebung.«

»Wie bitte?«

Der Notarzt unterdrückte ein Seufzen. Natürlich verstand er, dass die Angehörigen informiert sein wollten. Aber dass er jede noch so kleine Bemerkung übersetzen musste, war manchmal anstrengend.

»Die ST-Hebung ist ein bestimmtes Muster im EKG. Sie spiegelt die Veränderung der Stromfrequenz wieder, die ein Infarkt im Herzen auslöst.«

»Also doch kein Herzinfarkt?«

Wenigstens dachte der Bräutigam mit.

»Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen«, erwiderte Matthias. »Wir haben nämlich einen dritten Herzton, der durchaus ein Anzeichen für einen Infarkt sein kann. Um Gewissheit zu bekommen, machen wir einen Herzultraschall und eine Blutuntersuchung.« Er wandte sich an seinen Patienten. »Danach wissen wir, was mit Ihnen los ist.« Er nickte den beiden Männern zu, ehe er hinüber zur Schwester ging, um seine Anweisungen weiterzugeben.

*

»Mein Privatleben ist Verschlusssache. Das geht niemanden etwas an. Schon gar nicht die Kollegen in der Klinik.« Krachend fiel die Tür des Aufenthaltsraums hinter Milan Aydin ins Schloss. Wenigstens in dieser Hinsicht war ihm das Schicksal gnädig gestimmt. Das Zimmer war leer und würde es hoffentlich noch so lange bleiben, bis er seinem Bruder die Leviten gelesen hatte.

Deniz durchquerte in aller Seelenruhe den Raum. Öffnete das Fenster und sah hinunter auf den Platz vor der Klinik. Dort unten herrschte ein reges Kommen und Gehen. Der Anblick erinnerte ihn an den Hauptbahnhof. Menschen mit Rollkoffern und Reisetaschen strebten auf die Glastüren zu. Ein Paketbote zog einen vollbeladenen Wagen hinter sich her. Doch auch ganz normale Passanten überquerten den Platz. Deniz überlegte nicht lange. Er öffnete den Fensterflügel weiter und beugte sich hinaus.

»Hey, Leute! Dr. Aydin war nicht immer so spießig wie jetzt!« Seine Stimme hallte durch die Luft.

Die Menschen unten blieben stehen. Sahen sich suchend um.

Milan fiel fast in Ohnmacht.

»Bist du total übergesch …« Mitten im Satz hielt er inne. »Ach, was will ich überhaupt?« Er winkte ab. »Ein Mann, der mit dreißig Jahren noch T-Shirts bedruckt, ist nicht zurechnungsfähig.«

»Aber der Herr Neurochirurg hat natürlich die Weisheit mit Löffeln gefressen.« Deniz drehte sich um und musterte seinen Bruder. »Ist dir schon zu Ohren gekommen, dass Vielwisserei noch lange nicht Verstand bedeutet?«

»Verschone mich mit deinen Kalendersprüchen!«

»Und meine T-Shirts werden der Renner. Du wirst schon sehen.«

Milan saß im Rollstuhl vor seinem Bruder und musterte ihn von oben bis unten. Langsam schüttelte er den Kopf.

»Deniz, wann wirst du endlich erwachsen? Wann suchst du dir endlich einen richtigen Job? Nimm dir ein Beispiel an mir. Obwohl ich ein Krüppel bin, habe ich es geschafft.«

Deniz lächelte.

»Entspann dich, Mil! Ich bin nicht gekommen, um mir anzuhören, wie genial du bist. Eigentlich wollte ich nur ein bisschen Spaß mit dir haben, in Erinnerungen schwelgen, die Stadt unsicher machen. Solche Sachen.«

Milans rechter Mundwinkel wanderte ein Stück hoch.

»Und warum bist du wirklich hier?«

Schweigen. Deniz presste die Lippen aufeinander. Sah sich um und ließ sich schließlich auf einen der Stühle am Tisch fallen.

»Samantha hat mich verlassen.« Er nahm einen Keks vom Teller. Bevor Milan ihn warnen konnte, kaute er schon darauf herum. Verzog das Gesicht. »Wo habt ihr denn die Dinger her? Da schmeckt ja Sams Kuchen besser. Und die kann überhaupt nicht backen.«

»Restbestände vom alten Verwaltungschef«, erwiderte Milan knapp. »Samantha … Samantha … ist das nicht die Wünschelrutengängerin?«

Deniz’ schwarze Locken flogen hin und her.

»Das war Christa. Samantha verkauft Handarbeiten auf Märkten. Blumenampeln aus Makramee, gehäkelte Einkaufsnetze, solche Sachen.«

Milan Aydin schnalzte mit der Zunge.

»Du und deine Frauen.«

»Tu doch nicht so! Gut, du schleppst wahrscheinlich Ärztinnen und Unternehmerinnen ab. Trotzdem läuft es bei dir auch nicht besser.« Deniz fuhr sich durch die Mähne. Er konnte schon wieder lächeln. »Deshalb dachte ich, ich bleibe ein paar Tage bei dir. Dann können wir uns gegenseitig trösten.«

Milans Kehle wurde trocken.

»Nette Idee«, erwiderte er lahm. »Was meinst du genau mit ›ein paar Tage‹?«

»Keine Ahnung.« Inzwischen strahlte Deniz wieder von einem Ohr bis zum anderen. »Bekomme ich deinen Wohnungsschlüssel?«

Schon als Junge hatte er seinen großen Bruder um den kleinen Finger gewickelt. Hatte ihm das größte Spielzeugauto und die roten Gummibärchen abgeschwatzt. Wirkte sein Charme immer noch?

Der Schlüssel klimperte, als Milan ihn aus der Tasche zog. Laura, Katja und Silvie mussten wohl oder übel warten. Na ja, wenigstens steigerte das seine Attraktivität. Diese Erfahrung hatte Milan inzwischen mehr als ein Mal gemacht. Getreu dem Motto ›Willst du was gelten, mach dich selten.‹ Sonst wäre ihm die Entscheidung wohl nicht so leicht gefallen.

»Also schön«, gab er sich geschlagen. »Bleib, solange du willst. Unter einer Bedingung.«

»Alles, was du willst, Bruderherz.«

»Du lässt dich nicht in der Klinik blicken. Versprochen?«

Deniz schnappte nach dem Schlüssel und stand auf.

»Wir sehen uns später, Mil.«

*

Die Vene in der Armbeuge schimmerte bläulich und wölbte sich. Wie eine Schlange!, ging es Moritz durch den Sinn. Dr. Weigand war mit dem Ergebnis seiner Bemühungen zufrieden. Er versenkte die Nadel unter der Haut. Während sich das erste Röhrchen mit Blut füllte, öffnete er den Stauschlauch.

»Sie können die Faust jetzt öffnen.«

Moritz wackelte mit den Fingern. Er lächelte hinüber zu seinem Freund Vincent.

»Siehst du, sogar das Blutabnehmen habe ich ohne Ohnmachtsanfall überstanden. Du kannst wirklich zurück zu den anderen gehen. Schließlich feiert man nicht jeden Tag seinen Junggesellenabschied.«

Vincent stemmte die Hände in die Hüften. Er machte ein paar Schritte. Kehrte an die Behandlungsliege zurück.

»Vergiss den Junggesellenabschied. Du bist doch viel wichtiger als diese alberne Veranstaltung.« Ein Blick hinüber zu Dr. Weigand. Das letzte Röhrchen war gefüllt. »Haben Sie schon eine Erklärung für Moritz’ Herzinfarkt?«

»Wie vorhin schon erwähnt, kann eine erbliche Vorbelastung dafür verantwortlich sein. Als weiterer Grund kommt ein bisher unentdeckter Herzfehler in Frage.« Matthias drückte einen Tupfer auf die Einstichstelle und zog die Nadel heraus. »Oder Spasmen. Gerade in ungewöhnlichen Situationen kann sich ein Herzkranzgefäß verkrampfen.« Dr. Weigand schickte die Schwester mit den Blutproben ins Labor. Dann nahm er noch einmal die Ausdrucke zur Hand, die er während der Ultraschalluntersuchung gemacht hatte.

Zu Beginn seiner Ausbildung war es ihm wie allen anderen Menschen ergangen. Er hätte genausogut in einen wolkenverhangenen Himmel starren können. Erst mit der Zeit und vielen Kursen war es ihm gelungen, einen Gallenstein zu identifizieren. Er wusste, wie eine Gefäßverengung im Hirn aussah und erkannte die Strukturen einer Fettleber.

»Im Ultraschall ist nichts Auffälliges zu sehen. Keine Veränderung der Herzkammern. Auch Wandbewegungsstörungen konnte ich keine erkennen.«

Moritz nickte seinem Freund zu.

»Siehst du, du musst dir keine Sorgen machen. Also ab mit dir auf deine Party.«

»Vergiss es! Ich gehe erst, wenn ich weiß, was mit dir los ist.«

Matthias Weigand steckte die Bilder zu den anderen Unterlagen in die Akte.

»Dann können wir uns jetzt guten Gewissens der anderen Baustelle widmen.« Er rollte ans Fußende der Liege. »Zähne zusammenbeißen. Jetzt tut es wahrscheinlich ein bisschen weh.« Er legte Hand an.

»Neigen Sie immer zu Untertreibungen?«, stöhnte Moritz.

Matthias stopfte den Socken in den Turnschuh und beförderte beides auf den Boden. Er bewegte den Patientenfuß hin und her. Moritz zischte wie eine Schlange. Der Arzt nickte.

»Dachte ich es mir doch. Es knirscht.«

»Und was heißt das?«

»Eine Krepitation ist ein hör- und fühlbares Knistergeräusch, das entsteht, wenn Knochensplitter aneinanderreiben.«

»Klingt fantastisch.«

Matthias verzog den Mund. Für ein Lächeln reichte es allerdings nicht.

»Sehen Sie Ihrem Freund bitte mal tief in die Augen.«

»Darf ich auch die Dame nehmen? Die wäre mir lieber.« Moritz zwinkerte der jungen Frau zu, die in diesem Moment in der Tür des Schockraums auftauchte.

Matthias warf einen Blick über die Schulter.

»Das ist doch aber kein Teilnehmer des Junggesellenabschieds, oder?«, scherzte er.

»Ich bin die Braut.« Rebecca lächelte schmal. »Vince hat mich angerufen und mir von dem Unfall erzählt. Darf ich reinkommen?«

»Wenn Sie meinen Patienten ablenken …«

»Mache ich.« Rebecca trat an Moritz’ Seite.

Diese Gelegenheit nutzte Dr. Weigand. Er zog einen Kugelschreiber aus der Brusttasche und fuhr an der Fußsohle entlang.

»Spüren Sie das?«

Moritz sah Rebecca ins Gesicht. Wie oft hatte er schon versucht, die Sommersprossen zu zählen? Bisher vergeblich. Er runzelte die Stirn.

»Nein.«

Der Notarzt streckte sich nach einer Nadel auf dem Beistelltisch.

»Und das?«

»Auch nicht.« Moritz’ Augen lösten sich von der Braut. Flogen ans Fußende zu dem Notarzt. »Was hat das zu bedeuten, Doktor?«

»Das kann ich erst sagen, wenn ich Aufnahmen habe.« Matthias winkte Schwester Regine. »Sagen Sie bitte in der Radiologie Bescheid. Ich brauche Röntgenaufnahmen in zwei Schichten. Außerdem eine CT, um das ganze Ausmaß der Fraktur und Begleitverletzungen sichtbar zu machen.«

Moritz’ Herz begann zu flattern.

»Mein Bein muss schnell wieder in Ordnung kommen. Ich bin Lehrer für Sport und Wirtschaft an einem Sportgymnasium. Meine Schüler brauchen mich.«

Dr. Weigand stand auf. Die Handschuhe schnalzten, als er sie von den Fingern zog.

»Meine Kollegen und ich tun, was in unserer Macht steht. Aber versprechen kann ich nichts.«

*

Ein Liedchen auf den Lippen schlenderte Deniz Aydin durch die Behnisch-Klinik. Wie gut, dass er seinem Bruder kein Versprechen gegeben hatte. Frei von jeglichen Verpflichtungen genoss er die Muße, sich alles ganz genau anzusehen. Der Anblick großformatiger Berglandschaften, von Blumenwiesen und Ozeanen an den Wänden lud ebenso zum Verweilen ein wie die netten Schwestern hinter den Tresen. Deniz ließ es sich nicht nehmen, seinen Charme zu versprühen. Das Lachen der Frauen war Musik in seinen Ohren. Warum nur gönnte Milan ihm dieses Vergnügen nicht?

»Wahrscheinlich will er alles für sich selbst haben.«

Vor einer Tafel mit Wegweisern blieb Deniz stehen. Der rechte Gang führte Richtung Ausgang. Doch der linke Flur erschien ihm wesentlich vielversprechender. Ein vager Duft nach Kaffee erfüllte die Luft. Dazu das Rauschen von Wasser. Deniz überlegte nicht lange. Magisch angezogen von der Aussicht auf irdische Genüsse wählte er den linken Flur. Die richtige Wahl, wie er beim Anblick der von Palmen und Philodendren gesäumten Ladenstraße feststellte. Von einer Wand aus künstlichem Stein stürzte sich ein Wasserfall in die Tiefe. Daneben entdeckte er weiße Tische und Stühle unter dem grünen Blätterdach. Wenn das keine Einladung war! Deniz schlenderte hinüber und ließ den Blick schweifen. Was war er doch für ein Glückspilz!

»Eine schöne Frau sollte nicht allein sein. Darf ich Ihnen Gesellschaft leisten?« Ohne auf eine Antwort zu warten, setzte er sich zu Schwester Elena an den Tisch. »Ich lade Sie ein. Was wollen Sie trinken?«

»Oh! Herr Aydin.«

»Nicht so förmlich. Ich bin Deniz. Und du bist Elena. Darf ich Helena zu dir sagen. Das passt viel besser zu dir. Die schöne Helena.«

Mit einem Schlag fühlte sich Elena wieder wie sechzehn. Zurückversetzt in die Zeit der Unsicherheit. Des vorsichtigen Annäherns. Des ersten, schüchternen Flirts. Doch da war noch ein anderes Gefühl. Was war das nur? Endlich fiel es ihr wieder ein: Sie fühlte sich geschmeichelt.

»Sie … du kommst ein bisschen zu spät.« Ein koketter Augenaufschlag garnierte ihre Worte. »Leider muss ich jetzt zurück an die Arbeit.« Schon lange hatte sie nicht mehr an die verlorene Unbeschwertheit der Jugend gedacht. In diesem Moment tat sie es.

»Schade, schade.« Deniz’ bewundernder Blick folgte ihr, als sie aufstand und die Tasse vor zum Tresen brachte.

Was für ein Pech, dass sie sich heute Morgen doch gegen Rock und Stiefel entschieden hatte. Doch so, wie Milan Aydins Bruder ihr nachsah, bekam sie sicher die Gelegenheit, ihr Versäumnis nachzuholen.

*

Die Schiebetüren vor der Radiologie öffneten sich. Das Fußende eines Bettes tauchte auf.

Rebecca sprang vom Stuhl auf.

»Da bist du ja endlich. Wie geht’s dir?«

»Ich werde gleich operiert.« Moritz lächelte schief. »Hab mein Todesurteil schon unterschrieben.« Seine Augen wanderten durch den offenen Wartesaal. »Wo ist Vince?«

»Ich soll dir schöne Grüße sagen. Er ist mit den anderen zum Essen gegangen und kommt später wieder.«

Moritz’ Augen wurden schmal.

»Du hast ihn weggeschickt.«

Rebecca senkte den Kopf und blickte auf ihre ineinander verschlungenen Finger. Sie atmete ein und wieder aus. Endlich sah sie wieder hoch.

»Was ist mit deinem Herzen? Können Sie dich trotzdem operieren?«

Moritz zog eine Augenbraue hoch.

»Vor dem Eingriff am Bein wird noch eine spezielle Herzuntersuchung gemacht.« Er musterte sie mit Röntgenblick. »Was ist los?«

Wieder sah Rebecca weg.

Allmählich wurde Schwester Regine ungeduldig.

»Ich will ja nicht stören. Aber der Chef persönlich wartet auf uns.«

Rebecca erschrak.

»Oh, das tut mir leid. Ich wollte Sie nicht aufhalten.« Sie beugte sich über Moritz. Hauchte einen Kuss auf seine Wange. Ihre Lippen streiften sein Ohr. »Wir bekommen ein Baby«, flüsterte sie und trat einen Schritt zurück.

Vom Weg ins Untersuchungszimmer bekam Moritz nicht viel mit. Von einem Moment auf den anderen war der Elefant auf seinem Brustkorb wieder da. Verzweifelt rang er nach Luft.

Schwester Regine erschrak.

»Herr Loibl? Alles in Ordnung?« Ein Glück, dass es nicht mehr weit war. Mit glänzender Stirn und hochroten Wangen bugsierte sie das Bett ins Untersuchungszimmer.

Dr. Norden sprang vom Stuhl auf, wo er gesessen und die Akte Loibl auf dem Tablet studiert hatte. Ein paar Schritte, und er war an Moritz’ Seite.

»Was ist passiert?«

»Ich … ich glaube … er … er hat wieder eine Attacke«, keuchte Regine.

Daniel beugte sich über seinen Patienten.

»Atmen Sie, Herr Loibl. Ganz ruhig. Ein und aus. Ein uns aus«, diktierte er den Takt.

Während die Schwester Moritz mit Sauerstoff versorgte, befestigte der Klinikchef die Elektroden eines mobilen EKGs auf der Brust des jungen Mannes. Wie gebannt starrte er auf die Kurve.

»Wieder nur eine dezente ST-Hebung. Genau wie beim ersten Mal.« Daniel schüttelte den Kopf. »Meiner Ansicht nach ist das kein Herzinfarkt. Dagegen sprechen auch die Ultraschallbilder und das Ergebnis der Blutuntersuchung.« Er wandte sich ab. Ging hinüber zum Beistelltisch und bereitete eine Injektion vor. »Keine Sorge. Das ist nur ein Beruhigungsmittel.« Der Klinikchef ließ es sich nicht nehmen, die Nadel höchstpersönlich unter der Haut seines Patienten zu versenken. »Gleich geht es Ihnen besser.«

Dr. Norden hatte nicht zu viel versprochen.

Moritz’ Atem beruhigte sich. Nach und nach trockneten die Schweißperlen auf seiner Stirn.

»Was ist das, wenn kein Herzinfarkt?«, fragte er endlich.

Daniel hatte die Gelegenheit genutzt, um nachzudenken. Eine tiefe Falte auf der Stirn, blickte er auf seinen Patienten hinab.

»Herr Loibl, leiden Sie momentan unter emotionalem oder psychischem Stress? Hat sich vielleicht kürzlich Ihre Partnerin von Ihnen getrennt? Haben Sie Liebeskummer?«

Mit jeder Frage wurden Moritz’ Augen größer.

»Sind Sie Psychiater, oder was soll das hier werden?«

»Herr Loibl!« Daniel zog eine Augenbraue hoch.

»Tut mir leid.« Moritz zog es vor, an die Decke zu starren. »Wenn Sie es unbedingt wissen wollen: Ja. Ich habe emotionalen Stress«, brach es plötzlich aus ihm heraus. »Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen gehen würde, wenn die Liebe Ihres Lebens einen anderen heiratet. Noch dazu Ihren besten Freund. Und sie dummerweise schwanger ist. Von Ihnen.«

»Oh.« Dr. Norden räusperte sich. Mit so einem umfangreichen Geständnis hatte er nicht gerechnet. »Sie haben recht. Das würde mich auch umhauen.« Was war nun zu tun? Er griff nach dem Tablet. Ein kleiner Umschlag blinkte in der rechten Ecke des Bildschirms. Post aus der Radiologie. Ein paar Minuten herrschte Schweigen im Raum. »Auch wenn das nur ein schwacher Trost ist.« Dr. Norden blickte vom Tablet auf. »Die Herzkatheteruntersuchung kann ich Ihnen ersparen. Wir können uns also voll und ganz auf Ihr Bein konzentrieren. Das trifft sich eigentlich ganz gut. Bei dem Sturz wurde ein Nerv geschädigt. Wenn wir nicht schnell operieren, ist es möglich, dass er sich nie wieder erholt.«

»Klingt ja ganz so, als wäre heute mein Glückstag«, presste Moritz durch die Lippen.

*

Rebecca hatte es sich anders überlegt. Statt nach Hause zu gehen und auf die Rückkehr ihres Bräutigams zu warten, suchte sie das Behandlungszimmer, in das Moritz gebracht worden war. Ihre Bemühungen zeigten Erfolg.

»Wir sehen uns in einer halben Stunde im OP«, sagte Dr. Norden an der Tür und verließ das Zimmer. Beim Anblick der jungen Frau stutzte er. Öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Kein Ton kam über seine Lippen. Er begnügte sich mit einem Nicken, ehe er davon eilte.

»Ich bin gleich wieder bei Ihnen!«, ertönte gleich darauf eine weibliche Stimme, ehe auch Schwester Regine das Zimmer verließ.

Im Gegensatz zu Daniel bemerkte sie die Besucherin nicht. Rebecca wartete, bis sie am Ende des Flurs um die Ecke bog. Erst dann schlüpfte sie ins Zimmer.

»Hey. Wie geht es dir?«

Moritz zuckte zusammen. Er öffnete die Augen und starrte die Braut an, als hätte er eine Erscheinung.

»Rekordverdächtig«, ätzte er. »Die Frau meines Lebens heiratet meinen besten Freund, mit dem sie mein Kind aufziehen wird. Was auch gut …« Er hielt inne. Tausend Gedanken wirbelten durch seinen Kopf. Es war schwer, einen zu fassen zu bekommen. »Moment mal. Ist das Kind auch wirklich von mir?«

Rebeccas Augen glitzerten gefährlich.

»Glaubst du, es macht mir Spaß, dich zu quälen?«

Moritz winkte ab. Er drehte den Kopf und starrte wieder an die Decke.

»Wie auch immer. Ich könnte uns sowieso nicht ernähren.«

Rebecca schluckte.

»Dein Herz?«, fragte sie heiser.

»Das Bein. Der Bruch muss operiert und mit Platten und Schrauben fixiert werden. Danach wird Dr. Norden die Enden des geschädigten Nervs vernähen. Und dann hilft nur Beten und Hoffen.« Er zwang ein Lächeln auf seine Lippen. »Aber warum erzähle ich dir das alles? Morgen heiratest du Vincent, und in zwei Wochen seid ihr auf Hochzeitsreise.« Er hob die Hand und winkte. »Adieu, holde Maid. Ich wünsche dir ein schönes Leben.«

Rebecca traute ihren Ohren nicht.

»Bist du jetzt total übergeschnappt? Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich Vincent heiraten werde.«

»Was denn sonst? Willst du ihm etwa sagen, dass du und ich …?« Der Rest des Satzes hing unausgesprochen in der Luft.

Mit einem stummen Knall verpuffte Rebeccas Zorn. Sie fühlte sich so leer wie die Hülle eines geplatzten Luftballons.

»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, murmelte sie, als sich die Tür öffnete und Schwester Regine zurückkehrte.

»Oh, Entschuldigung. Ich wusste nicht …«

»Schon gut. Ich wollte eh gerade gehen.« Rebecca durchquerte den Raum und verließ das Zimmer, ohne sich noch einmal umzudrehen.

*

Die Schatten wurden länger und verschwanden schließlich ganz.

»Wollen Sie nicht endlich nach Hause gehen?«

Daniel Norden schreckte hoch. Stieß sich den Kopf an der Schreibtischlampe.

»Aua!« Er rieb sich die schmerzende Stelle. »Was sind das hier für Sitten? Warum gehen Sie denn schon?«

»Weil es schon nach sieben Uhr ist und ich auch noch etwas von meiner Wohnung haben will, wenn ich schon eine so horrende Miete bezahlen muss.«

»Nach sieben?« Der Schreck ließ den Schmerz in Vergessenheit geraten. Daniel klappte die Akte zu, in der er gerade gelesen hatte, und schaltete den Computer aus. »Hoffentlich ist Fee nicht zu wütend auf mich, dass es schon wieder so spät geworden ist.«

»Nur, wenn du dein Versprechen von heute Morgen einlöst.«

Fee tauchte hinter Andrea Sander auf. Auf dem Weg ins Büro ihres Mannes hatte sie ein paar Wortfetzen aufgeschnappt. Die beiden Frauen tauschten ein paar freundliche Worte miteinander.

»Dann kann ich mich ja jetzt mit gutem Gewissen in den Feierabend verabschieden.« Andrea winkte und machte sich auf den Weg. Ihre Schritte verhallten auf dem Flur.

»Welches Versprechen meinst du?«, erkundigte sich Daniel. Er tauchte wieder auf und stellte die Aktentasche auf den Tisch. Verstaute ein paar Unterlagen und ließ die Schlösser zuschnappen.

Fee stand in der Tür und beobachtete ihren Mann. Sie wusste selbst nicht, warum ihr Elena und Eric in den Sinn kamen.

»Spätestens jetzt würde Eric seiner Frau den Kopf abreißen.«

»Habe ich ein Glück, dass du nicht Eric heißt.«

Fee lachte leise und beschloss aber, schnell das Thema zu wechseln.

»Du wolltest mit mir zu Enzo gehen.«

»Ach ja, richtig. Tut mir leid. Heute ging es mal wieder drunter und drüber.« An der Tür drehte er sich noch einmal um. Ein letzter Blick zurück. Hatte er auch nichts vergessen?

»Was war los?«, erkundigte sich Felicitas, als sie Hand in Hand Richtung Ausgang schlenderten.

»Die Sitzung der Fachaufsichten. Die Tumorkonferenz. Ein Treffen mit Vertretern der Arzneimittelkommission. Die Sprechstunde für Privatpatienten. Eine heikle Operation mit ungewissem Ausgang«, zählte Daniel Norden die Ereignisse des Tages auf.

Die großen Schiebetüren aus Glas öffneten sich surrend. Daniel ließ seiner Frau den Vortritt. Die Luft war angenehm kühl und trocken, der Himmel sternenklar. Trotzdem lag der Geruch nach Schnee in der Luft. Doch Felicitas achtete kaum darauf.

»Eine heikle Operation mit ungewissem Ausgang?« Sie schickte ihrem Mann einen Seitenblick. »Das klingt nicht danach, als ob du zufrieden wärst.«

Die Straßenlaterne beleuchtete das Gesicht des Klinikchefs.

»Der Nerv des Patienten ist derart geschädigt, dass ich ihn nicht nähen konnte. Das ist insofern tragisch, als der Mann Sportlehrer an einem Sportgymnasium ist.«

Jeder einzelne Fall, jedes Schicksal war eine kleine Tragödie für sich. Manchmal auch eine große. Felicitas wusste, dass sie sich nie daran gewöhnen würde. Aber Mitleid war kein guter Ratgeber. Schon gar nicht am OP-Tisch. Anders sah es mit Mitgefühl aus. Eine Portion Empathie hatte noch nie geschadet.

»Wirst du ihm helfen können?«

»Auf jeden Fall muss ich ihn ein zweites Mal operieren. Aber auch das ist ein Risiko. Der junge Mann hat mit Herzproblemen zu kämpfen. Broken-Heart-Syndrom.« Auf dem Weg zum Wagen erzählte er Moritz Loibls Geschichte.

Schon von Weitem blinkten die Lichter auf. Eine praktische Erfindung. Nach solchen Tagen konnte sich Daniel abends oft nicht daran erinnern, wo er sein Auto abgestellt hatte.

»Meine Güte!« Kopfschüttelnd ließ sich Felicitas auf den Beifahrersitz fallen. »Kein Regisseur würde so ein Drehbuch verfilmen. Zu unglaubwürdig.«

»Und doch sind diese Geschichten wahr.« Der Motor schnurrte wie ein Kätzchen. »Wie ist es bei dir gelaufen?«

»Willst du die Wahrheit hören?«

»Natürlich.«

»Ich freue mich auf ein schönes Glas Wein und einen Teller Nudeln, um die Klinik und ihre Bewohner für ein paar Stunden zu vergessen.«

Daniel lachte.

»Du sprichst mir aus der Seele.« Er setzte den Blinker und reihte sich in dem Moment in die Kette aus Lichtern ein, in dem Schwester Elena aus der Klinik trat.

Sehnsüchtig blickte sie ihren Freunden nach. Was hätte sie darum gegeben, mit ihrem Mann in die Dunkelheit zu fahren. Über den Arbeitstag zu plaudern. Probleme zu besprechen. Erfolge zu feiern. Doch all das gab es bei ihr nicht. Stattdessen wartete wahrscheinlich wieder ein schlecht gelaunter Eric auf sie.

Seufzend wandte sie sich ab. Vielleicht hatte ihr Freund Matthias Weigand doch recht: Ein Partner aus derselben Berufssparte wäre die bessere Wahl gewesen. Besonders dann, wenn man in einer Klinik arbeitete und mit Leib und Seele bei der Sache war.

*

Für alle Fälle hatte Dr. Milan Aydin einen Schlüssel bei der Nachbarin deponiert. Von dem machte er Gebrauch, als er an diesem Abend nach Hause kam. Er schloss die Tür auf. Eine süßliche Wolke empfing ihn. Marihuana? Sein Magen zog sich zusammen. Die Klänge einer Kalimba gaben ihm den Rest. Er rollte in den Flur und warf die Tür so laut ins Schloss, dass das Krachen die Musik übertönte. Oder war es Milans Husten, das Deniz anlockte?

»Bruderherz, willkommen in unserem Zuhause. Komm und entspann dich!« Deniz nahm ihn am Arm.

»Lass mich sofort los!«, krächzte Milan. Mit einem Ruck machte er sich los. »In meiner Wohnung Gras rauchen? Bist du total bescheuert? Weißt du, was los ist, wenn das jemand rausfindet? Dann bin ich meinen Job los! Ein Arzt, der Drogen nimmt …« Die Miene seines Bruders ließ ihn innehalten.

»Bist du immer so geladen, wenn du aus der Arbeit kommst? Dann bin ich ja froh, dass ich keine habe.« Deniz drehte sich um und ging auf Socken – handgestrickt, wenn Milan das richtig beurteilen konnte – ins Wohnzimmer. »Ich habe kein Gras geraucht. Das ist Vanilletabak. Der beste Wasserpfeifentabak, den es gibt. Na, komm schon.« Er setzte sich im Schneidersitz auf die Couch und hielt Milan den Schlauch hin. »Nimm einen Zug. Oder lieber eine Tasse Ingwertee? Stärkt die Abwehrkräfte.«

»Das ist genau das, was ich jetzt brauche«, murrte Milan. Er rollte hinüber zum Sofa. Zwei, drei Handgriffe, eine Drehung und er saß neben seinem Bruder.

»Wow, das ist ja zirkusreif.«

»Gelernt ist gelernt.« Milan beugte sich vor. Er nahm die Tasse vom Tisch und trank einen Schluck. Eine Augenbraue wanderte hoch. »Gar nicht mal so übel.« Er lehnte sich zurück. Über den Rand der Tasse hinweg musterte er seinen Bruder. »Raus mit der Sprache! Was ist diesmal schief gegangen?«

Deniz saugte am Schlauch. Die Wasserpfeife gurgelte und blubberte.

»Ich verstehe die Frauen einfach nicht. Zuerst erzählen sie dir, wie wichtig ihnen ihre Freiheit ist. Und kaum bist du mit ihnen zusammen, träumen sie von Hochzeit, Kindern und und Eigenheim.«

Milan lachte.

»Das kenne ich.«

»Du verstehst mich? Ich will mit einer Frau einfach eine gute Zeit haben. Dazu muss man doch nicht gleich zusammenziehen. Na ja.« Deniz zuckte mit den Schultern. »Dann suche ich eben weiter nach meiner Amazone.« Seine Augen blitzten. »Bei dir in der Klinik laufen ein paar hübsche Exemplare herum. Besonders die schöne Helena. Die würde ich nicht von der Bettkante schubsen.«

Milan verschluckte sich an seinem Tee.

»Du meinst Schwester Elena?«, krächzte er. »Lass bloß die Finger von ihr!«

Deniz warf den Kopf in den Nacken und lachte.

»Sag bloß, du bist selbst scharf auf sie?«

»Schwachsinn. Die Frau ist verheiratet.«

»Aber nicht besonders glücklich. Ich kenne mich mit so was aus. Dieser traurige Ausdruck in den Augen … höchste Zeit, dass sie jemand zum Lachen bringt.«

Milan stellte die Tasse zurück auf den Tisch. Der Tee schwappte über.

»Ich habe dich gewarnt. Keine amourösen Abenteuer mit meinen Kollegen.«

Die Wasserpfeife gluckerte. Deniz grinste sein Spitzbubengrinsen. Mehr Antwort bekam Milan Aydin nicht.

*

Je näher Elena ihrem Haus kam, umso schwerer wurde ihr Herz. Kein Lichtschein fiel aus einem der oberen Zimmer hinaus auf den Asphalt. Wie schade, dass keines der Kinder mehr zu Hause wohnte. Julius war im letzten Lehrjahr seiner Ausbildung zum Schreiner. Seine Schwester Laura studierte Umweltmanagement in Landshut und kam nur an den Wochenenden nach Hause.

In diesen wenigen Stunden konnte Elena wieder frei atmen, wusste sie doch, dass Eric sich in Anwesenheit der Kinder zurückhielt. Auf diese Zurückhaltung konnte sie an diesem Abend nicht hoffen.

Sie drehte den Schlüssel im Schloss. Schon an der Tür sah sie Erics Schatten. Er hatte sich ein Glas Wein in der Küche geholt und war auf dem Rückweg ins Wohnzimmer. Beim Anblick seiner Frau blieb er stehen.

»Guten Abend.«

»Hallo, Eric.« Elena stellte die Handtasche auf den Boden. Der Schlüssel klapperte in der Schale auf der Kommode. Sie machte ein paar Schritte auf ihn zu. Er sah sie an.

»Du siehst müde aus.«

»Es war ein anstrengender Tag.« Sie seufzte und nahm einen Schluck Wein aus dem Glas, das er ihr hinhielt. »Außerdem habe ich heute Nacht nicht viel geschlafen.«

»Das habe ich gemerkt.« Mit einer Geste bat Eric seine Frau ins Wohnzimmer.

»Ich denke unentwegt über uns nach«, gestand sie und nahm ihm gegenüber im Sessel Platz.

Eric drehte das Glas in den Händen.

»Und? Zu welchem Schluss bist du gekommen?«

Die Antwort fiel Elena nicht leicht.

»Es war nicht meine Entscheidung allein, Pflegedienstleitung zu werden.« Sie knetete die Finger. »Du hast mich dabei unterstützt, dahin zu kommen, wo ich jetzt bin. Dafür bin ich dir sehr dankbar.« Elena hob den Kopf. Suchte Erics Blick. »Aber jetzt entziehst du mir deine Unterstützung. Damit habe ich nicht gerechnet. Ich weiß einfach nicht, wie ich mit dieser Situation umgehen soll.«

»Und ich habe nicht damit gerechnet, dass du so viel mehr Zeit in der Klinik verbringen wirst.«

»Das habe ich dir von Anfang an gesagt.« Der Ton wurde schärfer. »Die Pflegedienstleitung ist neben dem ärztlichen Direktor und dem Verwaltungschef Teil der Klinikleitung. Ich habe einen verantwortungsvollen Posten übernommen. Du kannst nicht behaupten, dass du das nicht wusstest.«

»Ich wusste nicht, dass du in dieser Position an nichts anderes mehr denken kannst als an die Klinik«, hielt Eric dagegen und trank einen großen Schluck Wein.

Adrenalin flutete Elenas Adern. Ihr Herz schlug schneller, die Bronchien weiteten sich.

»Ich. Ich. Ich. Alles ist meine Schuld. Aber weißt du was? Ich glaube, das Problem liegt nicht bei mir.« Die feinen Schweißperlen auf der Oberlippe fühlten sich kühl an. Sie ballte die Hände zu Fäusten. »Ich glaube, du bist eifersüchtig auf meinen Erfolg, den du längst hinter dir hast.« Elena gab sich selbst das Stichwort. »Erinnerst du dich an früher? Damals war ich diejenige, die immer allein zu Hause saß. Noch dazu mit kleinen Kindern. Aber wenn ich mich mal beschwert habe, hieß es immer, dass du ja das Geld für die Familie verdienen musst.« Ihre Augen waren fast schwarz, als sie ihren Mann anfunkelte. »Deshalb erwarte ich jetzt auch, dass du hinter mir stehst. Mich weiterhin unterstützt. So, wie ich dich immer unterstützt habe.« Sie beugte sich über den Tisch.

Griff nach dem Glas Wein und leerte es in einem tiefen Zug. Als sie es zurück auf den Tisch stellte, stand Eric auf. Ohne ein Wort zu sagen, verließ er das Wohnzimmer. Er kehrte nicht zurück.

*

Am nächsten Morgen wollte es gar nicht richtig hell werden. Über Nacht hatten sich Wolken über den Himmel geschoben. Tief, als klebten sie an Dächern fest, hingen sie über der Stadt.

»Der Wetterbericht hatte recht.« Dr. Daniel Norden hastete auf den Eingang der Klinik zu. »Heute schneit es bestimmt.«

Normale Menschen dachten bei Schnee an Vergnügen. An Schneeballschlachten, romantische Winterlandschaften und Schlittenfahrten. Ärzte dachten häufig daran, welche Gefahren die weiße Pracht mit sich brachte. In der klinikeigenen Statistik führten Autounfälle die Tabelle ganz klar an, gefolgt von Stürzen wegen falschen Schuhwerks oder schlecht geräumter Wege.

»Dann kannst du gleich das Team in der Notaufnahme verstärken«, unkte Felicitas.

»Meine kluge Fee.« Bevor sich ihre Wege trennten, küsste der Klinikchef seine Frau. Es machte ihm nichts aus, dass sie sich mitten in der Lobby befanden, die gerade, wie die übrige Klinik, zum Leben erwachte. In jeder Ecke schien es zu rumoren. Lieferanten schoben Wagen mit allen erdenklichen Waren Richtung Ladenstraße. Schlaflose Patienten schlurften über die Flure, um sich im Klinikkiosk den ersten Kaffee des Tages zu kaufen, eine Tageszeitung, oder einfach nur ein bisschen Ablenkung zu suchen. »Vorher mache ich aber einen Abstecher in die Orthopädie.«

»Die Unterschenkelfraktur.« Fee nickte. »Bernhard ist ein herausragender Arzt. Er weiß bestimmt Rat.«

Daniel legte den Kopf schief.

»Weißt du, dass du mir manchmal ein bisschen unheimlich bist?«

Felicitas lachte.

»Weil ich deine Gedanken lesen kann?«

Was sollte er dazu sagen?

Kopfschüttelnd machte er sich auf den Weg und stand fünf Minuten später im Büro des Kollegen Kohler. Er schilderte den Fall. Bernhard saß auf der Tischkante und hörte zu. Nachdem sein Chef geendet hatte, stand er auf und setzte sich an den Computer.

»Letztes Jahr hatte ich tatsächlich einen ähnlich gelagerten Fall.« Die Tastatur klapperte unter seinen Fingern. »Wenn ich nur wüsste, wie der Patient hieß. Reinhold, nein … Reinhardt … auch nicht … Reinberg … aaaah, da ist er ja. Günther Reinberg.« Er vertiefte sich in die elektronische Patientenakte.

Dr. Norden trat hinter den Kollegen und beugte sich über seine Schulter.

»Wusste ich es doch. Reinberg hatte ebenfalls eine Unterschenkelfraktur. Tibia und Fabia, wie bei Ihrem Patienten. Der Nervus tibialis war beschädigt. Problem war damals, dass der Bruch mit Platten und Schrauben reponiert werden musste.«

»Wie in meinem Fall.«

»Durch die Verletzung waren die beiden Nervenenden so weit voneinander entfernt, dass sie nicht mehr spannungsfrei zusammengefügt werden konnten.«

»Und die Lösung des Problems?«

»Eine Nerventransplantation.«

Daniel richtete sich auf. Sein Blick schweifte durchs Zimmer, blieb an einem gerahmten Poster hängen. Eine Lehrtafel mit der Abbildung des menschlichen Skeletts.

»Sie haben einen entbehrlichen Hautnerv entnommen und so das fehlende Nervenstück ersetzt?«, dachte er laut nach.

»Ganz genau.« Dr. Kohler drehte sich zu seinem Chef um. Er brauchte die Akte nicht mehr. Das Erlebte war wieder präsent, als hätte die Operation gerade erst stattgefunden. »Das könnte in Ihrem Fall auch klappen. Allerdings müssen Sie daran denken, dass nach einer Nerventransplantation eine Ruhigstellung erforderlich ist.«

Daniel wusste, was der Chef der Orthopädie meinte.

»Die Platten müssen zunächst an Ort und Stelle verbleiben.«

Kohler nickte.

»Auch dann, wenn der Patient Probleme damit haben sollte. Andernfalls ist der Behandlungserfolg zweifelhaft. Das ist die Kehrseite der Medaille.« Er verschränkte die Finger ineinander und sah seinen Chef von unten herauf an. »Bei unserem Patienten ist es damals gut gegangen. Aber ein Restrisiko bleibt natürlich.«

Dr. Norden wiegte den Kopf.

»Gibt es irgendeine Alternative?«

»Nein. Bisher nicht. Meiner Ansicht nach ist die Nerventransplantation die Therapie der Wahl.« Dr. Kohler zwinkerte Daniel zu. »Wie sagt man so schön auf neudeutsch: No risk, no fun!«

Diese Bemerkung gab den Ausschlag.

»Dann bitte ich Sie, Risiko und Spaß mit mir zu teilen und mich bei dem Eingriff zu unterstützten. Heute um elf?«

»Ich werde da sein.«

*

»Fahr doch nicht so schnell!« Der bunte Schal wehte hinter Deniz Aydin her. Obwohl er zwei gesunde Beine hatte, fiel es ihm schwer, seinen Bruder einzuholen.

Milan dachte nicht daran, das Tempo zu drosseln.

»Weniger rauchen und mehr Sport«, rief er über die Schulter. »Außerdem bist du selber schuld. Warum hast du auch meinen Radiowecker ausgestellt?«

»Weil sich die elektrische Strahlung ungünstig auf die Libido auswirkt.«

Trotz allem musste Milan lachen.

»Davon habe ich bisher nichts gemerkt.«

Die Glastüren schoben sich vor ihm auf. Eine Mischung aus Desinfektionsmittel, Milchkaffee und Orangenduft hieß ihn willkommen. Stimmen, Schritte, hier und da ein Lachen verschmolzen zu einem geschäftigen Summen, das ihn an einen Bienenstock erinnerte. Ein wohliges Gefühl breitete sich in ihm aus. Hier fühlte er sich sicher. Zumindest sicherer als derzeit in seiner eigenen Wohnung.

Er grüßte nach links und rechts, während er den Rollstuhl Richtung Aufzug bugsierte. Doch alles Ignorieren half nichts.

»Warum verfolgst du mich eigentlich auf Schritt und Tritt?«, fragte er, während er vor der silberfarbenen Tür wartete. »Wolltest du dir nicht das Winter-Tollwood ansehen?«

»Das öffnet erst um 14 Uhr.« Deniz stand hinter dem Rollstuhl und fächelte sich Luft zu.

»Aha.« Die Aufzugtüren öffneten und schlossen sich wieder. Milan stand immer noch davor. Eine Idee hatte ihn aufgehalten. »Übrigens treffe ich mich heute Abend mit Silvie. Du musst nicht auf mich warten.«

»Kein Problem. Ich brauche keinen Babysitter.«

»Hoffentlich auch keine Babysitterin. Und schon gar keine aus der Klinik.« Ein warnender Unterton schwang in Milans Stimme.

Deniz beugte sich vor und drückte auf die Taste mit dem Pfeil nach oben. Surrend schoben sich die Türen wieder auf.

»Hattest du es nicht eilig?« Er packte die Griffe des Rollstuhls und schob seinen Bruder hinein.

Mit einem Satz war er wieder draußen und winkte, bis Milan ­hinter dem Silbervorhang verschwand. Ein Rumpeln, und der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung. Darauf hatte Deniz nur gewartet! Mit wenigen großen Schritten eilte er an den Tresen, der wie eine Insel mitten in der Lobby schwamm.

»Entschuldigung, können Sie mir sagen, wo ich die schöne Helena … ich meine, die Pflegedienstleitung finde?«

*

Elena war nicht allein mit ihren Schlafproblemen. Auch Moritz Loibl hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan. Genauso fühlte er sich, als es an seiner Tür klopfte. Er hoffte auf eine Schwester, die er um ein Mittel gegen die quälenden Gedanken bitten wollte. Seine Hoffnung erfüllte sich nicht.

»Hey, altes Haus! Beck hat erzählt, dass die OP nicht geklappt hat. Was machst du nur für Sachen?« Vincents Stimme ließ die Wände wackeln.

Vince! Ausgerechnet! Moritz hielt sich die Ohren zu. Er presste die Lippen aufeinander.

»Lass mich raten!«, fuhr sein bester Freund fort. »Du hast Muffensausen vor der Hochzeit und willst dich drücken.«

»O Mann, Vince, musst du immer so brüllen?«, tadelte Rebecca, die ihren Bräutigam begleitete. »Wir sind alle nicht schwerhörig.«

»Du klingst wie ein zänkisches Eheweib«, konterte Vince und bog sich vor Lachen.

Rebecca trat an Moritz’ Bett.

»Wie geht’s dir?« Im Gegensatz zu ihrem Bräutigam flüsterte sie.

»So ähnlich, wie ich aussehe.«

Sie nickte.

»Dachte ich mir.«

Vincent wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel. Er trat an die andere Bettseite.

»Tut mir echt leid, dass du jetzt doch nicht mein Trauzeuge sein kannst.«

Moritz biss sich auf die Unterlippe.

»Wer übernimmt meinen Job?«

»Joe. Aber du bist und bleibst mein bester Freund. Das ist doch klar«, versicherte Vincent. »Und die Feier holen wir einfach nach, wenn du wieder gesund bist. Welches Paar hat schon zwei Hochzeitsfeiern? Nicht wahr, Schatz?« Er streckte die Hände nach Rebecca aus. Wollte sie übers Bett ziehen, um sie zu küssen. Aber was war das? »Komm schon! Du bist doch sonst nicht so schüchtern.«

Rebecca schluckte. Sah ihrem Zukünftigen in die Augen.

»Ich bin schwanger.«

Moritz’ Herz setzte aus, um mit doppelter Geschwindigkeit weiterzuschlagen. Ruhig atmen!, mahnte er sich. Genauso, wie Dr. Norden es ihm gezeigt hatte.

Vincent dagegen starrte seine Braut an. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sich seine Mundwinkel ein paar Millimeter nach oben bewegten.

»Wie kann das sein? Ich meine, wir haben in letzter Zeit doch gar nicht … du weißt schon.« Ein schneller Blick zu Moritz. »Du hast doch gesagt, du hättest Blasenentzündung. Deshalb wolltest du nicht.«

Rebecca starrte auf die Wasserflasche auf dem Nachttisch. Ihre Kehle war so trocken, dass sie sie am liebsten in einem Zug geleert hätte. Doch das musste warten.

»Ich habe mich geirrt«, krächzte sie. »Keine Blasenentzündung. Das war nur die Hormonumstellung.«

»Oh, okay.« Vincent rieb die Handflächen an der Jeans. »Ehrlich gesagt kommt das ein bisschen plötzlich.« Ein verlegenes Lachen. »Wir hatten doch ausgemacht, dass wir das Leben erst einmal ein bisschen genießen wollen, bevor wir über unsere Reproduktion nachdenken. Wenn überhaupt.«

Das war der Moment. Jetzt oder nie. Rebecca nahm allen Mut zusammen.

»Du bist nicht der Vater. Das Kind ist von Moritz.«

Die folgende Stille war ohrenbetäubend.

»Du machst Witze«, sagte Vincent irgendwann. Er lachte verlegen. »Nicht wahr, das ist ein Witz.« Sein Blick flog zu seinem besten Freund. »Das habt ihr euch ausgedacht! Für den verpatzten Junggesellenabschied. Genau! So muss es sein.«

»Nein.« Langsam schüttelte Moritz den Kopf. »Becky … ich meine … Rebecca hat recht. Ich bin der Vater.« Er fuhr sich mit den Händen durch das Haar. »Vince, wir …«

»Halt die Klappe!«

Die Flasche klirrte auf dem Nachttisch. Vincent fuhr zu seiner Braut herum.

»Habt ihr noch alle Tassen im Schrank?«

»Jetzt schrei doch nicht so rum! Das macht die Sache auch nicht besser«, schimpfte Rebecca. Ihre Stimme schwamm in Tränen.

Vincent hob die Hand. Schüttelte die Faust vor ihrem Gesicht. Ein Glück, dass das Bett zwischen ihnen stand. Sonst hätte er für nichts garantieren können.

»Du hast mir überhaupt nichts mehr zu sagen. Und du«, die Faust schwenkte hinunter zu Moritz. »Du … du … du … Verräter.«

Spucketröpfchen regneten auf Moritz hinab. Doch er wagte nicht, sie fortzuwischen. Er wagte überhaupt nicht, sich zu bewegen. Selbst das Luftholen fiel ihm schwer. Zum Glück hielt Vincent es nicht mehr aus.

»Ich brauche Luft!« Er zerrte am Kragen seines Hemdes. Der Knopf sprang ab und tanzte über den Boden.

Niemand achtete darauf. Kurz darauf fiel die Tür krachend ins Schloss.

*

Auf den Fluren der Behnisch-Klinik herrschte Hochbetrieb. Schwestern und Pfleger eilten vorbei. Ihre Gummisohlen quietschten auf dem Vinylboden. In einer Ecke steckten zwei Ärzte die Köpfe über einer Patientenakte zusammen. Irgendwo klingelte ein Telefon.

Deniz wanderte den Gang entlang. Studierte jedes Namensschild an den Türen. Kaffeeküche. Aufenthaltsraum. Verband. Patientenzimmer. Personal. Wo versteckte sich nur das Büro der Pflegedienstleitung? Er machte der Visite Platz, die ihm entgegenkam. Hüpfte hoch, um einen Blick zu erhaschen.

Da sah er sie!

Elena stand in einer Tür. Mit hoch erhobenem Zeigefinger und verkniffenem Gesicht redete sie auf einen Mann ein, seiner Kleidung nach zu schließen ein Pfleger. Deniz wollte nicht in seiner Haut stecken. Blitzschnell sah er sich um. Lief zurück zur Tür mit der Aufschrift Verband und verschwand. Eine Minute später ging er mit schmerzverzerrtem Gesicht über den Flur.

»Aaah, aua, das tut weh«, stöhnte er.

Elena sah hoch. Sein Anblick tilgte den Zorn aus ihrem Gesicht.

»Deniz! Ist etwas passiert?«

»Ja. Ja, ich fürchte schon.« Er hielt die Hand hoch. Aus einer Wunde quoll ein Tropfen Blut. »Ich war auf dem Weg zu Milan. Auf einem Flur lagen Scherben. Ich wollte nicht, dass sich jemand verletzt, deshalb habe ich sie aufgehoben.«

»Und dich geschnitten«, beendete Elena den Satz. Sie dachten nicht lange nach. »Ich sehe mir das mal an. Kommen Sie!« Sie winkte ihn in ein Behandlungszimmer und schloss die Tür. »Legen Sie sich auf bitte auf die Liege.«

»Wir waren gestern schon beim ›du‹.« Deniz lächelte sein Spitzbubengrinsen. »Erinnerst du dich nicht?«

Elena streifte Handschuhe über. Setzte sich auf einen Hocker und rollte hinüber zu ihrem Patienten.

»Gib mir deine Hand.« Sie musste ihn nicht zwei Mal bitten. Sie besprühte einen Tupfer mit Desinfektionslösung und wischte den Tropfen Blutweg. Auf den ersten Blick erkannte sie, dass die Wunde nicht von einer Scherbe stammte. »Hmm, das sieht nicht gut aus«, murmelte sie vor sich hin. »Ich fürchte, das muss ich nähen.«

»Wie bitte?« Ein Ruck, und ihre Hände waren leer. »Nicht nötig, schöne Helena. Das ist nur ein Kratzer«, versicherte Deniz hastig.

Sie lachte in sich hinein.

»Du bist ein echter Mann.« Nicht das kleinste Zucken verriet sie. »Aber wie sieht es mit deinem Tetanusschutz aus?«

»Tetanus?« Deniz hatte sich auf der Liege aufgesetzt.

Elena nickte gewichtig.

»Viele Menschen unterschätzen diese Krankheit. Dabei kann man sich selbst bei der kleinsten Verletzung, einer minimalen Schürfwunde oder dem kleinsten Kratzer mit Tetanus-Bakterien infizieren.«

Ihre Rede zeigte Wirkung. Deniz riss die Augen auf.

»Und was passiert dann?«

»Sind die Erreger erst einmal in den Körper eingedrungen, vermehren sie sich dort. Dabei geben sie ein Gift ab, das zu extremen Krämpfen der Muskulatur führt. Häufig ist zunächst die Kau-Muskulatur und später der ganze Körper betroffen. Alle Erkrankten müssen auf der Intensivstation behandelt werden.«

»Und was, wenn das nicht geht?«, fragte Deniz atemlos.

»Unbehandelt führt diese Krankheit zu einer Atemlähmung und damit zum Tod. Deshalb werde ich dich jetzt impfen.« Elena rollte hinüber zum Schrank, um alles Nötige vorzubereiten.

Blitzschnell dachte Deniz nach.

»Aber nur, wenn du danach einen Kaffee mit mir trinken gehst«, verlangte er, als sie ihn bat, den Arm freizumachen.

»Tut mir leid.« Sie versenkte die Nadel unter der Haut. »Ich habe keine Zeit.«

»Du hast Angst vor mir.« Deniz rollte den Ärmel wieder herunter. Dabei ließ er Elena nicht aus den Augen.

Sein Blick trieb ihren Blutdruck in die Höhe. Da war es wieder, das Prickeln in der Luft. Seine Aufmerksamkeit tat ihr gut. Umso mehr, als zwischen ihr und Eric am Morgen Eiszeit geherrscht hatte.

»Ja«, gestand sie leise. »Du hast recht. Ich habe wirklich ein bisschen Angst vor dir.« Sie zielte. Die Spritze landete neben dem Abfalleimer.

Mit einem Satz sprang Deniz von der Liege, ging vor Elena auf die Knie und beförderte den Müll dorthin, wo er hingehörte. Im nächsten Moment lagen seine Hände in den ihren. Sein Blick hätte einen Eisblock zum Schmelzen gebracht.

»Wovor hast du Angst?« Er schnurrte er wie ein Kater.

Dieser Blick aus den glühenden Kohleaugen! Elenas Kehle wurde eng.

»Ich bin verheiratet.« Hoffentlich bemerkte er das Zittern in ihrer Stimme nicht.

»Aber glücklich bist du nicht.«

Elena zupfte mit den Zähnen an der Unterlippe. Etwas an Deniz machte sie willenlos.

»Mein Mann und ich … Wir haben momentan Probleme.«

»Aaahh, das stimmt nicht.« Die Locken flogen hin und her. »Eine Frau wie du, aufopfernd, großzügig, mitfühlend … Du hast keine Probleme. Ich glaube, er ist derjenige, der euch das Leben schwer macht.« Er legte den Kopf schief. Eine Locke fiel ihm in die Stirn. Er blinzelte durch sie hindurch. »Wahrscheinlich ist er eifersüchtig.«

Elena stand der Mund offen vor Staunen.

»Woher weißt du das?«

Volltreffer! Am liebsten hätte Deniz die Faust in die Luft gestoßen. Was war er doch für ein Frauenkenner!

»Ich habe einfach ein bisschen nachgedacht. Und weißt du was: Du hast es nicht verdient, unglücklich zu sein.« Deniz streckte die Hand aus. Strich eine Strähne aus ihrem Gesicht. Die Berührung war kaum mehr als der Flügelschlag eines Schmetterlings. Trotzdem durchzuckte sie Elena wie ein Stromschlag. »Ich bin hier, um dich glücklich zu machen.« Sein Kopf näherte sich dem ihren.

Elena zog die Notbremse. Sie sprang auf und wandte sich ab.

»Aber … aber … das geht nicht.« Schwer atmend stand sie am Tisch.

Sie hörte Schritte. Eine Stimme dicht an ihrem Ohr.

»Was denn? Ich will dich doch nur zum Essen einladen.«

Das Blut schoss Elena in die Wangen. Was hatte sie denn gedacht?

»Ach so, ein Essen.« Hilflos lachend drehte sie sich zu ihm um. »Ein Essen ist natürlich etwas anderes.«

Deniz fühlte sich nicht nur wie ein Sieger. Er lächelte auch so.

»Wunderbar. Wann hast du heute Mittagspause? Ich koche für dich. Weißt du, wo mein Bruder wohnt?«

*

»Meine Güte. Sie sind ja schon wieder ganz schön in Fahrt!« Schwester Regine zog das Stethoskop von den Ohren und hängte es um den Hals.

»Ehrlich gesagt bin ich auch froh, wenn Sie mich gleich einschlafen lassen«, murmelte Moritz.

Im Vorraum des Operationssaals herrschte ein Treiben wie auf einem Wochenmarkt. Ärzte und Pflegepersonal eilten hin und her. Mobile Geräte wurden durch den Raum geschoben. Schranktüren klapperten. Das Geräusch von fließendem Wasser. Dr. Daniel Norden trat ans Bett.

»Machen Sie sich nicht allzu viele Sorgen. Das hat noch nie geholfen, aber umso öfter geschadet.«

Moritz verzog den Mund.

»Leichter gesagt als getan.«

»Dann werden wir Sie schnell ins Reich der Träume schicken, damit Ihr Herz nicht noch mehr Unheil anrichtet.« Ein Lächeln in Richtung Patient und ein Nicken für die Schwester.

Regine wusste, was sie zu tun hatte.

»Jetzt bekommen Sie noch eine hübsche Schlafmütze von mir, und dann kann es auch schon losgehen.«

»Tun Sie sich keinen Zwang an.« Moritz schloss die Augen. Die kühle Flüssigkeit, die durch den Zugang am Handgelenk unter seine Haut strömte, fühlte sich komisch an. Bevor er diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, war er eingeschlafen.

»Blutdruck?«, fragte Dr. Norden, als er Minuten später am Operationstisch stand.

Dr. Ramona Räther warf einen Blick auf die Überwachungsmonitore.

»125 zu 70.«

Wie dienstbare Geister versammelte sich das Operationsteam um den Tisch. Daniel Norden nickte seinem Kollegen Kohler zu.

»Gut.« Er sah hinüber zu seinem Assistenzarzt Dr. Gruber. »Manschettendruck auf 200 Millimeter Hg?«

»Habe ich gemacht.«

Daniel nahm auf einem Hocker Platz.

»Von jetzt an 120 Minuten.« Er streckte die rechte Hand aus. »Skalpell!« Durch den Handschuh hindurch fühlte er das kühle Metall. Das Gewicht des Instruments.

Seine Bewegungen waren flüssig, als er die Klinge auf die Haut und den Schnitt setzte.

Eine Weile arbeiteten er und seine Kollegen schweigend. Nur hin und wieder fiel ein Wort.

»Die Manschette hat sich gelöst.« Dr. Räthers Worte zerrissen die konzentrierte Stille.

Der Klinikchef sah hoch. Seine Augenbrauen waren zu einem Balken zusammengewachsen.

»Wie kann das sein?«, fragte er scharf.

»Mein Fehler.« Benjamin Gruber räusperte sich. Hätte seine Stimme eine Farbe gehabt, wäre sie rot ­gewesen. So rot wie seine Wangen unter der Maske. »Da muss irgendwas …«

»Schon gut. Kann passieren, sollte aber nicht.« Ein Blick hinüber zur Anästhesistin.

Ramona verstand die stumme Frage des Chefs.

»Alles wieder klar. Sie können weitermachen.«

Benjamin Gruber atmete auf und konzentrierte sich wieder auf seine Arbeit.

Etwas mehr als zwei Stunden später stand er neben Dr. Räther am Waschbecken.

»Ich mache mir solche Vorwürfe. Das hätte nicht passieren dürfen.«

»Kommen Sie schon.« Ohne Benjamin aus den Augen zu lassen, stellte sie das Wasser ab und griff nach einem Handtuch. Das weiche Frottee schmeichelte der Haut. »Jeder macht mal einen Fehler.«

»Aber doch nicht, wenn der Chef dabei ist.« Das Unglück stand dem Assistenzarzt ins Gesicht geschrieben.

Ramona las darin wie in einem offenen Buch.

»Sicher, er ist ein Perfektionist und will immer das allerbeste Ergebnis für seine Patienten erzielen. Aber den Kopf wird er Ihnen deshalb nicht abreißen.«

»Da wäre ich mir an Ihrer Stelle nicht so sicher.« Dr. Gruber hatte kaum ausgesprochen, als sich die Schiebetür öffnete. Ausgerechnet Dr. Norden!

Der Klinikchef gesellte sich zu den Kollegen ans Waschbecken. Benjamin schluckte.

»Dr. Norden, es tut mir so leid. Das war unprofessionell und hätte nicht passieren dürfen.«

Daniel stutzte.

»Fehler passieren. Daran sollten Sie sie sich so schnell wie möglich gewöhnen. Schließlich sind wir alle nur Menschen«, verlangte er dann. »Entscheidend ist Ihre Reaktion darauf. Und die hat mich wirklich beeindruckt.« Er lächelte. »Statt in Panik zu geraten, haben Sie souverän gehandelt. Dadurch haben Sie weder die OP gefährdet noch dem Patienten geschadet. Was kann man mehr verlangen?« Er beugte sich über das Waschbecken und seifte sich die Hände ein.

Benjamin stand einen Moment wie versteinert da. Versuchte zu verstehen, was er da gerade gehört hatte. Erst Ramonas Hand auf seiner Schulter weckte ihn aus seiner Versunkenheit. Mit einem Lächeln im Gesicht verließ er den Vorraum zum OP.

*

»Vince, jetzt warte doch!« Rebecca warf sich gegen die Glastür.

Kalte Luft schlug ihr entgegen. Raubte ihr den Atem. Sie schlang die Arme um den Oberkörper und hastete weiter.

Obwohl sich die ehemalige Klinikchefin Dr. Jenny Behnisch alle Mühe gegeben hatte, dass der Klinikgarten zu jeder Jahreszeit eine Oase der Erholung war, bot er jetzt einen traurigen Anblick. Die Bäume reckten nackte Äste in den grauen Himmel. Dort, wo im Sommer Stauden stolz ihre Blüten der Sonne entgegen streckten, standen nur verdorrte Stängel. Der ganze Garten wirkte wie ein riesiges Grab und passte damit perfekt zu Rebeccas Stimmung.

Ihr Bräutigam blieb so unvermittelt stehen, dass sie um ein Haar mit ihm zusammengestoßen wäre.

»Worauf soll ich denn warten, hä?« Zwischen ihnen waren nur ein paar Zentimeter. Sie spürte die Hitze, die sein Körper abstrahlte. Sah die Poren auf seiner Haut. Das geplatzte Äderchen im rechten Auge.

»Ich muss mit dir reden.« Die kalte Luft brannte in ihren Lungen.

»Was gibt’s denn da noch zu reden?« Vincent fuchtelte mit den Händen durch die Luft. »Ruf lieber die Gäste an und sag die Hochzeit ab.«

Rebecca starrte zu Boden.

»Natürlich.« Sie scharrte mit der Schuhspitze im Kies. »Es tut mir leid.«

»Das ist ja wohl das Mindeste, was ich erwarten kann.« Die kalte Luft verfehlte ihre Wirkung nicht. Langsam kühlte Vincents Wut ab. »Seit wann läuft das eigentlich schon zwischen euch?«

»Kurz nachdem wir unsere Hochzeit bekannt gegeben haben, hat Moritz Kontakt mit mir aufgenommen.« Rebeccas Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Er hatte tausend Fragen wegen der geplanten Seite im Internet, der Hochzeitszeitung, den Spielen, die deine Freunde veranstalten wollten. Ja, und irgendwann, bei einem dieser Treffen …«

»Erspar mir bitte die Details.«

»Irgendwann haben wir bemerkt, dass wir uns ineinander verliebt haben«, fuhr Rebecca unbeeindruckt fort. Das war die Gelegenheit, reinen Tisch zu machen. Die wollte sie nicht verstreichen lassen. »Wir haben uns wirklich dagegen gewehrt. Aber nach dem Streit wegen deiner Ex-Freundin ist es dann passiert.«

Eine Weile sagte niemand ein Wort. Vom Straßenlärm war hier hinten kaum etwas zu hören. Nur ein Rauschen, das an einen Fluss erinnerte. Endlich hob Vincent den Kopf.

»Na ja, was soll’s.« Er grinste schief. »Wir beide passen eh nicht zusammen. Ich wollte nie Kinder haben.«

*

Es klingelte. Deniz warf einen letzten Blick auf die gedeckte Tafel. Perfekt. Sogar an die Blumen hatte er gedacht.

»Die schöne Helena! Ich freue mich!« Er strahlte seine Besucherin an.

Elena dagegen lächelte nur verhalten. Die anfängliche Euphorie war verpufft. Übrig geblieben war nur ein schales Gefühl. Und Zweifel. Was tat sie da nur?

»Vielen Dank für die Einladung.« Sie überreichte Deniz eine Flasche Sangiovese, die sie schnell noch im Klinikkiosk erstanden hatte.

»Oh, italienischer Rotwein. Vielen Dank! Aber eigentlich bevorzuge ich als Rauschmittel Gras. Das ist weniger gefährlich.«

»Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich noch schnell zu einer Gärtnerei gefahren«, platzte Elena heraus.

Ein verdutzter Blick. Dann warf Deniz den Kopf in den Nacken und lachte schallend.

»Eine schöne Frau mit Sinn für Humor. Du gefällst mir immer besser.« Er nahm sie an die Hand und führte sie ins Wohnzimmer. »Es ist alles bereit, Königin.«

Froh über die Ablenkung sah Elena zum Esstisch hinüber. Ein paar Zeitschriften lagen dort. Eine vergessene Tasse. In einer Schale runzelte ein Apfel vor sich hin.

»Gehen wir zum Essen?«

»Aber nein.« Deniz nahm seine Besucherin an den Schultern und drehte sie um.

Elena starrte hinab auf die karierte Picknickdecke, auf der Deniz Schalen und Schüsseln, Löffel und Gläser verteilt hatte.

»Wir essen auf dem Boden?«

»Natürlich. Wo denn sonst?« Er bugsierte sie hinüber und drückte sie auf einen Stapel Kissen. »Sag bloß, du bist genauso spießig wie mein Bruder. Milan kriegt schon die Krise, wenn er mit den Händen essen soll.«

Elena beschloss, das Thema zu wechseln.

»Kochst du immer selbst?«, rief sie ihm nach.

»Natürlich. Warum nicht?«, antwortete Deniz aus der Küche.

»Das würde meinem Mann …« O Mist! Warum musste sie Eric erwähnen? Ausgerechnet jetzt? »Das würde vielen Männern im Traum nicht einfallen.«

Deniz tauchte wieder aus der Küche auf. Der Reis auf dem Tablett dampfte.

»Keine Angst.« Er zwinkerte ihr zu. »Ich weiß, dass du verheiratet bist.«

»Und das macht dir nichts aus?«

»Ganz im Gegenteil.« Er stellte das Tablett auf den Boden. »Dann kommst du wenigstens nicht auf die Idee, dir ein Kind von mir zu wünschen.«

»Nein, wirklich nicht.« Elena legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und lachte.

Als sie die Augen wieder öffnete, blickte sie direkt in Milans Gesicht. Das Lachen blieb ihr im Hals stecken.

»Dr. Aydin.« Ihr Blick flog hinüber zu Deniz. »Ihr Bruder war so freundlich, mich zum Essen einzuladen.«

Deniz war mindestens genauso überrascht wie sie selbst. Milan fing sich als Erster wieder.

»Herzlich willkommen in meinem Zuhause.« Sie reichten sich die Hände.

Auch Deniz hatte seine Sprache wiedergefunden.

»Was machst du um diese Uhrzeit hier? Musst du nicht arbeiten?«

»Ich habe eine Patientenakte daheim vergessen, die ich heute Nachmittag brauche.« Milan blickte hinab auf den Boden. Musterte die Schüssel mit Reis. Dem Topf daneben entströmte ein verführerischer Duft. »Aber wenn ich schon mal hier bin, kann ich ja auch gleich etwas essen.«

»Du hattest schon immer ein Talent für den richtigen Augenblick.« Deniz’ Augen funkelten, als er sich im Schneidersitz auf den Boden setzte und Getränke einschenkte. »Früher ist er immer ganz zufällig an dem See aufgetaucht, an dem ich mich mit meiner Freundin zum Knutschen getroffen habe. Einmal ist er sogar splitterfasernackt durch den See geschwommen, weil es keinen anderen Weg gab.«

Elena hatte Mühe, nicht laut herauszulachen. In seiner Not beugte sich Milan zur Reisschale hinab und hielt sie Deniz hin.

»Was ist das eigentlich in dem Topf da? Das riecht ja ganz vorzüglich.«

»Das ist mein Kürbis-Mango-Curry. Aber Vorsicht. Es könnte scharf sein.« Der Reis färbte sich goldgelb. »Aber nicht so scharf wie die Braut, die du mir bei unserem letzten Treffen vorgestellt hast. Wie hieß sie doch gleich? Chili?«

Milans Wangen wurden so rot wie die Flasche Wein auf dem Tisch.

»Chiara. Aber das interessiert Schwester Elena bestimmt nicht.«

»Natürlich tut es das, nicht wahr?« Ehe Elena antworten konnte, fuhr Deniz fort. »Stell dir vor, die schöne Chiara hat sich vor der Tür auf seinen Schoß gesetzt und angefangen, ihn auszuziehen.«

Milan hustete.

»Schwester, darf ich Ihnen noch ein Glas Wasser anbieten?«, keuchte er. »Das Zeug ist wirklich höllisch scharf.«

»Nein, danke, ich finde es ganz köstlich.« Elena gluckste vor unterdrücktem Lachen. »Außerdem würde ich sehr gern hören, wie die Geschichte weitergegangen ist.«

»Kein Problem«, ergriff Deniz das Wort, bevor Milan Gelegenheit dazu hatte. »Der Zeitungsausträger kam vorbei. Am Ende hatte Milan eine Anzeige wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses am Hals. Und Chiara war spurlos verschwunden.«

»Das mit der Anzeige ist nicht so schlimm. Unser Chef ist ein großzügiger Mann.« Elena zwinkerte Milan zu. »Solange Dr. Aydin seine Arbeit gut macht …«

»Der Klinikchef hat es erfahren, als der Zeitungsbote ein paar Wochen später auf Milans OP-Tisch lag«, japste Deniz. Vor Vergnügen klopfte er sich auf den Schenkel.

»Oh, so spät schon!« Flucht war Milans einzige Möglichkeit, diesem peinlichen Auftritt ein Ende zu bereiten. »Ich muss zurück in die Klinik. Wenn Sie wollen, nehme ich Sie gleich mit, Schwester.« Milan schickte Elena einen tiefen Blick.

Sie verstand und stellte die Schüssel auf den Boden.

»Jetzt schon?«, ging Deniz dazwischen. »Ich kann dich auch zurückbringen.«

»Nein. Sie kommt mit mir!«, sprach Milan ein Machtwort.

Elena sah von einem zum anderen.

»Ich glaube, es ist wirklich besser, wenn ich jetzt in die Klinik zurückgehe. Meine Mittagspause ist ohnehin gleich vorbei.« Sie rappelte sich vom Boden hoch. »Vielen Dank für den Einblick in das Leben meines geschätzten Kollegen. Und natürlich für das gute Essen.« Sie schickte Deniz eine Kusshand.

Nur zwei, drei Augenblicke später fiel die Tür ins Schloss. Deniz zitterte vor Wurt. Dank seines Bruders war alle Mühe umsonst gewesen. Er holte mit dem Fuß aus. Der Topf flog quer durch das Zimmer und landete an der Wand. Goldgelbe Sprenkel, soweit das Auge reichte. Milan würde einen Tobsuchtanfall bekommen. Doch die erhoffte Genugtuung wollte sich trotzdem nicht einstellen.

*

Schritte quietschten über den Flur. Wurden lauter und wieder leiser. Stimmen. Irgendjemand lachte.

Je weiter Moritz Loibl Richtung Oberfläche trieb, umso mehr Geräusche drangen in sein Bewusstsein vor. Eines erregte seine Aufmerksamkeit besonders. Er versuchte, die Augen zu öffnen. Die Lider waren schwer wie Blei. Doch es nützte nichts. Er musste diesem Geräusch auf den Grund gehen. Und wünschte im nächsten Moment, nicht so neugierig gewesen zu sein.

Frauentränen gehörten zu den schlimmeren Dingen im Leben eines Mannes. Schlimmer als ein verlorenes Spiel des Lieblingsfußballvereins. Schlimmer als von einer Frau verlassen zu werden. Schlimmer als der Verrat des besten Freundes.

»Becky?«, krächzte er pflichtschuldig. »Warum weinst du?

»Du bist wach?« Schnell fuhr sie sich mit dem Ärmel übers Gesicht.

»Sieht so aus.« Endlich gelang es Moritz, die Lider weiter zu heben. Er blinzelte ins graue Licht des Tages. »Was ist los? Ist es wegen Vince?«

Rebecca saß im Halbdunkel neben ihm. Sie schüttelte den Kopf.

»Nein. Das war die richtige Entscheidung. Wir wären niemals glücklich miteinander geworden.«

»Was ist es dann?« Eine eiskalte Hand griff nach Moritz’ Herzen. Wusste sie etwas, was er nicht wusste? »Haben die Ärzte was gesagt? Ist die OP schief gegangen?« Mit einem Schlag war alles wieder da. Die Angst um sein Bein. Um seinen Traumberuf. Seine Existenz.

Becky zuckte mit den Schultern.

»Keine Ahnung. Ich bekomme ja keine Auskunft. Aber wenn du willst, hole ich einen Arzt.« Sie stand auf. Knickte kurz ein.

Moritz zog eine Augenbraue hoch.

»Alles in Ordnung?«

»Ich bin nur komisch dagesessen.« Sie zwang sich ein Lächeln auf die Lippen und schlüpfte durch die Tür.

Kurz darauf waren wieder Schritte zu hören. Diesmal gingen sie nicht vorbei. Dr. Norden betrat die Bühne. Er war allein.

»Herr Loibl, willkommen zurück.« Der Klinikchef trat ans Bett. Griff nach Moritz’ Handgelenk und sah auf die Uhr. Schließlich nickte er zufrieden. »Wie fühlen Sie sich?«

»Keine Ahnung. Sagen Sie es mir.«

Daniel kontrollierte die Tropfgeschwindigkeit der Infusion. Er drehte am roten Rädchen.

»Sie haben Glück, dass Sie jung und gesund sind. Ihr Herz hat den Eingriff gut überstanden. In den nächsten Wochen sollten sie emotionalen Stress vermeiden. Keine Aufregung und auch nur moderate körperliche Betätigung. Dann sollte bald alles wieder in Ordnung sein.«

»Und was ist mit meinem Bein?«

Es gab viele gute Gründe, warum Dr. Norden Arzt geworden war. Neben den Herausforderungen der unterschiedlichsten Krankheiten liebte er den Kontakt zu den Patienten. Er veränderte das Leben der Menschen, genauso wie sie seines beeinflussten. Auch die Bezahlung war nicht schlecht. Aber das Gefühl nach einer gelungenen Operation, einer erfolgreichen Behandlung war nicht mit Geld aufzuwiegen. Doch es gab einen Aspekt, auf den er nur zu gern verzichtet hätte: Das Überbringen von Nachrichten, die die Patienten nicht hören wollten.

Er gab sich einen Ruck.

»Die Transplantation ist erfolgreich verlaufen. Ob das verpflanzte Gewebe seine Arbeit aufnimmt, kann ich Ihnen leider noch nicht sagen.«

Moritz fühlte sich, als hätte ihm der Klinikchef einen rechten Haken verpasst. Er suchte noch nach Worten, als Dr. Norden fortfuhr.

»Die Schiene müssen Sie ungefähr zwei Wochen lang tragen. Danach können Sie mit der Physiotherapie beginnen. Erst dann wird sich zeigen, ob unsere Bemühungen von Erfolg gekrönt sind.«

»Und wenn nicht?«, krächzte Moritz.

»Wie Sie selbst schon gesehen haben, ist bei einer Schädigung der Tibialis Mitte Unterschenkel eine Krallenstellung der Zehen zu beobachten. Außerdem ist zu befürchten, dass Sie Fuß und Zehen nicht mehr ordentlich beugen können. Auch mit der Auswärtsdrehung könnte es Probleme geben. Der Sensibilitätsausfall auf der Fußsohle ist möglicherweise dauerhaft.« Zu gern hätte der Klinikchef andere Nachrichten überbracht.

Doch eine Lüge brachte den Patienten nicht weiter.

Mit jedem Wort schwand Moritz’ Hoffnung.

»Wie können Sie dann behaupten, dass die Transplantation erfolgreich war?« Er machte keinen Hehl aus seiner Verzweiflung.

»Ganz einfach: Weil es uns gelungen ist, einen Hautnerv zu entnehmen und an anderer Stelle wieder einzupflanzen. Alles andere muss die Zeit zeigen. Eine Regeneration von Nervengewebe nimmt viel Zeit in Anspruch. Deshalb ist es wichtig, die richtigen Reize zu setzen und regelmäßig und konsequent zu üben.«

»Na prima.« Moritz klatschte in die Hände. »Das sind ja großartige Aussichten. Ich verliere meinen Job und meine Existenz. Dabei muss ich demnächst eine Familie ernähren.« Mit jedem Wort wurde seine Stimme lauter. »Können Sie mir mal erklären, wie ich das anstellen soll?«

Selbst Vater von fünf Kindern, konnte sich Dr. Daniel Norden gut in die Situation des jungen Mannes hinein versetzen. Mit jedem Kind war die Angst gewachsen, eines Tages nicht mehr für die Familie sorgen zu können. Zum Glück gehörten diese Sorgen längst der Vergangenheit an. Daniels Kinder waren erwachsen. Außerdem trug nun auch seine Frau Felicitas zum Familieneinkommen bei und sicherte ihre Existenz. Zu gern hätte er Moritz ein Stück dieser Sicherheit abgegeben. Doch leider gab es nicht gegen jede Krankheit eine Medizin.

»Noch gibt es eine Chance, dass Sie wieder ganz gesund werden«, versuchte er, seinem Patienten Mut zu machen. »Sie müssen Geduld haben.«

Seine Worte verhallten ungehört. Moritz lag im Bett und starrte aus dem Fenster. Seine Augen waren leer.

*

»Ich meine, wir wissen ja, dass er es faustdick hinter den Ohren hat.« Schwester Astrid kicherte, als sie das Büro der Pflegedienstleitung Seite an Seite mit ihrer Freundin und Kollegin Schwester Josepha verließ.

»Aber dass er es so bunt treibt, hätte ihm bestimmt keiner zugetraut.« Josepha prustete hinter vorgehaltener Hand und wollte noch etwas sagen, als sie Dr. Aydin auf dem Flur entdeckte. Sie machte den Mund wieder zu und stieß ihre Freundin in die Seite.

»Hallo, Dr. Aydin«, schallte es wie aus einem Mund.

Milan spürte, wie sich seine Nackenhaare sträubten. Statt wie geplant seinen Weg fortzusetzen, bremste er, dass die Reifen quietschten. Diesmal gelang sein Wendemanöver nicht so perfekt wie sonst. Um ein Haar wäre er am Türrahmen gelandet. Doch selbst davon nahm er keine Notiz. Ein kräftiger Schubs, und er hielt vor Schwester Elenas Schreibtisch.

»Was fällt Ihnen ein?«, donnerte er.

Langsam legte sie den Hörer auf die Gabel zurück.

»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen, Kollege Aydin.«

»Tun Sie nicht so scheinheilig!« Wenn er gekonnt hätte, wäre er über den Tisch gesprungen. »Das Gelächter war ja wohl nicht zu überhören. Was fällt Ihnen ein, vertrauliche Geschichten unter den Kollegen auszuplaudern? Noch dazu vor den Lästerschwestern. Wollen Sie meinen Ruf ruinieren?«

Daher also wehte der Wind! Elena lehnte sich zurück.

»Ach, das meinen Sie.« Sie lächelte. »Da haben Sie etwas missverstanden. Einer unserer Patienten hat mir einen lustigen Witz erzählt, den ich bei den Kolleginnen zum Besten gegeben habe. Sie können mir glauben. Ich würde niemals Vertraulichkeiten weiterplaudern.«

Milan atmete ein paar Mal ein und aus. Sein Herzschlag beruhigte sich. Er öffnete die Fäuste und lockerte die Finger. Endlich gelang ihm ein Lächeln.

»Das Meiste von dem, was Sie heute gehört haben, ist nicht wahr. Manchmal geht die Fantasie mit meinem Bruder durch.«

»Das habe ich mir schon gedacht.«

Ein Stoßseufzer der Erleichterung.

»Ich bin wirklich froh, dass Sie sich nicht von Deniz um den kleinen Finger wickeln lassen.«

»Trotzdem finde ich es schade, dass er schon wieder abreist«, erwiderte Elena und erhob sich, um Milan hinauszubegleiten. »Wir treffen uns später noch einmal im Kiosk.« Sie hielt ihrem Besucher die Tür auf.

Diesmal zeigte Milan seinen Ärger nicht. Sein charmantestes Lächeln auf den Lippen verabschiedete er sich von Elena und fuhr davon. Er war kaum um die Ecke gerollt, als er das Handy aus der Kitteltasche nestelte.

»Ich dachte, ich hätte mich unmissverständlich ausgedrückt«, fauchte er drei Klingeltöne später ins Handy. »Was fällt dir ein, dich noch einmal mit Elena zu treffen?«

»Reg dich ab, Alter. Das gibt Falten.« Deniz stand im Wohnzimmer vor seinem gepackten Rucksack. Er schlang den bunten Schal um den Hals. »Ich nehme den Zug heute Abend und wollte mich nur von Elena verabschieden. Im Gegensatz zu dir weiß ich nämlich, was sich gehört.«

»Du reist also wirklich ab?«

»Sag bloß, du bist traurig«, spottete Deniz.

»Nicht direkt. Hoffentlich hast du aufge …«

»Ja, ja, keine Sorge. Ich habe dein Reich wieder in den spießigen Urzustand versetzt.« Die Flecken an der Wand erwähnte Deniz vorsichtshalber nicht. Es genügte, wenn Milan sie am Abend entdeckte. Dann wäre er längst über alle Berge.

Das Handy am Ohr, schulterte Deniz den Rucksack und verließ das Wohnzimmer. Aber was war das? Schnuppernd hob er die Nase.

»Was riecht denn hier so komisch?«

Am anderen Ende der Leitung rollte Milan mit den Augen.

»Wahrscheinlich dein schreckliches Essen.«

Deniz drehte sich um die eigene Achse.

»Hier brennt irgendwas.« Als er den Rauch bemerkte, rutschte ihm das Handy aus der Hand. Er rannte los.

»Wie bitte? Deniz? Hallo?«, rief Milan in den Apparat. »Kannst du mich hören? Sag doch was!«

Doch der Holzboden gab keine Antwort.

*

Rebecca saß an einem der Tische unter Palmen und leerte die Tasse Tee. Von der Schönheit um sich herum bekam sie nichts mit. Mit ausdruckslosen Augen starrte sie vor sich hin. Lauschte auf die beängstigenden Fragen, die in ihrem Kopf kreisten wie das Blut in ihren Adern. Wie ging es Moritz? Was würden ihre Freunde zu der abgesagten Hochzeit sagen? War es besser, das Kind abzutreiben? Was war das mit Moritz überhaupt? Fragen über Fragen und keine Antwort in Sicht.

»Geht es Ihnen besser?« Die Stimme der Bedienung riss sie aus ihren Betrachtungen.

Rebecca rang sich ein kleines Lächeln ab.

»Alles gut, vielen Dank.«

Ein paar Geldstücke klimperten auf der Tischplatte.

Die Bedienung achtete nicht darauf.

»So sehen Sie aber nicht aus. Soll ich einen Doktor holen?«

Rebecca schüttelte den Kopf.

»Nein, danke. Es ist wirklich alles in Ordnung«, wiederholte sie und stand auf. Mit einem »Stimmt so!« verabschiedete sie sich und machte sich auf den Weg zu Moritz. Hoffentlich war es Dr. Norden gelungen, ihn mit guten Nachrichten aufzumuntern. Tapfer ignorierte sie das Brennen und Stechen, das sie seit Wochen begleitete. Im Augenblick gab es wichtigere Dinge. Wie zum Beispiel Moritz, der ihr auf Krücken auf dem Flur entgegenkam.

Rebecca rieb sich die Augen. Doch sie irrte sich nicht.

»Was machst du da?«, rief sie ihm zu.

Ungeachtet ihrer Schmerzen verfiel sie in Laufschritt.

»Wonach sieht es denn aus?« Er blieb stehen. Lehnte die eine Gehhilfe an die andere und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. »Ich hätte nie gedacht, dass es so schwierig ist, mit Krücken zu gehen.«

»Darfst du das überhaupt schon?«

»Die Nervenenden müssen stimuliert werden, um zusammenzuwachsen. Wenn ich wieder arbeiten will, muss ich üben, üben und noch einmal üben.«

»Kannst du dir nicht wenigstens ein bisschen Ruhe gönnen? An der Schule gibt es doch bestimmt Lehrer, die deine Stunden übernehmen können, bis du wieder halbwegs fit bist.«

Moritz griff wieder nach der Krücke. Schritt für Schritt kämpfte er sich vorwärts. Ein Glück, dass sich der Klinikflur um diese Uhrzeit langsam leerte. Die Hindernisse, die umkreist werden mussten, hielten sich in Grenzen.

»In zwei, spätestens drei Monaten muss ich wieder fit sein, um meine Schützlinge auf das Abitur vorzubereiten. Wenn mir das nicht gelingt, kann ich als Sportlehrer einpacken. Dann bin ich meine Existenz los. Und dann? Wie soll ich dann bitteschön eine Familie ernähren? Mit Hartz IV?« Einem Peitschenhieb gleich knallten seine Worte über den Flur.

Rebecca duckte sich. Oder war es der Schmerz, der sie zusammenzucken ließ? Das Wasser schoss ihr in die Augen.

»Glaubst du, ich wollte unbedingt schwanger werden? Ausgerechnet jetzt?« Die Wimperntusche löste sich in den Tränen auf. Schwarze Bäche rannen über ihre Wangen. »Aber falls es dich erleichtert: Du musst dich nicht für mich verantwortlich fühlen. Ich komme schon allein klar.« Ein letzter, verzweifelter Blick. Rebecca fuhr herum und lief davon, so schnell es ihre wackeligen Beine erlaubten.

Auf Krücken gestützt stand Moritz da und starrte ihr nach. Warum war sie denn plötzlich so wütend? Endlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Natürlich: Er hatte die ganze Zeit nur an sich gedacht. Nur von sich gesprochen. Über seine Probleme nachgedacht. An Rebecca hatte er in dem Chaos keinen einzigen Gedanken verschwendet. Dabei hatte sie ohne mit der Wimper zu zucken ihre Zukunft für ihn aufgegeben. Was war er für ein Idiot!

Im Normalfall wäre es ein Leichtes gewesen, der Frau seines Lebens nachzulaufen. Sie auf Knien um Vergebung zu bitten. Doch jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als ihr hinterher zu starren, bis der letzte Zipfel ihrer blutroten Strickjacke um die Ecke verschwand.

*

Nur mit Mühe gelang es Milan Aydin, den Rollstuhl am Feuerwehrauto vorbei zu zwängen, das halb auf dem Gehweg parkte. Im Normalfall regte er sich fürchterlich darüber auf, wenn die Rechte von Behinderten missachtet wurden. An diesem Tag verschwendete er noch nicht einmal einen Gedanken daran. Er bugsierte den Rollstuhl durch den Hausflur. Die Traube Menschen teilte sich vor ihm. Er sah nicht nach links und nicht nach rechts, als er durch die offene Tür in seine Wohnung fuhr. Zwei Feuerwehrleute kamen ihm entgegen. Dahinter entdeckte er Deniz. Der Anblick seines Bruders traf ihn wie die Banderilla den Stier.

»Was fällt dir eigentlich ein? Nicht genug damit, dass du mich vor aller Welt zum Hanswurst machst, fackelst du jetzt auch noch meine Wohnung ab!« Seine Stimme überschlug sich. Spucketröpfen flogen durch die Luft. »Hast du im Drogenrausch einen von deinen Joints auf der Couch liegen gelassen? Oder die Wasserpfeife umgeworfen?«

Ein Glück, dass Deniz weit genug weg stand. Er lehnte in der Tür zum Wohnzimmer und verschränkte die Arme vor dem Oberkörper. Es fehlte nicht viel, und Milan hätte ihm das überhebliche Grinsen aus dem Gesicht geschlagen.

»Was gibts da zu lachen? Raus mit der Sprache! Wo hat es gebrannt?«

Deniz grinste.

»Nirgendwo. Die Feuerwehr war rechtzeitig hier. Außerdem war es nicht meine Schuld.«

»Ihr Bruder hat recht.« Ein Feuerwehrmann kam ihm zu Hilfe. »Sind Sie der Eigentümer?«

Milan schluckte die Beleidigung, die ihm auf der Zunge lag, hinunter. Er nickte.

»Der bin ich.«

»Sehr schön. Dann kommen Sie mal mit.« Der Mann mit dem Helm winkte ihn mit sich.

In der Küche machte er Halt. Deutete auf das, was vom Dreifachstecker in der Ecke übrig geblieben war.

»Wussten Sie nicht, dass Mehrfachsteckdosen nicht beliebig mit weiteren Mehrfachsteckern belastet werden dürfen?«

»Ähm …« Milans Blick ruhte auf dem Turm an Steckdosen, den er selbst zusammengesteckt hatte. Wie ein Kind eine Fantasiestadt aus Legosteinen. Irgendwie musste er ja all die elektrischen Helfer betreiben, die seinen Alltag angenehm machten. »Ich habe doch eh nur die wichtigsten Geräte angesteckt.«

Der spöttische Blick des Feuerwehrmannes ruhte auf Kaffeemaschine und Toaster, auf Eier- und Wasserkocher, Standmixer und elektrischem Ice Crusher.

»Trotzdem haben Mehrfachsteckdosen eine Leistungsgrenze. Allein Kaffeemaschine und Wasserkocher benötigen jeweils eine Leistung von 3500 Watt. Doppelt so viel, wie eine Steckdose leiten kann. Die Folge sind überhitzte Mehrfachsteckdosen, die sich selbst und brennbares Material in Brand setzten können. Da genügt manchmal schon ein bisschen Staub, und die Bude brennt lichterloh.«

Milan drehte sich zu seinem Bruder um.

»Dann kannst du ja wirklich nichts dafür.«

Mit Genugtuung bemerkte Deniz die Schamesröte auf den Wangen seines Bruders.

»Ganz im Gegenteil. Du kannst froh sein, dass ich noch da war. Sonst wärst du jetzt obdachlos.«

Milan räusperte sich umständlich.

»Tut mir leid, dass ich dir die Schuld in die Schuhe schieben wollte.« Er wusste nicht, wo er hinsehen sollte, und entschied sich schließlich für den bunten Schal, der von Deniz’ Schultern baumelte.

»Schon gut.« Deniz klopfte seinem Bruder auf die Schulter. »Ich schätze, damit sind wir quitt.« Er schulterte seinen Rucksack und winkte. »Mach’s gut, Bruderherz. Bis zum nächsten Mal.«

»Moment!«, rief Milan ihm nach. »Es ist doch noch viel zu früh für den Bahnhof.« Seine Stimme hallte durch die Wohnung. »Du gehst doch nicht etwa wirklich in die Klinik zu Elena?«

»Ich hab dich auch lieb!«, hallte Deniz’ Stimme durch den Flur.

Gleich darauf fiel die Tür krachend ins Schloss.

*

»Regine, die Patientin auf der 24 klagt über Wundschmerzen. Bitte sehen Sie sich das mal an.« Wie ein Kapitän stand die Pflegedienstleitung hinter dem Tresen und dirigierte ihre Besatzung. »Und Astrid, wegen Ihrer Urlaubsplanung kommen Sie später bitte noch einmal zu mir. Darüber müssen wir uns noch einmal unterhalten.« Ein Geräusch ließ Elena aufhorchen. Es war nicht mehr als ein leises Stöhnen. Alarmierend klang es trotzdem. Sie sah sich um. Entdeckte die Frau, die sich an der Wand abstützte. Mit wenigen Schritten war sie bei ihr.

»Ist Ihnen nicht gut?«

»Ich weißt nicht. Mein Bauch … ich bin schwanger.«

Elena dachte nicht lange nach.

»Josepha, ich brauche einen Rollstuhl.« Ihre Stimme übertönte das Summen im Flur. »Und rufen Sie Dr. Gröding an. Das hier ist ein Fall für die Gynäkologie.«

Ehe Rebecca es sich versah, saß sie in einem Rollstuhl und war auf dem Weg zum Frauenarzt.

»Wie weit sind Sie denn?«, erkundigte sich Schwester Elena unterwegs. »Ich meine mit der Schwangerschaft.« Sie umrundete die Reinigungsfrau, die die Kehrmaschine über den Gang schob.

»Keine Ahnung. Ich weiß es erst seit drei Tagen«, keuchte Rebecca und presste die Hand auf den Bauch. »Hoffentlich ist der Spaß nicht schon vorbei, bevor er richtig begonnen hat.«

»Hin und wieder kommen solche Krämpfe in der Frühschwangerschaft vor.« Solange das Gegenteil nicht bewiesen war, agierte Elena nach dem Prinzip Hoffnung. »In den ersten Schwangerschaftsmonaten nistet sich nicht nur das Ei in der Gebärmutter ein. Auch die Plazenta bildet sich. Wie eine Pflanze durchdringen ihre wurzelähnlichen Zotten nach und nach die Gebärmutter. Für die Versorgung des heranwachsenden Kindes werden neue Blutgefäße gebraucht. All diese Prozesse gehen nicht immer spurlos an den werdenden Müttern vorüber.«

Rebecca wäre es nicht aufgefallen, wenn Elena vom Wetter gesprochen hätte. Es war der Klang ihrer Stimme, der sie beruhigte. Und nicht nur das. Auch das Ziehen im Unterleib ließ nach. Doch ein Rest Zweifel blieb.

»Hoffentlich haben Sie recht. Obwohl … vielleicht wäre es besser, wenn der Zwerg gar nicht erst zur Welt kommt.«

Schwester Elena bugsierte den Rollstuhl um die Ecke.

»Will der Vater das Kind nicht?«

»Keine Ahnung. Der denkt im Augenblick nur an sich.« Rebecca zuckte mit den Schultern. »Moritz liegt seit gestern selbst hier in der Klinik und weiß nicht, wie es weitergehen soll.« Als ob das eine Ausnahmesituation wäre!

Schon früh hatte Becky lernen müssen, dass das Leben kein Zuckerschlecken war. Nach dem Unfalltod der Eltern war sie bei ihren Großeltern aufgewachsen. Sie steckte noch mitten in der Ausbildung, als beide kurz nacheinander gestorben waren. Seitdem wusste sie, dass es immer irgendwie weiterging. Egal, wie ausweglos die Situation schien. Doch manchmal wuchsen selbst Rebecca die Sorgen über den Kopf. Manchmal brach es einfach aus ihr heraus. Wie in diesem Moment. »Außerdem sollte ich heute eigentlich seinen besten Freund heiraten. Aber ich kann die Wahrheit doch nicht einfach so verschweigen?«

Sie waren vor Dr. Grödings Behandlungszimmer angekommen.

Elena zögerte.

»Klingt nach einem großen Durcheinander.«

Wenn sich Rebeccas Bauch in diesem Moment nicht zusammengezogen hätte, hätte sie gelacht. So brachte sie nur ein Stöhnen zusammen.

»Das sieht nach fiesen Schmerzen aus«, begrüßte sie der Gynäkologe.

Gemeinsam mit Schwester Elena beförderte er seine Patientin auf die Untersuchungsliege.

»Ich will wirklich nicht jammern. Aber ja, es tut schon echt weh.« Vorsichtig streckte Rebecca die Beine aus.

Dr. Gröding setzte sich auf einen Hocker. Er schubste an und rollte an ihre Seite.

»Bitte beschreiben Sie mir Ihre Beschwerden.«

»Es fühlt sich an wie bei einer Blasenentzündung. Aber vielleicht hat die Schwester ja recht und es liegt wirklich nur an der Schwangerschaft.«

Theo Gröding zog eine Augenbraue hoch.

»Vierte bis fünfte Woche«, beantwortete Elena seine stumme Frage.

»Außerdem habe ich so einen komischen Ausfluss«, fuhr Rebecca fort.

»Probleme beim Wasserlassen?«

»Meistens kommt nicht viel, obwohl ich das Gefühl habe, dass meine Blase randvoll ist.« Sie bedachte den Arzt mit einem fragenden Blick. »Kann das alles mit dem Baby zusammenhängen?«

»Das glaube ich nicht.« Dr. Gröding streckte sich und zog das Ultraschallgerät zu sich. Ein spezieller Schallkopf erregte Rebeccas Aufmerksamkeit. Er bemerkte es. »Das, was Sie erzählen, klingt in meinen Ohren nach einem Harnröhrendivertikel.« Er schaltete das Gerät ein. »Darunter versteht man eine Aussackung in der Harnröhre, in der sich Urin ansammeln und sich entzünden kann.« Während er den Schallkopf führte, hing sein Blick am Bildschirm. »Denkbar wäre auch eine paraurethrale Zyste. Die bildet, im Gegensatz zum Divertikel, einen kleinen Hohlraum außerhalb der Harnröhre. Die Beschwerden sind ähnlich.«

Rebecca schluckte.

»Und was kann man dagegen tun?«

»Da haben wir den Übeltäter.« Theo deutete auf eine Stelle auf dem Bildschirm. Er wiegte den Kopf. »Um eine Operation werden Sie nicht herumkommen.«

Die grau-schwarze Landschaft auf dem Monitor verschwamm vor Rebeccas Augen. Theo Gröding bemerkte Elenas Blick.

»Aber was viel wichtiger ist.« Er lenkte den Schallkopf auf eine andere Stelle. »Sehen Sie das hier?«

Rebecca wischte sich über die Augen. Diesmal erkannte sie ganz genau, was der Arzt ihr zeigen wollte.

»Das Herz«, hauchte sie beim Anblick der zuckenden Erbse. Es war das erste Mal, dass sie ihr Baby sah. In diesem Augenblick wusste sie, dass sie es nicht mehr hergeben würde. Das hier war der Beweis: Das Leben ging weiter, egal, was passierte.

*

Zwanzig Minuten später schloss Elena die Bürotür hinter sich und lehnte sich gegen das Türblatt. Erst jetzt und hier, sicher vor den neugierigen Blicken ihrer Kollegen, konnte sie die Maske endlich fallen lassen. Sie verbarg das Gesicht in den Händen. Stand einfach nur da und versuchte, an nichts und niemanden zu denken. Was für eine Wohltat! Am liebsten hätte sie den Rest des Arbeitstages so verbracht. Zu dumm, dass sich die Akten und Unterlagen auf ihrem Schreibtisch stapelten. Deshalb rief sie sich selbst zur Ordnung. Nahm die Hände vom Gesicht. Öffnete die Augen. Und stieß einen Schrei aus.

Deniz warf die Locken in den Nacken und lachte.

»Ich liebe es, Frauen zum Schreien zu bringen. Wenn auch in anderen Situationen.«

Was hatte er da gerade gesagt? Elenas Wangen waren kurz davor, in Flammen aufzugehen.

»Was machst du denn hier?«

»Wir hatten eine Verabredung. Erinnerst du dich nicht?«

Der nächste Schreck!

»Tut mir leid. Die habe ich glatt vergessen.« Elena seufzte. »Kein Wunder, so viel, wie heute hier los ist.«

»Macht nichts. Jetzt bist du ja da.« Deniz trat auf sie zu. Strich ihr wieder die Strähne aus der Stirn.

Diesmal blieb alles ruhig. Kein Blitz, der durch Elenas Glieder fuhr. Kein Schwarm Schmetterlinge, die in ihrem Bauch aufflatterten.

»Ich will wieder gut machen, dass wir heute Mittag so brutal gestört wurden.« Seine Stimme gurrte in ihrem Ohr. »Was hältst du von einem Kaffee? Ich kenne einen Ort, an dem uns Milan garantiert nicht findet.«

Deniz machte es Elena nicht leicht. Schweren Herzens trat sie einen Schritt zur Seite.

»Ich glaube, ich muss etwas klarstellen.« Warum war ihre Stimme plötzlich heiser? »Es ist so …«

Ein Zeigefinger legte sich auf ihre Lippen. Hinderte sie am Weitersprechen.

»Schon gut. Ich weiß, was du sagen willst. Du bist verheiratet und willst deinen Mann nicht hintergehen.« Deniz seufzte theatralisch. »Dabei dachte ich, dass du anders bist als die meisten anderen. Ein Freigeist. Unkonventionell. Über den Dingen stehend.«

Jedes seiner Worte traf Elena bis ins Mark. Einen kleinen, heißen Moment wünschte sie sich, Deniz’ Vorstellungen zu entsprechen. Doch der Augenblick verging. Der Freigeist saß wieder im Käfig.

»Tut mir leid, wenn ich dich enttäuscht habe. Aber lieber dich als meinen Mann.« Ein bisschen Rache musste sein. Ganz so spießig, wie er dachte, war sie nun auch wieder nicht.

Deniz lachte rau. Ihr Pfeil hatte sein Ziel nicht verfehlt.

»Wenn dir das hilft, die verpasste Chance zu verwinden …« Ein letztes Streicheln über die Wange.

Dann war Deniz verschwunden. Sinnend stand Elena da. Nur der süßliche Geruch im Zimmer erinnerte daran, dass er nicht nur eine Fata Morgana gewesen war.

*

»Hör auf, die beleidigte Leberwurst zu spielen und geh ran, Becky!«, schimpfte Moritz, während er das Mobiltelefon ans Ohr drückte. »Warum nimmst du das verdammte Gespräch nicht an?« Vergeblich. Das Handy gehorchte ihm nicht. Tutete weiter unbeeindruckt vor sich hin. »Das kann doch nicht wahr sein«, stöhnte Moritz auf. Die Werte auf dem Display des Monitors wechselten schneller als der Aktienkurs. Mit jedem Atemzug fiel ihm das Luftholen schwerer. »Warum sind Frauen nur so stur?«, keuchte er mit letzter Kraft. Dann sagte er nichts mehr.

Der Monitor schlug Alarm. Schwester Regine war schon auf dem Weg zu ihrem Patienten, als ihr Dr. Norden zuvorkam. Der Klinikchef war gerade in der Nähe gewesen.

»Ich übernehme das hier«, rief er der Schwester zu und stürmte Moritz’ Zimmer.

Beim Anblick seines Patienten atmete er auf. Moritz war bei Bewusstsein.

»Was ist denn schon wieder mit Ihrem Herzen los?« Dr. Daniel Nordens Stirn war ein einziges Faltenmeer. Er drückte ein paar Knöpfe. Der Alarm verstummte. Sein Blick hing an den Kurven auf dem Überwachungsmonitor. Die Werte gefielen ihm ganz und gar nicht. »In 99 Prozent der Broken-Heart-Syndrom-Fälle regeneriert sich das Herz von selbst wieder. Aber wenn Sie so weitermachen, riskieren Sie ernste Komplikationen. Dann kann ich für nichts mehr garantieren.«

Moritz lag im Bett und starrte an die Decke.

»Ich mache das nicht mit Absicht. Das können Sie mir glauben.«

Dr. Norden steckte die Hände in die Kitteltaschen. Er blickte auf seinen Patienten hinab.

»Ihr Bein wird auch nicht schneller gesund, wenn Sie sich aufregen. Ganz im Gegenteil.«

»Ach, hören Sie schon auf mit meinem Bein!«, winkte Moritz ab. »Um das mache ich mir die allerwenigsten Sorgen.«

»Das hat aber vor ein paar Stunden noch ganz anders geklungen.«

»Wenn ich sonst keine Probleme hätte außer meinem Bein, dann wäre mein Herz gesund.«

Daniel musste nicht lange überlegen.

»Es geht um die Frau Ihres Lebens, die heute Ihren besten Freund geheiratet hat«, sagte er Moritz auf den Kopf zu.

»Die beiden haben nicht geheiratet.«

»Nicht? Aber dann verstehe ich nicht …«

»Es liegt an mir! Ich habe alles verdorben!«, brach es plötzlich aus Moritz heraus.

Wieder schlug der Überwachungsmonitor Alarm. Blitzschnell beugte sich Daniel zu seinem Patienten hinab.

»Bitte beruhigen Sie sich, Herr Loibl«, sprach er eindringlich auf ihn ein. »Sonst muss ich Sie in ein künstliches Koma versetzen. Und das ist nicht gerade das, was Ihr Bein im Augenblick braucht.«

Moritz tat dem Klinikchef und sich selbst den Gefallen und atmete ein und aus. Immer wieder. Ganz genau so, wie er es von Dr. Norden tags zuvor gelernt hatte. Nach und nach beruhigte sich die Kurve auf dem Bildschirm.

Daniel atmete heimlich auf. Er griff nach dem Tuch auf dem Nachttisch und trocknete Moritz’ Stirn. Um seine eigene würde er sich später kümmern.

»Was ist los mit Ihnen?« Seine Stimme war sanft. »Wollen Sie mir nicht Ihr Herz ausschütten? Auch das kann helfen …«

»Rebecca hat Schmerzen«, krächzte Moritz endlich. »Schon die ganze Zeit. Aber das hat sie mir erst heute gesagt. Und was mache ich? Höre ihr nicht zu. Jetzt meldet sie sich nicht mehr bei mir. Und erreichen kann ich sie auch nicht. Sie geht nicht an ihr Telefon.« Moritz hielt inne. Wenn er nicht wollte, dass die Kurve wieder Achterbahn fuhr, musste er sich auf seine Atmung konzentrieren. »Verstehen Sie, dass ich mich aufrege?«

Dr. Norden verstand.

»Natürlich. Welcher Mann täte das nicht.« Daniel wusste: Wenn er Moritz helfen wollte, musste er Rebecca finden. Aber wo sollte er mit der Suche beginnen? »Wenn Sie mir die Adresse Ihrer Freundin geben, schicke ich jemanden dorthin.«

Moritz’ Augen leuchteten auf. Das war die rettende Idee! Mit fliegenden Fingern notierte er die Anschrift auf ein Stück Papier.

»Sie sind ein Schatz. Wenn ich könnte, würde ich Sie jetzt küssen.«

»Ein Glück, dass Sie heute schon genug herum geturnt sind.« Dr. Norden zwinkerte seinem Patienten zu und verabschiedete sich mit dem Versprechen, so schnell wie möglich Bericht zu erstatten.

Mit leisem Klicken fiel die Tür hinter ihm ins Schloss, als Daniel sich auch schon fragte, was er da wieder getan hatte. Seine Miene sprach Bände, als er an den Tresen trat.

»Warum gebe ich einem Patienten das Versprechen, seine Freundin zu suchen?«, fragte er Schwester Regina, die am Computer saß und Patientendaten eintippte.

Sie hob den Kopf.

»Vielleicht, weil Sie ihm helfen wollen.«

»Stimmt auffallend.« Er faltete Moritz’ Zettel auseinander. »Wann haben Sie Feierabend?«

»Ich habe heute die Spätschicht. Aber ich könnte meinen Freund fragen. Er hat frei. Wenn es nicht zu weit weg ist …«

Dr. Norden schob Regine das Stück Papier hinüber. Sie griff danach. Entzifferte den Namen, der dort in krakeliger Handschrift geschrieben stand. Sie lächelte und gab dem Klinikchef das Papier zurück.

Er stutzte.

»Was ist? Haben Sie es sich anders überlegt?«

Das Lächeln auf Schwester Regines Gesicht wurde strahlender.

»Ich weiß, wo Rebecca ist.« Sie deutete auf die Akten neben sich. »Dr. Gröding hat sie heute Nachmittag operiert. Probieren Sie Ihr Glück mal im Wachraum der Gynäkologie.«

*

So hatte sich Deniz seine Abreise aus München nicht vorgestellt. Elenas Worte, ihr Korb hatten einen schalen Nachgeschmack hinterlassen und ihn nachdenklich gestimmt. Es kam nicht oft vor, dass er sich einsam fühlte. Das lag auch daran, dass er selten allein war. An jeder Ecke fanden sich Gesprächspartner. Neue Bekanntschaften zu machen, Freundschaften zu knüpften gehörte zu seinen leichtesten Übungen. Doch an diesem Abend stand ihm nicht der Sinn nach Konversation.

Mutterseelenallein wanderte Deniz durch die beleuchtete Landeshauptstadt Richtung Bahnhof. Es war noch früh am Abend. Trotzdem lag die Dunkelheit wie ein blaugraues Tuch über der Stadt. Das Licht der Straßenlaternen spiegelte sich auf dem feuchten Asphalt, Überbleibsel eines halbherzigen Wintereinbruchs. Deniz sprang über eine Pfütze. Im nächsten Moment landete ein Paar Regenbogengummistiefel neben ihm. Kinderlachen klingelte in seinem Ohr. Schnell hastete er weiter. Doch an diesem Abend schien es kein Entrinnen zu geben. Wohin er auch sah, stolperte er über Mütter, die Kinderwagen durch den Schneematsch schoben. Paare, die »Engelchen flieg!« mit ihrem Hosenmatz spielten. Er drängte sich an einer Frau vorbei, die eine Kugel unter dem Anorak vor sich her trug, als handelte es sich um eine Trophäe. Mit einem drückenden Gefühl im Magen betrachtete er den Hauptgewinn, der neben ihm her spazierte.

Schnell wandte sich Deniz ab.

»Komm schon! Du wirst doch auf deine alten Tage nicht sentimental werden«, schalt er sich selbst.

Am Straßenrand blieb er stehen. Wartete auf eine Lücke im Verkehr. Genau vor seiner Nase blieb ein LKW stehen. Von der Plane lachte ihm ein Schneemann entgegen. Erbaut von Mutter, Vater und zwei Kindern, deren Wangen so rot leuchteten wie der Schal ihres Bauwerks. Das konnte doch nicht wahr sein. Deniz rieb sich die Augen. Doch weder der Schneemann noch die glückliche Familie verschwanden. »Vielleicht war doch zuviel Gras im letzten Joint«, mutmaßte er.

Die Bahnhofshalle gegenüber versprach Schutz vor dem ungemütlichen Wetter und hoffentlich auch vor den sentimentalen Gefühlen.

Er wurde nicht enttäuscht. Das geschäftige Treiben drinnen war ganz nach Deniz’ Geschmack. Noch blieb Zeit bis zur Abfahrt. Er kaufte sich einen Kaffee und sah sich um. Das beste Mittel gegen seine Befindlichkeiten war Bestätigung. Eine neue Bekanntschaft musste her! Deniz’ Wahl fiel auf eine junge Frau. Mit ihren Dreadlocks, der Pluderhose und dem Rucksack sah sie aus, als wäre sie auf dem Weg in ein sommerliches Paradies. Scheinbar ziellos schlenderte er auf sie zu.

»Hey!«

»Hey!«

Diese blauen Augen! Das strahlende Lächeln! Offenbar gab es doch noch Gerechtigkeit auf dieser Welt!

»Hast du mal Feuer?« Er hielt die Zigarette hoch, die er vorhin geschnorrt hatte.

»Klar.« Das geblümte Feuerzeug klickte.

Deniz nahm einen tiefen Zug.

»Wohin geht die Reise, schönes Kind?«

»Nach Westen, die Sonne putzen.«

Das war eine Antwort nach seinem Geschmack.

»Da will ich auch hin.« Er fuhr sich durch die schwarzen Locken. Zauberte den Verführerblick hervor, den er stundenlang vor dem Spiegel geübt hatte. Er schien nichts von seiner Wirkung verloren zu haben.

Eine Zungenspitze blitzte zwischen glänzenden Lippen.

»Ein Beschützer ist nie verkehrt.« Sie hielt ihm die Hand hin. »Kessy.«

»Deniz.« Er beugte sich vor und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. Sie roch süß nach Vanille und Orangen.

Kessy kicherte.

»Das da drüben ist übrigens Jarmila.« Sie drehte sich um und winkte.

Ein kleines Mädchen in Pumphose und Felljacke hüpfte herbei. Deniz hielt die Luft an. Sah sich nach einem Fluchtweg um, als er spürte, wie sich ein Arm fest in seinem verhakte. Und Kessys Blick verriet, dass sie ihn so schnell nicht mehr loslassen würde.

*

Kein Wunder, dass Moritz Loibl Herzprobleme hatte. An diesem Tag blieb ihm auch nichts erspart.

»Waaaaas??? Becky wurde operiert?«

Mit Mühe konnte Dr. Norden ihn daran hindern, direkt aus dem Bett zu springen.

»Bitte regen Sie sich nicht auf.« Seine Stimme klang beschwörend wie die eines Schamanen. Manchmal fühlte er sich tatsächlich wie einer dieser spirituellen Spezialisten, denen magische Fähigkeiten zugesprochen wurden. Die konnte er bei Patienten wie Moritz Loibl gut brauchen. »Es ist alles gut gegangen. Ich habe mich selbst davon überzeugt. Rebecca wurde auf die Station verlegt. Sie können sie morgen besuchen.«

»Ich will sie aber sofort sehen.«

Nichts anderes hatte Daniel befürchtet.

»Gut. Ich werde einer Schwester Bescheid sagen, die Sie im Rollstuhl hinbringt. Aber nicht lange.« Mahnend hob er den Zeigefinger. »Ich will kein Risiko eingehen. Weder bei Ihnen noch bei Ihrer Freundin.« Der Klinikchef hatte noch nicht ausgesprochen, als Moritz die Decke zurückschlug und die Beine über die Bettkante schwang. Im letzten Moment gelang es Dr. Norden gerade, die Kabel zu entfernen, die seinen Patienten mit den Überwachungsgeräten verbanden. Wenigstens die sollten die Aktion unbeschadet überstehen.

»Ich brauche keine Schwester«, erklärte Moritz im Brustton der Überzeugung. Das Klappern der Krücken erinnerte Daniel an das Holzbein eines Seeräubers. Moritz wirkte nicht minder kaltblütig. »Haben Sie nicht gesagt, ich muss üben, üben und noch einmals, üben? Meine Frau hat einen mobilen Mann verdient. Und mein Kind einen gesunden Vater.« Er hatte die Tür erreicht. Sie zu öffnen, stellte ein logistisches Problem dar. Doch auch davon ließ sich Moritz nicht aufhalten. Eine Frage hatte er allerdings noch. »Wo finde ich Becky?«

»Rechts und mit dem Aufzug in den zweiten Stock. Soll ich nicht …«

»Nein, danke, Doc.« Moritz zwinkerte dem Klinikchef zu. »Machen Sie sich keine Sorgen. Das schaffe ich schon«, versprach er und stakste los.

Zwischendurch meinte er, sich übernommen zu haben. Dann erinnerte er sich an Rebeccas Motto. Es geht immer weiter!

»Wäre doch gelacht, wenn ich das nicht hinbekäme!«, feuerte er sich selbst an und marschierte weiter.

Eine halbe Stunde später saß er am Bett seiner Freundin.

Becky starrte ihn an, als wäre eines der Weltwunder an ihrer Seite aufgetaucht.

»Bist du hergeschwommen, oder warum bist du so nass?«

»Das ist der Angstschweiß, du könntest mich verlassen.« Moritz stellte die Krücken weg und lehnte sich zurück. Nie zuvor war ein Stuhl kostbarerer gewesen als in diesem Moment.

»Tut mir leid, aber in den vergangenen Stunden habe ich keinen Gedanken an dich verschwendet.« Ihr Lächeln milderte die Botschaft hinter ihren Worten.

»Natürlich nicht.« Moritz senkte den Blick. »Es tut leid, dass ich nur an mich gedacht habe. Wie geht es dir? Dem Winzling?«

»Ich schätze, es war alles ein bisschen viel in den vergangenen Wochen. Aber wir sind zäh. So gut solltest du uns inzwischen kennen.«

Beckys Tonfall machte Moritz Mut.

»Ein Glück!« Tränen der Erleichterung fluteten seine Augen. Tapfer drängte er sie zurück. »Wir hätten es nie so weit kommen lassen dürfen. Hätten Vincent reinen Wein einschenken müssen, als uns klar wurde, wohin uns beide die Reise führt.«

»Wissen wir das denn jetzt?« Rebecca blinzelte zu ihrem Freund hinüber.

Moritz konnte der Versuchung nicht länger widerstehen. Er beugte sich vor und nahm die Hand seiner Freundin.

»Ich weiß nur, dass ich nicht ohne dich, ohne euch reisen will. Alles andere ist mir eigentlich egal.« Er schluckte. »Wie klingt das in deinen Ohren?«

Über die Antwort musste Rebecca nicht lange nachdenken. Sie zog seine Hand an die Lippen und küsste sie. Dabei ließ sie Moritz nicht aus den Augen.

»So gut, dass ich gleich aufstehen und losgehen könnte.«

*

»Ich schicke sofort eine Schwester in die Notaufnahme«, versprach Schwester Elena und legte auf.

Sie ließ ihren Blick schweifen. Um diese Uhrzeit war die Auswahl an Personal überschaubar.

»Henry, Dr. Weigand braucht Unterstützung in der Ambulanz.«

»Bin schon unterwegs.« Der Pfleger sprang auf und lief davon, als wären ihm die ungeliebten Patientenbriefe auf den Fersen.

An der Ecke wäre er um ein Haar mit Dr. Daniel Norden und seiner Frau zusammengestoßen.

»Alle Achtung. Für diese Uhrzeit haben deine Leute noch eine beachtliche Energie«, lobte Daniel, als er zu Elena an den Tresen trat.

»Das liegt an den Patientenbriefen.« Elena deutete auf den Stapel Papier, der verrutscht war und über den halben Tisch verstreut lag.

»Dann werde ich meine Leute in Zukunft auch vor die Wahl stellen. Theorie oder Praxis. Schreibkram oder Wiederbelebung.«

Elena und Fee lachten.

»Kleiner Tipp am Rande: Die Assistenzärzte lockst du am besten mit einer periproktitischen Abszess-Spaltung hinter dem Ofen hervor«, erklärte Fee mit hoch erhobenem Zeigefinger.

»Gegen eine explorative Laparotomie haben die meisten angehenden Fachärzte für Chirurgie auch nichts einzuwenden«, scherzte Elena.

Sie lachte mit ihren Freunden, obwohl ihr nicht nach Lachen zumute war. Daniel bemerkte es.

»Warum treibst du dich hier eigentlich noch herum?«, stellte er die Frage aller Fragen. »Hast du nicht längst Feierabend?«

Widerstand war zwecklos. Das erkannte Elena am Tonfall, an der Miene ihres Freundes. Sie sah auf die Uhr.

»Tatsächlich. Schon so spät!«, heuchelte sie Überraschung. »Du hast recht. Zeit, nach Hause zu gehen. Habt einen schönen Abend.« Während die Schritte ihrer Freunde auf dem Flur verhallten, schaltete sie das Tablet aus und schob die Akten zu einem ordentlichen Stapel zusammen.

Am liebsten hätte sie die Nacht in der Klinik verbracht. Der Streit zwischen Eric und ihr schwelte immer noch. Wie ein glimmender Holzscheit. Zu schwach zum Brennen, zu kraftvoll, um zu verglühen. Aber es nützte ja nichts. Irgendwann schlug die Stunde der Wahrheit.

Dass diese Stunde unangenehm werden würde, ahnte sie schon, als sie das Erdgeschoss betrat. Obwohl es schon spät war, brannte noch Licht im Wohnzimmer. Eric hatte also auf sie gewartet. Oder hatte es zumindest vorgehabt. Leises Schnarchen verriet, dass der Schlaf den Plan vereitelt hatte. Sie atmete auf. Auf Zehenspitzen schlich sie Richtung Schlafzimmer. Der Parkettboden knarrte.

»Guten Abend.«

Die Ernüchterung ergoss sich wie eine eiskalte Dusche über Elena.

»Eric! Ich dachte, du bist schon im Bett.« Sie kehrte zurück zur Wohnzimmertür. Die Mühe eines Lächelns machte sie sich nicht.

»Du hast dich geirrt.« Eric stand auf. Mit den Händen in den Hosentaschen schlenderte er auf sie zu. Als hätte er alle Zeit der Welt. »Wo kommst du jetzt her?«

»Aus der Arbeit.«

»Um diese Zeit?« Demonstrativ sah er auf die Uhr.

»Ich bin aufgehalten worden.« Ihre Stimme war schnippisch. Sie hatte es nicht nötig, wie ein Teenager vom Vater verhört zu werden.

Aber warum lächelte Eric so süffisant? Das kannte sie gar nicht an ihm.

»Von der Arbeit? Oder von Deniz?« Wie Eis zergingen die Worte auf seiner Zunge.

Elena schluckte.

»Woher weißt du von Deniz?«

»Dann stimmt es also?«

»Nein.« Ein Glück. Ihre Stimme war so fest, wie ihr Gewissen rein war. »Also, woher?« Elena zwang sich, dem Blick ihres Mannes standzuhalten.

»Ich wollte dich heute Mittag zum Essen einladen. Leider kam ich zu spät. Eine Schwester erzählte, du wärst bei Deniz.«

Schon wieder diese Lästerschwestern! Nichts, aber auch gar nichts konnte man vor ihnen geheim halten. Es war Elena ein Rätsel, woher sie ihre Informationen bezogen. Doch das spielte im Augenblick keine Rolle.

»Dr. Aydins Bruder Deniz hat heute Mittag für Milan und mich gekocht.«

»Ein flotter Dreier?« Eric zog eine Augenbraue hoch. »Das hätte ich dir nun doch nicht zugetraut.«

Elena schnappte nach Luft. Aus Erfahrung wusste sie, dass eifersüchtige Männer zu Übertreibungen neigten. Doch was zu weit ging, ging zu weit.

»Ich habe ihn noch nicht einmal angefasst, geschweige denn geküsst«, schleuderte sie ihm entgegen. »Und weißt du was: Jetzt bereue ich, es nicht getan zu haben. Dann hättest du wenigstens einen Grund, dich so bescheuert zu benehmen.«

Eric ballte die Hände zu Fäusten. Kein Wort kam mehr über seine Lippen. Er stand nur da und starrte seine Frau an. Elena überlegte schon, ob sie einfach ins Bett gehen sollte, als doch noch Bewegung in ihn kam. Er drängte sich an ihr vorbei und verließ das Zimmer.

Sie drehte sich um. Sah ihm nach. Aber was war das? Warum stand der Koffer dort in der Ecke? Mit einem Schlag verpuffte ihre Wut.

»Was soll das, Eric?«, fragte sie matt.

»Wonach sieht es denn aus?« Er nahm den Mantel vom Haken. Schlüpfte hinein. Wickelte den Schal um den Hals.

»Du läufst davon, ohne überhaupt mit mir geredet zu haben?« Sie konnte es nicht fassen. War das der Mann, den sie geheiratet hatte? Der strukturierte, klar denkende, messerscharf argumentierende Ingenieur, in den sie sich damals verliebt hatte?

Gegen das Licht sah er aus wie ein Scherenschnitt. Ein alter Mann, der den Griff aus dem Rollkoffer zog.

»Ich habe so oft geredet. Jetzt kann ich nicht mehr.« Eric wandte sich ab. Der Koffer polterte hinter ihm her.

»Aber wo willst du denn hin?«

»Keine Ahnung.« Er drückte die Klinke herunter. »Ich melde mich.«

*

Nach dem Streit mit seinem Bruder war Milan Aydin die Lust auf Gesellschaft vergangen. Eine seltsame Melancholie machte sich in ihm breit. Vielleicht war es wirklich an der Zeit, mit den Frauengeschichten aufzuhören. Einen Baum zu pflanzen, ein Haus zu bauen, einen Sohn – ach nein, lieber eine Tochter – zu zeugen. Es musste ja nicht gleich an diesem Abend, in dieser Woche sein.

Den Rest des Tages vergrub er sich in seiner Arbeit und tauchte erst wieder auf, als ihm kein guter Grund mehr einfiel, noch länger in der Klinik zu bleiben.

»Der Chef könnte ruhig nachts ein paar Operationen ansetzen. Da hat man wenigstens seine Ruhe«, murrte er auf dem Weg nach draußen.

Um diese Uhrzeit waren die Schiebetüren verschlossen. Milan Aydin musste auf einen kleinen Seiteneingang ausweichen. Kühle Luft schlug ihm entgegen. Er blieb einen Moment stehen. Betrachtete die nackten Bäume und Sträucher, bloßgestellt vom Licht der Straßenlaterne. Was für ein deprimierender Anblick! Milan schob an. Verließ den Lichtkegel. Der Kies knirschte unter den Rädern. Warum hatte er an diesem Morgen nicht den Wagen genommen? Manchmal verstand er sich selbst nicht. Doch nun nützte alles Hadern nichts. Wenn er die Nacht in seinem kuscheligen Bett verbringen wollte, musste er in den sauren Apfel beißen und schieben.

»Wo Deniz jetzt wohl steckt?«, fragte er sich auf dem Heimweg. »Schade eigentlich, dass die Treffen immer dermaßen schief gehen. Dabei ist er ja eigentlich ein netter Kerl. Bisschen verzogen, wie alle Nesthäkchen.« Aber das konnte Milan ihm kaum zum Vorwurf machen. Die klare Nachtluft in Verbindung mit der körperlichen Anstrengung stimmte ihn versöhnlich. »Das nächste Mal wird alles anders«, beschloss er, als er in seine Straße einbog.

Wenig später stand er vor seiner Wohnung. In Gedanken versunken nestelte er den Schlüssel heraus.

Verdammt! Das hatte er total vergessen! Milan verzog das Gesicht. Eine Räucherkammer war harmlos gegen den Gestank, der ihm aus seiner Wohnung entgegenkam. Da gab es nur eins. Er hielt die Luft an und fuhr los. Öffnete jedes einzelne Fenster. Das Internet bot weitere Hilfe an. In Essigwasser getauchte Handtücher sollten den Geruch aufnehmen. Kaffeepulver ihn neutralisieren. Doch wie lange dauerte es, bis all diese Maßnahmen Früchte trugen? Milan saß im Rollstuhl im Wohnzimmer und sah sich um. Er entdeckte die Flasche Wein auf dem Tisch. Ein trockener Sangiovese.

»Seit wann trinkt Deniz Alkohol?« Er drehte die Flasche hin und her. »Ich könnte mich betrinken. Vielleicht kann ich dann schlafen. Aber allein?« Der Gedanke war wenig verlockend. Noch dazu in diesen verrauchten Zimmern. Kurz entschlossen zückte Milan sein Handy. Wählte die Nummer von Laura. Es klingelte gefühlte hundert Mal, bis sich endlich eine verschlafene Stimme meldete.

»Süße, ich bin’s, dein Schnäuzelchen!« Wie hatte er diesen Kosenamen gehasst! Doch der Zweck heiligte bekanntlich die Mittel. »Sag bloß, du hast schon geschlafen?«

»Milan?«

Frechheit!

»Wer sonst? Du, ich habe eine gute Flasche Wein. Wenn du willst, besorge ich uns noch ein paar Leckereien beim Griechen. Ich könnte in einer halben Stunde bei dir sein.«

Das Schnauben war nicht gerade die Antwort, auf die er gehofft hatte.

»Hast du mal auf die Uhr geschaut? Es ist halb eins. Ich muss morgen um sechs raus.«

»Wir können auch gleich weiterschlafen«, machte Milan einen Vorschlag zur Güte. »Ohne Wein und Essen.«

»Ich will aber JETZT schlafen. Gute Nacht.« Ein Klicken in der Leitung beendete das Gespräch.

Milan starrte den Hörer an. Das war ihm schon lange nicht mehr passiert. Normalerweise waren die Frauen Wachs in seinen Händen.

»Aber offenbar nicht zu jeder Uhrzeit«, brummte er.

Er wählte die nächste Nummer. Katja aus dem Labor. Ein Glück, dass er ein gutes Verhältnis zu seinen Verflossenen pflegte. Es tunlichst vermied, im Streit auseinanderzugehen. Mit einem Lächeln auf den Lippen drückte er den Hörer ans Ohr. Ein Lächeln hörte man. Vielleicht half es. Es klingelte. Und klingelte. Und klingelte. Das Lächeln verschwand. »Dann eben nicht.« Milan drückte die Taste mit dem roten Hörer darauf. »Schließlich gibt es noch Silvie.« Diesmal schraubte er seine Erwartungen herunter und erschrak förmlich, als sich eine putzmuntere Stimme meldete.

»Silvie, das ist ja schön, dass ich dich erreiche.« Schlagartig kehrte Milans gute Laune zurück. Na, bitte! Sein Zauber hatte doch nichts von seiner Wirkung verloren. »Tut mir leid, dass ich mich erst so spät melde. Aber du weißt ja: Je später der Abend, desto schöner die Gäste.«

Silvies Glucksen war Musik in seinen Ohren.

»Du meinst, ich soll dich besuchen?«

»Das würde ich niemals von dir verlangen.« Zufrieden betrachtete Milan die Flasche Sangiovese. »Deshalb dachte ich mir, ich komme zu dir.«

Er hörte ein Sprudeln. Champagner?

»Wer ist denn das, Schatz?«, rief eine männliche Stimme aus dem Hintergrund.

Um ein Haar wäre Milan die Flasche Wein aus der Hand gerutscht.

»Ach, nur ein flüchtiger Bekannter«, rief Silvie fröhlich. Und zu Milan gewandt sagte sie: »Du hast ja gehört, dass ich leider keine Zeit habe. Mach’s gut, Süßer. Auf Nimmerwiedersehen.«

Milan schluckte. Heute war wirklich nicht sein Tag.

*

Wie ein Tiger im Käfig schlich Elena eine Weile durch das verwaiste Haus. Mit jedem Schritt wuchs die Wut auf ihren Mann.

»Das habe ich wirklich nicht verdient!«, zürnte sie und versetzte dem Ständer mit seinen Autozeitschriften einen Tritt. Er fiel um. Die Hefte rauschten über das glatte Parkett.

Doch die Genugtuung währte nicht lange. Schon wollte Elena nach einer Vase greifen. Geschenk zum dreiundzwanzigsten Hochzeitstag. Sie hob den Arm. Und hielt inne.

»Hör auf mit dem Unsinn! Du bist doch keine Zwanzig mehr. Außerdem musst du den Mist hinterher selbst aufräumen«, schalt sie sich und stellte das Kristallglas zurück auf das Sideboard.

Stattdessen griff sie nach dem Schlüsselbund. Bevor sie erstickte, musste sie aus dem Haus.

Die Luft kühlte ihre erhitzten Wangen. Eine Weile stand Elena in der Dunkelheit und atmete. Ein und aus. Ein und aus. Bis das Band um ihren Hals lockerer wurde. Endlich tauchte sie aus ihrer Versunkenheit auf. Sah sich um. Und nun? Was sollte sie nun tun? Wohin gehen? Dazu fiel ihr eigentlich nur eines ein. Ein Piepen und Blinken. Die Schlösser ihres Wagens sprangen auf. Elena stieg ein und fuhr los.

Als Streifen glitten die Lichter der Nacht an ihr vorbei. Um diese Uhrzeit war kaum ein Wagen auf den Straßen unterwegs. Tagsüber brauchte sie für dieselbe Strecke oft eine Dreiviertelstunde. Doch nachts war alles anders. Nur zwanzig Minuten später parkte sie auf dem leeren Parkplatz. Der Kies knirschte unter ihren Füßen. Sie wählte einen der Nebeneingänge. Gedimmtes Licht und angenehme Ruhe empfingen sie. Was für eine Wohltat nach der Hektik des Tages!

»Ich sollte öfter die Nächte hier verbringen«, murmelte sie auf dem Weg zu ihrem Büro.

»Führen Sie immer Selbstgespräche?«

Elenas Herz setzte einen Schlag aus. Sie presste die Hände gegen die Brust und fuhr herum. Es dauerte einen Moment, bis sie Milan erkannte.

»Aydin, sind Sie verrückt geworden? Wie können Sie mich so erschrecken?« Sie holte tief Luft. »Was machen Sie überhaupt noch hier?«

»Dasselbe könnte ich Sie auch fragen.« Die Räder des Rollstuhls quietschten leise auf dem Vinylboden.

Elenas Schultern sackten herab. Was sollte sie darauf antworten? Sie hatte keine Kraft mehr. Und schon gar nicht für eine Lüge.

»Mein Mann hat mich gerade verlassen.«

»Perfekt.«

Mit allem hatte sie gerechnet. Nur nicht mit dieser Antwort.

»Wie bitte?«

Milan grinste.

»Ich wurde heute auch verlassen. Aber nicht nur einmal. Gleich mehrfach.« Er griff nach der Flasche Wein in seinem Schoß und hielt sie hoch.

Elena blinzelte. Hatte sie die nicht erst heute …? Egal.

»So trifft man sich wieder.« Sie deutete auf den Sangiovese.

Milan lachte.

»Was halten Sie von einem Ball der einsamen Herzen? Nur wir zwei?«

Elena überlegte nicht lange.

»Einverstanden.« Sie legte ihre Hand auf seinen ausgestreckten Arm und tanzte im Walzerschritt den Flur hinab. Milan Aydin summte eine Melodie dazu. Schräg. Falsch. Wunderschön.

Das Leben ist zu kurz, um traurig zu sein!, ging es Elena durch den Sinn. Zumindest an diesem Abend. Außerdem ging es sowieso weiter. Und wurde irgendwie immer wieder gut.

Chefarzt Dr. Norden Staffel 5 – Arztroman

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